Monsieur Giraud stößt auf Indizien

 

Im Salon fand ich den Untersuchungsrichter damit beschäftigt, den alten Gärtner Auguste zu verhören. Poirot und der Kommissar, die beide zugegen waren, begrüßten mich mit einem Lächeln beziehungsweise einer höflichen Verbeugung. Ich nahm leise Platz. M. Hautet war gewissenhaft und aufs Peinlichste genau, doch er konnte Auguste keine bedeutsame Information entlocken.

Auguste gab zu, dass die Gartenhandschuhe ihm gehörten. Er benutzte sie, wenn er es mit einer bestimmten Primelsorte zu tun hatte, die für manche Menschen giftig war. Er wusste nicht mehr, wann er sie zuletzt getragen hatte. Vermisst hatte er sie jedenfalls nicht. Wo er sie aufbewahre? Mal hier, mal dort. Der Spaten stehe meistens im kleinen Werkzeugschuppen. Ob der abgeschlossen werde? Natürlich werde er abgeschlossen. Und wo der Schlüssel aufbewahrt werde? Parbleu, der stecke natürlich in der Tür. Im Schuppen gebe es schließlich keine Wertgegenstände zu stehlen. Wer habe denn mit einer Bande von Verbrechern oder Mördern rechnen können? Zu Zeiten von Madame la Vicomtesse sei so etwas nie vorgekommen.

M. Hautet deutete an, dass das Verhör hiermit beendet sei, und der alte Mann zog sich murrend zurück. Da mir Poirots unerklärliches Interesse an den Fußstapfen im Blumenbeet eingefallen war, hatte ich Auguste genau im Auge behalten, während er seine Aussage machte. Entweder hatte er nichts mit dem Verbrechen zu tun, oder er war ein hervorragender Lügner. Als er gerade die Tür öffnete, kam mir plötzlich ein Gedanke.

»Pardon, Monsieur Hautet«, rief ich, »aber dürfte ich wohl eine Frage stellen?«

»Natürlich, Monsieur.«

Auf diese Weise ermutigt, wandte ich mich an Auguste.

»Wo bewahren Sie Ihre Stiefel auf?«

»An meinen Füßen«, polterte der alte Mann. »Wo denn sonst?«

»Und wenn Sie schlafen?«

»Unter meinem Bett.«

»Aber wer putzt sie?«

»Niemand. Warum sollten sie geputzt werden? Flaniere ich vielleicht wie ein junger Mann über die Strandpromenade? Sonntags nehme ich meine Sonntagsstiefel, aber sonst…« Er zuckte mit den Schultern.

Ich schüttelte entmutigt den Kopf.

»Nun gut«, sagte der Untersuchungsrichter. »Sehr viel weiter sind wir nicht gekommen. Zweifellos werden wir das Antwortkabel aus Santiago abwarten müssen. Hat irgendeiner von Ihnen Giraud gesehen? Der hat die Höflichkeit weiß Gott nicht mit Löffeln gegessen. Ich habe wirklich Lust, jemanden loszuschicken, um ihn zu holen…«

»Dieser Jemand wird nicht weit laufen müssen.«

Die ruhige Stimme ließ uns hochfahren. Giraud stand draußen und schaute zum offenen Fenster herein.

Dann sprang er ins Zimmer und ging zum Tisch.

»Ich stehe zu Ihren Diensten. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich nicht früher gemeldet habe.«

»Aber nicht doch – nicht doch!«, sagte der Untersuchungsrichter verwirrt.

»Natürlich bin ich nur ein Detektiv«, fuhr der andere fort. »Ich weiß nichts über Verhöre. Aber wenn ich eins zu führen hätte, dann würde ich das nur ungern bei offenem Fenster tun. Jeder, der zufällig draußen steht, kann zuhören. Aber egal.«

M. Hautet wurde rot vor Zorn. Zwischen dem Untersuchungsrichter und dem auf den Fall angesetzten Detektiv konnte von großer Liebe eindeutig nicht die Rede sein. Sie waren gleich zu Anfang aneinander geraten. Vielleicht war das auch gar nicht zu vermeiden gewesen. Giraud hielt alle Untersuchungsbeamten für Idioten, und M. Hautet, der sich so ernst nahm, musste sich einfach vom lässigen Auftreten des Pariser Detektivs gekränkt fühlen.

»Eh bien, Monsieur Giraud«, sagte der Untersuchungsrichter in ziemlich scharfem Ton. »Zweifellos haben Sie Ihre Zeit aufs Hervorragendste genutzt. Sie können uns sicher die Namen der Mörder nennen, nicht wahr? Und auch deren derzeitigen Aufenthaltsort?«

Von dieser Ironie unangefochten erwiderte M. Giraud: »Ich weiß zumindest, woher sie gekommen sind.«

Er zog zwei kleine Gegenstände aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Wir drängten uns aneinander. Es handelte sich um sehr schlichte Gegenstände: einen Zigarettenstummel und ein unbenutztes Streichholz. Der Detektiv fuhr herum und wandte sich an Poirot.

»Was sehen Sie da?«, fragte er.

In seinem Tonfall lag etwas fast Brutales, das mich erröten machte. Poirot dagegen ließ sich nicht beeindrucken. Er zuckte mit den Schultern.

»Einen Zigarettenstummel und ein Streichholz.«

»Und was sagt Ihnen das?«

Poirot hob die Hände.

»Es sagt mir – nichts.«

»Ah!«, sagte Giraud zufrieden. »Sie haben sich ja auch nicht mit diesen Gegenständen befasst. Das ist kein gewöhnliches Streichholz – jedenfalls nicht in diesem Land. In Südamerika kommt es sehr häufig vor. Zum Glück ist es unbenutzt, sonst hätte ich das vielleicht nicht erkannt. Offenbar hat einer der Männer seine Zigarette weggeworfen und sich eine neue angesteckt, und dabei ist ein Streichholz aus der Schachtel gefallen.«

»Und das andere Streichholz?«, fragte Poirot.

»Welches andere?«

»Das, mit dem er seine Zigarette angezündet hat. Haben Sie das auch gefunden?«

»Nein.«

»Vielleicht haben Sie nicht gründlich genug gesucht.«

»Nicht gründlich genug gesucht…« Der Detektiv schien einem Wutausbruch nahe, doch er riss sich zusammen. »Ich sehe, Sie machen gern einen Witz, Monsieur Poirot. Wie auch immer – ob wir das Streichholz nun haben oder nicht, der Zigarettenstummel allein reicht schon aus. Es handelt sich um eine südamerikanische Zigarette mit Lakritzpapier.«

Poirot verbeugte sich.

Der Kommissar sagte: »Zigarettenstummel und Streichholz könnten auch von Monsieur Renauld stammen. Vergessen Sie nicht, dass er erst vor zwei Jahren aus Südamerika zurückgekehrt ist.«

»Nein«, erwiderte der andere voller Überzeugung. »Ich habe Monsieur Renaulds Hinterlassenschaft bereits durchgesehen. Er hat ganz andere Zigaretten geraucht und andere Streichhölzer benutzt.«

»Finden Sie es nicht seltsam«, fragte Poirot, »dass diese Fremden weder Waffe noch Handschuhe noch Spaten mitbringen und alles griffbereit hier vorfinden?«

Giraud lächelte ziemlich herablassend.

»Das ist zweifellos merkwürdig. Und ohne meine Theorie wäre es ganz und gar unerklärlich.«

»Aha!«, sagte M. Hautet. »Ein Komplize hier im Haus.«

»Oder draußen«, erwiderte Giraud mit seltsamem Lächeln.

»Aber jemand muss sie ins Haus gelassen haben. Wir können doch nicht davon ausgehen, dass sie durch einen schlichten Glücksfall die Haustür offen vorgefunden haben?«

»Es hat ihnen jemand die Tür aufgemacht, aber sie hätte sich genauso leicht von außen öffnen lassen – von jemandem, der über einen Schlüssel verfügte.«

»Aber wer hatte einen Schlüssel?«

Giraud zuckte die Achseln.

»Wer immer einen hatte, wird es nur dann zugeben, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber es gibt mehrere, die einen Schlüssel gehabt haben können. Monsieur Jack Renauld, der Sohn, zum Beispiel. Er ist zwar gerade unterwegs nach Südamerika, aber vielleicht hat er seinen Schlüssel verloren, oder er ist ihm gestohlen worden. Und dann ist da noch der Gärtner – der ist schon seit vielen Jahren hier. Eine der Zofen hat vielleicht einen Liebhaber. Es ist so einfach, einen Abdruck von einem Schlüssel zu machen und neue anfertigen zu lassen. Es gibt viele Möglichkeiten. Und dann ist da noch eine Person, bei der ich es für ausgesprochen wahrscheinlich halte, dass sie einen Schlüssel hat.«

»Und das wäre?«

»Madame Daubreuil«, antwortete der Detektiv.

»Ei, ei«, sagte der Untersuchungsrichter. »Das haben Sie also auch schon gehört?«

»Ich höre alles«, entgegnete Giraud ungerührt.

»Ich könnte schwören, dass Sie eins noch nicht gehört haben«, erwiderte M. Hautet, entzückt angesichts der Gelegenheit, sein überlegenes Wissen vorführen zu können. Und sogleich erzählte er die Geschichte von der geheimnisvollen Besucherin am letzten Abend. Er erwähnte auch den auf »Duveen« ausgestellten Scheck und reichte Giraud schließlich den mit »Bella« unterzeichneten Brief.

»Das alles ist hochinteressant. Aber meine Theorie wird davon nicht berührt.«

»Und wie sieht diese Theorie aus?«

»Das möchte ich im Moment noch für mich behalten. Vergessen Sie nicht, ich habe mit meinen Untersuchungen gerade erst angefangen.«

»Sagen Sie mir eins, Monsieur Giraud«, bat Poirot plötzlich. »Ihre Theorie lässt zu, dass die Tür offen war. Sie erklärt nicht, warum sie hinterher immer noch offen stand. Wäre es nicht ganz natürlich gewesen, wenn die Verbrecher sie geschlossen hätten? Wenn ein sergent de ville am Haus vorbeigekommen wäre, und manchmal gehen sie ja Streife, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist, dann wären sie ja vielleicht entdeckt und vom Fleck weg festgenommen worden?«

»Bah! Sie haben es vergessen. Ein Versehen, das garantiere ich Ihnen.«

Zu meiner Überraschung sagte Poirot nun dasselbe, was er Bex schon am Vorabend mitgeteilt hatte:

»Ich bin nicht Ihrer Meinung. Dass die Tür offen stand, war entweder so geplant, oder es musste einfach so sein, und eine Theorie, die diese Tatsache leugnet, muss sich als Fehlschlag erweisen.«

Wir alle betrachteten den kleinen Mann mit ziemlicher Verblüffung. Ich hatte angenommen, dass die Sache mit dem Streichholz für ihn eine Demütigung bedeutete, und nun war er selbstzufrieden wie eh und je und putzte Giraud herunter, ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Detektiv zwirbelte seinen Schnurrbart und blickte meinen Freund herausfordernd an.

»Sie sind nicht meiner Meinung, ja? Na, und was fällt Ihnen an diesem Fall besonders auf? Lassen Sie uns Ihre Ansicht doch hören.«

»Eine Tatsache erscheint mir als ganz besonders bedeutend. Sagen Sie, Monsieur Giraud, kommt Ihnen an diesem Fall denn gar nichts bekannt vor? Erinnert er Sie an nichts?«

»Bekannt? Erinnern? Das kann ich so schnell nicht sagen. Aber ich glaube es eigentlich nicht.«

»Sie irren sich«, sagte Poirot ruhig. »Es ist schon einmal ein nahezu identisches Verbrechen begangen worden.«

»Wann denn? Und wo?«

»Ach, leider weiß ich das im Moment auch nicht, aber es wird mir wieder einfallen. Ich hatte gehofft, Sie würden mir helfen können.«

Giraud schnaubte ungläubig.

»Es hat schon viele Fälle gegeben, in denen Maskierte eine Rolle spielten. Ich kann mich nicht an alle Details erinnern. Diese Verbrechen ähneln einander doch alle.«

»Es gibt etwas, das man individuelle Züge nennen könnte.« Nun dozierte Poirot wieder und wandte sich an uns alle. »Ich spreche jetzt von der Psychologie des Verbrechens. Monsieur Giraud weiß sehr gut, dass jeder Verbrecher seine besondere Methode hat und dass die Polizei, wenn sie zum Beispiel wegen eines Einbruchs gerufen wird, oft erraten kann, wer ihn begangen hat, ganz einfach, weil der Einbrecher zu bestimmten Methoden gegriffen hat. (Japp würde Ihnen dasselbe erzählen, Hastings.) Der Mensch ist ein phantasieloses Tier. Phantasielos in seinem respektablen Alltagsleben, ebenso phantasielos, wenn er sich außerhalb des Gesetzes begibt. Wenn jemand ein Verbrechen begeht, dann werden seine späteren Verbrechen große Ähnlichkeit mit dem ersten aufweisen. Der englische Mörder, der sich seiner Frauen entledigte, indem er sie in der Badewanne ertränkte, war so ein Fall. Hätte er seine Methoden variiert, wäre er vielleicht bis heute unentdeckt geblieben. Aber er gehorchte dem Diktat der menschlichen Natur, glaubte, dass das, was einmal gelungen war, auch wieder gelingen müsse, und bezahlte den Preis für diese eklatante Phantasielosigkeit.«

»Und was wollen Sie uns damit sagen?«, feixte Giraud.

»Dass Sie bei zwei Verbrechen, die auf dieselbe Weise geplant und durchgeführt worden sind, hinter beiden dasselbe Gehirn finden werden. Ich suche dieses Gehirn, Monsieur Giraud, und ich werde es finden. Hier haben wir das wahre Indiz – ein psychologisches Indiz. Sie kennen sich vielleicht mit Zigaretten und Streichhölzern aus, Monsieur Giraud, aber ich, Hercule Poirot, kenne den menschlichen Geist!«

Giraud zeigte sich gänzlich unbeeindruckt.

»Um Ihnen weiterzuhelfen«, fuhr Poirot fort, »möchte ich Sie noch auf eine Tatsache hinweisen, die Ihnen vielleicht nicht mitgeteilt worden ist. Madame Renaulds Armbanduhr ging am Tag nach der Tragödie zwei Stunden vor.«

Giraud starrte ihn an.

»Vielleicht geht sie immer vor?«

»Wie ich gehört habe, tut sie das, ja.«

»Na also.«

»Aber zwei Stunden sind doch sehr viel«, sagte Poirot freundlich. »Und dann haben wir noch die Fußspuren im Blumenbeet.«

Er nickte zum offenen Fenster hinüber. Giraud war mit zwei Sprüngen dort und schaute hinaus.

»Aber ich sehe keine Fußspuren?«

»Nein«, sagte Poirot und rückte einen kleinen Bücherstapel auf dem Tisch gerade. »Es gibt auch keine.«

Einen Moment lang verdüsterte ein schier mörderischer Zorn Girauds Miene. Er trat auf seinen Quälgeist zu, doch in diesem Moment wurde die Salontür aufgerissen und Marchaud kündigte einen Besucher an:

»Monsieur Stonor, der Sekretär, ist soeben aus England eingetroffen. Darf er eintreten?«