1
Solange man nicht den Blick auf seine eigene Vergangenheit zurückwendet, wird einem nicht klar, wie ungewöhnlich das Bild ist, das ein Kind sich von der Welt macht. Der Blickwinkel ist völlig verschieden von dem eines Erwachsenen, die Dinge stehen in keinem Verhältnis zueinander.
Kinder sind durchaus imstande, alles, was um sie herum vorgeht, auf intelligente Weise zu bewerten. Sie besitzen ein recht gutes Urteilsvermögen, das ihnen gestattet, Charaktere und Menschen richtig zu taxieren. Aber es scheint ihnen nie in den Sinn zu kommen, sich über das Wie und Warum der Dinge den Kopf zu zerbrechen.
Ich war etwa fünf Jahre alt, als Vaters finanzielle Lage anfing, ihm Sorgen zu machen. Er war der Sohn eines reichen Mannes und hatte es als selbstverständlich betrachtet, dass er immer über ein sicheres Einkommen verfügen würde. Mein Großvater hatte ein kompliziertes System von Stiftungen errichtet, die nach seinem Tode wirksam werden sollten. Ursprünglich gab es vier Treuhänder. Der erste war sehr alt und zog sich von allen Geschäften zurück, der zweite wurde in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, und die anderen zwei, Männer in Vaters Alter, starben bald darauf. Ob es bloße Unfähigkeit war oder ob es im Zuge der Neubesetzungen jemandem gelang, sich auf unrechte Weise zu bereichern, weiß ich nicht. Die Lage wurde jedenfalls immer schlimmer.
Vater war bestürzt und niedergeschlagen, doch da er keine geschäftliche Erfahrung besaß, wusste er nicht, was er tun sollte. Er schrieb an den guten alten Soundso und an andere gute alte Freunde. In ihren Antworten versuchten sie, ihm Mut zu machen, und gaben der schlechten Wirtschaftslage, der Geldabwertung und anderen Dingen die Schuld. Zu dieser Zeit fiel ihm das Legat einer älteren Tante zu, das ihn für ein oder zwei Jahre über die Runden brachte, während das Einkommen, das ihm hätte ausbezahlt werden sollen, einfach nicht eintraf.
Zur gleichen Zeit auch begann er zu kränkeln. Er erlitt wiederholt »Herzanfälle«, ein unverbindlicher Terminus, der alles mögliche bedeuten konnte. Es waren wohl die finanziellen Sorgen, die seine Gesundheit angriffen. Es wurde zunächst für nötig befunden, sparsamer zu leben. Die in jenen Tagen als zweckdienlich angesehene Methode bestand darin, für eine kleine Weile Aufenthalt im Ausland zu nehmen, wo die Lebenskosten niedriger waren. Man vermietete sein Haus einschließlich Dienerschaft zu einem angemessenen Zins und ging nach Südfrankreich, wo man in einem halbwegs erschwinglichen Hotel logierte.
Ich war, glaube ich, sechs Jahre alt, als eine solche Übersiedlung stattfand. Ashfield wurde programmgemäß vermietet – an Amerikaner, die einen guten Mietpreis zahlten –, und die Familie bereitete ihre Abreise vor. Wir wollten nach Pau in Südfrankreich. Ich war natürlich sehr aufgeregt. Wo wir hinfuhren, sagte Mutter, würden wir Berge sehen. Ich stellte viele Fragen über diese Berge. Waren sie sehr sehr hoch? Höher als der Kirchturm von St. Mary? Ich kannte nichts Höheres. Ja, sie waren viel, viel höher. Sie waren Hunderte, Tausende von Fuß hoch. Ich zog mich mit Tony in den Garten zurück, um mir das durch den Kopf gehen zu lassen. An einem großen Stück Brot kauend, versuchte ich mir ein Bild von Bergen zu machen. Ich legte den Kopf zurück und starrte zum Himmel hinauf. So also würden die Berge aussehen – ihre Gipfel würden sich in den Wolken verlieren. Der Gedanke flößte mir ehrfürchtige Scheu ein. Mutter liebte das Gebirge. Ich war ganz sicher, dass die Berge ein ganz großes Erlebnis für mich sein würden.
Unsere Reise ins Ausland brachte etwas für mich sehr Schmerzliches mit sich: Ich musste mich von Tony trennen. Er wurde zu Froudie, einem früheren Stubenmädchen, in Kost gegeben. Froudie, die mit einem Zimmermann verheiratet war und nicht weit von uns wohnte, war durchaus bereit, Tony bei sich aufzunehmen.
Aus heutiger Sicht gesehen, reiste man damals unter außergewöhnlichen Umständen. Es gab natürlich keine Reisepässe und keine Formulare, die man ausfüllen musste. Man kaufte die Fahrkarten und bestellte Schlafwagenabteile – das war alles. Ganz einfach. Aber das Packen! Ich weiß nicht, woraus das Gepäck der restlichen Familie bestand, aber ich kann mich recht gut erinnern, was Mutter mitnahm. Da waren zunächst drei Reisekisten. Die größte war über einen Meter hoch und hatte zwei Einsätze. Dann gab es Hutschachteln, große Lederkoffer, drei Schrankkoffer und einige amerikanische Überseekoffer, wie man sie damals in den Gängen von Hotels sah. Sie waren enorm groß und bestimmt übermäßig schwer.
Zumindest eine Woche lang vor unserer Abreise war Mutter in ihrem Schlafzimmer von Koffern umgeben. Da wir nach damaligen Begriffen nicht reich waren, hatten wir keine Kammerzofe, und Mutter musste das Packen alleine besorgen. Vorher aber kam noch, was wir »Aussortieren« nannten. Die Schubladen und die großen Schränke standen weit offen, während Mutter unter anderem Kunstblumen aussortierte, sowie allen möglichen Krimskrams, den sie als »meine Bänder« und »meinen Schmuck« bezeichnete.
Schmuck bestand nicht so wie heute aus ein paar »echten Stücken« und großen Mengen von Modeschmuck. Von Strass abgesehen, galt es als »geschmacklos«, Imitationen zu gebrauchen. Mutters wertvollster Schmuck bestand aus »meiner Brillantspange, meinem Brillantdiadem und meinem Brillantring«. Der Rest ihrer Schätze war ebenfalls echt, aber nicht gar so kostbar, dennoch für uns alle von großem Interesse. Dazu gehörte »meine indische Halskette«, »meine florentinische Garnitur«, »meine venezianische Halskette«, »meine Kameen« und so weiter. Und dann besaß sie auch noch sechs Broschen, für die meine Schwester und ich ein persönliches und lebhaftes Interesse bekundeten. Das waren »die Fische«, fünf kleine Fische aus Brillanten, »die Mistel«, eine kleine mit Diamanten und Perlen besetzte Brosche, »mein Parmaveilchen«, eine Emailbrosche in der Form eines Parmaveilchens, »meine Heckenrose«, ebenfalls eine Blumenbrosche, und, die schönste von allen, »mein Esel«, eine Barockperle in der Form eines Eselskopfes, in Brillanten gefasst. Die Empfängerinnen aller dieser Schmuckstücke nach dem Ableben meiner Mutter standen bereits fest. Madge würde das Parmaveilchen (ihre Lieblingsblume), das Brillantdiadem und den Esel bekommen. Für mich war die Rose, die Brillantspange und die Mistel bestimmt. Dieser Zuteilung von Besitz für die Zukunft wurde in meiner Familie ausgiebig gefrönt, eine Gepflogenheit, die keinerlei trübe Gedanken an den Tod aufkommen ließ, wohl aber eine von herzlichen Gefühlen getragene Würdigung zu erwartender Gaben in sich schloss.
Haus Ashfield war voll von Ölbildern, die mein Vater kaufte. Es war damals Mode, die Wände so dicht wie möglich mit Bildern zu behängen. Eines war mir versprochen worden – ein großes Seestück mit einer einfältig lächelnden jungen Frau, die einen Knaben in ihrem Netz fängt. Als Kind war sie für mich Inbegriff der Schönheit, und es ist betrüblich festzustellen, wie wenig ich davon hielt, als die Zeit kam, die Bilder zu verkaufen. Selbst sentimentale Regungen konnten mich nicht bewegen, auch nur ein einziges zu behalten. Während Vater in Bildern einen durchwegs schlechten Geschmack bewies, war jedes einzelne Möbelstück, das er kaufte, ein Juwel. Er hatte eine Schwäche für Möbel vergangener Stilepochen, und die Sheraton-Schreibtische und die Chippendale-Stühle, die er erwarb – oft zu erstaunlich niedrigen Preisen, weil damals Bambus die große Mode war –, es ist ein Vergnügen, mit ihnen zu leben und sie zu besitzen.
Er, meine Mutter und meine Großmutter teilten eine Leidenschaft: Sie sammelten Porzellan. Als Oma zu uns zog, brachte sie ihr Dresden und ihr Capo di Monte mit und füllte damit unzählige Schränke im Hause Ashfield. Es mussten sogar zusätzliche Schränke angeschafft werden, um alles unterzubringen. Kein Zweifel, wir waren eine Familie von Sammlern, und ich habe diese Leidenschaft geerbt. Bedauerlich ist nur, dass man keine Rechtfertigung hat, selbst eine Sammlung anzulegen, wenn man eine schöne Porzellan- und Möbelsammlung erbt. Aber die Sammelleidenschaft will befriedigt werden, und so habe ich eine hübsche Anzahl von Papiermaschee-Möbeln und kleinen Kunstgegenständen zusammengetragen.
Als der große Tag kam, war ich so aufgeregt, dass mir ganz übel wurde und ich kein Wort hervorbringen konnte. Wenn mich etwas heftig bewegt, pflegt mich das der Sprache zu berauben. Das erste deutliche Bild von unserer Reise ist der Moment, da wir in Folkestone an Bord gingen. Mutter und Madge nahmen die Fahrt über den Kanal durchaus ernst. Sie waren keineswegs seefest und zogen sich sofort in die Toiletten zurück oder legten sich nieder, schlossen die Augen und hofften, ohne allzu großes Ungemach nach Frankreich zu gelangen. Trotz der schlechten Erfahrung, die ich in einem kleinen Dinghy gemacht hatte, war ich davon überzeugt, seefest zu sein. Vater bestärkte mich in diesem Glauben, und so blieb ich bei ihm auf Deck. Es war vermutlich eine völlig ruhige Überfahrt, aber ich rechnete es nicht dem Meer als Verdienst an, sondern meiner eigenen Fähigkeit, den Wellenbewegungen zu widerstehen. Wir legten in Boulogne an, und ich war stolz, als mein Vater verkündete: »Agatha ist ein ganz tüchtiger Seemann.«
Aufregend war auch das Zubettgehen im Schlafwagen. Ich fuhr in einem Abteil mit Mutter und wurde in das obere Bett verfrachtet. Mutter hatte eine große Vorliebe für frische Luft, und die Dampfheizung im »Wagon Lits« war eine Qual für sie. Immer, wenn ich aufwachte, sah ich, wie sie den Kopf aus dem Fenster steckte und in großen Zügen die Nachtluft einatmete.
Früh am Morgen kamen wir in Pau an. Wir bestiegen den wartenden Hotelwagen und trafen wenig später beim Hotel Beauséjour ein. Das Hotel hatte eine große Terrasse, mit Aussicht auf die Pyrenäen.
»Da!«, sagte Vater. »Siehst du? Das sind die Pyrenäen. Die mit Schnee bedeckten Berge.«
Ich sah. Es war eine der größten Enttäuschungen meines Lebens, eine Enttäuschung, die ich nie vergessen habe. Wo war die himmelstürmende Höhe, hoch, hoch hinauf, über alle Grenzen des Bewusstseins und des Verstandes hinaus? Statt dessen sah ich in einiger Entfernung etwas am Horizont, das mir wie eine Reihe von Zähnen vorkam, die kaum Hand breit über die Ebene hinausragten. Waren das Berge? Ich sagte nichts, aber noch heute fühle ich diese entsetzliche Enttäuschung.
2
Wir blieben wohl etwa sechs Monate in Pau. Es war ein völlig neues Leben für mich. Vater und Mutter und Madge entfalteten ungeheure gesellschaftliche Aktivität. Vater traf mehrere amerikanische Freunde, er lernte Hotelgäste kennen, und überdies hatten wir Empfehlungsschreiben für eine Menge Leute, die dort weilten.
Für mich engagierte Mutter eine Art Kinderfräulein – Gouvernante – eine junge Engländerin, die aber ihr ganzes Leben in Pau verbracht hatte und Französisch ebenso gut wie Englisch sprach, wenn nicht sogar noch besser. Von ihr sollte ich Französisch lernen. Aber die Erwartungen meiner Mutter erfüllten sich nicht. Miss Markham erschien jeden Morgen, um mit mir spazieren zu gehen. Dabei lenkte sie meine Aufmerksamkeit auf verschiedene Objekte und wiederholte ihre Bezeichnung auf Französisch. »Un chien.«
»Une maison.«
»Un gendarme.«
»Le boulanger.« Pflichtschuldigst wiederholte ich die Wörter, aber wenn ich etwas zu fragen hatte, fragte ich natürlich auf englisch, und Miss Markham antwortete mir auf Englisch. Es waren ermüdende Tage für mich: die endlosen Spaziergänge in Gesellschaft Miss Markhams; sie war nett, freundlich, gewissenhaft und langweilig.
Mutter erfasste sehr bald, dass ich bei Miss Markham niemals Französisch lernen würde und dass ich Französischstunden von einer Französin bekommen müsse, die jeden Nachmittag kommen würde. Diese Neuerwerbung war Mademoiselle Mauhourat. Sie war groß, strotzte vor Gesundheit und bevorzugte als Kleidung zahllose kleine, braune Umhänge.
Mademoiselle Mauhourat war eine sehr überschwängliche Person, und Überschwang schüchterte mich ein. Es fiel mir immer schwerer, auf ihr girrendes Quieken geziemend zu reagieren. »Oh, la chère mignonne! Qu’elle est gentille, cette petite! Oh, la chère mignonne! Nous allons prendre des leçons tres amusantes, n’est-ce pas?« Ich sah sie höflich, aber kühl an, ich glaubte nicht, dass dieser Unterricht wirklich lustig sein würde. Wenn Mutter mir dann einen strengen Blick zuwarf, murmelte ich nicht eben überzeugend: »Oui, merci«, was ungefähr das Total meiner damaligen Französischkenntnisse darstellte.
Die Französischstunden gingen friedlich weiter. Wie immer war ich willig, aber offenbar auch schwer von Begriff. Mutter, die schnelle Erfolge schätzte, war mit meinen Fortschritten nicht zufrieden.
»Sie kommt nicht so voran, wie sie sollte«, klagte sie bei Vater.
»Lass ihr doch Zeit, Clara«, erwiderte mein stets verständnisvoller Vater. »Lass ihr Zeit. Die Frau kommt doch erst seit zehn Tagen.«
Aber Mutter war nicht der Mensch, der anderen Zeit ließ. Der Höhepunkt kam, als ich an einer leichten Grippe erkrankte, die dann in eine Schleimhautentzündung überging. Ich hatte Fieber und fühlte mich gar nicht wohl. Als Rekonvaleszentin mit leichter Temperatur konnte ich den Anblick Mademoiselle Mauhourats nicht ertragen!
»Bitte, erlass mir heute Nachmittag die Französischstunde«, bettelte ich. »Ich möchte nicht.«
Mutter war immer verständnisvoll, wenn es gute Gründe gab. Sie stimmte zu. Als Mademoiselle Mauhourat zur gewohnten Zeit mit ihren Umhängen erschien, erklärte ihr Mutter, dass ich immer noch Fieber hätte und zuhause bleiben müsse. Es wäre vielleicht besser, die Stunde für heute ausfallen zu lassen. Mademoiselle Mauhourat war nicht zu halten. Aufgeregt, mit flatternden Umhängen, die Hände zusammenschlagend, eilte sie an mein Bett und beugte sich schwer atmend über mich. »Oh, la pauvre mignonne, la pauvre petite mignonne!« Sie würde mir vorlesen, sagte sie, sie würde mir Geschichten erzählen.
Ich warf Mutter verzweifelte Blicke zu. Ich konnte es nicht ertragen! Ich konnte es keine Sekunde länger ertragen! Mademoiselle Mauhourats Stimme gellte mir in den Ohren. Schrill, quäkend – alles, was mir an einer Stimme missfiel. Meine Augen bettelten: »Erlöse mich von ihr! Bitte erlöse mich von ihr!« Mit fester Hand schob Mutter Mademoiselle Mauhourat zur Tür.
»Ich halte es für besser, wenn Agatha heute Nachmittag Ruhe hat«, sagte sie. Sie begleitete sie hinaus, kam zurück und sah mich kopfschüttelnd an. »Alles schön und gut«, meinte sie, »aber du brauchst nicht so schreckliche Gesichter zu schneiden.«
»Gesichter?«
»Ja. Alle diese Grimassen und die Blicke, die du mir zugeworfen hast. Mademoiselle Mauhourat hat bestimmt gemerkt, dass du sie forthaben wolltest.«
Ich war bestürzt. Ich hatte nicht unhöflich sein wollen.
»Aber Mama«, wandte ich ein, »ich habe doch keine französischen Gesichter geschnitten. Es waren englische Gesichter.«
Mutter fand das sehr spaßig und erklärte nur, dass Gesichterschneiden eine Art internationaler Sprache wäre, die man in allen Ländern verstand. Trotzdem berichtete sie Vater, dass Mademoiselle Mauhourat anscheinend nicht die Richtige wäre und dass sie sich anderweitig umsehen würde. Vater hatte nichts dagegen. »An Agathas Stelle«, sagte er, »würde ich diese Frau genauso unerträglich finden.«
Befreit von den Liebesdiensten Mademoiselle Mauhourats und Miss Markhams begann ich mich meines neuen Lebens zu erfreuen. Im Hotel wohnte auch Mrs Selwyn, die Witwe oder vielleicht auch die Schwiegertochter von Bishop Selwyn, und ihre zwei Töchter, Dorothy und Mary. Dorothy (Dar) war ein Jahr älter als ich, Mary ein Jahr jünger. Bald waren wir unzertrennlich.
Mir selbst überlassen, war ich ein gutes, artiges und gehorsames Kind. In Gesellschaft anderer Kinder allerdings war ich stets für jeden Schabernack zu haben. Im Besonderen machten wir drei den unglücklichen Kellnern an der table d’hôte das Leben sauer. Einmal leerten wir alle Salzfässer aus und füllten sie mit Zucker. An einem anderen Abend schnitten wir Schweinchen aus Orangenschalen und legten sie, kurz bevor die Glocke zur table d’hôte geläutet wurde, auf alle Teller.
Diese französischen Kellner waren die gutmütigsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Dabei denke ich vor allem an Victor, unseren eigenen Kellner. Er war ein kleiner, breitschultriger Mann mit einer langen höckerigen Nase. Nach meinem Dafürhalten stank er ganz entsetzlich – es war meine erste Begegnung mit Knoblauch. Trotz aller Streiche, die wir ihm spielten, grollte er uns nicht und bemühte sich sogar, besonders nett zu uns zu sein. Wenn wir nie in ernste Schwierigkeiten gerieten, so nur, weil der gute Victor sich nie bei der Direktion oder bei unseren Eltern über uns beklagte.
Meine Freundschaft mit Dar und Mary bedeutete mir weit mehr als irgendeine meiner bisherigen Freundschaften. Möglicherweise hatte ich ein Alter erreicht, in dem ich dazu neigte, lieber an gemeinschaftlichen Unternehmungen teilzunehmen, als auf eigene Faust an die Dinge heranzugehen. Zusammen trieben wir viel Unfug und hatten eine Menge Spaß in diesen Wintermonaten. Natürlich gerieten wir durch unsere Streiche oft in Schwierigkeiten, aber nur in einem Fall empfanden wir gerechten Zorn über eine Rüge, die uns erteilt wurde.
Mutter und Mrs Selwyn saßen friedlich plaudernd zusammen, als das Zimmermädchen ihnen eine Botschaft überbrachte: »Mit besten Empfehlungen von der belgischen Dame, die im Nebentrakt des Hotels wohnt. Wissen Mrs Selwyn und Mrs Miller, dass ihre Töchter auf der Brüstung des vierten Stocks spazieren gehen?«
Man stelle sich die Gefühle der zwei Mütter vor, als sie in den Hof hinaus eilten, nach oben sahen und drei Gestalten erblickten, die fröhlich im Gänsemarsch über einen knapp dreißig Zentimeter breiten Mauersims balancierten. Es kam uns keinen Augenblick in den Sinn, dass wir uns in Gefahr befanden. Wir hatten eines der Stubenmädchen über Gebühr gepiesackt, und es war ihr gelungen, uns in eine Besenkammer zu locken und dann die Tür von außen zuzuschließen. Triumphierend hatte sie den Schlüssel im Schloss umgedreht. Wir waren sehr empört. Was war zu tun? Die Kammer hatte ein kleines Fenster. Dar steckte den Kopf hinaus und sagte, sie hielte es für möglich, uns durchzuwinden und dann auf dem Sims um die Ecke zu gehen und durch ein offenes Fenster wieder ins Haus zu gelangen. Gesagt, getan. Dar schlängelte sich als Erste durch, dann ich, dann Mary. Zu unserer Freude stellten wir fest, dass es ganz leicht war, über den Mauervorsprung zu gehen. Ob wir unterwegs hinunterschauten, weiß ich nicht, aber selbst wenn wir es getan hätten, ich glaube nicht, dass uns schwindlig geworden wäre und dass wir heruntergefallen wären. Immer wieder fasst mich Entsetzen, wenn ich Kinder sehe, die, die Zehen über den Rand, ohne jedes Schwindelgefühl oder andere Erwachsenenwehwehchen an einem Abgrund stehen und hinunterschauen.
Wir brauchten nicht weit zu gehen. Die ersten drei Fenster waren zu, aber das nächste, das in eine der Toiletten führte, stand offen. Kaum waren wir drin, wurden wir zu unserer Überraschung mit der Aufforderung konfrontiert, sofort in Mrs Selwyns Zimmer zu kommen. Beide Mütter waren ernstlich böse. Wir konnten nicht begreifen, warum. Wir wurden für den Rest des Tages ins Bett geschickt. Unsere Verteidigung wurde einfach nicht akzeptiert.
»Aber du hast uns nie etwas gesagt«, rechtfertigten wir uns vor den Müttern. »Du hast uns nie gesagt, dass wir nicht auf dem Sims rund ums Haus gehen dürfen.«
Wir zogen uns mit dem Gefühl ins Bett zurück, dass uns grobes Unrecht geschehen war.
Mutter beschäftigte sich mittlerweile immer noch mit dem Problem meiner Erziehung. Sie und meine Schwester ließen sich in einem Modesalon der Stadt Kleider machen, und dort fiel ihr Auge auf eine junge Schneiderin, deren Hauptaufgabe es war, Änderungen abzustecken und der Zuschneiderin Nadeln zu reichen. Diese war eine spitzzüngige Frau mittleren Alters, und die Geduld und die Gutmütigkeit des jungen Mädchens veranlassten Mutter, einige Erkundigungen über sie einzuziehen. Sie hieß Marie Sijé und war zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr Vater war Eigentümer eines kleinen Cafes. Sie hatte eine ältere Schwester, die im gleichen Salon arbeitete, zwei Brüder und eine kleinere Schwester. Sie war sprachlos, als Mutter sie ganz beiläufig fragte, ob sie Lust hätte, nach England zu kommen. Sie war von dem Vorschlag ebenso überrascht wie begeistert.
»Ich muss natürlich noch mit Ihrer Mutter reden«, sagte meine Mutter. »Es könnte ihr nicht recht sein, dass ihre Tochter so weit fort geht.«
Mutter besuchte Madame Sijé, und die beiden Damen besprachen alles genau und eingehend. Dann weihte Mutter Vater in ihre Pläne ein.
»Aber Clara«, protestierte Vater, »das Mädchen ist doch keine Gouvernante!«
Marie, erwiderte Mutter, wäre genau die Person, die sie brauchten. »Sie kann kein Englisch, kein einziges Wort. Agatha wird Französisch lernen müssen. Sie ist ein wirklich gutherziges und gutmütiges Mädchen und kommt aus einer anständigen Familie. Sie würde uns gern nach England begleiten und könnte für uns auch nähen und Kleider machen.«
»Bist du auch ganz sicher, Clara?«, fragte Vater zweifelnd.
Meine Mutter war immer sicher.
»Es ist die perfekte Lösung«, erklärte sie.
Und wie so oft bei Mutters wunderlichen Einfällen, behielt sie auch diesmal Recht. Ich brauche nur die Augen zu schließen, um die liebe Marie so zu sehen, wie ich sie damals sah. Rundliches, rosiges Gesicht, Stupsnase, dunkles Haar zu einem Knoten gerafft. Mit schlotternden Knien, wie sie mir später erzählte, kam sie am ersten Morgen in mein Zimmer. Sie hatte sich gut vorbereitet und mühsam die englischen Sätze gelernt, mit welchen sie mich begrüßte: »Guten Morgen, Miss. Ich hoffe, Sie sind wohlauf.« Leider war ihre Aussprache so schlecht, dass ich kein Wort verstand. Misstrauisch musterte ich sie. An diesem ersten Tag waren wir wie zwei Hündchen, die sich eben erst kennen gelernt haben. Wir redeten wenig und beäugten uns furchtsam. Marie bürstete mir das Haar – sehr blondes Haar, zu Ringellocken gedreht – und hatte solche Angst, mir wehzutun, dass sie es kaum wagte, die Bürste zu gebrauchen. Ich wollte ihr sagen, sie müsse viel fester bürsten, aber das war natürlich unmöglich, weil ich ihre Sprache nicht kannte.
Wie es möglich war, dass Marie und ich in weniger als einer Woche miteinander reden konnten, weiß ich nicht. Ein Wort hier, ein Wort da, und ich konnte mich auf Französisch verständlich machen. Mehr noch: Schon eine Woche später waren wir gute Freundinnen geworden. Mit Marie spazieren zu gehen, machte Spaß. Alles, was ich mit Marie unternahm, machte Spaß.
Im Frühsommer wurde es heiß in Pau, und wir reisten ab. Wir verbrachten eine Woche in Argelès, eine weitere in Lourdes und fuhren dann nach Cauterets am Fuß der Pyrenäen. Es war ein wunderschönes Stück Erde. Jeden Morgen gingen wir über einen Bergpfad, der zu den Thermalquellen führte, wo wir alle ein paar Becher scheußlich schmeckenden Wassers tranken. Nachdem wir auf diese Weise etwas für unsere Gesundheit getan hatten, kauften wir uns eine Stange sucre d’orge. Mutter zog Anis vor, das ich nicht ausstehen konnte. Auf den Zickzackwegen rund um das Hotel entdeckte ich bald einen höchst vergnüglichen Sport: auf dem Hosenboden durch den Kiefernwald zu rodeln. Marie schüttelte missbilligend den Kopf, aber ich bedaure, festhalten zu müssen, dass Marie von Anfang an nicht im Stande war, mir gegenüber ihre Autorität geltend zu machen. Wir waren Freundinnen und Spielkameraden, aber der Gedanke, zu tun, was sie mir sagte, kam mir nie in den Sinn.
Mit der Autorität ist das so eine Sache. Mutter besaß sie in vollem Maß. Sie war selten böse, hob kaum jemals die Stimme, aber sie brauchte nur in leisem Ton eine Anweisung zu geben, und schon wurde sie befolgt. Dass andere Leute diese Gabe nicht besaßen, verwunderte sie immer wieder. Als sie in späteren Jahren bei uns wohnte – ich war schon das erste Mal verheiratet und hatte mein eigenes Kind – beklagte ich mich über ein paar lästige Jungen, die im Nachbarhaus wohnten und immer durch die Hecke zu uns herüberkamen. Alle meine Aufforderungen, sie sollten sich verziehen, halfen nichts.
»Wie ungewöhnlich«, sagte Mutter, »warum sagst du ihnen nicht einfach, sie sollen fortgehen?«
»Versuch du es doch einmal«, antwortete ich, und gerade in diesem Augenblick erschienen die zwei kleinen Jungen, riefen wie gewohnt »Blablabla, wir bleiben da!« und warfen Kies auf den Rasen. Einer fing an, einen Baum zu beschießen, schnaufte und brüllte. Mutter fixierte ihn.
»Ronald«, sagte sie. »Ist das dein Name?«
Ronald gab zu, dass er so hieß.
»Bitte spielt nicht so nahe. Ich habe es nicht gern, wenn ich gestört werde. Geht ein bisschen weiter weg.«
Ronald sah sie an, pfiff seinem Bruder, und beide zogen ab.
»Du siehst, Liebling«, sagte Mutter. »Es ist ganz einfach.«
Für sie war es wirklich einfach. Ich bin überzeugt, Mutter wäre ohne jede Schwierigkeit fähig gewesen, mit einem Haufen jugendlicher Rechtsbrecher fertigzuwerden.
Im Hotel’in Cauterets wohnte ein etwas älteres Mädchen, dessen Mutter mit den Selwyns befreundet war. Sie hieß Sybil Patterson, und ich verehrte sie. Ich fand sie wunderschön, am meisten bewunderte ich ihre schwellenden Formen. Busen war damals sehr in Mode. Meine Großmutter und meine Großtante hatten sehr großzügige Kurven, und es fiel ihnen schwer, sich ohne »Kollision« mit schwesterlichen Küssen zu begrüßen. Während ich die Busen erwachsener Frauen als selbstverständlich betrachtete, rief die Tatsache, dass Sybil einen besaß, neidvolle Instinkte in mir wach. Sybil war vierzehn. Wie lange sollte ich noch zuwarten, bis auch mir diese prächtigen Attribute gegeben würden? Acht Jahre? Noch acht Jahre lang eine Bohnenstange? Ich sehnte diese Zeichen weiblicher Reife herbei. Nun ja, es hieß, sich in Geduld üben. In acht Jahren – vielleicht schon in sieben, wenn ich Glück hatte – würden meiner hageren Gestalt auf wunderbare Weise zwei große Rundungen entsprießen. Ich brauchte nur zu warten.
Die Selwyns blieben nicht so lange wie wir in Cauterets. Sie reisten ab, und ich hatte die Wahl zwischen zwei anderen Freundinnen: eine kleine Amerikanerin, Marguerite Prestley, und eine Engländerin, Margaret Home. Meine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit mit Margarets Eltern angefreundet und hofften jetzt natürlich, dass Margaret und ich uns in gleicher Weise zusammenschließen würden. Wie das in solchen Fällen schon ist, zog ich die Gesellschaft von Marguerite Prestley bei Weitem vor, die Redewendungen und Worte gebrauchte, die ich nie zuvor gehört hatte. Wir erzählten einander viele Geschichten. Eine von Marguerites Erzählungen, die ich ganz besonders aufregend fand, hatte die Gefahren zum Inhalt, die dem Menschen drohten, der einem scarrapin begegnete.
»Aber was ist denn ein scarrapin!«, fragte ich immer wieder.
Marguerite lieferte mir nur eine dürftige Beschreibung dieses schreckenerregenden Geschöpfes. Ich wandte mich an Marie, aber die hatte auch nie etwas von scarrapins gehört. Schließlich ging ich Vater an. Auch er hatte anfangs gewisse Schwierigkeiten, bis es ihm endlich dämmerte. »Du meinst wahrscheinlich einen Skorpion«, sagte er.
Und damit verflog der geheime Zauber. Ein Skorpion erschien mir nicht annähernd so schreckenerregend wie der imaginäre scarrapin.
Zwischen Marguerite und mir kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung über die Frage, wer die Babys bringe. Ich versicherte Marguerite, dass es die Engel wären, die die Babys brächten. Nursie hatte mich diesbezüglich genau informiert. Marguerite hingegen behauptete steif und fest, dass Babys zum Lagerbestand der Ärzte gehörten, die sie dann in ihren schwarzen Taschen ins Haus trugen. Als unser Disput immer mehr an Heftigkeit zunahm, schlichtete Fanny, Marguerites amerikanisches Kindermädchen, taktvoll den Streit.
»Genauso ist es, meine Schätzchen«, sagte sie. »Amerikanische Babys kommen in den Taschen der Ärzte, und die englischen werden von Engeln gebracht. Ganz einfach.«
Wir waren befriedigt und stellten die Feindseligkeiten ein.
Vater und Madge machten viele Ausflüge zu Pferd, und eines Tages wurde mein Wunsch erfüllt – man teilte mir mit, dass ich sie bei ihrem nächsten Ausritt begleiten dürfe. Heiße Freude durchzuckte mich. Mutter hegte die Befürchtung, dass mir etwas zustoßen könnte, aber Vater zerstreute schnell ihre Zweifel.
»Wir haben einen Führer dabei«, beruhigte er sie. »Er hat Erfahrung mit Kindern und wird darauf sehen, dass sie nicht herunterfällt.«
Am nächsten Morgen kamen die drei Pferde, und es ging los. Im Zickzack trotteten wir über steil ansteigende Pfade, und ich genoss jeden Augenblick. Hin und wieder pflückte der Führer kleine Blumensträuße und gab sie mir, damit ich sie in mein Hutband steckte. Soweit ging alles wunderbar, bis wir am Gipfel anlangten und der Führer sich selbst übertreffen wollte. Er kam zu uns zurückgelaufen, zwischen den Fingern einen herrlichen Schmetterling, den er gefangen hatte. »Pour la petite demoiselle!«, rief er, nahm eine Nadel von seinem Rockaufschlag, durchbohrte den Schmetterling und steckte ihn mir an den Hut! Das Entsetzen dieses Augenblicks! Der quälende Schmerz, der mich durchzuckte, als der arme Schmetterling verzweifelt mit den Flügeln schlug. Und ich konnte natürlich nichts sagen! So viele widersprechende Gefühle bewegten mich. Dies war eine freundliche Geste von Seiten des Führers. Er hatte mir den Falter gebracht. Es war ein ganz besonderes Geschenk. Konnte ich ihm wehtun und ihm sagen, dass ich es nicht haben wollte? Wie sehr wünschte ich, er würde ihn wieder fortnehmen! Und während dieser ganzen Zeit das Flattern dieses sterbenden Schmetterlings! Das grauenhafte Klopfen der Flügel an meinem Hut! Ich fing an zu weinen.
Je mehr man mich fragte, desto unmöglicher wurde es mir zu antworten. »Was hast du denn?«, wollte Vater wissen. »Tut dir etwas weh?«
»Vielleicht macht ihr das Pferd Angst«, mutmaßte meine Schwester.
Nein, sagte ich, und noch einmal nein. Ich hatte keine Angst und mir tat auch nichts weh.
»Müde?«, fragte Vater.
»Nein«, antwortete ich.
»Also was ist los?«
Aber ich konnte es nicht sagen. Natürlich konnte ich es nicht sagen. Der Führer stand daneben und sah mich aufmerksam und verwundert an. »Sie ist eben noch zu jung«, meinte Vater, »wir hätten sie nicht mitnehmen sollen.«
Meine Tränen flossen nur noch reichlicher. Ich wusste, dass ich ihm und meiner Schwester den Tag verdarb, aber ich konnte mir nicht helfen. Ich konnte nur hoffen und beten, dass er oder Madge erraten würden, was in mir vorging. Einmal mussten sie doch den Schmetterling sehen, einmal mussten sie doch sagen: »Vielleicht mag sie den Schmetterling nicht auf ihrem Hut.« Sobald sie das sagten, würde alles gut sein. Aber ich konnte es ihnen nicht sagen. Es war schrecklich. Ich wollte nichts essen. Ich saß da und weinte, und der Schmetterling schlug mit den Flügeln. Schließlich hörte er auf zu schlagen.
Wir ritten wieder hinunter – Vater zornig, Madge ärgerlich, der Führer immer noch freundlich und liebenswürdig und verständnislos. Gott sei Dank dachte er nicht daran, mir einen zweiten Schmetterling zu schenken, um mich aufzuheitern. In gedrückter Stimmung kamen wir unten an und gingen gleich ins Wohnzimmer, wo Mutter uns erwartete.
»Ach herrje«, sagte sie, »was ist passiert? Hat Agatha sich wehgetan?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete mürrisch mein Vater. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Wahrscheinlich hat sie irgendwelche Schmerzen. Seit Mittag weint sie ununterbrochen und hat auch nichts gegessen.«
»Was hast du, Agatha?«, fragte Mutter.
Ich konnte es ihr nicht sagen. Ich sah sie nur kläglich an, während mir die Tränen über die Wangen rollten. Sie musterte mich nachdenklich und sagte dann: »Wer hat ihr den Schmetterling an den Hut gesteckt?«
Es sei der Führer gewesen, antwortete meine Schwester.
»Ich verstehe«, sagte Mutter und dann zu mir: »Das hat dir nicht gefallen, nicht wahr? Er lebte noch, und du dachtest an seine Leiden?«
Oh, diese herrliche Erleichterung, diese wundervolle Entspannung, wenn jemand weiß, was in deinem Kopf vorgeht, und es dir sagt und dich damit endlich von der schweren Last des Schweigens befreit! In höchster Erregung schlang ich meine Arme um ihren Hals. »Ja, ja, ja!«, schluchzte ich. »Er hat geflattert! Er hat mit den Flügeln geschlagen! Aber der Mann war so lieb und hat es so gut gemeint. Ich konnte nichts sagen.«
Sie verstand alles und streichelte mich sanft.
»Ich kann mir gut vorstellen, was du dabei gefühlt hast«, sagte sie. »Aber jetzt ist es vorbei, und wir reden nicht mehr darüber.«
Damals merkte ich zum ersten Mal, dass meine Schwester eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf die jungen Männer in ihrer Umgebung ausübte. Sie war ein sehr attraktives Mädchen, hübsch, ohne eigentlich schön zu sein, und hatte Vaters geistige Beweglichkeit geerbt. Es war ungemein amüsant, mit ihr zu plaudern. Überdies ging eine sehr starke sexuelle Ausstrahlung von ihr aus. Die jungen Männer fielen um wie die Kegel. Es dauerte nicht lange, und Marie und ich begannen über ihre verschiedenen Verehrer, was man auf dem Rennplatz ein Wettbuch nennt, anzulegen. Stundenlang diskutierten wir ihre Chancen.
»Ich glaube, Mr Palmer wird das Feld behaupten. Was meinen Sie, Marie?«
»C’est possible. Mais il est trop jeune.«
Ich gab ihr zu bedenken, dass er etwa gleich alt war wie Madge, aber Marie versicherte mir, dass er »beaucoup trop jeune« wäre.
»Ich, ich tippe auf Sir Ambrose«, sagte Marie.
Ich widersprach. »Er ist doch viele Jahre älter als sie, Marie.« Das mochte sein, erwiderte sie, aber es wirke sich günstig für die Haltbarkeit einer Ehe aus, wenn der Mann älter als seine Frau war. Sie fügte hinzu, dass Sir Ambrose eine sehr gute Partie wäre, mit der jede Familie einverstanden sein könnte.
»Gestern hat sie Bernard eine Blume ins Knopfloch gesteckt«, berichtete ich, aber Marie hielt nicht viel von dem jungen Bernard. Er wäre kein »garçon sérieux«.
Ich erfuhr eine Menge über Maries Familie. Ich kannte die Gewohnheiten ihrer Katze und wie sie es zu Stande brachte, im Kaffeehaus zwischen den Gläsern herumzuwandern und sich mittendrin schlafen zu legen, ohne auch nur ein einziges zu zerbrechen. Ich wusste, dass ihre Schwester Berthe älter als sie und ein sehr stilles Mädchen, und dass ihre kleine Schwester Angèle der Liebling der ganzen Familie war. Marie vertraute mir auch ein großes Geheimnis an: dass die Familie früher einmal Shije, und nicht Sijé geheißen hatte, und dass sie sehr stolz darauf waren. Zwar erfasste ich nicht, worauf dieser Stolz gegründet war – um die Wahrheit zu sagen, ich erfasse es heute noch nicht –, aber ich stimmte ihrer Meinung völlig bei und beglückwünschte sie zu so prominenten Ahnen.
Hin und wieder las Marie mir aus französischen Büchern vor, wie das auch Mutter tat. Aber der große Tag kam, da mir die Mémoires d’un Âne in die Hand fielen und ich herausfand, dass ich es allein genauso gut lesen und auch verstehen konnte, wie wenn es mir jemand vorgelesen hätte. Alle Welt beglückwünschte mich, nicht zuletzt Mutter. Endlich konnte ich Französisch!
Ende August verließen wir Cauterets und fuhren nach Paris. Ich habe diesen Sommer noch heute als einen der schönsten meines Lebens in Erinnerung. Was hat er mir nicht alles gegeben! Den erregenden Reiz des Neuen. Bäume – unerschöpfliche Quelle frohsinnigen Genießens. (War es Zufall, dass ich einem meiner ersten Fantasiegefährten den Namen »Baum« gab?) Eine neue und reizende Freundin, meine liebe, stupsnasige Marie. Ausritte auf Maultierrücken. Spaß mit der Familie. Meine amerikanische Freundin Marguerite. Die pittoreske Exotik eines fremden Landes. Aber es sind nicht die einzelnen Dinge, die, in Gruppen angeordnet und miteinander verbunden, in meiner Erinnerung fortleben. Es ist Cauterets – das Städtchen, das lange, enge Tal mit seiner kleinen Eisenbahn, seinen baumbestandenen Hängen und den hohen Bergen.
Ich bin nie wieder dahin zurückgekehrt. Ich bin froh darüber. Vor ein oder zwei Jahren dachten wir daran, die Sommerferien dort zu verbringen. »Ich würde es gerne wiedersehen«, sagte ich, ohne nachzudenken, und meinte es auch so. Doch dann fiel mir ein, dass ich ja gar nicht zurück konnte. Man kann niemals an einen Ort zurückkehren, der nur mehr in der Erinnerung lebt. Man würde ihn nicht mit den gleichen Augen sehen – selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sich nichts verändert haben sollte. Was vorbei ist, ist vorbei.
Kehre nie an einen Ort zurück, wo du glücklich gewesen bist. Solange du fortbleibst, bleibt er für dich lebendig. Kehrst du zurück, zerstörst du ihn.
Es gibt noch andere Stätten, an die zurückzukehren ich mich geweigert habe. Eine davon ist das Grab Scheich Adis im nördlichen Irak. Wir besuchten es, als ich das erste Mal nach Mosul kam. Es war damals nicht ganz leicht, Zutritt zu erlangen. Man brauchte einen Erlaubnisschein und musste sich bei der Polizeistation in Am Sifni, unterhalb der Felsen des Dschebel Maclub melden.
Von einem Polizisten begleitet, wanderten wir einen gewundenen Pfad hinauf. Es war Frühling, frisch und grün, und wilde Blumen blühten am Wegrand. Ein Gebirgsbach schlängelte sich durch die Wiesen. Hin und wieder begegneten wir Ziegen und Kindern. Dann erreichten wir die heilige Stätte der Jesiden. Die friedliche Ruhe des Ortes ist mir von Neuem gegenwärtig – der mit Fliesen ausgelegte Hof, die in die Tempelmauer gemeißelte schwarze Schlange. Dann der behutsame Schritt über und nicht auf die Schwelle in die kleine dunkle Grabkammer. Wir saßen im Hof unter einem sanft rauschenden Baum. Einer der Jesiden brachte uns Kaffee, nachdem er zuvor sorgfältig ein schmutziges Tischtuch vor uns ausgebreitet hatte. Wir blieben lange Zeit sitzen, ohne dass uns jemand Informationen aufgedrängt hätte. Ich hatte eine vage Vorstellung, dass die Jesiden Teufelsanbeter waren, und dass sie Luzifer, den »Engelpfau« verehrten. Es erscheint mir noch heute sonderbar, dass die Anbeter des Satans unter den verschiedenen religiösen Sekten dieses Teils der Erde die Friedlichsten sein sollen. Als die Sonne sich zu senken begann, traten wir den Rückweg an.
Soviel ich weiß, veranstaltet man dort jetzt Besichtigungsfahrten. Das »Pilgerfest« ist zu einer Touristenattraktion geworden. Ich erlebte das Heiligtum noch in den Tagen seiner Unschuld. Ich werde es niemals vergessen.
3
Zuerst ging’s also nach Paris und dann weiter nach Dinard. Es ist ärgerlich, feststellen zu müssen, dass mir von Paris nicht viel mehr als mein Hotelzimmer in Erinnerung geblieben ist; es hatte schokoladebraun bemalte Wände, auf welchen es völlig unmöglich war, die Moskitos zu sehen.
Es gab Myriaden von Moskitos. Sie pfiffen und summten die ganze Nacht, und unsere Gesichter und Arme waren mit ihren Bissen bedeckt. (Äußerst demütigend für meine Schwester Madge, der ihr Teint damals sehr am Herzen lag.) Wir blieben nur eine Woche in Paris und verbrachten anscheinend unsere ganze Zeit damit, Moskitos zu töten. Wir salbten uns mit allen möglichen sonderbar riechenden Ölen, stellten Weihrauchspiralen ans Bett, kratzten uns unaufhörlich und ließen heißes Kerzenwachs auf die Bisse tropfen. Endlich, nachdem meine Eltern der Hotelleitung energische Vorhaltungen gemacht hatten (der Direktor behauptete, es gäbe gar keine Moskitos), wurde uns der aufregende Genuss zuteil, unter Moskitonetzen schlafen zu dürfen. Es war August und siedend heiß, und unter dem Netz muss es wohl noch heißer gewesen sein.
Es ist anzunehmen, dass man mir einige Sehenswürdigkeiten von Paris zeigte, aber sie hinterließen keinen Eindruck bei mir. Ja, ich erinnere mich, dass man mich auf den Eiffelturm mitnahm, aber es ging mir so wie das erste Mal mit den Bergen: Ich sah mich in meinen Erwartungen getäuscht. Das einzige Souvenir unseres Aufenthalts in der französischen Hauptstadt war ein neuer Spitzname für mich: Moustique – Mücke.
Nein, das stimmt nicht. Bei diesem Besuch in Paris machte ich das erste Mal Bekanntschaft mit den Vorläufern des Maschinenzeitalters. Die Pariser Straßen waren voll von jenen neumodischen Vehikeln, die man automobiles nannte. Stinkend, hupend, mit allerlei Geräten bestückt, gefahren von Männern mit Mützen und Schutzbrillen, rasten sie durch die Straßen (nach heutigen Begriffen »rasten« sie vermutlich recht langsam, aber damals brauchten sie ja nur mit den Pferden zu konkurrieren). Es war verwirrend. Vater sagte, man würde sie bald überall sehen, aber wir glaubten ihm nicht. Ich beobachtete sie ohne großes Interesse. Meine Liebe gehörte nach wie vor den Eisenbahnen.
»Wie schade, dass Monty nicht da ist«, meinte Mutter. »Sie würden ihm sicher gefallen.«
Es berührt mich sonderbar, wenn ich auf diesen Abschnitt meines Lebens zurückblicke. Mein Bruder scheint darin nicht in Erscheinung zu treten. Das liegt vermutlich daran, dass er mich damals recht wenig beachtete. Ich erfuhr erst später, dass Vater sich große Sorgen um ihn machte. Er musste Harrow verlassen, weil er nicht fähig war, seine Prüfungen zu bestehen. Ich glaube, er arbeitete zuerst auf einer Werft am Dart; später ging er nach Lincolnshire im Norden. Die Berichte über seine Fortschritte waren enttäuschend. Man sagte es Vater ohne Umschweife: »Er wird nie weiterkommen. Ihm fehlt die Mathematik, verstehen Sie? Sie zeigen ihm etwas Praktisches – das nimmt er an. Er ist ein guter praktischer Arbeiter. Aber zu mehr wird er es im Maschinenbau nicht bringen.«
In vielen Familien gibt es ein Mitglied, das für die anderen eine Quelle des Verdrusses und der Sorge ist. In unserer Familie war mein Bruder Monty dieses Mitglied. Bis an sein Lebensende hat er uns immer Kopfschmerzen bereitet. Ich habe mich oft gefragt, ob es nicht irgendwo einen Platz gegeben hätte, an den er gepasst haben würde. Wäre er als Ludwig II. von Bayern zur Welt gekommen, er hätte ein Leben nach seinem Geschmack führen können. Ich sehe ihn in einem leeren Theater sitzen und eine Oper genießen, die für ihn allein aufgeführt wird. Er war enorm musikalisch, hatte eine gute Bassstimme und spielte mehrere Instrumente nach Gehör. Aber ihm fehlte die nötige Ausdauer, um Musiker zu werden, und ich glaube auch nicht, dass er je daran dachte. Er hatte ausgezeichnete Manieren, viel Charme und war sein Leben lang von Menschen umgeben, die danach strebten, ihn aller Sorgen und Mühen zu entheben. Es gab immer jemanden, der bereit war, ihm Geld zu leihen. Wenn er und meine Schwester ihr Taschengeld bekamen – er war damals sechs Jahre alt – geschah immer wieder das gleiche. Monty gab seines am ersten Tag aus. Im Lauf der Woche schob er dann eines Tages plötzlich meine Schwester in einen Laden, verlangte schnell für drei Pence Bonbons und sah Madge herausfordernd an, ob sie es wohl wagen würde, nicht zu zahlen. Sie zahlte. Natürlich ärgerte sie sich darüber und zankte ihn nachher heftig aus. Monty lächelte gelassen und bot ihr ein Bonbon an.
Das war eine Einstellung, die er sein Leben lang beibehielt. Es war, als ob sich alle verschworen hätten, für ihn Sklavendienste zu leisten. Immer wieder haben Frauen zu mir gesagt: »Wissen Sie, Sie verstehen Ihren Bruder Monty nicht. Er braucht Mitgefühl.« Wir verstanden ihn nur zu gut. Zugegeben, es war unmöglich, sich nicht zu ihm hingezogen zu fühlen. Er sah seine Fehler ein, und er war immer ganz sicher, dass in Zukunft alles anders werden würde. Er war, glaube ich, der einzige Junge, dem in Harrow gestattet wurde, weiße Mäuse zu halten. »Wissen Sie«, erklärte sein Hausaufseher meinem Vater, »er scheint so großes Interesse für Naturgeschichte zu haben, dass ich es für zulässig hielt, ihm diese Vergünstigung zu gewähren.« Die Familie allerdings war der Meinung, Monty interessiere sich überhaupt nicht für Naturgeschichte. Er wollte weiße Mäuse halten und nichts weiter!
Die Frage, was er werden sollte, löste sich von selbst. Der Burenkrieg brach aus. So gut wie alle jungen Männer, die wir kannten, meldeten sich freiwillig – und Monty natürlich auch. (Er hatte sich gelegentlich herabgelassen, mit meinen Zinnsoldaten zu spielen, hatte sie in Schlachtordnung aufgestellt und ihren Kommandanten Captain Sturmbock getauft. Um Abwechslung in das Spiel zu bringen, schnitt er später Captain Sturmbock wegen Verrats den Kopf ab. Ich weinte heiße Tränen.) Vater muss Erleichterung verspürt haben – vielleicht würde Monty in der Armee Karriere machen.
Der Burenkrieg war wohl der letzte in der Reihe jener Kriege, die man als »alte« bezeichnen könnte. Es waren Kriege, die weder die Heimat noch das eigene Leben ernstlich berührten. Es waren heroische Bilderbuchkriege, in denen tapfere Soldaten und schneidige junge Männer kämpften. Wenn sie starben, starben sie einen ruhmreichen Heldentod in der Schlacht. Häufiger aber kamen sie, die Brust mit Abzeichen bedeckt, wieder nachhause. Sie fühlten sich als Frontkämpfer des Empires, sie waren Teil von Kiplings Gedichten und jener Partien Englands, die auf der Landkarte rosa waren. Es kommt einem heute absonderlich vor, dass es Leute gab – junge Mädchen insbesondere – die nichts Besseres zu tun hatten, als weiße Federn an junge Männer zu verteilen, die ihrer Meinung nach ihre Pflicht, für ihr Vaterland zu sterben, sträflich vernachlässigten.
Ich erinnere mich kaum noch an den Ausbruch des Burenkriegs. Man betrachtete ihn nicht als einen bedeutenden Waffengang – es handelte sich ja bloß darum, »Krüger eine Lektion zu erteilen«. Wie immer waren die Engländer optimistisch: »In ein paar Wochen ist alles vorbei.« 1914 hörte man die gleiche Phrase: »Bis Weihnachten ist alles vorbei.« Und 1940: »Es hat keinen Sinn, für diese kurze Zeit, die Teppiche einzumotten« – so die Admiralität, als sie mein Haus mit Beschlag belegten – »bis zum nächsten Frühjahr ist alles vorbei.«
Mir ist also nur eine fröhliche Stimmung in Erinnerung geblieben, ein Lied mit einer hübschen Melodie – »Der zerstreute Bettler« – und muntere junge Männer, die von Plymouth heraufkamen, um ein paar Tage Urlaub bei uns zu verleben. Eine Szene ist mir im Gedächtnis haften geblieben. Es war ein paar Tage bevor sich das dritte Bataillon des Royal-Welsh-Regimentes nach Südafrika einschiffen sollte. Monty hatte einen Freund aus Plymouth mitgebracht, wo sie damals stationiert waren. Dieser Freund, Ernest Mackintosh – aus unbekannten Gründen von uns Billy genannt – sollte mir mein Leben lang ein guter Freund und mehr Bruder sein, als Monty es war. Er war ein sehr fröhlicher und charmanter junger Mann. Wie die meisten jungen Männer aus unserem Kreis war er mehr oder weniger in meine Schwester verliebt. Die zwei Burschen hatten gerade ihre Uniformen erhalten und waren von den ungewohnten Wickelgamaschen fasziniert. Sie wickelten sie um den Hals, bandagierten ihre Köpfe damit und machten allerlei Späße. Auf einem Bild, das ich noch besitze, stehen sie in unserem Wintergarten mit den Wickelgamaschen um den Hals. Ich übertrug meine kindliche Heldenverehrung auf Billy Mackintosh. Auf meinem Nachttisch stand eine Fotografie von ihm mit Vergissmeinnicht umkränzt.
Von Paris ging es nach Dinard in der Bretagne.
In Dinard lernte ich schwimmen und war unglaublich stolz, als ich die ersten sechs Züge machte, ohne unterzugehen.
Und ich erinnere mich an die Brombeeren – noch nie zuvor hatte ich so große, fette, saftige gesehen. Marie und ich pflückten ganze Körbe voll und verzehrten sie gleichzeitig in riesigen Mengen. Diese Überfülle erklärte sich aus dem Umstand, dass die Bewohner dieser Gegend sie für giftig hielten. »Ils ne mangent pas de mûres«, berichtete Marie verwundert. »›Vous allez vous empoisonner‹, sagen sie.« Aber Marie und ich kannten keine solchen Bedenken und vergifteten uns hemmungslos jeden Nachmittag.
In Dinard packte mich zum ersten Mal das Theaterfieber. Vater und Mutter hatten ein großes Doppelzimmer mit einem riesigen Erker, eigentlich einem Alkoven, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Ideal für Theateraufführungen. Inspiriert von einer Pantomime, die ich zu Weihnachten gesehen hatte, zwang ich Marie zum Dienst, und es gab jeden Abend Vorstellungen der verschiedensten Märchen. Ich suchte mir die Figur aus, die ich darstellen wollte, und Marie musste alle anderen spielen.
Den Blick zurückwerfend, empfinde ich Dankbarkeit für die außerordentliche Güte meiner Eltern. Ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen, als Abend für Abend nach dem Dinner heraufzukommen und eine halbe Stunde zuzusehen und zu applaudieren, während Marie und ich in unseren improvisierten Kostümen posierten und umherstolzierten. Wir produzierten uns in Aschenbrödel, Dornröschen, Die Schöne und das Tier und ähnlichem. Am liebsten spielte ich Hosenrollen. Unsere Bühnensprache war Französisch, denn Marie konnte ja kein Englisch. Was für ein gutmütiges Ding sie doch war! Nur ein einziges Mal streikte sie, und das aus Gründen, die ich einfach nicht begreifen konnte. Sie sollte das Aschenbrödel spielen, und ich bestand darauf, sie müsse ihre Haare herunterlassen. Man kann sich doch Aschenbrödel nicht mit einem Knoten auf dem Kopf vorstellen! Aber Marie, die, ohne zu murren, schon das Tier gespielt hatte, die Rotkäppchens Großmutter gewesen war – Marie, die gute Feen und böse Feen und hässliche alte Frauen gespielt hatte – mit Tränen in den Augen weigerte sie sich plötzlich, die Rolle des Aschenbrödels zu übernehmen.
»Mais pourquois pas, Marie?«, drängte ich. »Es ist doch eine sehr schöne Rolle. Sie ist die Heldin. Alles dreht sich nur um sie.«
Unmöglich, erklärte Marie, sie könne unmöglich das Aschenbrödel spielen. Ihr Haar herunterlassen, mit gelösten Haaren um die Schultern vor Monsieur erscheinen! Darum also ging es. In diesem Aufzug vor Monsieur aufzutreten, erschien Marie undenkbar und schockierend. Rätselnd, wie ihr Verhalten zu erklären sei, gab ich nach. Wir fabrizierten eine Art Kapuze, die Maries Knoten bedeckte, und damit war das Problem gelöst.
Was für sonderbare Tabus es doch gibt! Ich denke da an das Töchterchen einer meiner Freundinnen – ein nettes, liebenswertes kleines Mädchen von vier Jahren. Ein französisches Kindermädchen wurde angestellt. Es gab die übliche Besorgnis, ob die beiden miteinander »auskommen« würden, aber es ließ sich alles prächtig an. Das kleine Mädchen ging mit Madeleine spazieren, plapperte mit ihr und zeigte ihr ihre Spielsachen. Erst beim Schlafengehen flossen Tränen, als Joan es standhaft ablehnte, sich von Madeleine baden zu lassen. Verwundert gab die Mutter am ersten Tag nach, sie konnte verstehen, dass das Kind vielleicht zu der Fremden noch kein rechtes Zutrauen gefasst hatte. Doch die Kleine blieb auch die nächsten zwei, drei Tage bei ihrer Weigerung. Alles war eitel Wonne und Sonnenschein bis zur Bade- und Schlafenszeit. Erst am vierten Tag kam Joan bitterlich weinend zu ihrer Mutter, vergrub ihr Köpfchen in ihrem Schoß und sagte: »Du verstehst das nicht, Mama, du scheinst das nicht zu verstehen. Wie kann ich eine Fremde meinen Körper sehen lassen?«
So war es auch mit Marie. Sie stolzierte in Hosen herum, zeigte in manchen Rollen auch ein gutes Stück Bein, aber vor Monsieur wollte sie ihr Haar nicht herunterlassen.
Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Theateraufführungen anfangs sehr spaßig waren, und zumindest Vater amüsierte sich königlich. Aber wie langweilig mussten sie mit der Zeit geworden sein! Und doch waren meine Eltern viel zu gütig, um mir offen heraus zu sagen, dass es ihnen lästig war, Abend für Abend heraufzukommen. Gelegentlich drückten sie sich unter dem Vorwand, dass sie mit Freunden dinierten, aber im Großen und Ganzen hielten sie standhaft durch. Ich aber genoss es, mich vor ihnen zu produzieren.
Wir blieben den ganzen September in Dinard. Vater hatte ein paar alte Freunde getroffen: Martin Pirie, dessen Frau und zwei Söhne, die dort ihre Ferien verbrachten. Martin Pirie und Vater waren in Vevey zur Schule gegangen und seitdem gute Freunde. Lilian Pirie, seine Frau, war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten, die mir je begegnet sind. Die Figur, die Victoria Sackville-West. so wunderbar in ihrem Buch Erloschenes Feuer gezeichnet hat, erinnert mich ein wenig an Mrs Pirie. Sie hatte etwas Ehrfurchtgebietendes, etwas Zurückhaltendes an sich. Sie besaß eine wunderschöne klare Stimme, edle Züge und strahlende blaue Augen. Ihre Handbewegungen waren stets anmutig. In Dinard lernte ich sie kennen, sah sie aber dann oft wieder und blieb mit ihr in Verbindung, bis sie als Achtzigjährige starb.
Sie war einer der wenigen Menschen, die mir begegnet sind, die sich eines wahrhaft umfassenden Geistes rühmen durfte. Jedes ihrer Häuser war originell und Aufsehen erregend eingerichtet. Sie machte die schönsten Stickereien, es gab kein Buch und kein Stück, das sie nicht gelesen und gesehen hatte, und sie wusste immer etwas Treffendes dazu zu sagen.
Junge Menschen scharten sich um sie und schätzten ein Gespräch mit ihr. Auch als sie schon über siebzig war, bedeutete es ein wunderbar erfrischendes Erlebnis, einen Nachmittag mit ihr zu verbringen. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der die Kunst der Muße in so vollem Maß besessen hätte. Das eine oder andere interessante Buch neben sich, für gewöhnlich mit einer von ihr selbst entworfenen Nadelarbeit beschäftigt, empfing sie ihren Besucher in einem Lehnsessel in ihrem schönen Salon. Sie erweckte in ihm den Eindruck, als hätte sie den ganzen Tag, die ganze Nacht, ja monatelang Zeit, mit ihm zu reden. Ihre kritischen Äußerungen waren scharf und klar. Obwohl sie über jedes erdenkliche abstrakte Thema zu sprechen wusste, erlaubte sie sich nur selten persönliche Bemerkungen. Aber es war ihre herrliche Stimme, die mich am meisten faszinierte. Man findet solche Stimmen so selten. Auf Stimmen habe ich immer sehr empfindlich reagiert. Eine hässliche Stimme stößt mich ab, ein hässliches Gesicht nicht unbedingt.
Vater war hocherfreut, seinen alten Freund Martin wiederzusehen. Mutter und Mrs Pirie hatten viel miteinander gemein und vertieften sich sofort in ein angeregtes Gespräch – über japanische Kunst, wenn ich mich recht entsinne. Einer der Söhne, Harold, studierte in Eton, der andere, Wilfred, der zur Marine wollte, vermutlich in Dartmouth. Wilfred wurde später einer meiner besten Freunde, aber aus Dinard weiß ich nur zu berichten, dass es von ihm hieß, er lache laut heraus, sobald er irgendwo eine Banane sah. Was mich veranlasste, ihn aufmerksam zu beobachten. Natürlich nahmen die beiden Jungen nicht die geringste Notiz von mir. Von einem Studenten aus Eton und einem Marinekadetten konnte man ja auch wirklich nicht erwarten, dass sie sich so weit erniedrigen würden, einem kleinen Mädchen von sieben Jahren ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Von Dinard fuhren wir auf die Insel Guernsey, wo wir den Großteil des Winters verbrachten. Als Geburtstagsgeschenk bekam ich drei äußerst bunte und exotisch gefiederte Vögel. Sie hießen Kiki, Tou-tou und Bebe. Kurz nachdem wir auf Guernsey eingetroffen waren, starb Kiki, der immer ein zartes Tierchen gewesen war. Er war noch nicht so lange in meinem Besitz, als dass sein Verlust mich sehr tief getroffen hätte – schließlich war ja Bebe, ein bezauberndes Vögelchen, mein Liebling –, um so mehr aber genoss ich das Vergnügen, das ich mir mit den Trauerfeierlichkeiten nach seinem Hinscheiden bescherte. Eine Prozession zog aus der Stadt St. Peter Port in eine Gegend im Hochland, wo ein Plätzchen gefunden wurde, das für die Beerdigungszeremonie geeignet erschien. Dort wurde Kiki würdig in einer von Mutter gestifteten, mit Seidenbändern ausgeschlagenen Schachtel zur letzten Ruhe gebettet.
Das war natürlich alles höchst befriedigend, aber noch lange nicht das Ende. »Visiter la tombe de Kiki« wurde zu einem meiner liebsten Spaziergänge!
Das große Ereignis in St. Peter Port war der Blumenmarkt. Es gab dort wunderhübsche Blumen jeder Art und sehr billig. Wie Marie behauptete, geschah es immer an den kältesten und windigsten Tagen, dass »Miss« auf die Frage »Und wo gehen wir heute spazieren, Miss?« mit Vorliebe antwortete: »Nous allons visiter la tombe de Kiki.« Schwere Seufzer Maries. Drei Kilometer bei diesem unangenehmen kalten Wind! Aber ich blieb hart. Ich zerrte sie zum Markt, wo wir frische Kamelien und andere Blumen kauften, und dann begaben wir uns, von Wind und oft auch Regen gepeitscht, auf den langen Weg zu Kikis Ruhestätte, wo wir das Blumenbukett feierlich auf sein Grab legten. Manchen Leuten muss es wohl im Blut liegen, dass sie an Beerdigungen und Totenfeiern Gefallen finden. Wie wäre es wohl ohne diese Eigenart der menschlichen Natur um die Archäologie bestellt? Wenn in meiner Kindheit anstelle des Kindermädchens jemand anders mit mir spazieren ging – ein Dienstmädchen zum Beispiel –, besuchten wir unweigerlich einen Friedhof.
Wie herzerquickend sind doch diese Szenen auf dem Père Lachaise in Paris, wo ganze Familien die Gräber besuchen und sie für Allerseelen schmücken! Es ist fürwahr ein geheiligter Brauch, die Toten zu ehren. Und eines weiß ich: Wie arm eine Familie auch sein mag, sie spart vor allem für ihre Bestattungskosten. Ein liebes altes Weiblein, das einmal für mich gearbeitet hatte, sagte: »Harte Zeiten, Schätzchen. Ja, ich habe harte Zeiten durchgemacht. Aber wie schwer es mir auch zusammengegangen ist, ich habe so viel Geld gespart, um mich anständig begraben zu lassen, und das werde ich auch nie anrühren. Nein, niemals, und wenn ich hungern müsste!«
4
Manchmal denke ich, dass ich in meinem früheren Leben – wenn man an die Seelenwanderung glaubt – ein Hund gewesen sein muss. Ich kann viele »hündische« Gewohnheiten an mir entdecken. Wenn jemand etwas unternimmt oder irgendwohin geht, will ich immer mit von der Partie sein – und bin es auch. So benahm ich mich auch, als wir nach dieser langen Abwesenheit nachhause zurückkehrten, genau wie ein Hund. Ein Hund läuft immer im ganzen Haus herum, untersucht alles, schnüffelt hier und schnüffelt dort, erkundet mit seiner Nase, was vorgefallen ist, und besucht alle seine Lieblingsplätzchen. Ich tat genau das Gleiche. Ich wanderte durch das Haus und dann in den Garten hinaus und besuchte meine Lieblingsplätze: den Bottich, den Baum mit der Schaukel, das Versteck an der Mauer, von wo aus ich, ohne gesehen zu werden, die Straße überblicken konnte. Ich prüfte meinen Reifen und brauchte eine ganze Stunde, um mich zu überzeugen, dass alles so war, wie ich es zurückgelassen hatte.
Die größte Veränderung war an meinem Hund Tony zu bemerken. Bei unserer Abreise war Tony ein kleiner, niedlicher Yorkshire-Terrier gewesen. Dank Froudies liebender Sorge und endloser Fütterung war er jetzt rund wie eine Kugel. Froudie war in jeder Beziehung Tonys Sklavin geworden, und als Mutter und ich hingingen, um ihn nachhause zu holen, hielt sie uns einen langen Vortrag über seine Schlafgewohnheiten, seine Lieblingsspeisen, womit er in seinem Körbchen zugedeckt werden müsse und zu welcher Tageszeit er gerne auf die Straße geführt werden wollte. »Und er frisst nur aus der Hand«, erklärte Froudie stolz. »Ja, ja, ich muss ihn selbst füttern, Bissen für Bissen.«
Ein Stirnrunzeln meiner Mutter verriet mir, dass Tony bei uns daheim nicht ganz diese Behandlung zuteil werden würde. Wir nahmen ihn in der Kutsche mit, die wir zu diesem Zweck gemietet hatten, dazu sein Körbchen und seine sonstige Habe. Natürlich war Tony hoch erfreut, uns zu sehen, und schleckte mich liebevoll ab. Als ihm sein Futter gebracht wurde, erwies sich Froudies Hinweis als richtig. Tony beäugte die Schüssel, sah Mutter an, sah mich an, tat ein paar Schritte zur Seite, setzte sich und wartete wie ein Grandseigneur darauf, aus der Hand gefüttert zu werden. Ich gab ihm ein Stückchen, das er huldvoll annahm, aber Mutter stoppte das.
»Das geht nicht«, sagte sie. »Er wird sich daran gewöhnen müssen, selbst zu fressen wie früher. Lass die Schüssel dort stehen. Früher oder später wird er es sich überlegen.«
Aber Tony dachte nicht daran. Er saß nur da, und niemals habe ich einen Hund gesehen, der so von gerechtem Zorn ergriffen gewesen wäre. Seine großen, traurigen braunen Augen blickten von einem zum anderen und zurück auf seine Schüssel. Ganz deutlich sagte er: »Ich will mein Nachtessen. Seht ihr denn das nicht? Gebt es mir.« Aber Mutter blieb hart.
»Selbst wenn er heute nichts frisst«, sagte sie, »morgen wird er.«
»Glaubst du nicht, dass er verhungern wird?«, fragte ich.
Nachdenklich betrachtete Mutter Tonys übermäßig breiten Rücken. »Ein bisschen hungern«, meinte sie, »würde ihm äußerst gut bekommen.«
Erst am nächsten Abend kapitulierte Tony, wahrte aber das Gesicht, indem er nur fraß, wenn niemand im Zimmer war. Danach gab es keine Schwierigkeiten mehr. Die Tage, da man ihn wie einen Großherzog behandelt hatte, waren vorüber, und Tony akzeptierte diese Tatsache. Aber er vergaß nicht, dass er ein Jahr lang der verhätschelte Liebling in einem anderen Haus gewesen war. Ein Wort des Tadels genügte, und schon schlich er sich davon und trottete zu Froudie hinunter, wo er sich offenbar beklagte, dass er bei uns nicht gebührend geschätzt wurde. Diese Gewohnheit behielt er lange Zeit bei.
Zusätzlich zu ihren anderen Pflichten war Marie jetzt auch noch Tonys Kindermädchen. Es war recht lustig anzusehen, wenn wir unten spielten und Marie mit vorgebundener Schürze erschien und höflich verkündete: »Monsieur Tony pour le bain.« Monsieur Tony versuchte sofort, sich unter dem Sofa zu verkriechen und in Sicherheit zu bringen, denn er hielt nicht viel von seinem wöchentlichen Bad. Mit hängenden Ohren wurde er fortgetragen, und Marie berichtete später stolz, wie viel tote Flöhe auf dem Badewasser geschwommen waren.
Hunde scheinen heutzutage nicht annähernd so viele Flöhe mit sich herumzutragen wie in meiner Kinderzeit. Trotz zahlreicher Bäder, trotz Bürstens und Kämmens waren alle unsere Hunde immer voller Flöhe. Vielleicht trieben sie sich damals mehr in Ställen herum und spielten mit anderen von Flöhen heimgesuchten Freunden, als sie es heute tun. Andererseits waren sie weit weniger verwöhnt und nicht ständig beim Tierarzt, wie das heute üblich ist. Ich glaube nicht, dass Tony jemals ernstlich krank gewesen wäre.
Um Kinder wird heute auch mehr Aufhebens gemacht als damals. Erhöhten Temperaturen wurde nicht allzu große Wichtigkeit beigemessen. Erst eine über vierundzwanzig Stunden anhaltende Temperatur von achtunddreißig Grad ließ den Besuch eines Arztes als nötig erscheinen. Hatte man ein Übermaß an grünen Äpfeln verzehrt, konnte es schon mal vorkommen, dass man Opfer eines Gallenfieberanfalls wurde. Vierundzwanzig Stunden Bettruhe – verbunden mit Hungerdiät – erwiesen sich für gewöhnlich als wirksames Heilmittel.
Das Essen war immer gut und abwechslungsreich. Möglicherweise neigte man dazu, kleine Kinder zu lange mit Milch und stärkereichen Nahrungsmitteln zu verköstigen. Ich allerdings naschte schon in zartestem Alter von den Steaks, die Nursie zum Abendessen heraufgeschickt wurden, und nicht durchgebratenes Roastbeef war immer eines meiner Lieblingsgerichte. Auch dicke Sahne wurde in Mengen verzehrt – sie schmecke doch viel besser als Lebertran, pflegte Mutter zu sagen. Wir aßen sie als Brotaufstrich und manchmal auch mit dem Löffel. Keine Frage: Sahne war für mich ein Hochgenuss und wird es vermutlich immer sein.
Mutter, die, wie in anderen Dingen, auch beim Essen Abwechslung liebte, pflegte von Zeit zu Zeit einen Fimmel zu haben. »Das Ei ist nahrhafter«, lautete einmal die Devise – worauf es praktisch zu jeder Mahlzeit Eier gab, bis Vater Einspruch erhob. Dann kam die Fischzeit: Wir lebten von Seezunge und Weißfisch und vermehrten unsere grauen Zellen. Allerdings kehrte Mutter nach solchen diätetischen Ausflügen meist bald wieder zu einer normalen Kost zurück; so wie sie nach Abstechern in die Theosophie und den Unitarismus, nach einem Flirt mit dem Buddhismus, und nachdem sie um ein Haar Katholikin geworden wäre, am Ende wieder in den Schoß der englischen Staatskirche zurückkehrte.
Es war schön, heimzukommen und alles wieder so vorzufinden, wie ich es verlassen hatte. Nur eines hatte sich verändert, und das zum Guten. Ich hatte jetzt meine mir ergebene Marie.
Bis ich mich entschloss, eine Hand in die Kiste meiner Erinnerungen zu stecken, hatte ich kaum mehr an Marie gedacht – sie war einfach Marie und Teil meines Lebens. Was um ein Kind herum vorgeht, das ist seine Welt, und dazu gehören auch die Menschen, die sie bevölkern. Marie – frisch, fröhlich, lächelnd, immer freundlich – war ein sehr geschätztes Mitglied unseres Haushalts.
Heute frage ich mich: Was waren ihre Gefühle? Ich glaube, dass sie in diesem halben Jahr, das wir auf Reisen in Frankreich und auf den Kanalinseln verbrachten, sehr glücklich war. Sie sah viel Neues, das Leben in den Hotels war angenehm, und merkwürdigerweise fasste sie Zuneigung zu ihrem Schützling. Natürlich möchte ich glauben, dass sie mich gern hatte, weil ich ich war – aber Marie hatte ein Herz für Kinder und würde jedem Kind zugetan gewesen sein, das ihr anvertraut worden wäre – ausgenommen jene jugendlichen Monstren, auf die man zuweilen stößt. Ich war ihr gewiss nicht übermäßig gehorsam; ich fürchte, die Franzosen besitzen nicht die Gabe, sich Gehorsam zu verschaffen. Ich betrug mich in mancher Hinsicht abscheulich. Ganz besonders war mir das Zubettgehen zuwider. Ich erfand ein herrliches Spiel, das darin bestand, dass ich von einem Möbelstück zum anderen hüpfte, auf die Schränke kletterte, von Tischen und Kommoden heruntersprang – alles, ohne auch nur ein einziges Mal den Fußboden zu berühren. »Oh, Miss, Miss!«, seufzte Marie. »Madame votre mère ne serait pas contente!« Aber Madame ma mère hatte keine Ahnung, was ich da oben trieb. Wäre sie unerwartet im Kinderzimmer aufgetaucht, sie würde die Augenbrauen hochgezogen und gesagt haben: »Agatha! Warum bist du nicht im Bett?« Es hätte keiner weiteren Ermahnung bedurft, und ich wäre in zwei Minuten im Bett gewesen. Marie verpetzte mich nie bei der Obrigkeit, sie seufzte, sie flehte mich an, aber sie verpetzte mich nicht. Mag sein, dass ich ihr den Gehorsam schuldig blieb, dafür schenkte ich ihr meine Liebe.
Nur ein einziges Mal habe ich sie wirklich verletzt, und das ohne Absicht. Es geschah nach unserer Rückkehr nach England, im Laufe eines Gesprächs über dies oder jenes, das im Übrigen völlig friedlich verlief. »Ma pauvre fille«, sagte ich, um ihr meinen Standpunkt noch deutlicher zu machen, »vous ne savez donc pas les chemins de fer sont…« Worauf Marie zu meiner grenzenlosen Überraschung in Tränen ausbrach. Ich starrte sie an. Ich wusste nicht, was ich davon halten musste. Weshalb sollte eine Bemerkung über Eisenbahnen sie so erschüttern? Endlich stammelte sie schluchzend eine Erklärung. Ja, sie war wirklich ein pauvre fille. Ihre Eltern waren arm, nicht reich wie die Eltern von Miss. Sie hatten ein Kaffeehaus, und die ganze Familie musste arbeiten. Aber es war nicht gentille, es war nicht bien élevée von der lieben Miss, ihr ihre Armut vorzuwerfen.
»Aber Marie«, protestierte ich, »so habe ich es doch überhaupt nicht gemeint!« Es schien unmöglich, sie davon zu überzeugen, dass ich keinen Augenblick an ihre Armut gedacht hatte, dass ma pauvre fille nur eine aus meiner Ungeduld geborene Redensart war. Ich hatte die Gefühle der armen Marie verletzt, und es bedurfte einer halben Stunde Beteuerungen, Zärtlichkeiten und wiederholter Versicherungen meiner Zuneigung, bevor sie sich endlich beruhigte. Dann war alles wieder gut, aber in Zukunft achtete ich streng darauf, diese Redewendung nie wieder zu gebrauchen.
Ich vermute, dass Marie sich in unserem Haus in Torquay zum ersten Mal einsam fühlte und von starkem Heimweh befallen wurde. In den Hotels hatte es andere Kindermädchen, Gouvernanten, Kammerzofen und dergleichen aus aller Herren Länder gegeben – und die Trennung von ihrer Familie war ihr nicht zu Bewusstsein gekommen. Hier in England war das anders. Wenn ich mich recht entsinne, hatten wir damals ein ziemlich junges Hausmädchen und ein etwa dreißig Jahre altes Stubenmädchen, aber ihre Einstellung zum Leben war so ganz anders als die von Marie, dass sie sich völlig fremd gefühlt haben muss. Die beiden mokierten sich über die Einfachheit ihrer Kleidung und über die Tatsache, dass sie keinen Penny für Handschuhe, Bänder und sonstigen Putz ausgab.
Marie erhielt einen für ihre Begriffe fantastisch hohen Lohn. Sie ersuchte Monsieur jeden Monat, er möge die Freundlichkeit haben, den Großteil ihres Gehalts an ihre Mutter in Pau zu überweisen. Sie behielt nur eine winzig kleine Summe für sich. Das war ganz natürlich und schicklich für sie; sie sparte für ihre dot, jene bedeutungsvolle Geldsumme, die alle französischen Mädchen damals (und vielleicht auch noch heute, das weiß ich nicht) fleißig für die Mitgift zur Seite legten – eine absolute Notwendigkeit für die Zukunft, weil sie ohne diesen Brautschatz unter Umständen überhaupt nicht heiraten konnten. Es war eine gute und vernünftige Idee und ist, soviel ich weiß, jetzt auch in England üblich, weil junge Menschen möglichst bald ein Haus erwerben wollen. Deshalb sparen der Mann und das Mädchen auf dieses Ziel hin. Doch in der Zeit, von der ich erzähle, sparten die Mädchen nicht für die Ehe – das war Sache des Mannes. Ihm oblag die Sorge für sein Heim, seine Frau, für Kleidung und Nahrung. Für die »besseren« Dienstboten und die unteren Schichten der Ladenmädchen war es deshalb auch ganz normal, das Geld, das sie verdienten, für die lustigen Dinge des Lebens auszugeben. Sie kauften sich neue Hüte, bunte Blusen und hin und wieder eine Halskette oder eine Brosche. Und da war nun Marie in ihrem einfachen schwarzen Kostüm, ihrer kleinen Toque und ihren schlichten Blusen, die nie ihre Garderobe ergänzte und nie etwas Unnötiges kaufte. Ich glaube nicht, dass es böser Wille war, aber sie lachten sie aus, sie verachteten sie. Marie war sehr unglücklich. Mit viel Verständnis und Güte gelang es Mutter, ihr über die ersten vier oder fünf Monate hinwegzuhelfen. Sie hatte Heimweh, sie wollte nach Pau zurück. Aber Mutter sprach mit ihr und tröstete sie. Sie wäre ein gescheites Mädchen, sagte sie ihr, den englischen Mädchen an Klugheit und Weitblick voraus, und täte genau das Richtige. Sie nahm sich, glaube ich, auch Jane und die beiden Dienstboten vor und wies sie darauf hin, dass sie die kleine Französin unglücklich machten. Marie lebte hier fern von ihrer Heimat, und sie sollten sich einmal überlegen, wie sie sich in einem fremden Land fühlen würden. Nach ein oder zwei Monaten fand Marie ihr fröhliches Wesen wieder.
»Aber bekamst du denn keinen Unterricht?«, könnte der eine oder andere Leser fragen, der die Geduld aufgebracht hat, mir bis hierher zu folgen.
Meine Antwort lautet schlicht: »Nein, ich bekam keine Unterrichtsstunden.«
Ich war damals etwa neun Jahre alt, und die meisten Kinder meines Alters hatten Gouvernanten, deren Aufgabe es aber in erster Linie war, die ihnen anvertrauten Kinder zu beaufsichtigen und zu beschäftigen. Was sie ihren Schützlingen an »Wissen« vermittelten, blieb ausschließlich dem Geschmack der jeweiligen Gouvernante überlassen.
Ich erinnere mich undeutlich an die eine oder die andere Gouvernante in befreundeten Familien. Die eine schwor auf Dr. Brewers Child’s Guide to Knowledge, einen Vorläufer unserer modernen Quizbücher. Einige der dort erworbenen Wissenskörnchen habe ich im Gedächtnis behalten: »Von welchen drei Krankheiten wird der Weizen befallen? – Schimmel, Brand und Rost.« – »Welches ist der wichtigste Fabrikationszweig der Stadt Redditch? – Nadeln.« – »Wann war die Schlacht von Hastings? – 1066.« Sie haben mich mein Leben lang begleitet – bedauerlicherweise hatten sie nie irgendwelchen praktischen Wert für mich.
Eine andere Gouvernante unterrichtete ihre Schüler beinahe nur in Naturgeschichte. Es wurde eine Unmenge von Blättern und Blüten und Beeren gesammelt und anschließend zerschnitten und zerteilt. Es war unglaublich langweilig. »Ich hasse dieses ewige In-Stücke-Reißen«, vertraute mir meine kleine Freundin an. Ich war ganz ihrer Meinung, und mein Leben lang habe ich vor dem Wort Botanik gescheut wie ein nervöses Pferd.
Mutter war in ihrer Jugend zur Schule gegangen, in eine Lehranstalt in Cheshire. Sie schickte meine Schwester Madge in eine öffentliche Elementarschule, huldigte aber jetzt der Anschauung, die beste Methode, Mädchen zu erziehen, bestünde darin, ihnen soweit wie möglich ihre Freiheit zu lassen, ihnen gutes Essen und frische Luft zu geben und ihrer geistigen Entwicklung in keiner Weise Zwang anzutun. (Natürlich galt nichts von all dem für Knaben; für sie war eine streng konventionelle Erziehung vorgesehen.)
Wie schon erwähnt, hatte Mutter eine Theorie, wonach einem Mädchen das Lesen erst mit acht Jahren gestattet werden sollte. Da ihr das in meinem Fall misslungen war, durfte ich lesen, soviel ich wollte, und ich nahm jede Gelegenheit wahr, das auch zu tun. Das so genannte Schulzimmer war ein großer, fast ganz von Büchergestellen eingefasster Raum im Obergeschoss des Hauses. Es gab Regale mit Kinderbüchern – Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln, sentimentale viktorianische Erzählungen und daneben jede Menge von Schulbüchern, Erzählungen und Romanen. Ich las wahllos, was mir in die Hände fiel – auch Dinge, die ich zwar nicht verstand, die mich aber dennoch fesselten.
Bei meiner Lektüre geriet ich auch an ein französisches Theaterstück. Vater kam dazu, als ich es las. »Wo hast du denn das her?«, fragte er und nahm es mir entsetzt aus der Hand. Es war ein Werk aus einer Reihe französischer Romane und Theaterstücke, die er, da nur für den Gebrauch Erwachsener bestimmt, üblicherweise im Rauchzimmer unter Verschluss hielt.
»Es lag im Schulzimmer«, antwortete ich.
»Da hat es nichts zu suchen«, sagte er. »Es gehört in meinen Schrank.«
Ich überließ es ihm ohne Bedauern. Offen gestanden, ich hatte kaum die Zusammenhänge erkannt. Ich kehrte beglückt zu Mémoires d’un Âne, Sans Familie und anderen harmlosen französischen Büchern zurück.
Irgendwelchen Unterricht muss ich wohl genossen haben, aber ich bekam nie eine Gouvernante. Ich lernte Mathematik mit Vater, der mich in die Welt der Bruchrechnung und Dezimalzahlen einführte. Ich erreichte schließlich den Punkt, wo soundso viele Kühe soundso viel Gras fressen, und mit Wasser gefüllte Fässer in soundso viel Stunden… Ich fand es sehr aufregend.
Meine Schwester war jetzt offiziell »gesellschaftsfähig« geworden, was eine große Zahl von Partys, Kleidern, Besuchen in London und so weiter mit sich brachte. Das wieder hielt Mutter in Atem, sodass sie weniger Zeit für mich hatte. Das Gefühl, dass sich alles um Madge drehte, machte mich manchmal eifersüchtig. Mutter selbst hatte keine sehr schöne Mädchenzeit gehabt. Obwohl ihre Tante eine reiche Frau war und häufig den Atlantik mit ihr überquert hatte, war es ihr nie nötig erschienen, sie in irgendeiner Form in die Gesellschaft einzuführen. Omatante bestellte sich zwar sehr teure und elegante Kleider in den besten Pariser Salons, betrachtete aber Clara immer nur als Kind und kleidete sie entsprechend. Wieder diese schrecklichen Nähmamsellen! Mutter war fest entschlossen, dass ihre Töchter all die hübschen Sachen und den modischen Krimskrams haben sollten, den sie hatte entbehren müssen. Daher ihr Interesse und ihre Freude an Madges Garderobe und später auch an meiner.
Und damals waren Toiletten noch Toiletten! Rüschen, Krausen, Volants, Spitzen, komplizierte Säume und Besätze: verschwenderisch in Material und Ausführung schleppten sie über den Boden und mussten anmutig mit einer Hand hochgehalten werden. Dazu gab es noch kleine Umhänge oder Mäntel oder Federboas.
Auch die Frisuren waren damals noch Frisuren – nicht so wie heute, wo man sich mit dem Kamm durch das Haar fährt, und die Sache ist erledigt. Das Haar wurde gelockt und gekräuselt und eingedreht, über Nacht mit Lockenwicklern gequält und mit der heißen Brennschere gewellt. Wenn eine junge Dame auf den Ball ging, fing sie mindestens zwei Stunden vorher an, sich die Haare zu machen; allein für die Frisur brauchte sie eineinhalb Stunden.
Das war freilich nicht meine Welt. Es war die Welt der Erwachsenen, von der ich mich fernhielt. Was Marie und mich nicht daran hinderte, über die Toiletten der Mademoisellen zu diskutieren.
Der Zufall wollte es, dass wir in unserer Straße keine Nachbarn mit Kindern in meinem Alter hatten. Darum organisierte ich mir, wie ich es schon früher getan hatte, meinen eigenen Kreis von Freundinnen – als Nachfolgerinnen von Pudel, Eichhörnchen, Baum und den viel strapazierten Kätzchen. Diesmal erfand ich mir eine Schule – aber nicht, weil ich den dringenden Wunsch verspürte, zur Schule zu gehen. Nein, ich war ganz einfach der Ansicht, dass eine Schule sich am besten dazu eignete, für sieben Mädchen verschiedenen Alters und unterschiedlichen Aussehens den Hintergrund abzugeben. Jedes Mädchen musste eine andere Herkunft haben und aus einem anderen Milieu kommen. Die Schule selbst hatte keinen Namen; sie war einfach die Schule.
Die ersten Mädchen, die ich in meiner Schule aufnahm, hießen Ethel Smith und Annie Gray. Ethel war elf und Annie war neun. Ethel Smith war dunkel und hatte lange Haare. Sie war klug, tat sich bei Spielen hervor, hatte eine tiefe Stimme und muss ziemlich maskulin ausgesehen haben. Annie Gray, ihre beste Freundin, war das genaue Gegenteil. Sie hatte flachsblondes Haar und blaue Augen, war schüchtern und nervös und weinte leicht. Sie hing an Ethel, die sie bei jeder Gelegenheit in Schutz nahm. Ich hatte beide gern, gab aber der beherzten und lebensvollen Ethel den Vorzug.
Bald kamen zwei weitere Mädchen hinzu: Isabella Sullivan war sehr reich und wunderschön, sie hatte goldblondes Haar und braune Augen. Sie war elf. Ich mochte Isabella nicht – ich mochte sie ganz und gar nicht. Sie war »weltlich«. (Weltlich war ein oft gebrauchtes Wort in den Geschichtenbüchern jener Zeit.) Isabella war zweifellos der Inbegriff weltlicher Gesinnung. Sie spielte sich groß auf, prahlte mit ihrem Reichtum und trug Kleider, die viel zu teuer für sie und zu »erwachsen« für ein Mädchen ihres Alters waren. Elsie Green war ihre Cousine. Elsie hatte etwas von einer Irin. Sie hatte blaue Augen und dunkles lockiges Haar, war immer fröhlich und lachte viel. Sie kam ganz gut mit Isabella aus, putzte sie aber manchmal herunter. Elsie war arm; sie trug Isabellas abgelegte Kleider.
Mit diesen vier Mädchen kam ich eine Zeitlang gut aus. Sie fuhren auf meiner Ringbahn, ritten, verrichteten Gartenarbeiten und spielten häufig Krocket. Ich organisierte Wettkämpfe und Turniere. Meine große Hoffnung war immer, dass Isabella nicht gewinnen würde. Ich schwindelte nicht, tat aber sonst alles, um sie nicht gewinnen zu lassen – wenn sie an der Reihe war, hielt ich das Schlagholz nur nachlässig, spielte unüberlegt, zielte überhaupt nicht, und doch: Je ungeschickter ich spielte, desto erfolgreicher schien Isabella abzuschneiden. Es war höchst ärgerlich.
Nach einer Weile kam mir der Gedanke, dass es doch recht nett wäre, auch ein paar jüngere Mädchen in meiner Schule zu haben. Ich nahm zwei Sechsjährige auf, Ella White und Sue de Verte. Ella war gewissenhaft, fleißig und langweilig. Sie hatte buschiges Haar und war eine annehmbare Krocketspielerin. Sue de Verte war eher farblos – im Aussehen wie auch im Charakter. Irgendwie konnte ich sie weder sehen noch fühlen. Sie und Ella waren eng befreundet. Während Ella für mich ein offenes Buch war, blieb Sue verschwommen und veränderlich. Diesen Eindruck hatte ich vermutlich nur deshalb, weil Sue in Wirklichkeit ich selbst war. Wenn ich mit den anderen plauderte, war es immer Sue, die sich mit ihnen unterhielt, nicht Agatha, und damit wurden Sue und Agatha zu zwei Facetten ein und desselben Wesens. Sue war eigentlich nur Beobachterin und gehörte nicht zu den dramatis personae. Das siebente Mädchen in meiner Sammlung war Sues Stiefschwester, Vera de Verte. Vera war schrecklich alt – sie war dreizehn. Noch war sie nicht attraktiv, würde aber später einmal eine strahlende Schönheit sein. Ein Geheimnis umgab ihre Geburt. Sie hatte strohblondes Haar und vergissmeinnichtblaue Augen.
Eine zusätzliche Hilfe für meine »Mädchen« war eine Mappe mit Bildern aus der Königlichen Akademie, die meine Großmutter in ihrem Haus in Ealing hatte. Sie versprach mir, dass sie eines Tages mir gehören würde, und wenn es draußen regnete, saß ich stundenlang davor und studierte sie – nicht wegen der künstlerischen Befriedigung, sondern um die passenden Porträts für meine Mädchen zu finden. Ein von Walter Crane illustriertes Buch, das ich zu Weihnachten bekommen hatte – The Feast of Flora – war mit Bildern von Blumen in Menschengestalt ausgestattet. Ein ganz besonders reizendes zeigte eine von Vergissmeinnicht umrankte Gestalt, die zweifelsohne Vera de Verte darstellte. Chaucers Gänseblümchen war Ella, und die anmutig dahinschreitende Kaiserkrone Ethel.
Die »Mädchen« leisteten mir noch manches Jahr Gesellschaft; natürlich veränderten sie mit der Zeit ihre Persönlichkeit – so wie auch ich älter wurde. Sie spielten Instrumente, agierten in Opern, übernahmen Rollen in Theaterstücken und Singspielen. Selbst als ich schon erwachsen war, dachte ich gelegentlich an sie und teilte die verschiedenen Kleider in meinem Garderobeschrank auf sie auf. Ich erinnere mich, dass Ethel in einem dunkelblauen Tüllkleid mit weißen Lilien auf der Schulter sehr gut aussah. Die arme Annie bekam nie viel zum Anziehen. Aber ich war immer fair gegen Isabella und gab ihr ein paar wirklich schöne Roben – meist Seide oder bestickter Brokat. Wenn ich ein Kleid weghänge, sage ich manchmal noch heute leise zu mir: »Ja, das würde Elsie gut stehen, grün war immer ihre Farbe.« Oder: »Dieses dreiteilige Jersey-Set würde Ella wirklich sehr gut passen.« Ich muss lachen, wenn ich das tue – um so mehr als die »Mädchen« ja – im Gegensatz zu mir – nicht älter geworden sind. Älter als dreiundzwanzig habe ich sie mir nie vorgestellt.
Mit der Zeit kamen noch weitere vier Mädchen hinzu: Adelaide, die älteste von allen, hochgewachsen, hübsch und ein wenig überklug, Beatrice, eine fröhliche, springlebendige kleine Elfe und die jüngste von allen, sowie zwei Schwestern, Rose und Iris Reed. Im Zusammenhang mit diesen beiden hatte ich romantische Anwandlungen. Iris hatte einen Verehrer, der ihr Gedichte schrieb und sie »Moorlilie« nannte, Rose war sehr mutwillig, spielte aller Welt Schabernack und flirtete heftig mit den jungen Herrn ihrer Umgebung. Einige Mädchen wurden von mir verheiratet, andere nicht. Ethel blieb ledig und lebte zusammen mit der sanftmütigen Annie in einem kleinen Häuschen – ein passendes Arrangement, wie ich heute finde: Sie würden genau das getan haben, wenn es sie wirklich gegeben hätte.
Bald nach unserer Rückkehr wurde ich von Fräulein Uder in die herrliche Welt der Musik eingeführt. Fräulein Uder war eine gedrungene, drahtige, energische kleine Deutsche. Ich weiß nicht, wieso sie gerade in Torquay Musikunterricht erteilte – ich habe nie etwas über ihr Privatleben gehört. Eines Morgens erschien Mutter mit Fräulein Uder im Schulzimmer; sie wünsche, erklärte sie, dass Agatha Klavierspielen lernen solle.
»Ach!«, sagte Fräulein Uder, die perfekt Englisch sprach, aber mit hartem deutschem Akzent. »Dann wollen wir gleich zum Klavier.« Und wir gingen zum Klavier – zum Schulzimmerklavier natürlich, nicht zum großen Flügel im Salon.
»Bleib da stehen«, kommandierte Fräulein Uder. Ich blieb links vom Klavier stehen. »Das«, sagte sie und hämmerte so stark auf die Taste, dass ich um das Instrument bangte, »das ist die Note C. Verstehst du? Das ist die Note C. Das ist die C-Dur-Skala.« Sie spielte die Tonleiter. »Jetzt spielen wir den C-Dur-Akkord, so. Und jetzt wieder die Tonleiter. Die Noten heißen C, D, E, F, G, A, H, C. Verstehst du?«
Ich bejahte. Soviel hatte ich nämlich schon vorher gewusst.
»Du bleibst da stehen, wo du die Tasten nicht sehen kannst«, wies Fräulein Uder mich an. »Ich spiele jetzt das C und dann eine andere Note, und du sollst mir sagen, welche es ist.« Sie schlug das C und dann eine andere Taste an. »Was ist das?«
»E«, antwortete ich.
»Ganz richtig. Gut. Jetzt versuchen wir es noch einmal.« Wieder hämmerte sie auf das C und dann auf eine zweite Taste. »Und das?«
»A«, schlug ich vor.
»Ach, das ist ja prima! Gut. Das Kind ist musikalisch. Du hast Gehör, ja. Wir werden famos miteinander auskommen.«
Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Noten sie gespielt hatte. Ich hatte einfach geraten. Aber wie auch immer: Da es gut angefangen hatte und beide Seiten guten Willen zeigten, ging es flott weiter. Es dauerte nicht lange, und das Haus hallte von Skalen und Arpeggios und schließlich auch von den Klängen des Fröhlichen Landmanns wider. Der Musikunterricht machte mir große Freude. Sowohl Vater wie auch Mutter spielten Klavier. Mutter spielte Mendelssohns Lieder ohne Worte und verschiedene andere Stücke, die sie in ihrer Jugend gelernt hatte. Sie spielte gut, war aber, glaube ich, keine begeisterte Musikliebhaberin. Vater war von Natur aus musikalisch. Er konnte alles nach Gehör spielen und trug uns wunderschöne amerikanische Lieder, Negrospirituals und andere Stücke vor. Nach dem Fröhlichen Landmann studierte Fräulein Uder die Träumerei und einige andere reizende Melodien von Schumann mit mir ein. Ich übte fleißig – ein bis zwei Stunden am Tag. Nach Schumann kam Grieg, der mich begeisterte – Erotique und Erstes Frühlingsrauschen waren meine Lieblingsstücke. Als ich endlich so weit war, dass ich den Morgen aus der Peer-Gynt-Suite spielen konnte, war ich außer mir vor Entzücken. Wie die meisten Deutschen, war auch Fräulein Uder eine ausgezeichnete Lehrerin. Mit dem Spiel von hübschen Melodien war es leider nicht getan, es gab Unmengen von Czernys Etüden, die ich nicht ganz so eifrig übte. Doch Fräulein Uder ließ nicht mit sich spaßen. »Du musst ein gesundes Fundament haben«, sagte sie. »Die Liedchen, ja, das sind nette kleine Spielereien, das sind Blumen, die blühen und abfallen, aber du musst Wurzeln haben, kräftige Wurzeln und Blätter.«
Dann gab es auch noch die Tanzstunden, die einmal in der Woche in einem Saal stattfanden, der sich etwas pompös »Athenaeum« nannte und über einer Konditorei lag. Ich muss schon sehr früh in die Tanzstunde gegangen sein – mit fünf oder sechs, glaube ich, denn ich erinnere mich, dass Nursie noch da war und mich hinbegleitete. Die Kleinsten fingen mit der Polka an, und zwar so, dass sie drei Mal aufstampfen mussten: rechts, links, rechts – links, rechts, links. Ziemlich lästig für die Leute, die unten in der Konditorei ihren Tee tranken. Als ich heimkam, brachte Madge mich ein wenig aus der Fassung. »So tanzt man keine Polka«, sagte sie. »Man schiebt einen Fuß vor, zieht den anderen nach… so, siehst du?« Ich war ziemlich erstaunt, aber anscheinend erachtete Miss Hickey, die Tanzlehrerin, es als zweckmäßig, die Schülerinnen zuerst mit dem Rhythmus der Polka und erst dann mit den Schritten vertraut zu machen.
Miss Hickey war eine wunderbare, wenn auch Angst einflößende Frau. Sie war groß und stattlich, hatte ihr graues Haar zu einer exquisiten Frisur im Pompadourstil gerafft und trug lange, wallende Kleider. Mit ihr Walzer zu tanzen – aber das kam natürlich erst viel später – war ein erschreckendes Erlebnis. Sie hatte zwei Assistentinnen, die ältere zählte achtzehn oder neunzehn Jahre; Aileen, die jüngere, war dreizehnjährig. Aileen war ein liebes Ding, die hart arbeitete, und wir hatten sie alle sehr gern. Helen, die ältere, war ein wenig furchteinflößend und gab sich überhaupt nur mit wirklich guten Tänzerinnen ab.
Die Tanzstunden begannen mit einem »Expander« genannten Muskelstrecker zur Kräftigung von Brust und Armen. Damit übte man fleißig während einer halben Stunde. Dann kam die Polka, die von allen gemeinsam getanzt wurde, sobald sie die Schritte gelernt hatten. Die älteren Mädchen tanzten mit den jüngeren. Die Polka war lustig, aber nicht aufregend. Auf die Polka folgte die Eröffnungspolonaise, bei der man in Paaren durch die Saalmitte hinaufschritt, an den Wänden entlang wieder zurückkehrte und anschließend verschiedene Tanzfiguren bildete. Bei der Polonaise hatte man Partner, die man selbst aufforderte – was wiederholt zu Eifersüchteleien führte. Natürlich wollten alle Helen oder Aileen als Partnerinnen haben, aber Miss Hickey achtete streng darauf, dass keine der Schülerinnen sie monopolisierte. Nach der Polonaise wurden die Kleineren in einen Nebensaal geführt, um dort Polka und später Walzerschritte zu üben, oder auch Schritte für ihre Fantasietänze, bei denen sie sich besonders ungeschickt anstellten. Die Großen übten ihre Fantasietänze unter der Aufsicht von Miss Hickey im großen Saal. Gelehrt wurden ein französischer Tamburin, ein spanischer Kastagnettentanz oder ein Fächertanz.
Und weil gerade vom Fächertanz die Rede ist: Ich erwähnte einmal gegenüber meiner Tochter Rosalind und ihrer Freundin Susan, sie waren damals achtzehn oder neunzehn, dass ich in meiner Jugend einen Fächertanz getanzt hatte. Ich wunderte mich über ihr verschmitztes Lachen.
»Aber doch nicht wirklich, Mutter! Einen Fächertanz! Stell dir vor, Susan!«
»Ich dachte immer, ihr Viktorianer hättet es mit der Moral so genau genommen«, sagte Susan.
Es dämmerte uns bald, dass wir unter Fächertanz kaum das Gleiche verstanden!
Schließlich kamen die komplizierten Tanzfiguren des Landers. Aber man brachte uns auch den schwedischen Bauerntanz und den so genannten Sir Roger de Coverley bei. Diese beiden waren besonders wichtig; man hätte sich sonst, wenn man zu Partys ging, seiner Ignoranz schämen müssen.
In Torquay besuchten fast ausschließlich Mädchen die Tanzstunde. In Ealing dagegen kam auch eine beträchtliche Anzahl von Jungen. Ich war damals etwa neun, sehr schüchtern und durchaus keine sehr gute Tänzerin. Ein ganz reizender Junge, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, trat auf mich zu und forderte mich auf, beim Lancier seine Partnerin zu sein. Verwirrt, mit niedergeschlagenem Blick, antwortete ich ihm, dass ich keinen Lancier tanzen könne. Es kam mich hart an, ich hatte noch nie einen so attraktiven Jungen gesehen. Er hatte dunkles Haar und lachende Augen. Als der Lancier begann, setzte ich mich betrübt nieder, aber schon Sekunden später war Mrs Wordsworth’ Assistentin zur Stelle. »Nein, nein, Agatha, wir lassen keine Tänze aus.«
»Ich kann keinen Lancier tanzen, Miss.«
»Das wirst du sehr schnell lernen. Jetzt müssen wir dir einen Partner suchen.«
Sie bekam einen sommersprossigen, rotblonden, stupsnasigen, mit Polypen gesegneten Jungen zu fassen. »So. Das ist William.« Während des Tanzes traf ich auf den ersten Jungen und seine Partnerin. »Mit mir wolltest du nicht tanzen, und jetzt bist du doch da«, flüsterte er mir zornig zu. »Das war gar nicht nett von dir.« Ich versuchte ihm zu sagen, dass ich nichts dafürkonnte, dass man mich gezwungen hatte – aber beim Lancier hat man keine Zeit, lange Erklärungen abzugeben. Bis zum Ende der Tanzstunde warf er mir immer wieder vorwurfsvolle Blicke zu. Ich hoffte, wir würden uns nächste Woche wieder begegnen, aber leider sah ich ihn nie wieder – eine der traurigen Liebesgeschichten des Lebens!
Der Walzer war der einzige Tanz, der mir in meinem späteren Leben nützlich sein sollte, aber ich habe ihn nie gern getanzt. Ich mag den Rhythmus nicht, und ich wurde immer schrecklich schwindlig, besonders wenn ich Miss Hickey zur Partnerin hatte.
Fräulein Uder verschwand aus meinem Leben; ich weiß nicht wie und wann. Vielleicht kehrte sie nach Deutschland zurück. Ihren Platz nahm später ein junger Mann, ein gewisser Mr Trotter ein; er war Organist an einer der Kirchen und ein eher deprimierender Lehrer. Ich musste mich mit einem ganz neuen Stil befreunden. Ich musste praktisch am Boden sitzen und mit den Händen nach oben langen, um die Tasten zu erreichen, und dann noch aus dem Handgelenk spielen. Nach Fräulein Uders Methode saß man hoch und spielte aus den Ellbogen.
5
Es muss kurz nach unserer Rückkehr von den Kanalinseln gewesen sein, als die Krankheit meines Vaters ihre ersten Schatten warf. Er hatte sich schon in Frankreich nicht wohlgefühlt und zweimal einen Arzt aufgesucht. Der zweite Arzt hatte eine ziemlich beunruhigende Diagnose gestellt – auf eine Nierenkrankheit. Nach unserer Rückkehr zog er unseren Hausarzt zurate, der sich dieser Diagnose nicht anschloss und ihn zu einem Spezialisten schickte. Der Schatten war da, ein leiser Schatten, von einem Kind nur als eine jener atmosphärischen Störungen empfunden, die für die psychische Welt das sind, was ein sich nähernder Gewittersturm für die physische bedeutet.
Die Medizin schien nicht viel zu helfen. Vater konsultierte zwei oder drei Spezialisten. Der erste sagte, es wäre zweifellos eine Herzgeschichte. Ich weiß die Einzelheiten nicht mehr, ich erinnere mich nur an ein Gespräch zwischen Mutter und meiner Schwester und an die Worte »eine Entzündung der Nerven, die das Herz umgeben«. Das klang sehr erschreckend.
In zunehmend kürzeren Intervallen bekam Vater in der Nacht Schmerzen und Atembeschwerden. Mutter wachte bei ihm, veränderte seine Lage und gab ihm die Medikamente, die der neue Arzt verschrieben hatte.
Und immer der rührende Glaube an den neuen Arzt, der zurate gezogen worden war, an die von ihm verordnete Diät oder Behandlung. Der Glaube richtet viel aus, kann aber letzten Endes das organische Leiden nicht heilen, das der Erkrankung zu Grunde liegt.
Die meiste Zeit war Vater wohlauf und munter wie eh und je, aber die Stimmung im Haus veränderte sich. Er ging immer noch in den Klub, verbrachte die Sommertage auf dem Kricketplatz, erzählte amüsante Geschichten – er war derselbe gütige Mensch, den wir liebten. Er war nie böse oder gereizt, aber der Schatten der Angst lastete auf uns allen – natürlich auch auf Mutter, die tapfer versuchte, Vater neue Kraft zu geben und ihm einzureden, dass er besser aussah, sich besser fühlte und dass sein Gesundheitszustand sich gebessert habe.
Gleichzeitig verdunkelten sich auch die Schatten unserer finanziellen Sorgen. Das von meinem Großvater geerbte Vermögen war in Häusern in New York angelegt, aber die Baulichkeiten waren verpachtet und nicht frei. Wie es schien, standen sie in einer Gegend, wo der Boden wertvoll war, die Häuser selbst aber praktisch nichts abwarfen. Das wenige Einkommen, das uns hätte zufließen sollen, ging in Steuern und Reparaturen auf.
Nachdem ich Gesprächsfetzen aufgeschnappt hatte, die mir von großer Bedeutung zu sein schienen, eilte ich nach oben, um Marie im besten viktorianischen Stil mitzuteilen, dass wir ruiniert waren. Marie war nicht so verzweifelt, wie sie es meiner Meinung nach hätte sein sollen, muss aber Mutter gegenüber wohl ihr Mitgefühl zum Ausdruck gebracht haben.
»Also wirklich, Agatha!«, hielt Mutter mir ein wenig ärgerlich vor. »Wir sind nicht ruiniert. Wir sind nur im Augenblick etwas im Druck, und wir werden sparen müssen.«
»Wir sind nicht ruiniert?«, sagte ich tief bekümmert.
»Nein.«
Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht war. In den vielen Büchern, die ich gelesen hatte, gingen die Leute häufig zu Grunde, und das Thema wurde mit der ihm gebührenden Ernsthaftigkeit behandelt. Der Held drohte sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, die Heldin verließ in Lumpen gehüllt ihr Schloss, und so weiter.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du im Zimmer warst«, sagte Mutter. »Aber wenn du etwas mit anhörst, hast du es nicht vor anderen Leuten zu wiederholen, verstanden?«
Ich versprach, es nie wieder zu tun, fühlte mich aber ungerecht behandelt, denn ich war erst vor Kurzem getadelt worden, weil ich über einen anderen Zwischenfall nicht berichtet hatte.
Tony und ich hatten eines Abends kurz vor dem Dinner unter dem Esszimmertisch gesessen. Es war eines unserer Lieblingsplätzchen, bestens geeignet, Abenteuer in Grüften, Verliesen und Ähnlichem zu bestehen.
Wir wagten kaum zu atmen, damit uns die bösen Räuber, die uns eingesperrt hatten, nicht hören sollten – ein schwieriges Unterfangen für Tony, der dick war und schnaufte – als Barter, das Hausmädchen, das dem Stubenmädchen bei den Mahlzeiten assistierte, mit der Suppenterrine ins Zimmer kam und sie auf die Wärmeplatte auf der Anrichte stellte. Sie hob den Deckel auf und steckte den großen Suppenlöffel hinein. Dann zog sie ihn voll wieder heraus und tat ein paar kräftige Schlucke. Lewis, das Stubenmädchen, kam herein und sagte: »Ich werde jetzt den Gong anschlagen …«, unterbrach sich dann und rief: »Aber, Louie, was machst du denn da!«
»Ich stärke mich nur ein wenig«, antwortete Barter mit einem herzlichen Lachen. »Mm, die Suppe ist nicht schlecht!« und nahm noch einen Schluck.
»Leg sofort den Löffel zurück und setz den Deckel auf!«, sagte Lewis schockiert. »Also wirklich!«
Barter lachte ihr kehliges, gutmütiges Lachen, legte den Löffel zurück, setzte den Deckel auf und wollte gerade in die Küche verschwinden, um die Suppenteller zu holen, als Tony und ich unter dem Tisch hervorkamen.
»Ist die Suppe wirklich gut?«, erkundigte ich mich.
»Ach du meine Güte! Wie du mich erschreckt hast, Kind!«
Ich war mäßig überrascht, erwähnte den Zwischenfall aber erst ein paar Jahre später. Mutter unterhielt sich mit Madge über unser früheres Hausmädchen Barter. »Ich erinnere mich auch an Barter«, mischte ich mich plötzlich in das Gespräch. »Sie hat im Esszimmer die Suppe aus der Terrine gegessen, bevor ihr alle zum Dinner kamt.«
»Aber warum hast du uns das nicht erzählt?«, staunte Mutter. Ich starrte sie an. Warum hätte ich das denn erzählen sollen?
»Nun ja«, antwortete ich, »es schien mir…« Ich nahm alle meine Würde zusammen und erklärte: »Es liegt mir nicht, Informationen aus der Hand zu geben.«
Dieser Ausspruch wurde mir noch lange im Scherz vorgehalten. »Es liegt Agatha nicht, Informationen aus der Hand zu geben!« Aber das stimmte. Es lag mir nicht. Wenn sie mir nicht relevant oder interessant erschienen, steckte ich alle Informationsschnitzel weg, die mir zugetragen wurden, heftete sie sozusagen in einen Ordner in meinem Kopf ein – für die übrigen Mitglieder meiner Familie, die allesamt extravertierte Plaudertaschen waren, eine unverständliche Gepflogenheit. Bei keinem von ihnen konnte man sich darauf verlassen, dass er ein ihm anvertrautes Geheimnis für sich behalten würde. Wenn Madge zu einem Ball oder zu einer Party ging, wusste sie nachher eine Unmenge amüsanter Dinge zu berichten. Ich hingegen war in dieser Beziehung vermutlich meinem Vater nachgeraten. Wenn ich gefragt wurde, ob sich etwas Spaßiges oder Interessantes ereignet hatte, antwortete ich spontan: »Nichts.« – »Was hat Mrs Soundso bei der Party getragen?« – »Weiß ich nicht mehr.« – »Wie ich höre, hat Mrs S. ihren Salon neu tapezieren lassen. In welcher Farbe?« – »Hab’ nicht hingeschaut.« – »Oh, Agatha, du bist ein hoffnungsloser Fall, du bemerkst nie etwas!«
Ich pflegte meine Meinungen und Ansichten für mich zu behalten. Nicht dass ich eine Heimlichtuerin gewesen wäre. Es schien mir nur, dass die meisten Dinge nicht von Belang waren – wozu also lange darüber reden? Zweifellos war ich ein langweiliges Kind mit den besten Aussichten, die Sorte von Mensch zu werden, die sich besonders schwer in eine Gesellschaft einbeziehen lässt.
Ich habe auf Gesellschaften nie eine gute Figur gemacht und auch nie viel Gefallen an ihnen gefunden. Sicher hat es Kindergesellschaften gegeben, aber wohl kaum so viele wie heute. Ich erinnere mich, dass ich zum Tee Freundinnen besuchte und dass Freundinnen zu mir kamen. Daran fand ich Vergnügen und finde es heute noch. Ausstattungspartys gab es, glaube ich, in meiner Jugend nur um die Weihnachtszeit. Ich erinnere mich an eine Art Kostümball und an eine Gesellschaft, bei der es einen Zauberkünstler gab.
Mutter hatte für Partys nichts übrig. Die Kinder, meinte sie, erhitzten sich zu sehr, regten sich übermäßig auf und aßen zu viel; wenn sie dann nachhause kamen, wurde ihnen oft übel. Vermutlich hatte sie Recht. Nach dem Besuch vieler Kinderpartys jeder Größenordnung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass mindestens ein Drittel der Kinder sich dabei gar nicht richtig unterhält.
Bis zu zwanzig Teilnehmern ist eine Party noch überblickbar – sind es mehr, wird die Toilettenfrage zum zentralen Problem! Da kommen Kinder, die auf die Toilette gehen wollen, andere, die nicht gerne sagen, dass sie auf die Toilette gehen wollen, wieder andere, die bis zum letzten Augenblick warten, und so weiter. Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen – es war ganze zwei Jahre alt –, dessen Mutter sich gegen den Rat ihrer erfahrenen Kinderfrau hatte überreden lassen, das Kind auf eine Party mitzubringen. »Annette ist doch so süß, sie muss kommen. Ich bin sicher, es wird ihr gefallen, und wir werden alle gut auf sie aufpassen.« Gleich nach ihrer Ankunft auf der Party setzte die Mutter – sicher ist sicher! – die Kleine aufs Töpfchen. In ihrer fieberhaften Erregung war Annette nicht imstande, ihr kleines Geschäft zu erledigen. »Na ja, vielleicht hat sie wirklich keine Not«, sagte die Mutter hoffnungsfroh. Sie gingen hinunter, und gerade als der Zauberkünstler alle möglichen Dinge aus den Ohren und aus der Nase zog und die Kinder zum Lachen brachte, und als alle um ihn herumstanden und schrien und applaudierten, ereignete sich die Katastrophe.
»So etwas hast du noch nicht erlebt, meine Liebe«, sagte eine ältere Tante, als sie Mutter über diesen Vorfall berichtete, »das arme Kind. Mitten auf den Fußboden. Wie ein Pferd.«
Marie muss einige Zeit vor meines Vaters Tod nach Frankreich zurückgekehrt sein – vielleicht ein oder zwei Jahre vorher. Sie hatte sich auf zwei Jahre verpflichtet, war aber mindestens ein Jahr länger geblieben. Sie hatte Heimweh nach ihrer Familie. Davon abgesehen, war sie ein vernünftiges und praktisch veranlagtes Mädchen und kam zu der Überzeugung, dass es an der Zeit war, sich nach guter alter französischer Art Gedanken über die Ehe zu machen. Von ihrem Lohn hatte sie sich eine hübsche kleine dot zusammengespart, und so verabschiedete sich Marie unter vielen Tränen und zärtlichen Umarmungen von ihrer »lieben Miss« und ließ mich sehr einsam zurück.
Aber schon vor ihrer Abreise hatten wir über die Frage, wen meine Schwester heiraten würde, Einigung erzielt. Wie ich bereits erzählt habe, war dies eines unserer ständigen Gesprächsthemen gewesen. Marie hatte stets auf le Monsieur blond getippt.
Mutter, die als Mädchen bei ihrer Tante in Cheshire lebte, hatte eine Schulfreundin, mit der sie sich sehr gut verstand. Als Annie Browne James Watts und Mutter ihren Stiefvetter Frederick Miller heiratete, versprachen sich die zwei Mädchen, dass sie einander nie vergessen und immer korrespondieren und Neuigkeiten austauschen würden. Und obwohl meine Großmutter von Cheshire nach London zog, blieben die beiden jungen Frauen in Kontakt miteinander. Annie Watts hatte fünf Kinder, Mutter drei. Sie tauschten Fotografien ihrer Kinder in den verschiedenen Altersstufen und schickten ihnen Geschenke zu Weihnachten.
Als meine Schwester zu Besuch nach Irland fuhr, um sich zu entscheiden, ob sie sich mit einem gewissen jungen Mann verloben sollte, der sie unbedingt heiraten wollte, berichtete Mutter Annie Watts von Madges Reise, und Annie bat Madge, auf der Rückfahrt von Holyhead nach Abney Hall in Cheshire zu kommen. Sie hätte so gern eines von Mutters Kindern kennen gelernt.
Nachdem Madge eine schöne Zeit in Irland verlebt und den Entschluss gefasst hatte, Charlie P. nun doch nicht zu heiraten, unterbrach sie also ihre Rückreise und besuchte die Watts. James, der älteste Sohn, damals einundzwanzig oder zweiundzwanzig, war ein ruhiger, blonder junger Mann, der noch in Oxford studierte. Er hatte eine sanfte leise Stimme, redete nicht viel und schenkte meiner Schwester weit weniger Aufmerksamkeit, als das die meisten jungen Männer taten. Sie fand das so bemerkenswert, dass es ihr Interesse erregte. Sie gab sich große Mühe mit James, war sich aber nicht sicher, wie sie auf ihn gewirkt hatte.
In Wahrheit war er vom ersten Augenblick an bezaubert von ihr gewesen, aber es lag nicht in seiner Natur, solche Gefühle zu zeigen. Er war schüchtern und zurückhaltend. Im folgenden Sommer kam er uns besuchen. Er gefiel mir gleich sehr gut. Er war lieb zu mir und nahm mich immer ernst. Er machte keine dummen Witze und behandelte mich auch nicht wie ein kleines Kind. Auch auf Marie machte er einen guten Eindruck, und so kam es, dass wir uns in der Nähstube ständig über le Monsieur blond unterhielten.
»Ich glaube nicht, dass sie einander sehr mögen, Marie.«
»Ah, mais oui, er denkt sehr viel an sie und beobachtet sie, wenn sie es nicht merkt. O ja, il est bien épris. Und es würde eine gute Ehe sein. Er hat gute Aussichten und ist tout à fait un garçon sérieux. Er wird ein guter Ehemann sein.«
Vater war, glaube ich, der einzige, der ihn nicht mochte, aber das ist wohl unvermeidlich bei Vätern hübscher und charmanter Töchter – Schwiegersöhne wie die, die sie sich wünschen, gibt es gar nicht. Mütter haben angeblich eine ähnliche Einstellung, was die Frauen ihrer Söhne anbetrifft.
Eine der großen Freuden unseres Lebens war das Stadttheater. Wir waren alle Theaternarren in unserer Familie. Madge und Monty gingen praktisch jede Woche, und ich durfte sie oft begleiten. Je älter ich wurde, desto häufiger ging ich mit. Wir saßen immer im Parkett – das Parterre galt als »unfein«. Es kostete einen Shilling. Das Parkett begann zehn oder zwölf Reihen nach den Sperrsitzen, und dort saß die Familie Miller und genoss alle Arten von Theateraufführungen.
Ich weiß nicht, ob es das erste Stück war, das ich sah, eines der ersten war es sicher: Herz ist Trumpf, ein turbulentes Melodrama schlimmster Sorte. Ein schurkisches Weib kam darin vor, Lady Winifred, und ein wunderschönes Mädchen, das man um sein Vermögen betrogen hatte. Revolver wurden abgefeuert, und ich erinnere mich noch deutlich an die letzte Szene, in der ein junger Mann an einem Seil in den Alpen hing und dann das Seil zerschnitt und einen heldenhaften Tod starb, um das Mädchen zu retten, das er liebte – oder vielleicht auch den Mann, der das Mädchen, das er liebte, liebte!
Eines der großen Ereignisse des Jahres war die Torquay-Regatta, die am letzten Montag und Dienstag im August gesegelt wurde. Schon Ende Mai fing ich an, darauf zu sparen, denn wenn ich von der Regatta spreche, meine ich nicht so sehr den Wettkampf der Jachten, als vielmehr den darauffolgenden Jahrmarkt. Madge ging natürlich mit Vater zum Haldon Pier, um dem Segeln zuzusehen, und meistens hatten wir Gäste zuhause, die abends am Regattaball teilnahmen. Madge segelte nie mehr als unbedingt nötig, denn sie war zeit ihres Lebens nicht seefest. Hingegen wurde den Booten unserer Freunde lebhaftes Interesse entgegengebracht. Es gab Picknicks und Partys, doch das war die gesellschaftliche Seite der Regatta, und ich war noch zu klein dafür.
Die große Freude meines Lebens, der ich erwartungsvoll entgegensah, war der Jahrmarkt. Es gab Karussells, wo man auf Pferden mit Mähnen saß, und eine Art Achterbahn, wo man steile Abhänge hinauf- und hinuntersauste. Nicht zu vergessen die Schaubuden – die Dame ohne Unterleib; Madame Arensky, die die Zukunft aus der Hand las; die menschliche Spinne, gar schrecklich anzusehen; der Schießstand, an dem Madge und Monty immer viel Zeit verbrachten und viel Geld ausgaben. An einem anderen Stand konnte man mit Bällen nach Kokosnüssen werfen, und Monty gewann immer eine ganze Menge davon und brachte sie mir nachhause. Kokosnüsse liebte ich heiß. Hin und wieder durfte ich auch selbst werfen, wobei der Budenbesitzer mir zuvorkommenderweise erlaubte, so weit vorzutreten, dass ich manchmal eine Kokosnuss erwischte.
Wurfringe, Teufelsscheiben und Kettenflieger waren damals noch nicht bekannt. Es gab verschiedene Buden, die alles mögliche Zeug verkauften. Meine besondere Liebe galt den so genannten Pennyäffchen. Sie kosteten einen Penny. Es waren flaumige, flockige kleine Figuren von Affchen an einer langen Nadel, die man sich an den Mantel steckte. Jedes Jahr kaufte ich sechs bis acht Stück davon und verleibte sie meiner Sammlung ein – blau, grün, braun, rot, gelb. Mit den Jahren wurde es immer schwieriger, eine neue Farbe und ein neues Modell zu finden.
Das köstliche Nougat wurde nur auf dem Jahrmarkt feilgeboten. Hinter einem Tisch stand ein Mann vor einem riesigen weiß und rosa gefärbten Block Nougat, von dem er kleine Stücke abhackte und sie schreiend und gestikulierend versteigerte. »Nun, meine kleinen Freunde, sechs Pence für das Riesenstück hier! Gut, Schätzchen, ich schneide es dir in die Hälfte. Und wie wäre es jetzt mit dem da zu vier Pence?« und so weiter, und so weiter. Er hatte auch schon fertige Päckchen zu zwei Pence, aber der Spaß war, bei der Versteigerung mit dabei zu sein. »Da, für das kleine Fräulein. Ja, dreieinhalb Pence für dich.«
Goldfische kamen als Neuigkeit erst auf, als ich zwölf war. Es war eine große Sensation. Der ganze Stand war voll von Goldfischgläsern, jedes mit einem Fisch, und man warf Pingpongbälle danach. Wenn ein Ball in die Öffnung eines Glases fiel, hatte man gewonnen. Das war anfangs ein billiger Spaß. Als sie das erste Mal auf den Rummelplatz kamen, gewannen wir elf Stück und trugen sie triumphierend nachhause, wo wir ihnen im Bottich ein neues Quartier anwiesen. Aber der Preis stieg sehr bald von einem Penny auf sechs Pence pro Ball.
Am Abend wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Da wir es von unserem Haus aus nicht sehen konnten – oder nur die ganz hohen Raketen –, verbrachten wir den Abend meistens bei Freunden, die oberhalb des Hafens wohnten. Die Party begann um neun, es wurden Eiscreme, Limonade und Kekse gereicht. Auch das war in jenen Tagen ein Hochgenuss, der mir, da ich keinen Alkohol trinke, heute abgeht – die Garden Partys.
Die Garden Partys vor dem Ersten Weltkrieg waren eine aufregende Sache. Die Kinder wurden piekfein herausgeputzt: Schuhe mit hohen Absätzen, Musselinkleider mit blauen Schärpen, große italienische Strohhüte mit halb verblühten Rosen. Es gab herrliche Eiscremes – meist standen Erdbeer, Vanille, Pistazien, Orangen und Himbeeren zur Wahl – und dazu alle möglichen Kuchen und Sandwiches, Eclairs, Muskatellertrauben und Nektarinen. Daraus schließe ich, dass die Garden Partys praktisch immer im August stattfanden. Ich kann mich nicht entsinnen, dass es je Erdbeeren mit Schlagsahne gegeben hätte.
Allerdings musste man, um hinzugelangen, einige Unbilden auf sich nehmen. Leute, die keine eigene Kutsche hatten, mieteten sich einen Wagen, wenn sie alt und gebrechlich waren; aber die Jüngeren, die aus den verschiedenen Teilen Torquays kamen, gingen zweieinhalb bis drei Kilometer zu Fuß; einige hatten das Glück, in der Nähe zu wohnen, andere aber mussten ein gutes Stück Weg zurücklegen, denn Torquay liegt über sieben Hügel verstreut. Keine Frage, dass es eine große Strapaze war, mit hochhackigen Schuhen, den langen Rock mit der linken Hand hochhaltend, einen Sonnenschirm in der rechten, Hügel hinaufzusteigen. Aber es war der Mühe wert, bei einer Garden Party dabei zu sein.
Ich war elf Jahre alt, als mein Vater starb. Seine Gesundheit hatte sich allmählich verschlechtert, aber sein Leiden scheint nie genau diagnostiziert worden zu sein. Zweifellos schwächte auch die ständige finanzielle Sorge seine Widerstandskraft gegen jede Art von Krankheit.
Er war in Ealing gewesen, hatte eine Woche bei seiner Stiefmutter zugebracht und dann einige Freunde in London besucht, die ihm helfen sollten, einen Posten zu finden. Einen Posten zu finden, war damals nicht gerade leicht. Man war Rechtsanwalt oder Arzt, man war Gutsverwalter oder arbeitete im Staatsdienst, aber die große Welt der Geschäfte zahlte keine Gehälter, wie man sie heute gewöhnt ist. Es gab große Banken, wie etwa Pierpont Morgans, wo Vater einige Leute kannte, aber das waren natürlich alles hohe Beamte. Entweder man gehörte zu einer der Banken und hatte seit seiner Jugendzeit dort gearbeitet, oder man gehörte nicht dazu. Wie die meisten seiner Altersgenossen hatte auch Vater nie eine Ausbildung genossen.
Seine finanzielle Lage war ihm unverständlich – so unverständlich, wie sie nach seinem Tod auch seinem Testamentsvollstrecker war. Es stellte sich die Frage, wohin das Geld, das mein Großvater hinterlassen hatte, verschwunden war. Vater hatte in keiner Weise über seine vermeintlichen Verhältnisse gelebt. Auf dem Papier waren die Einkünfte vorhanden, aber nie in der Praxis, und dafür gab es immer plausible Erklärungen, aus welchen hervorgeht, dass es sich um einen vorübergehenden Verzug handelte: wichtige Reparaturarbeiten eben, weiter nichts. Die Treuhänder und ihre Nachfolger hatten das Vermögen zweifellos schlecht Verwaltet. Aber jetzt war es zu spät, um die Situation noch zu retten.
Er machte sich Sorgen, draußen war es kalt, er zog sich eine schwere Erkältung zu, die sich zu einer doppelseitigen Lungenentzündung entwickelte. Mutter wurde nach Ealing gerufen, und Madge und ich kamen bald nach. Er war schon sehr krank. Mutter wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite. Wir hatten zwei Krankenschwestern im Haus. Unglücklich und verängstigt wanderte ich durch die Zimmer und betete andächtig, dass Vater gesund werden möge.
Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Es war Nachmittag. Ich stand auf dem Treppenabsatz. Plötzlich öffnete sich die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern. Die Hände an die Schläfen gepresst, kam Mutter herausgestürzt. Sie lief ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Eine Krankenschwester kam heraus und sprach zu Oma, die die Treppe heraufkam. »Es ist vorbei«, sagte sie. Ich wusste, dass mein Vater tot war.
Natürlich nahm man ein Kind nicht zum Begräbnis mit. In einem seltsamen Zustand innerer Unruhe ging ich durch das Haus. Etwas Entsetzliches war geschehen, etwas Undenkbares. Die Jalousien waren geschlossen, die Lichter brannten. In ihrem Lehnsessel im Esszimmer saß Oma und schrieb endlose Briefe. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie traurig den Kopf.
Mutter lag in ihrem Zimmer. Sie war nur aufgestanden, um zur Beerdigung zu gehen. Zwei Tage lang nahm sie keine Nahrung zu sich – ich hörte, wie Hannah sich dazu äußerte. Ich erinnere mich Hannahs mit Dankbarkeit. Die liebe alte Hannah mit ihrem sorgenzerfurchten Gesicht! Sie rief mich in die Küche und sagte, sie brauche jemanden, der ihr beim Teiganrühren helfe. »Sie waren einander sehr zugetan«, sagte sie immer wieder. »Es war eine gute Ehe.«
Ja, es war wirklich eine gute Ehe. Unter verschiedenen alten Sachen fand ich einen Brief, den Vater Mutter möglicherweise nur drei oder vier Tage vor seinem Tod geschrieben hat. Er schrieb, wie sehr er sich danach sehne, zu ihr nach Torquay zurückzukehren. Er habe in London nichts ausgerichtet, habe aber das Gefühl, dass er das alles vergessen würde, sobald er wieder bei seiner liebsten Clara wäre. Er habe es ihr schon oft gesagt, wie viel sie ihm bedeute, schrieb er weiter, aber er wolle es ihr noch einmal wiederholen. »Du hast meinem Leben erst Sinn gegeben. Kein Mann hat je so eine Frau gehabt. Mit jedem Jahr, das ich mit Dir verheiratet bin, liebe ich Dich mehr. Ich danke Dir für Deine Herzenswärme, Deine Liebe und Zärtlichkeit. Gott segne Dich, mein Teuerstes. Wir werden bald wieder vereint sein.«
Ich fand diesen Brief in einer mit Stickerei verzierten Brieftasche. Es war die Brieftasche, die Mutter als junges Mädchen für ihn bestickt und ihm nach Amerika geschickt hatte. Er hatte sie immer aufgehoben und zwei Gedichte darin aufbewahrt, die sie ihm geschrieben hatte. Mutter legte diesen Brief dazu.
In jenen Tagen herrschte eine fast gespenstische Atmosphäre in dem Haus in Ealing. Es war voll raunender Verwandter – Oma B. die Onkel und ihre Frauen, Großtanten, Omas alte Busenfreundinnen – sie saßen herum, flüsterten und seufzten und schüttelten die Köpfe. Und alle trugen Trauer – auch ich hatte ein schwarzes Kleid an. Ich muss zugeben, dass meine Trauerkleidung damals mehr oder weniger mein einziger Trost war. Wenn ich mein schwarzes Kleid anzog, fühlte ich mich wichtig, ich spielte eine Rolle und gehörte dazu.
Immer mehr tuschelten sie: »Wirklich wahr, man muss Clara sagen, sie soll sich zusammennehmen!« Ab und zu richtete Oma das Wort an Mutter: »Möchtest du nicht diesen Brief lesen, den ich von Mr B oder Mrs C bekommen habe? Solch ein schöner Beileidsbrief – ich bin sicher, er würde dich ein wenig trösten.« Mutter erwiderte heftig: »Ich will ihn nicht sehen!«
Ihre eigenen Briefe machte sie auf, legte sie aber gleich wieder weg. Nur mit einem ging sie anders um. »Ist der von Cassie?«, fragte Oma. »Ja, Tantchen, er ist von Cassie.« Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Cassie war meine amerikanische Patentante, Mrs Sullivan. Wahrscheinlich habe ich sie schon als kleines Kind gesehen, aber ich erinnere mich erst an sie, als sie etwa ein Jahr später nach London kam. Sie war ein wunderbarer Mensch: eine kleine Frau mit weißen Haaren und dem heitersten, liebsten Gesicht, das man sich vorstellen kann. Sie barst förmlich vor Lebenskraft und strahlte eine natürliche Fröhlichkeit aus – obwohl sie ein unsagbar trauriges Leben hinter sich hatte. Ihr Mann, den sie sehr geliebt hatte, war ganz jung gestorben. Sie hatte zwei reizende Jungen gehabt, die an einer Lähmung starben. »Ein Kindermädchen muss sie ins feuchte Gras gesetzt haben«, meinte meine Großmutter. In Wahrheit war es wohl Kinderlähmung gewesen, die man damals noch nicht erkannte. Man sprach von rheumatischem Fieber und sah dessen Ursache in der Feuchtigkeit. Wie auch immer, ihre zwei Kinder waren gestorben. Einer ihrer erwachsenen Neffen, der im selben Haus wohnte, war ebenfalls an dieser Lähmung erkrankt und lebte als Krüppel weiter. Aber trotz ihrer schmerzlichen Verluste war Tante Cassie fröhlich und heiter und zeigte mehr menschliches Mitgefühl als sonst jemand, den ich gekannt habe. Sie war der einzige Mensch, den Mutter damals hätte sehen wollen. »Sie versteht das. Mit tröstlichen Phrasen kann man niemandem helfen.«
Ich erinnere mich, dass die Familie mich als Abgesandte einsetzte, dass mich jemand – vielleicht Oma, vielleicht auch eine der Tanten – beiseite nahm und mir zuraunte, ich müsse meiner Mutter eine kleine Trösterin sein, müsse zu ihr ins Zimmer gehen und ihr dartun, dass Vater jetzt glücklich, dass er im Himmel, dass er zum ewigen Frieden eingegangen war. Das wollte ich gerne tun, denn es war das, was auch ich glaubte. Ein wenig zaghaft ging ich hinein, bewegt von jenem unbestimmten Gefühl, das Kinder überkommt, wenn sie etwas tun, das, wie man ihnen versichert hat, recht ist. Sie wissen auch selbst, dass es recht ist, können sich aber aus ihnen unverständlichen Gründen des Eindrucks nicht erwehren, dass es möglicherweise doch falsch ist. Ängstlich beklommen trat ich an das Bett und berührte Mutter am Arm. »Vater ist in den ewigen Frieden eingegangen, Mama. Er ist glücklich. Du würdest doch nicht wollen, dass er zurückkommt, nicht wahr?«
Mit einem Ruck setzte Mutter sich im Bett auf. So heftig war ihre Bewegung, dass ich erschrocken zurücksprang. »O doch, das würde ich«, klagte sie mit leiser Stimme. »Ja, das würde ich. Ich würde alles Menschenmögliche tun, um ihn zurückzuholen – einfach alles. Wenn ich könnte, ich würde ihn zwingen, zurückzukommen. Ich will ihn bei mir haben, hier und jetzt!«
Bestürzt wich ich zurück. »Schon recht, Liebling«, sagte Mutter schnell. »Schon recht. Es ist nur, dass ich mich… dass es mir im Augenblick nicht sehr gut geht. Danke, dass du gekommen bist.« Sie küsste mich, und ich verließ getröstet das Zimmer.