16

 

In der Aubrey Close sechzehn unterhielt sich die junge Mrs Baker mit ihrem Mann. Jim Baker, ein großer, gut aussehender blonder Riese setzte gerade ein Modellflugzeug zusammen.

»Nachbarn!«, sagte Cherry und schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Locken wippten. »Nachbarn!«, wiederholte sie mit Verachtung. Vorsichtig nahm sie die Bratpfanne vom Herd und ließ den Inhalt auf zwei Teller gleiten, auf den einen mehr als auf den anderen. Den volleren stellte sie vor ihren Mann hin.

»Mixed Grill!«, verkündete sie.

Jim sah auf und schnupperte anerkennend.

»Was für eine Überraschung«, sagte er. »Ist heute etwa ein besonderer Tag? Etwa mein Geburtstag?«

»Ein Mann muss ordentlich essen«, erklärte Cherry.

Sie sah in ihrer dunkelrot-weiß gestreiften Schürze mit der kleinen Rüsche am Saum ganz reizend aus. Jim Baker schob die Flugzeugteile weg, um mehr Platz für den Teller zu machen. Er grinste und fragte: »Wer behauptet das?«

»Zum Beispiel Miss Marple«, antwortete Cherry. »Und wenn wir schon beim Thema sind«, fuhr sie fort und setzte sich ihrem Mann gegenüber, »so finde ich, dass sie auch ein wenig mehr vertragen könnte. Dieser alte Drache von einer Pflegerin kocht nichts als Kohlenhydrate, Aufläufe, Makkaroni mit Käse, wabbelige Puddings mit rosa Sauce. Und den ganzen Tag redet sie. Die redet sich noch ins Grab.«

»Na ja«, meinte ihr Mann nicht sehr interessiert, »das ist sicherlich Krankenkost.«

»Krankenkost!«, rief Cherry verächtlich. »Miss Marple ist nicht krank – nur alt. Und in alles mischt sie sich ein.«

»Wer, Miss Marple?«

»Nein. Diese Miss Knight. Schreibt mir vor, was ich zu tun habe. Sie erklärt mir sogar, wie man richtig kocht! Ich weiß besser darüber Bescheid als sie!«

»Du bist eine großartige Köchin!«, sagte Jim zärtlich.

»Ob jemand gut kocht«, meinte Cherry, »merkt man immer sofort. Man braucht nur zu probieren.«

Jim lachte. »Ich fang ja schon an. Aber warum sagte Miss Marple, dass ich was Gutes zu essen brauche? Fand sie, dass ich unterernährt aussah, als ich hinkam und das Abstellbrett im Bad festschraubte?«

Cherry lachte. »Ich will dir verraten, was sie gesagt hat. Sie sagte: ›Ihr Mann sieht sehr gut aus, meine Liebe. Ein sehr gut aussehender Mann.‹ Klingt wie aus einem Liebesroman, was?«

»Fandest du das auch?«, fragte Jim lächelnd.

»Ich meinte, du seist schon in Ordnung.«

»In Ordnung! Das ist nicht gerade ein Kompliment.«

»Und dann sagte sie: ›Sie müssen gut für Ihren Mann sorgen, meine Liebe. Kochen Sie ordentlich! Männer brauchen viel Fleisch. Gut zubereitet!‹«

»Hört! Hört!«

Und sie sagte, ich solle nur frische Sachen nehmen und keine Tiefkühlgerichte, die ich bloß zum Wärmen in den Ofen schöbe. Eigentlich tue ich das auch nicht oft, fügte sie offen hinzu.

»Wegen mir kannst du’s überhaupt sein lassen«, antwortete ihr Mann. »Es schmeckt alles gleich.«

»Hauptsache, du merkst, was du isst«, stellte Cherry fest. »Und denkst nicht nur an das Flugzeug, das du da zusammenmontierst. Und sag nicht, dass du es für unseren Neffen Michael als Weihnachtsgeschenk gekauft hast! Du hast es gekauft, weil du selbst damit spielen möchtest.«

»Er ist noch zu klein dazu«, sagte Jim entschuldigend.

»Und ich vermute, dass du den ganzen Abend damit verbringst. Wie wäre es mit etwas Musik? Hast du die neue Platte gekauft, von der wir sprachen?«

»Ja. 1812, die Festouvertüre von Tschaikowsky.«

»Das ist die laute, mit der Kanone«, sagte Cherry. Dann zog sie ein Gesicht. »Die gute Mrs Hartwell wird sich beschweren! Nachbarn! Ich habe die Nase voll von Nachbarn. Immer meckern sie und beschweren sich. Ich weiß nicht, wer von beiden schlimmer ist. Die Hartwells oder die Barnabys. Die Hartwells klopfen manchmal schon zwanzig vor elf gegen die Wand. Ein starkes Stück. Sogar das Fernsehen und die BBC senden länger. Warum sollten wir nicht etwas Musik hören, wenn es uns Spaß macht. Und immer wollen sie, dass wir’s leiser stellen!«

»Dabei hat man nichts davon, wenn die Lautstärke nicht stimmt«, sagte Jim nachdrücklich. »Das ist allgemein bekannt. Und was ist mit ihrer Katze – die kommt immer in unseren Garten und wühlt in unseren Beeten, wenn wir sie gerade in Ordnung gebracht haben.«

»Ich sage dir was, Jim. Ich habe es satt.«

»In Huddersfield hattest du nichts gegen die Nachbarn«, sagte Jim.

»Dort war es anders«, antwortete Cherry. »Ich meine, dort fühlte man sich freier. Wenn man in Not war, hat einem jemand geholfen oder umgekehrt. Aber niemand hat sich eingemischt. Diese Siedlung ist schuld, dass sich die Leute nicht vertragen. Weil wir alle neu sind, nehme ich an. Ich begreife einfach nicht, warum so viel gezankt und geklatscht wird und sich ständig jemand bei der Stadtverwaltung beschwert. In einer richtigen Stadt sind die Menschen dazu viel zu beschäftigt.«

»Da könnte was dran sein.«

»Gefällt es dir denn hier, Jim?«

»Die Arbeit ist in Ordnung. Und wir wohnen in einem nagelneuen Haus. Wenn wir etwas mehr Platz hätten, wäre mir das lieber. Ich würde mich gern etwas mehr ausbreiten können. Am liebsten hätte ich einen Bastelraum.«

»Zuerst fand ich es herrlich hier«, sagte Cherry, »aber jetzt bin ich mir nicht mehr so klar. Das Haus gefällt mir, auch der blaue Anstrich und das Bad. Nur die Leute mag ich nicht und die Atmosphäre. Ein paar Nachbarn sind ja ganz in Ordnung. Habe ich dir erzählt, dass Lily Price und Harry sich getrennt haben? Er hat sich so komisch benommen, als sie sich damals das Haus ansahen. Sie wäre beinahe aus dem Fenster gefallen, weißt du, und er stand wie angewachsen da und hat ihr nicht geholfen.«

»Ich bin froh, dass es zu Ende ist. Er taugt nicht viel.«

»Es ist auch nicht gut, nur zu heiraten, weil ein Kind unterwegs ist«, meinte Cherry. »Er wollte sie nämlich nicht heiraten, weißt du. Er ist kein angenehmer Mensch. Miss Marple findet es auch«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Sie hat zu Lily eine Bemerkung über ihn gemacht. Lily hielt sie für übergeschnappt.«

»Miss Marple? Ich wusste gar nicht, dass sie sie mal getroffen hat.«

»Es war an jenem Tag, als sie hier spazieren ging und stürzte. Damals hat sich Mrs Badcock um sie gekümmert und zu sich ins Haus geholt. Glaubst du, dass Arthur und Mrs Bain ein Paar werden?«

Jim runzelte die Stirn und nahm ein Bauteil in die Hand, das er mit dem Bauplan verglich.

»Warum hörst du nicht zu, wenn ich dir was erzähle?«

»Was hast du gesagt?«

»Ob Arthur Badcock und Mrs Bain…«

»Mein Gott, Cherry, seine Frau ist kaum unter der Erde! Ich habe gehört, dass er schrecklich nervös ist – er zuckt schon zusammen, wenn man ihn nur ansieht.«

»Warum eigentlich… ich hätte nicht gedacht, dass es bei ihm so tief geht.«

»Könntest du den Tisch etwas frei machen?«, fragte Jim, den die Geschichten über seine Nachbarn nicht besonders interessierten. »Dann könnte ich die Teile besser ordnen.«

Cherry seufzte übertrieben.

»Wenn man in diesem Haus beachtet werden will, muss man ein Düsenflugzeug oder ein Raumschiff sein«, sagte sie empört. »Du und deine Modelle!«

Sie stellte das Geschirr auf ein Tablett und trug es zum Ausguss. Sie beschloss, nicht abzuwaschen, eine Arbeit, die sie jeden Tag so lange wie möglich hinauszögerte. Sie schlüpfte in eine Cordjacke und rief im Hinausgehen ihrem Mann über die Schulter zu:

»Ich will nur kurz zu Gladys und mir ein ›Vogue‹-Schnittmuster borgen.«

»In Ordnung.« Jim beugte sich tiefer über sein Modellflugzeug.

Cherry warf einen giftigen Blick auf die Tür des Nachbarhauses, bog kurz darauf um die Ecke in die Blenheim Close ein und blieb vor Nummer sechzehn stehen. Die Tür war nicht geschlossen. Cherry klopfte, trat in den Flur und rief:

»Ist Gladys da?«

»Sind Sie das, Cherry?« Mrs Dixon steckte den Kopf aus der Küchentür. »Sie ist oben in ihrem Zimmer und näht.«

»Dann geh ich mal hinauf.«

Cherry lief die Treppe hoch und zu einem kleinen Schlafzimmer. Gladys, ein pummeliges Mädchen mit einem klaren Gesicht, kniete auf dem Boden und steckte mit geröteten Wangen ein Schnittmuster auf einem Stück Stoff fest.

»Hallo, Cherry! Sieh mal, was für einen hübschen Stoff ich im Ausverkauf bei Harper in Much Benham gefunden habe! Ich nähe mir nochmal das gleiche Modell wie das aus Frottee.«

»Gute Idee«, sagte Cherry.

Gladys stand auf und keuchte etwas dabei. »Jetzt tut mir der Magen weh«, seufzte sie.

»So kurz nach dem Essen solltest du nicht gleich nähen«, meinte Cherry, »und dich nicht bücken wie eben.«

»Vermutlich sollte ich abnehmen«, sagte Gladys und setzte sich aufs Bett.

»Was gibt’s Neues im Studio?«, fragte Cherry, die nie genug davon hören konnte.

»Nicht viel. Es wird immer noch eine Menge geklatscht. Marina Gregg hat gestern wieder zu drehen angefangen – und einen schrecklichen Skandal gemacht.«

»Weshalb?«

»Der Kaffee schmeckte ihr nicht. Du weißt ja, dass sie am Vormittag alle Kaffee trinken. Sie nahm einen Schluck und behauptete, dass er nicht gut schmecke. Was natürlich Unsinn war. Ich hole ihn in einem Krug direkt aus der Kantine. Sie hat allerdings ihre eigene Tasse, eine sehr schöne, aber der Kaffee war der Gleiche. Deshalb musste mit dem alles in Ordnung sein, nicht wahr?«

»Bloß die Nerven«, sagte Cherry. »Was passierte dann?«

»Nichts. Mr Rudd beruhigte sie. Er kann das großartig. Er nahm ihr die Tasse ab und goss sie aus.«

»Das war nicht sehr klug«, sagte Cherry langsam.

»Warum – was meinst du damit?«

»Na, wenn irgendetwas mit ihm nicht stimmte, kann das jetzt niemand mehr feststellen.«

»Glaubst du wirklich, dass er nicht in Ordnung war?«, fragte Gladys besorgt.

»Nun«, Cherry zuckte mit den Achseln, »am Fest hat mit ihrem Cocktail auch was nicht gesummt, warum nicht auch mit dem Kaffee? Wenn einem beim ersten Mal etwas nicht gelingt, probiert man’s immer wieder.«

Gladys erschauerte. »Das gefällt mir nicht, Cherry«, sagte sie. »Jemand anders hat für sie büßen müssen, das steht fest.

Inzwischen hat sie auch Drohbriefe gekriegt, verstehst du, und dann die seltsame Geschichte mit der Büste.«

»Was für einer Büste?«

»Aus Marmor. In der Dekoration. Sie haben ein Zimmer aus einem österreichischen Schloss aufgebaut. Hat einen komischen Namen, ›Shotbrun‹, oder so ähnlich. Mit Gemälden und Porzellan und Marmorbüsten. Eine stand auf einer Konsole, offenbar nicht ganz fest. Jedenfalls als draußen ein Laster vorbeifuhr, fiel sie herunter – genau auf den Sessel, in dem Marina Gregg in ihrer großen Szene mit Graf Sowieso gesessen hätte. Sie ging in tausend Scherben. Zum Glück drehten sie gerade nicht. Mr Rudd sagte darüber kein Wort zu ihr. Er stellte einfach einen anderen Sessel hin, und als sie gestern fragte, warum der Sessel ausgewechselt worden sei, meinte er nur, der andere habe im Stil nicht gepasst. Aber es hat ihm gar nicht gefallen, das kann ich dir verraten.«

Die beiden Frauen sahen sich an.

»Wie aufregend«, sagte Cherry. »Und auch wieder nicht…«

»Ich glaube, ich gebe meine Arbeit in der Studiokantine auf«, sagte Gladys.

»Warum denn? Kein Mensch will dich vergiften oder mit einer falschen Marmorbüste erschlagen.«

»Schon. Aber es trifft manchmal auch den Falschen. Wie Heather Badcock zum Beispiel.«

»Stimmt«, sagte Cherry.

»Weißt du«, sagte Gladys, »ich habe nachgedacht. Ich war beim Fest oben in der Halle, als Aushilfe. Ich stand ganz in ihrer Nähe.«

»Als sie starb?«

»Nein, als sie ihren Cocktail verschüttete. Über das ganze Kleid. Ein sehr hübsches Kleid, königsblauer Nylontaft. Sie hatte es sich extra dafür gekauft. Es war sehr seltsam.«

»Was war seltsam?«

»Damals fand ich nichts dabei. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es sehr seltsam.«

Cherry wartete gespannt. »Um Gottes willen!«, rief sie dann, »was war denn so seltsam?«

»Ich bin überzeugt, sie hat es absichtlich getan.«

»Dass sie den Cocktail verschüttete?«

»Ja. Und das finde ich seltsam. Du nicht auch?«

»Auf ein nagelneues Kleid? Kaum zu glauben.«

»Ich überlege nur«, sagte Gladys, »was Arthur Badcock mit Heathers Zeug macht. Das Kleid könnte man reinigen lassen. Auslassen könnte man es auch, der Rock hat eine Menge Falten. Glaubst du, Arthur Badcock wäre beleidigt, wenn ich ihn fragte, ob er es mir verkauft? Es müsste nicht viel geändert werden, und es ist ein so hübscher Stoff.«

»Würde es dir nichts ausmachen?«, fragte Cherry zögernd.

»Was denn?«

»Na, ein Kleid zu tragen, in dem jemand gestorben ist – in dem jemand auf diese Weise gestorben ist…«

Gladys starrte sie verblüfft an.

»Daran habe ich nicht gedacht«, gestand sie. Sie überlegte einen Augenblick. Dann erhellte sich ihre Miene.

»Eigentlich spielt es keine große Rolle«, erklärte sie. »Wenn man etwas Gebrauchtes kauft, muss man immer damit rechnen, dass der ursprüngliche Besitzer gestorben ist.«

»Trotzdem, es ist nicht das Gleiche.«

»Ich finde, du hast zu viel Fantasie«, antwortete Gladys. »Es ist so ein schönes leuchtendes Blau und wirklich ein teures Material. Und wegen der seltsamen Geschichte werde ich morgen, bevor ich zur Arbeit gehe, mit Mr Giuseppe sprechen«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Ist das der italienische Butler?«

»Ja. Er sieht sehr gut aus. Faszinierende Augen. Und so viel Temperament. Wenn wir aushelfen, hetzt er uns ganz schön herum.« Sie kicherte. »Aber es macht uns nichts aus. Er kann so unglaublich nett sein… jedenfalls, ich erzähle es ihm und frage ihn, was ich tun soll.«

»Ich sehe nicht ein, dass du überhaupt mit ihm reden musst«, sagte Cherry.

»Nun – es war so seltsam«, erklärte Gladys, sich trotzig an ihr Lieblingswort klammernd.

»Meiner Meinung nach suchst du nur nach einem Vorwand, um diesen Butler zu sehen – und da würde ich lieber vorsichtig sein, Mädchen. Du weißt doch, wie die Italiener sind. Vaterschaftsklagen, wo man hinsieht. Heißblütig und leidenschaftlich sind die.«

Gladys seufzte inbrünstig.

Cherry betrachtete das breite, etwas fleckige Gesicht ihrer Freundin und erkannte, dass jede Warnung überflüssig war. Mr Giuseppe, dachte sie, würde seine Angeln woanders auswerfen.

 

»Aha!«, sagte Doktor Haydock. »Sie sind beim Aufziehen, wie ich sehe.« Er blickte von Miss Marple zu einem Berg weicher weißer Wolle.

»Sie hatten mir geraten, es damit zu versuchen, wenn ich nicht stricken könnte«, antwortete Miss Marple.

»Sie scheinen sich meinen Rat sehr zu Herzen genommen zu haben.«

»Ich habe gleich am Anfang einen Fehler gemacht, und damit geriet das ganze Muster durcheinander. Da musste ich alles wieder aufziehen. Es ist ein sehr schwieriges Muster.«

»Was ist schon ein schwieriges Muster für Sie? Gar nichts!«

»Wegen meiner Augen sollte ich mich wohl an einfachere Sachen halten.«

»Da würden Sie sich bald langweilen. Jedenfalls fühle ich mich geschmeichelt, weil Sie meinen Rat befolgt haben.«

»Ich folge Ihnen doch immer, Doktor Haydock.«

»Ja, wenn es Ihnen passt.«

»Sagen Sie mal, Doktor, dachten Sie wirklich ans Stricken, als Sie mir den Rat gaben?«

»Wie weit sind Sie denn mit der Lösung Ihres Mordfalles vorangekommen?«, fragte er und zwinkerte ihr zu. Miss Marple zwinkerte zurück.

»Ich fürchte, mein Verstand ist auch nicht mehr der, der er einmal war«, sagte sie und schüttelte dabei seufzend den Kopf.

»Unsinn!«, erwiderte Haydock. »Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten noch keine Meinung darüber.«

»Natürlich habe ich meine Schlüsse gezogen. Sehr gründlich sogar.«

»Lassen Sie hören!«

»Wenn man an jenem Tag das Cocktailglas präpariert hat – ich weiß nur noch nicht, wie…«

»Vielleicht hatte der Täter das Zeug in einer Pipette.«

»Sie sind immer gleich so professionell«, sagte Miss Marple bewundernd. »Aber selbst dann finde ich es sehr seltsam, dass niemand den Vorfall beobachtete.«

»Ein Mord geschieht nicht nur, sondern irgendjemand sieht auch, wie er geschieht. Wollen Sie darauf hinaus?«

»Ja, genau.«

»Ein Risiko, das der Mörder eingehen musste«, erklärte Haydock.

»Schon. Das bestreite ich nicht. Aber wie ich festgestellt habe, sind mindestens achtzehn bis zwanzig Personen zur Tatzeit in der Halle gewesen. Ich bin der Meinung, dass einer von ihnen etwas gesehen haben muss.«

Haydock nickte. »Ja. Aber offensichtlich ist es nicht der Fall.«

»Ich habe meine Zweifel«, antwortete Miss Marple nachdenklich.

»Was meinen Sie nun wirklich?«

»Es gibt drei Möglichkeiten. Wobei ich annehme, dass wenigstens eine Person etwas beobachtet hat. Eine von zwanzig. Ich halte das für einen vernünftigen Prozentsatz.«

»Ich fürchte, Sie geraten auf Abwege«, sagte Haydock, »das klingt mir eher nach einer dieser schrecklichen Denksportaufgaben – wenn sechs Männer weiße Hüte tragen und sechs Männer schwarze, muss man irgendwie errechnen, wie sie durcheinandergeraten und in welchem Verhältnis. Nein, wenn Sie solche Überlegungen anstellen, werden Sie verrückt. Das kann ich Ihnen versichern.«

»An so was habe ich ja gar nicht gedacht«, erklärte Miss Marple. »Ich habe nur überlegt, dass…«

»Ja«, warf Haydock nachdenklich ein, »so was können Sie hervorragend. Haben Sie immer gekonnt!«

»Es ist doch wahrscheinlich, verstehen Sie«, sagte Miss Marple, »dass zumindest einer von zwanzig eine gute Beobachtungsgabe besitzt.«

»Ich gebe mich geschlagen«, erwiderte Haydock. »Lassen Sie Ihre drei Möglichkeiten hören.«

»Ich fürchte, ich kann es Ihnen nur in groben Umrissen erklären«, meinte Miss Marple, »weil ich es noch nicht gründlich durchdacht habe. Chefinspektor Craddock und Cornish werden sicherlich alle Gäste befragt haben, und üblicherweise würde derjenige, der etwas beobachtet hat, es auch sofort sagen.«

»Ist das eine der drei Möglichkeiten?«

»Nein, nein, denn das ist nicht geschehen. Wir müssen uns vielmehr fragen, warum hat diese Person geschwiegen, obwohl sie etwas beobachtete?«

»Ich höre.«

»Möglichkeit eins«, begann Miss Marple, deren Wangen sich mit einem rosigen Schimmer überzogen hatten. »Die Person, die etwas sah, ist sich dessen nicht bewusst. Was natürlich bedeutet, dass diese Person nicht gerade eine Leuchte ist. Der Typ, der verneint, wenn man zum Beispiel fragte: ›Haben Sie beobachtet, wie jemand etwas in Marina Greggs Glas warf?‹ Der aber ›Ja, selbstverständlich‹ sagt, wenn man ihn fragte, ob er sah, wie jemand die Hand über Marina Greggs Glas legte.«

Haydock lachte. »Ich gebe zu«, rief er, »dass man an den Trottel immer zuletzt denkt. Schön, das ist Möglichkeit eins: Der Dummkopf sah es zwar, begriff aber nicht, was es bedeutete. Und die zweite Möglichkeit?«

»Sie ist ziemlich weit hergeholt, trotzdem ist es denkbar. Es kann ein ganz normaler Vorgang gewesen sein.«

»Augenblick, bitte. Das müssen Sie mir genauer erklären.«

»Heutzutage tun die Leute immer irgendetwas ins Essen oder in ihre Drinks. Als ich jung war, hielt man es für sehr ungezogen, wenn man während des Essens ein Medikament einnahm. Es wurde genauso missbilligt wie das Naseputzen bei Tisch. Es gehörte sich nicht. Wenn man eine Tablette oder Kapsel oder eine Löffelspitze voll irgendetwas nehmen musste, verließ man dazu das Zimmer. Heute ist das anders. Als ich bei meinem Neffen Raymond eingeladen war, beobachtete ich, dass ein paar Gäste mit einem Haufen Fläschchen und Schächtelchen ankamen. Sie nehmen die Medikamente mit dem Essen oder davor oder danach. Sie tragen Aspirin und Ähnliches in der Handtasche mit sich herum und schlucken immer irgendeine Tablette – mit einer Tasse Tee oder mit dem Kaffee nach dem Essen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja. Ich weiß jetzt, worauf Sie hinauswollen. Sehr interessant. Sie meinen, dass jemand – « Er schwieg. »Erzählen Sie es lieber mit Ihren eigenen Worten«, meinte er dann.

»Es könnte also möglich sein – ziemlich kühn, aber möglich –, dass jemand das Glas nahm und so tat, als sei es sein eigenes, und ganz unverblümt etwas hineinwarf. In so einem Fall würde sich kein Mensch etwas denken.«

»Damit konnte er – oder sie – aber nicht rechnen«, bemerkte Haydock.

»Ja, schon«, pflichtete ihm Miss Marple bei. »Riskant, aber vorstellbar. Außerdem gibt es noch die dritte Möglichkeit«, fügte sie hinzu.

»Nummer eins ein Dummkopf«, sagte Haydock. »Nummer zwei eine Spielernatur – und wer ist Ihrer Ansicht nach Nummer drei?«

»Jemand, der genau Bescheid weiß und schweigt.«

Haydock runzelte die Stirn. »Aus welchem Grund?«, fragte er. »Wollen Sie andeuten, dass es sich um Erpressung handelt? Falls das – «

»Falls das stimmt«, ergänzte Miss Marple, »ist das eine gefährliche Sache.«

»Ja, ganz meine Meinung.« Haydock betrachtete die freundliche alte Dame mit dem Haufen weißer Wolle im Schoß. »Halten Sie die dritte Möglichkeit für die wahrscheinlichste?«

»Nein«, antwortete Miss Marple. »So weit möchte ich nicht gehen. Dazu habe ich im Augenblick zu wenig Anhaltspunkte. Wenn noch jemand getötet werden würde, wäre dies allerdings etwas anderes.«

»Glauben Sie, dass der Täter wieder zuschlägt?«

»Ich hoffe es nicht«, sagte Miss Marple ernst, »ich bete darum, dass ich mich täusche. Aber oft passiert es, Doktor Haydock. Eine traurige, schreckliche Sache. So etwas passiert sehr oft.«