Hafid Bouazza

Paravion

Roman

Aus dem Niederländischen

von Ira Wilhelm

Klett Cotta

Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Paravion«

im Verlag Prometheus, Amsterdam.

Copyright © Hafid Bouazza 2002

Für die deutsche Ausgabe

© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2005

Fotomechanische Wiedergabe nur mit

Genehmigung des Verlags

Printed in Germany

Schutzumschlag: Philippa Walz, Stuttgart Unter Verwendung eines Fotos von akg-images/Erich Lessing Gebunden von Clausen & Bosse, Leck

ISBN 3-608-93734-X

Von ihrem Dorf in Nordafrika fliegt eine Gruppe von Auswanderern auf leistungsschwachen

fliegenden Teppichen Richtung Norden. Wenig später landen sie auf dem harten Boden der Realität als gerade noch geduldete Einwanderer. Doch während die Männer im lüsternen »PARAVION« –

so steht es auf den Briefen, die sie nach Hause schicken von ihrer vermeintlich sittenstrengen Heimat träumen, geht dort das Leben ohne sie weiter: Eine neue Generation wird gezeugt und wächst heran. Auch sie wird irgendwann das Fernweh erfassen…

Hafid Bouazza hat mit Witz und Phantasie einen überbordenden, die Kulturen übergreifenden Kosmos geschaffen: »Wer wissen will, wie man Träumerei und Verlangen in reinste Spracherotik bannt, sollte bei Bouazza in die Lehre gehen!« De Groene Amsterdamer

An Fatima

I

1

Hör’ zu.

Was wie eine Mahnung zur Stille klingt – scht! –, ist in Wahrheit der Wind in den Bäumen, ein Flüstern, mit Zungen in den Blättern gewispert. Und das Gezwitscher unsichtbarer Vögel, warum sollte das kein Klatsch und Tratsch sein?

Eigentlich wollte er heimlich abreisen. Baba Baluk und seine Frau verschwiegen die bevorstehende Reise, aus Angst vor übler Nachrede und Unheil – dem bösen Auge –, aber umsonst.

Wer nur hatte ihr Geflüster in gardinenbehängter Nacht aufgefangen? Wer weiß schon, welche unsichtbaren geflügelten Horcher schwere Sommerfinsternisse bewohnen?

Seine Frau hatte am Nachthimmel einen Lichtschein gesehen, er flackerte auf und verschwand. Höchstwahrscheinlich Feuerfliegen, doch sie war überzeugt, es sei das Feuer, um das sich jede Nacht die Dämonen scharen und sich die Neuigkeiten erzählen. Das geschah gewöhnlich im Abqar-Tal, direkt hinter dem Haus. Eine Hochzeit hier, eine Reise dort, ein Greis auf dem Abtritt, eine Jungfrau im Badehaus, ein schwarzer Schäfer am Nachmittag: Niemand war vor den Streichen der Dschinns sicher. Die Zärtlichkeit ihrer hoffnungs- und angstbeladenen Gespräche hätte nicht mal mit der größten Mühe die Schwelle des Schlafzimmers zu überwinden vermocht: Das Ohr, das sie belauscht hatte, konnte kein menschliches gewesen sein.

In den Tagen der gedämpften Gespräche und der Verzweiflung war ihre Zweisamkeit liebevoller denn je. Jahre zurückhaltender und häuslicher Zuneigung tauchten die Augen der Frau in kürzester Zeit in die Farben schamfreier Liebe: Die Iriden blühten auf wie Sonnenblumen. Die Schwangerschaft hatte die Pupillen erweitert. Sie nahmen das Bild ihres Mannes von allen Seiten gierig auf, worauf ihre Wimpern es langsam absenkend nach innen sogen und dort zum späteren Gebrauch aufbewahrten. Es war eine fast fromme Bewegung. Baba Baluks Blick und Liebkosungen wurden sanfter und jünger.

Wenn er sie streichelte, dann streichelte jede Falte seiner Hände sie mit, und sie wurden zu Wasserstrudeln, die sich über die Haut der Frau ergossen und ihre Mundwinkel zum Kräuseln brachten. Sie erschauderte. Seine Fingerspitzen waren zärtlicher als katzbalgende Windstöße im Apfelbaum, der allerdings nicht so erröten konnte wie sie.

Ihre Haut – eine Landschaft der Helle, worin ihr Gesicht den Osten bildete: Dort gingen zwei Sonnen wie Röten auf – und den Westen formten ihre Brüste: Sie gingen dort unter wie zwei Aureolen. Sie war so weiß, als ob sie einzig im Finstern lebte, nie das Tageslicht sah noch das Tageslicht sie. Vielleicht aber war sie es auch, weil sie so oft ins Badehaus ging. Sie war verrückt danach und verbrachte viele Nachmittage dort. Ihre Füße waren so rot wie die Erde, auf der sie ging. Die anderen Frauen, selbst Haselnuß oder Mahagoni, beneideten sie um ihren Alabaster. Ihr Name war Mamurra.

Und nachdem sich die Augen an seinem Bild satt gesehen hatten, preßte sie ihre zerbrechliche Wärme rücklings an seine Brust, wo pochend ein Brief verborgen lag. Seine Arme umschlangen ihren lebentragenden Leib, umfaßten sie wie einen Korb voller Sommerfrüchte. Sie räkelte sich in seiner Umarmung und schaute zu ihm auf; er hielt ihr Gesicht in den Händen eingekerkert. Ihr Kinn ruhte dort, wo die Fersen seiner Handflächen sich trafen, und er küßte ihren Mund und die Stirn. Verflucht und nochmals verflucht sei der, der den Grund dieser Körperverschlingungen verriet!

Und die ganze Zeit über lebte der Brief unter ihnen, wie ein Kind oder ein weiteres kostbares Haustier, zusätzlich zu den zwei Ziegen und dem Esel.

Es schmerzte sie, daß die Vorsichtsmaßregeln sich als vergeblich erwiesen hatten. Sie war wehrlos gegen das flüsternde Gerücht, das nie schlief und in den Schluchten und Ebenen des nördlichen Morea (das Land der Mauren für Sie, meine Herren) zahllose Echos als Dienstmägde unterhielt, dort, wo sich mühsam das weiße Dorf auf der roten Erde behauptete und alles in sich aufsog, was in seinem langweiligen Leben Zerstreuung versprach. Ein einziges Wort, aufgefangen von einem Blatt des Weinstocks, der, samenlos noch wie die Lust einer Frau, an den Mauern ihrer beider Haus hochkroch, auf das Jenseits der schreilärmigen Märkte zu, ja, mag sein des sündigen Glases – ein einziges dieser Worte, dem Wind mitgeteilt, der es den Frauengemächern weitersagte, genügte, und das Dorf geriet in helle Aufregung und schlackerte vom Klatsch und Tratsch wie ein Segel im Wind.

Auch die Amulette und Sprüche der Hebammen Cheira und Heira, eines unzertrennlichen Paares, welches Mamurra erzogen hatte, waren sinnlos gewesen. Am Morgen seiner Abreise, als der Verrat offenbar wurde, brach die arme Mamurra in herzzerreißendes Weinen aus.

Zehn Jahre, nachdem sein Vater, ebenfalls mit Namen Baba Baluk, abgereist war, beschloß Baba Baluk, Mamurras Ehemann, ihm zu folgen. Sieben Jahre zuvor hatten sie den Brief des Vaters erhalten. In jenem Jahr, als des Nachbars Esel in die Schlucht fiel, im Jahr des Mangels (die Kartoffeln kosteten Unsummen). Danach hörten sie nichts mehr von ihm.

Eine Eule besuchte jede Nacht ihr Haus und gab am Fenster ein trauriges U-hu von sich. Das Geheul war ihnen ein Trost, sie spürten, daß Vater wohlauf war. Mamurra hatte eine Fehlgeburt, die Blutungen wollten gar nicht mehr aufhören.

Blutklumpen bedeckten das weiße Laken. Die Krämpfe waren furchtbar, doch Cheira und Heira gaben ihr eine Medizin, die ihr Erleichterung verschaffte, aber auch wunderliche Träume und Visionen.

Das kinderlose Paar gab damals nicht auf. Es kümmerte sich nicht um das Geläster der Nachbarinnen – jede Frau war der anderen Nachbarin: So klein war das Dorf –, und sein Sex wurde verbissener, effektiver, aber auch verzweifelter. Baba Baluk mochte es im Bett an Phantasie und Einfallsreichtum fehlen lassen, doch er machte das mit einer Ausdauer wett, die vielleicht monoton war, aber auch ein untrüglicher Beweis dessen, was er unter Männlichkeit verstand. Was wollte man mehr? Seine Frau schwieg und war geduldig.

Während einer weißen Siesta-Stunde kam schwitzend und rotbestaubt der Postbote auf seinem mitgenommenen und rotbestaubten Moped, einem Solex, angefahren. Gefolgt von einer Meute aus Staubwolken. Wer nicht im Haus war, unterbrach seine Tätigkeit, sofern er eine hatte, und sah ihm ehrfürchtig nach. In den Häusern beschäftigte Frauen kamen herausgerannt. Vor Baba Baluks und Mamurras Haus blieb der Postbote stehen, stieg vom Solex und lehnte es an die Wand.

Die Staubwolken verendeten.

Er nahm seine vergilbte Mütze ab, wischte sich mit dem Unterarm Schweiß und Staub von der Stirn und blinzelte mit zugekniffenen Augen und zitternden Wimpern in die Sonne.

Nachdem er ausgespuckt hatte – die Leute wichen erschrocken zurück –, klopfte er an die rostige Tür und händigte Baba Baluk einen Umschlag aus, der so mitgenommen und rotbestaubt aussah, als hätte er die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt. Die Ecken des Umschlags waren buchstäblich zu Eselsohren geworden, so oft hatten die unterschiedlichsten Hände daran gezupft. Eine blau-weiße Briefmarke mit einem komischen Vogel darauf trug den Namen des Landes, aus dem der Brief stammte. Die Adresse war in anmutiger Schrift gekritzelt, maschenförmige Buchstaben, dunkle Federn auf der weißen Brust eines Raubvogels. Baba Baluk bedankte sich beim Postboten, der davonfuhr und rote Luftgespenster hinterließ. Bebend und ehrfürchtig öffnete er den Umschlag und entfaltete den aus mehreren Blättern bestehenden Brief.

Das Papier war dünn und fein, ein bißchen grieskörnig wie die Gänsehaut eines jungen Mädchens. Weinend betrachtete er ihn, küßte die lila Tinte mit seinen dunkelvioletten Lippen; und bei jedem Blatt, das er eines nach dem anderen in die Hände nahm, weinte er noch lauter.

»Gib doch acht«, warnte ihn Mamurra. »Sonst fließen noch alle Worte weg.«

Die Menschen drängten sich neugierig vor dem Haus, sie linsten unter der Tür durch, ein Mann wollte gar mit Hilfe des Weinstocks, den er unter seinen Babuschen zerdrückte, aufs Dach klettern, doch als er dort auf ein Chamäleon traf, fiel er vor Schreck herunter.

Baba Baluk trat aus der Tür, und die Menge stob in alle Himmelsrichtungen davon. Er bestieg den Esel und ritt Richtung Stadt, wo er jemanden zu finden hoffte, der ihm den Brief vorläse. Doch war ihm auf einmal so, als könnte er die Worte des Vaters auf den Lippen schmecken, und so hielt er auf halbem Weg inne und kehrte, indem er den Esel anspornte, seinen Zuckeltrab zu beschleunigen, nach Hause zurück.

Vielleicht lag es daran, daß er von der Tinte gekostet hatte, oder aber daran, daß er in den unbegreiflichen Worten, die er betrachtet hatte, seines Vaters Stimme zu hören glaubte, jedenfalls stellte er fest, daß er wußte, was in dem Brief stand.

Die Tinte floß in seinen Adern. Die Worte waren ihm ins Herz gebrannt.

Er trabte mit dem Esel geradewegs ins Haus, und noch bevor sich seine Frau vom Schrecken erholen und ihn zurechtweisen konnte – sie hatte gerade den Boden gewischt –, senkte er die Lider und sprach gebieterisch: »Hör zu!«

Der Inhalt des Briefes sprudelte ihm aus dem Mund. Seine Frau begann vor Freude zu schluchzen.

»Warum hast du mir nie gesagt, daß du lesen kannst?«

»Das kann ich auch nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. Er wußte sogar, wie die Adresse auf dem Umschlag lautete, und wie der Name des Landes, in dem sein Vater sich niedergelassen hatte: Paravion. Das stand auf der großen, rechteckigen Briefmarke. Weiß auf Blau: Die Farben von Paravion.

In dieser Nacht schlief sie ein zur Melodie der väterlichen Worte, die er unzählige Male wiederholte. Das Paar hütete den Brief wie einen Augapfel.

Der Umschlag überlebte viele Jahre, dann zerfiel er allmählich zu Flaum, der im Sonnenlicht tanzte. Das Papier wurde gröber, bekam Knicke und andere Altersgebrechen, die Tinte blutete aus und löste sich auf in Staub, welcher dem Umschlagflaum im Lichtstrahl fröhlich hinterherhüpfte. Doch der Inhalt blieb auf den Lippen und im Herzen Baba Baluks und auch Mamurras, die die Worte während der Hausarbeit vor sich hinmurmelte, wie andere Frauen summten oder sangen.

Ja, später würde sie sie sogar laut singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme. Als sie ein Kind war, so erzählten es ihr Cheira und Heira, habe sich eine Nachtigall auf ihre Lippen gesetzt. Und ihre stets roten Backen seien zwei glückliche Rotkehlchen gewesen. Sie hätten sie unter einem Baum gefunden, ein Findelkind, eine Tochter des Mondes.

Baba Baluk mußte abreisen. Der Mangel wurde immer bedrängender. Die Preise für Gemüse, vor allem für Tomaten und Kartoffeln, erreichten spektakuläre Höhen, und nichts, vor allem das Wetter nicht, gab zur Vermutung Anlaß, daß sich das in absehbarer Zeit ändern könnte. In Paravion dagegen erwarteten ihn fruchtbare und arbeitsreiche Zeiten. Und wenn er wiederkäme, würde er seine Frau mit Kleidern und Kleinoden überhäufen. Erblühen und erglühen würde sie vor lauter Gold wie ein Zitronenbaum.

Baba Baluk und Mamurra waren bei den Dorfbewohnern nie beliebt gewesen. Sie begegneten ihnen mit Mißtrauen. Vor der Frau hatten sie Angst wegen ihrer unbekannten Herkunft und ihrer ätherischen Erscheinung; oh, dieses Wunder an weißer Haut, die gegen die Dolche ihrer Blicke immun zu sein schien.

Doch vor allem fürchteten sie sie, weil sie zu Cheira und Heira gehörte, die sie für Hexen hielten, obwohl sie von deren Kräutern und Amuletten gern Gebrauch machten, wenn finstere Krankheiten und Leiden sie heimsuchten. Sie glaubten, daß Mamurra die Tochter eines Dämons sei. Für Baba Baluk aber hatten sie nur unverhohlene Verachtung übrig, und sie nannten ihn einen Sklaven. Wäre er nicht mit Mamurra verheiratet gewesen, hätten sie ihn längst aus dem Dorf gejagt.

Diese Verachtung und dieser Neid waren, wie so oft, mit Neugier gepaart. Und so versammelten sie sich, nachdem Baba Baluk den Brief erhalten und sie sich umsonst schleicherisch bemüht hatten, etwas vom Inhalt in Erfahrung zu bringen, unter dem indigoblauen Nachthimmel: Entweder Baba Baluk und seine Frau weihten sie in den Inhalt des Briefes ein, oder sie würden sie aus dem Dorf steinigen. Diese Geheimniskrämerei! Unerhört! Die reinste Frechheit, ja, das war’s. Sie beschlossen, sich am nächsten Morgen vor dem Haus der beiden wieder zu treffen, und hielten sogleich Ausschau nach geeigneten Steinen; sie hätten den Plan zweifellos in die Tat umgesetzt, hätte der Dorfälteste nicht eingegriffen. Das tat er weniger aus Mitleid als aus Angst vor der Rache Cheiras und Heiras, die mit zugekniffenen Augen und zitternden Lidern die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes erstarren lassen konnten. Auch die Kinder kannten die Fiesheit ihrer Finger: Wie oft waren sie gezwickt worden, nachdem sie die beiden Frauen beschimpft oder mit Steinen beworfen hatten? Kein Mücken- und kein Wespenstich war so schmerzhaft wie die Stiche ihrer Nägel. War einer der Bengel so verwegen, sie von weitem zu verhöhnen, hatten sie ihn, egal, in welcher Entfernung er stand, sofort in den Klauen –

»hierher, Sohn einer Mistpforte« – und zwickten drauflos.

Niemand wagte es, Einspruch zu erheben, alle fürchteten sie die verschlossenen Münder und die drohenden Blicke; und wenn die Frauen den Jungen endlich freigaben, war ihm eine tüchtige Abreibung der Eltern sicher. Manchmal brachte eine Mutter die beiden mit flehentlichem Bitten dazu, von ihrem Opfer abzulassen, denn herzlos waren sie nicht. Dann sahen die verängstigten Augen des Jungen die schwarzen Nägel schon bedrohlich nah und er machte sich fertig für einen Schrei, der bereits aus der Tiefe seiner Eingeweide heraufbrodelte, doch da hielten die Frauen inne: Die Mutter fiel auf die Knie, rollte sich im Staub, küßte die Rocksäume der beiden. Diese ließen das Balg los, die Mutter packte es am Oberarm und zerrte es nach Hause, wo es dann verdroschen wurde, und zwar erbarmungsloser, als es die Strafe der beiden Scharteken hätte sein können.

Oft genug kam es vor, daß eine der Mütter am nächsten Tag den Hügel zu den Zwillingen hinaufstieg, um Wolfsdistelsalbe für die blauen Flecke des Sohns zu holen.

Waren die Kinder ungezogen, und das war bei den Jungen der Dauerzustand, brauchten die Mütter nur mit den beiden Hexen zu drohen, schon plärrten die Kinder los, als wären die gefürchteten Frauen schon unterwegs. Ein probates Mittel, und nach einer Weile ließen die Jungen Cheira und Heira ganz in Ruhe. Manchmal bedauerten die beiden das.

»Laßt gut sein«, sagte der Dorfälteste jetzt, »unsere Zeit kommt noch.« Enttäuscht trollten sich die Leute, nicht ohne wütende Blicke, die eine baldige Rückkehr androhten, Richtung Tür zu werfen. Wartet nur!

Baba Baluk und Mamurra waren unterdessen selig unwissend über das, was sich um sie herum zusammenbraute. Vor lauter Freude über den Brief lebten sie wie im Frühling. Sie naschten die väterlichen Worte wie Äpfel von den Lippen des anderen.

Sie küßten und umarmten sich. Baba Baluk nahm sich sogar Zeit für das Vorspiel – nicht viel zwar, aber immerhin. Mit dem Brief schien der milde Geist Paravions über ihn gekommen zu sein. Seine Finger fuhren fröhlich Schlittschuh auf Mamurras Haut. Ihr Speichel war ihm eine Erfrischung.

Der Himmel spiegelte sich in ihren Lidern und füllte ihren Mund, wenn sie die Augen schloß, um in dieselbe Finsternis einzutauchen, in der der ungeduldige Baba Baluk bereits verschwunden waren. Doch Frühling hin oder her, in ihrem Schoß wollte keine Frucht gedeihen.

Die Bergkarawane am Horizont brach nicht auf und kaum auch nirgendwo an. Nach einigen Sommern hörte man in den steinigen Höhen erstmals das Echo eines Eulenrufes, von da an kehrte es jede Nacht wieder. Die trockenen Jahreszeiten zogen so langsam vorüber wie die Bergkette. Das Eulengeheul kam immer näher, und kurze Zeit später landete das Tier auf dem Fensterbrett ihres Schlafzimmers. Eine weiße schädelförmige Eule mit kaum sichtbarem Lockenschwarz auf der Brust wie eine unordentliche Handschrift und mit großen schwarzen Augen; den Kopf drehend – u-hu – kundschaftete sie die vier Himmelsrichtungen aus und flog von Haus zu Haus. Und zwei Monate vor Baba Baluks Abreise war Mamurra schwanger, später als die anderen Frauen. Die Trauben reiften, durch ihre transparente Haut waren deutlich die Kerne zu erkennen, wie Föten. Mamurra weinte Glücksperlen. Die meisten Kräuter und Mittelchen hatten bei Baba Baluk nicht angeschlagen, aber Heiras und Cheiras Ratschlag, seine Fußsohlen mit Fledermaushirnsalbe einzureiben, schien am Ende geholfen zu haben.

Aus Baba Baluks Haus schwebte Flaum, weiß wie Mandel-und Zitronenblüten. Die Kinder rannten hinterher. Einen Moment lang glaubten die Leute, es schneie, bis die Fläumchen auf ihren Handflächen landeten.

Wer aber hatte nun den geheimen Entschluß der beiden verraten?

Die Zwillingsschwestern Cheira und Heira wohnten auf der Hügelkuppe, in einem kleinen verfallenen Haus, das sich unter den Laubschatten eines Johannisbrotbaumes verbarg. Dieser eine Baum platzte vor Vögeln und deren Gesang, und doch waren sie meist unsichtbar. Die Blätter bewegten sich unaufhörlich. Die zwei Frauen waren unzertrennlich. Niemand hatte jemals die eine ohne die andere gesehen. Auch war keinem klar, wie sie sich fortbewegten, die Füße waren nie zu sehen, denn die Fransen ihrer Kleider reichten bis zum Boden.

Sie gingen, sie schlurften, nein, watschelten eher, oder noch besser: Sie kenterten unter dem Faltenwurf ihrer schlampigen und weitfallenden Kleidung in stetiger Umarmung vorwärts, jede auf einen Stock gestützt. Auf dem Kinn hatten beide eine Tätowierung, die Hände waren schwarz von verschwenderisch verwendetem Henna und faltig wie eine Felswand oder eine verkrüppelte Weide. Ihre Münder gingen unter den Hautverwerfungen fast verloren. Wenn man bedachte, daß sie mehrere hundert Jahre alt waren (Sie müssen wissen, meine Herren, die beiden haben die Berge wachsen sehen), so sahen sie für ihr Alter noch recht gut aus. Haut war drapiert wie ihre Gewänder, die so typisch waren für die alten Frauen in diesem Land: übereinandergelegte Stoffetzen, da und dort verknotet und mit sackartigen Ausstülpungen, die man sowohl für welke Körperrundungen als auch für bauschige Falten halten konnte, dazu viele falsche, lose hängende Goldfäden, und über all diesem trugen sie ein weites gestreiftes Umschlagtuch. Sie bestanden aus mehr Schichten als eine Zwiebel.

Ihre tiefliegenden Augen mit den traurigen Lidern beherbergten in graugrünen Iriden ein lebendiges Licht –

»rastlose Augen« nannte man das hier: Augen, denen nichts entging und die eine Vorliebe für die obszönen Seiten des Lebens erkennen ließen. So amüsierten sie sich zum Beispiel unter schrillem und schallendem Gelächter über die Granatapfelblüten, die sie sich auf den Schoß legten und Mamurra zeigten, um diese damit in die anatomischen Geheimnisse des Frauseins einzuweihen. Über das gelbe Pulver der Staubgefäße, das an ihren Fingern kleben blieb, und über die zweideutigen Worte, die nur Frauen kannten und die Mamurra bis zu den Haarwurzeln vor Scham erröten ließen, obwohl das schwer zu sagen war, da sie andauernd rot wurde.

Sie streichelten Mamurras Haut und betasteten die geschmeidigen Gliedmaßen mit größerer Lust als für das Mädchen gut war.

»Hoffentlich weiß dein Mann etwas mit diesem Satinfleisch anzufangen«, sagten sie und wieherten wieder vor Lachen.

Dann faßten sie Mamurra beim lieblichen Kinn-kinnchen – so nannten sie es – und seufzten über so viel Schönheit, über die Farbpalette ihrer Augen und über den Mund, ein im Schnee zusammengerollter Ibis.

»Leih uns deine Brüste, Kind, eine nur. Unterschätze deine beiden Mütter nicht.« Sie zupften daran und strichen ihr zärtlich über Locken und Hüften.

Was sie Mamurra mit Hilfe von Feigen lehrten, bedarf keiner weiteren Erklärung.

»Na, na, na!« murmelte Mamurra.

Sie drückten sie innig an ihre überquellenden Brüste und lachten entzückt. Ihre Liebe für das Mädchen kam der einer leiblichen Mutter gleich. So, wie sie damals unter diesem Feigenbaum im Abqar-Tal gelegen hatte, ein gurrendes Menschenmolekülchen, ein strampelnder Mondtropfen, über die kleine weiße Körperperle spielten grüne und gelbe Schattenpunkte, war ein ungeheuer betörender Duft von ihr ausgegangen, die Augen groß und glücklich mit dem Himmel in den Lidgewölben.

Cheira und Heira fehlten die Zähne, und der einzige Zahn, den sie noch hatten, war gelbliches Elfenbein. Die kühlen Stunden des Tages verbrachten sie mit der Suche nach Kräutern und Heilpflanzen. Sich kabbelnd, quasselnd und kichernd wie Frauen beim Einkaufsbummel durchkämmten sie die ingwernen Flächen, kümmeligen Täler und zimtnen Bergpässe. Obwohl die Landschaft verdorrt war – hier wuchsen vor allem Kakteen, Disteln und graue, trockene Olivenbäume –, kehrten sie stets mit großen Vorräten in den Rockschößen nach Hause zurück. Prachtgebinde aus frischen, saftigen Pflanzen, die eigentlich nur in wasserreichen Gebieten, in der Nähe von Bergbächen oder fruchtbaren Wadis wuchsen, eigentlich überall, nur nicht dort, wo sie wohnten.

Sie sammelten Harmelkraut, Nachtschatten, Wolfskraut, Mandragora, Mohnkapseln und Mutterkorn, außerdem verkauften sie Petersilie, Lavendel, Rosmarin, Koriander und Krauseminze an Frauen, die die Kräuter beim besten Willen nicht finden konnten. Jede noch so düstere Krankheit und Anfechtung, worunter vor allem die stets klagenden Greisinnen zu leiden hatten, vermochten sie mit ihren heilkräftigen Pflanzen zu kurieren. Nicht umsonst hielten die Leute sie für Hexen.

Nach jeder Exkursion kehrten sie fröhlich, voller Heiterkeit und schmutziger Witze zurück, als wären sie nicht in Hitze und Trockenheit über tote Erde und an kahlen Bergen vorbei gegangen, sondern hätten einen Nachmittag im Knabenbordell verbracht.

Und von jedem Besuch bei ihnen brachte Mamurra irgendein Kraut oder Amulett mit nach Hause. »Gib das deinem Mann zu essen, hänge ihm das um«, forderten sie sie auf, »dann wird die Nacht ein Freudenharem für dich werden. Wenn’s nicht hilft, komm wieder.« Dann verabschiedete sich Mamurra und rannte den Hügel hinunter. Auf dem Grundstück, das seit Generationen zum Erbe der Baba Baluks gehörte, prüfte sie, ob die Früchte des Feigenbaums bereits reiften, und rannte danach den Hügel wieder hinauf zu ihrem Haus. Der Abend war gelb bepudert, die Nacht brach an, und auf dem Platz sah sie ein Feuer leuchten.

Diesmal nicht eines von Dämonen oder Feuerfliegen. Die Dorfbewohner hatten sich unter der Führung des Dorfältesten versammelt, um darüber zu beratschlagen, was jetzt, da sie Baba Baluks Pläne kannten, zu tun sei. Der Dorfälteste nickte fortwährend, den Stock wie eine Enkeltochter gegen die Brust gelehnt. Die Stechmücken tanzten einen Feuertanz, die Sterne blinkten. Die Jungen, die bei der Versammlung anwesend sein durften, waren auf den Schößen ihrer Väter eingeschlafen. Das zustimmende Nicken mancher Männer war unbemerkt in ein Nickerchen übergegangen. Nachdem alle den Entscheidungen zugestimmt hatten, erhoben sie sich gichtgekrümmt und knacksend und schlurften mit den Kindern auf den schläfrigen Armen nach Hause; dort legten sie sich auf ihre Frauen, nicht alle machten sich erst die Mühe, sie zu wecken, und befruchteten sie im selben Moment, als hätten sie es verabredet

– da war Baba Baluk noch beim Vorspiel –, nur das vertrocknete Dorfoberhaupt enthielt sich; seine Libido war längst erloschen, er legte sich ächzend und stöhnend neben sein betagtes Eheweib, das schlief wie ein Rosenstrauch.

Am nächsten Tag bereiteten sich die Jungen schon einmal auf ihre zukünftige Aufgabe vor, indem sie ihre Schwestern, egal ob jünger oder älter, herumkommandierten und in die Häuser prügelten. »Ab ins Haus!« lautete der am häufigsten vernommene Ruf. Die Väter sahen es mit Wohlgefallen und streichelten ihre knorrigen Wanderstöcke, mit denen sie nur selten wanderten.

Als Baba Baluk abreiste, erging es den Mädchen lausig, waren alle Frauen im vierten Monat und die Jungs wahre Monster geworden.

Am Tag vor dem Aufbruch betrachtete Baba Baluk wie ein Reiher sein Wasserreich die Feigenbäume unten im Abqar-Tal, ein trauriger König. Der Abend war gelb und blau und füllte sich bescheiden mit dem Glöckchengeläut seiner zwei mageren Ziegen, die unter den Bäumen kauten, in Gesellschaft des Esels. Baba Baluk ging hinab, um sich von den Ziegen zu verabschieden, die sich durch seine Umarmung beim Weiden nicht stören ließen, und nahm den Esel mit nach oben, um ihn zu tränken. Ein letztes Mal blickte er hinauf zum gewölbten Dom. Er hatte einen Kloß im Hals und blinzelte heftig.

Im Haus unterhielt sich Mamurra gerade chaotisch und lebhaft mit Cheira und Heira, die ihr bei der Zubereitung einer üppigen Abendmahlzeit halfen. Aufgeregt rannte sie hin und her, lachte laut und gekünstelt, um ihr verkrampftes Herz zu überstimmen. Cheira und Heira schüttelten darüber betrübt die Köpfe. Mamurra wich ihren Blicken aus und hob nicht einmal den Kopf, als Baba Baluk auf der Türschwelle erschien. Die Zwillinge gaben ihm mit Zeichen zu verstehen, daß er weggehen solle. Als sie die Schultern von Mamurra, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, zucken sahen, ließen sie alles stehen und liegen und nahmen sie in die Arme: Mamurras Augen waren zwei Wasserfälle.

»Still, Schätzelchen, still, hach, Schönpüppchen, alles wird gut, Milchschlabbertrienchen, alles wird gut.«

Sie hatten Mamurra bisher mit ihren komischen Worten und Kosenamen immer zum Lachen bringen können, und es gelang ihnen auch jetzt. Mamurra lachte unter den Tränen, doch nur um, wie in solchen Fällen oft, danach um so heftiger weiter zu weinen. Den alten Frauen brach es fast das Herz. Eine Eidechse beobachtete die Szene.

Nach einem ausufernden Mahl und einem langen Abschied auf dem Hof gingen Cheira und Heira nach Hause. Baba Baluk und Mamurra sahen ihnen nach, wie sie im Mondlicht den Hügel hinabwankten. Merkwürdig, daß sich kein Mensch draußen zeigte und nicht das geringste Geräusch aus den Häusern drang.

Nach einem außergewöhnlich zärtlichen Minnespiel –

Hüftespiel, wie Cheira und Heira das nannten – konnte Mamurra keinen Schlaf finden. Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und sog das schlummernde Profil ihres Mannes in sich auf, verzehrte es geradezu mit Augen, die nur aus einem Glitzern und Pupillen bestanden. Baba Baluk und Mamurra hatten sich eben zum ersten Mal vollkommen nackt geliebt, zum ersten Mal hatte er sie voller Bewunderung von allen Seiten betrachtet, und voller Bewunderung hatten seine Hände sie gestreichelt. Sie hatte ein schamloses Gurren von sich gegeben, während ihre Haut prickelte und ein Rieseln sich hinunter zu ihrem Unterleib zog. Sie lächelte selig, weil er endlich verstanden hatte, daß sie an seinem Streicheln spüren wollte, wie schön er sie fand, und daß er sie sah und nicht nur begehrte: Körbeweise sollte er erst den Blick mit ihren Formen und Schattenlinien füllen, bevor er sie mit kräftigen Händen bei den Flanken packte. Er sollte unbedingt ein vollständiges Bild von ihr besitzen, bevor er mit ihr in einem gemeinsamen Universum verschmolz und sie sich im Tastsinn und Speichel auflösten.

Ihr Gesicht strahlte jetzt vor Liebesstolz, und in ihrem Körper taute noch der Rausch, doch ihre Lippen und Augenbrauen trauerten. Er war unmittelbar danach eingeschlafen: Ob Cheira und Heira vielleicht auch ein Mittel für das Nachspiel hatten?

Die Eule flatterte vom Dach zur Fensterbank und wollte etwas sagen, kam aber nur bis zum Fragepronomen. Mamurra war vor lauter Gerührtheit wie betäubt, was übrigens nur Frauen passiert, und die Eule stotterte im Rhythmus ihres rätselhaften Herzens. Ab und zu brummte Baba Baluk im Schlaf und schüttelte den Kopf, als plagte ihn eine Mücke, dabei waren es ihre Finger, die sein Gesicht streichelten und abwärts tippelten, über die Schlüsselbeine stolperten und zu seinem Nabel hinabglitten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie getan, was sie jetzt tat: Sie berührte seinen Striemel, der träge im Gekräus lag, eine kleine Fleischaubergine: dunkel, glänzend und, vor allem in letzter Zeit, samenprall. Er war rührend anzusehen, gerippt, als stünde jede Linie für ein Jahr oder die Male, die sie ihn empfangen hatte. Und unter dem Striemel der Doppelstulp einer Weide. Der Anblick faszinierte sie, und ihr Herz verfiel in Galopp. Die Eule flog davon.

Baba Baluk lächelte. In der Ferne fingen Frösche plötzlich an zu quaken und hörten erst auf, als sie erschrocken die Hand wegzog. Er drehte sich auf die Seite. Sie legte den Kopf auf das Kissen und schloß die Augen, um ihr Herz zur Ruhe kommen zu lassen, es wechselte allmählich vom Trab zum Schritt. Ihr war, als dämmerte in ihrem Unterleib ein Morgen, ihre Beine wurden weich, doch traute sie sich nicht, ihn zu wecken. Die Frösche fingen wieder an zu quaken, und es klang wie Gelächter; sie mußte an das laute Lachen von Cheira und Heira denken.

Als er sich auf den Bauch drehte, betrachtete sie lange seinen Rücken, bevor sie ihn berührte. Erfolgreich unterdrückte sie das Bedürfnis, sich auf ihn zu legen, wenn auch auf eine erwachsenere Art als früher, wenn sie auf den Rücken ihrer Mutter kletterte. Die Wollust tobte durch ihren Körper wie ein hippeliges Kind. Vollkommen ratlos brach sie in stille Tränen aus, Tränen, die auf seinen Rücken fielen und in seinem Traum gleichzeitig vom Himmel Paravions stürzten, welches grün war und auf dessen Bächen und Flüssen vom endlosen Regen lauter Punkte zu sehen waren. Er träumte, daß er auf dem Rücken in diesem Wasser trieb, zufrieden und glücklich, ohne Arbeit zwar, aber im Bewußtsein des größten Luxus; die Ufer auf beiden Seiten waren von Obstgärten verschattet. Das Wasser war flüssiger Diamant, Pfauen spiegelten sich darin, aber plötzlich begann er zu sinken, denn ihm wurde klar, daß er gar nicht schwimmen konnte. Doch tauchte er gleich wieder auf, von einem angenehmen Gefühl erfüllt, hervorgerufen von einer vollen Blase oder von einem Blutstau. Ein Glitzern blendete ihn, Trauben geschälter Früchte mit glänzendem Fleisch baumelten über ihm. Das Wasser rauschte laut. Der Regen berührte die Oberfläche seines Traums.

Als er sich auf den Rücken drehte, setzte sich Mamurra vorsichtig rittlings auf ihn. Ihre Finger tasteten nach dem Saum des Nachtgewandes, weil sie es hochheben wollte, aus reiner Gewohnheit, doch sofort erinnerte sie sich daran, daß sie ja nackt war. Ein Phantomgefühl. Ihre Hand umfaßte sein Leben und umschloß es wie mit kräftigen Labien.

Mamurras Gesicht war eine fragende Fratze, mehr Schmerz als Lust; sie hielt den Atem an, ihre sich seitwärts neigenden Brüste, die scheinbar ein vom Oberkörper unabhängiges Leben führten, ihre Mondäpfel, schaukelten auf und ab, während ihr Körper durchrüttelt wurde von einer Lust, die kein Ende nehmen wollte, schon gar weil sie den aufkommenden Schrei unterdrückte. Rosafarbene Striemen vom strammsitzenden Büstenhalter zeichneten sich auf ihrem Bauch und Rücken ab –

pausenlos plappernd hatte ihn Baba Baluk heruntergezerrt, denn nie wußte er, wie man dieses Ding auf elegante Weise aushakte –, die Brüste aus dem Fleisch weicher Lycheefrüchte seufzten, von Schwangerschaft geschwellt.

Ohne ihn zu wecken, stieg sie von ihm herab und schmiegte sich an ihn. Ihre Augen brannten vom Weinen, doch Ruhe war ihnen nicht vergönnt. Welch ein Glück, daß er sich auf den Rücken gelegt hatte. Das Froschspektakel, das an Lautstärke noch zugenommen hatte, verstummte. Warum nur kam das Gute so oft zu spät, fragte sie sich und schlief endlich ein.

Neid folgt merkwürdigen Gesetzen – wie Faulheit auch. Die Dorfbewohner hatten Baba Baluk stets verachtet. Ohne davon auch nur eine Ahnung zu haben, führte Baba Baluk mit seiner Frau ein zurückgezogenes Leben. Doch als die Dorfbewohner hinter seine Pläne kamen, ergrimmte es sie, daß er ihnen nichts davon erzählt hatte. Das sei, so fanden sie, seine Pflicht gewesen, und sie hielten sein Schweigen für Verrat.

Gemeinschaften dieser Art mögen keine Leute, die selbständig sind, und Verachtung ist in ihnen stets der Nährboden von Schadenfreude. Mamurras Fehlgeburt erweckte denn auch große Schadenfreude: Nicht auszumalen, daß dieser Kerl sich auch noch fortpflanzt! Doch daß selbst die Frauen, die von den sogenannten Männersachen meist ausgeschlossen sind, diese Schadenfreude teilten, war merkwürdig. Keine setzte sich für Mamurra ein. Und Baba Baluk wurde vorgeworfen, er zeige kein Mitleid mit ihrer Misere, die bereits Jahre andauerte und Mamurra und ihn weniger hart zu treffen schien als sie. Dachte er wirklich, er könne allein weggehen und sie der Dürre und ihrem Schicksal überlassen? Das Dorfoberhaupt schüttelte mißmutig den Kopf, wie immer, wenn seine Frau, ohne gefragt zu sein oder ohne seine Erlaubnis, ihre Meinung zum besten gab. Wie damals, als ein Teppichhändler ins Dorf gekommen war und sie sich in die Verkaufsverhandlungen – reine Männersache – eingemischt hatte. Er hatte sie ins Haus geschickt und sich beim Händler entschuldigt, der ihn so erschrocken ansah, als habe er eine Eule reden hören. Mit einem Kopfschütteln – eine der Hauptbeschäftigungen alter Männer – fuhr er schließlich fort, die Teppiche zu entrollen und die Lobeshymnen auf die jeweilige Qualität herunterzuleiern. Auf dem Rückweg überlegte er, wie er seinen Freunden im Teehaus diesen Vorfall erzählen wollte: Hört zu Brüder, stellt euch vor, was mir heute passiert ist…

Viel übler noch nahmen die Leute den beiden das gute Verhältnis zu Cheira und Heira, die das Paar immer mit frischem Gemüse und Kräutern versorgte. Einmal hatten sie ihnen sogar Tauben und Wachteln vorbeigebracht, und vom Duft des süßen Bratens lief so manchem im Dorf das Wasser im Mund zusammen. Wer sich mit Hexen einließ, konnte wohl kaum auf Sympathie rechnen. Daß das ganze Dorf für das Notwendigste – Krauseminzetee und Heilkräuter – von Cheira und Heira abhängig war, wurde der lieben Ordnung halber einfach vergessen.

In den Augen der Leute vom Dorf war Baba Baluk undankbar, nicht nur weil er sich absonderte, sondern auch weil er Geheimnisse hatte. Sie meinten, er solle dankbar sein, schließlich hätten sie ihn die ganze Zeit geduldet, nicht wahr?

Daß ihm kein Haar gekrümmt worden war, sei ihr Verdienst.

Wo bleibe seine Nächstenliebe? Er wolle also Reichtümer sammeln, während ihre Not immer größer wurde? Was für ein Bastard!

Des Selbstmitleids voll bemurmelten und besangen die Männer ihr elendes Schicksal. Was hätten sie auch tun können? Auf Arbeitssuche gehen? Das wäre eine Möglichkeit.

In die Stadt zu ziehen oder selbst auf Reisen zu gehen, eine andere. Doch keiner schlug dergleichen vor, weil es nämlich keinem in den Sinn kam. Für manche ist schon das Aufbringen von Geduld oder Passivität eine Arbeit. Und eine ermüdende obendrein, das jedenfalls ließen die zahlreichen Seufzer und das laute Ächzen der Männer vermuten. Einst hatten sie unruhige Zeiten erlebt, damals, in den regnerischen Jahreszeiten – lange, lange schienen diese her zu sein –, als sie im Schatten blühender Mandeln, Zitronen und Oliven sitzend die Frauen beaufsichtigten, die tiefgebückt, manche mit Babys auf den Rücken, die Felder beackerten, bevor sie nach Hause gingen, um den Haushalt zu versorgen. Die Insekten zur Erde und zur Luft führten eine ähnlich anstrengende Existenz wie die Männerhände, die sie verjagten.

Es sei beschlossen, so verfügte das Dorfoberhaupt, Baba Baluk dürfe unter keinen Umständen Früchte ernten, und davon kosten schon gar nicht. Zufrieden beendete er die Zusammenkunft und erhob sich. Von seinen Händen schüttelte er weißen Flaum, der ins glimmende Feuer schwebte.

Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang, und die Welt hielt den Atem an. Eine Eidechse an der Wand war Zeugin von Baba Baluks und Mamurras Abschied, bevor sie zwischen den Balken unter dem Bambusdach davonhuschte. Baba Baluk drückte Mamurra fest an sich und spürte die Fülle des Busens und die harte Schwellung der Schwangerschaft, angenehm gerundet beide. Diesen Abdruck ihres Oberkörpers würde er noch lange spüren, Proviant für zukünftige einsame Schlummerstunden. Sie küßten sich lange und innig, Speicheltausch von heißen, schmelzenden Zungen; sachte drückte er sie von sich, und sie öffnete die Augen. Ihr wurde schwindlig, und sie mußte sich an ihm festhalten. Langsam wich die Finsternis in ihrem Kopf der Dämmerung im Haus.

Auf dem Hof brüllte der Esel sein morgendliches Geheule, mit langgerecktem Hals und aufgekräuselten Lippen, ein keuchender Stotterer, und peitschte mit dem Schwanz. In seinen Augenwinkeln hatten sich schwarze Tränen gesammelt: Fliegen. Ein Hahn krähte nicht, der war schon vor langer Zeit der Not zum Opfer gefallen.

Baba Baluk band sein Ränzel – Roggenbrot, Käse, Oliven, Orangen, Feigen – an den Gürtel, ein Stück Tau, und klemmte sich sein Fahrzeug unter den Arm. Mamurra betrachtete die gekrümmten Schultern und den kraushaarigen Hinterkopf.

Geistesabwesend streichelte sie ihren Bauch. Er öffnete die Tür. Sie schluckte. Er warf ihr über die Schulter noch einen letzten Blick zu. Sie nickte. Er tat einen Schritt vor die Tür, hielt einen Augenblick inne, ging weiter. Sie stürzte zur Türöffnung und entdeckte in diesem Moment, daß ihrer beider Geheimnis entweiht war. Da brach sie zusammen.

Der Morgen dröhnte sonor vom morgendlichen Vogelsang.

Alle hatten die Häuser verlassen, die Frauen standen aufgereiht hinter ihren Söhnen, die ihnen mit stolzgeschwellter Brust und erhobenem Kinn den Weg versperrten. Jeder von ihnen hielt den Stock fest, den ihm sein Vater am Abend zuvor in einem Abschiedsritual überreicht hatte. Bis auf das ganz vorn stehende Dorfoberhaupt saßen alle Männer auf einem gemeinsamen Fahrzeug. Füße hingen herab, Babuschen baumelten an Zehen, Hände winkten, frühstückslose Münder gähnten, Hoden wurden zurechtgerückt und hingebungsvoll gekratzt. Schnappsäcke dienten als Kissen, denn eine Reise bedeutet ja nicht zwingend einen Wechsel der gewohnten Körperhaltung. Es gibt kein festeres Band als das zwischen der Schwerkraft und der Körperseite eines Faulpelzes. Geschürzte Lippen grinsten verschlagen, als die Reisenden den völlig entgeisterten Baba Baluk vor sich sahen. Diese Rache war honigsüß! Sie ließen ihm keine Zeit, sich von der Verblüffung zu erholen, und flatterten im gleichen Moment lärmend auf, um sich in ein Gebrüll aus gelbem Licht zu stürzen, das ihre Silhouetten in eine doppelte Aura tauchte. Sonnenlicht füllte ihre aufgerissenen Münder, ohne jedoch, obgleich sehr grell, die braunen und gelben Zahnzinnen der Männer weiß schrubben zu können. Die Männer flogen geradewegs in die Lilienfelder der Morgendämmerung, welche eine Vorwegnahme war von Paravions schwindelerregender Umarmung. Paravion rief und winkte, und sie gehorchten. Hier sind wir! Hier sind wir!

Die Frauen schwenkten unsichtbare Palmwedel aus Abschieds- und Segensworten.

Mamurra sank zu Boden, die Beine eingeknickt, mit hängendem Kopf, die Mutlosigkeit selber. Aber Baba Baluk gab den Mut nicht auf. Mit frechem Grinsen und einem Zucken der Augenbrauen – aufgepaßt, mein Schatz – sprang er auf sein Vehikel und stieg auf. Im Flug glitt er an Mamurra vorbei und streifte waghalsig ihre Wange mit den Fingern, er schraubte sich in die Luft und verschwand im Morgen, der sämtliche Fenster aufgerissen hatte. Er wurde zu einem schwarzen Punkt und löste sich schließlich auf in etwas, das aussah wie eine einsame Wolke.

Die Jungs machten sich sofort an die Arbeit. Sie schickten die Mütter in die Häuser. Die Frauen ließen sich allerdings die Gelegenheit nicht entgehen, vorher Mamurra mit bösen Augen Blicke des abscheulichsten Hasses zuzuwerfen, mit den gelben Zähnen zu knirschen und ihr schwarzes Zahnfleisch zu zeigen; endlich konnten sie mit obszönen Gesten ihren jahrelang unterdrückten Neid zum Ausdruck bringen. Manche streckten Mamurra gar die mißgestalteten Hinterteile entgegen und schleuderten mit stampfenden Füßen Staub auf. Dann folgten sie ihren Bauchgloben, in denen sich vier Monate altes Leben kringelte, in die Häuser. Nachdem die Mütter verschwunden waren, streckten die Jungen Mamurra ihre weißen Zungen raus

– sie hatten noch nicht gefrühstückt – und folgten den Frauen in die Häuser, wo sie sofort unklare Befehle zu brüllen begannen. Die Frauen, endlich vom Joch der Männer befreit, hatten keine Lust, sich gleich erneut unterjochen zu lassen, und versetzten den Söhnen gleichzeitig wohlgezielte Ohrfeigen, die in deren Ohren ein betäubendes Sausen erzeugten und auf den Innenhöfen hübsche Echos.

Das Dorfoberhaupt blieb als einziger zurück. Er wandte sich Mamurra zu, grinste das schiefe Grinsen eines Schurken, stampfte laut mit dem Stock auf den Boden und spuckte, den Blick starr auf sie gerichtet, einen Batzen Morgenschleim aus.

Unbeirrt warf Mamurra ihm einen Warte-nur-Blick zu: Cheira und Heira würde schon etwas einfallen. Und so war es auch.

Kurz danach starb der alte Mann auf dem Abtritt, im Licht eines einzelnen Sonnenstrahls, worin grautönig die Mücken mit Staubpartikeln Walzer tanzten. Es dauerte eine Weile, bis seine Frau ihn fand, denn er nahm sich, ja, ja, das Alter, immer viel Zeit für sein Geschäft. Erst als sie es wirklich nicht mehr aushielt und aus purer Not an die klapprige, kaum etwas verbergende Tür klopfte, fand sie die Leiche ihres Mannes, neben ihm der unvermeidliche Stock. Den brauchte der alte Mann als Stütze, wenn er unter hohem Kraftaufwand sich des unwilligen Stuhls zu entledigen versuchte. Auf seinem Gesicht dümpelte wie eine Mondsichel in einem Bach ein seliges Lächeln, das Lächeln vom ersten befreienden Pressen, welches ihm jetzt offenbar zum Verhängnis geworden war. Die Frau erhob ihr großes Gejammer erst, nachdem sie sich erleichtert hatte.

Mamurra erhob sich würdevoll, die Sonne hatte ihre Tränen getrocknet, und schlug mit dem Fuß die Haustür hinter sich zu.

Was für ein Hintern! dachte das Dorfoberhaupt noch. Und wahrhaftig: Was bei anderen Frauen lediglich eine drollige Geste gewesen wäre, war bei Mamurra ein Akt der Verführung.

Die Wolke, in der die Reisenden verschwunden waren, zerfiel langsam zu weißen Flocken, doch niemand sah diesen wundersamen Schnee – kein echter Schnee übrigens, sondern nur ein Taumeln ungezählter weißer Federn –, außer ein schläfriger, alter Schäfer, der im Tal unter einem Olivenbaum stand, und dieser Schäfer dachte, es wären Mandel- oder Zitronenblüten; auch ein Fischer am Narvelmeer sah ihn und er hielt Netze und Boot bereit, weil er genau wußte, was dieser gefiederte Fall zu bedeuten hatte. Die Jahreszeiten sind auch nicht mehr, was sie mal waren, dachte sich der Schäfer und zog eine Flöte aus der Schäfertasche.

Nicht alle konnten den Männern hinterherwinken.

Zartgliedriger Senunu, sechs regenarme Lenze alt, schlief noch auf dem Schaffell neben der durchgelegenen Matratze seiner Eltern, die ihn nicht hatten wecken wollen. Aber nach kurzer Zeit erwachte er doch, denn eine ungewöhnliche Stille im Haus stört den Schlaf bisweilen nicht minder als Lärm. Er blinzelte, schien sich nicht entscheiden zu können zwischen den Traumfarben, deren Rot noch auf seinen Wangen zu sehen war, und der Dämmerung im Zimmer, und wählte schließlich letztere. Schnell sprang er auf und rannte hinaus, wo sich die Menge versammelt hatte. Er griff nach irgendeiner anonymen Hand – sein verschlafenes Haupt war eine schwarzstachlige Distel, was seine Mutter so sehr an ihm liebte. Doch als er bemerkte, was los war, ließ er die Hand los und lief, zuerst nur mit zugeschnürtem Hals, dann wimmernd und schließlich laut schreiend den Männern hinterher. Mit aller Kraft, die sein kleiner Körper aufbringen konnte, das Kinn auf die Brust gepreßt, die Fäuste geballt, die Daumen abgespreizt, Bäuchlein vorgestreckt, sauste er in seinem gestreiften Gewand, das ihm bis zu den Knien reichte – er war darin tatsächlich herangewachsen, hatte nie etwas anderes getragen –, barfuß den Hügel hinunter. Die anderen Jungen lachten. Er rannte so schnell, daß er nicht mehr anhalten konnte, ohne hinzufallen, und fiel deshalb auch in einer Staubwolke direkt aufs Gesicht.

Unter Tränen und atemlos rappelte er sich auf, und ging zurück, wo er beschämt in den Falten unter Mutters Bauch verschwand. Sie klopfte ihn lachend ab und streichelte ihm tröstend übers Haar. Vater kommt bald wieder. Die Jungen schnoben voller Verachtung über Senunus Weinen durch die Nase: Pfiff, und so was will der Mann im Haus sein!

Senunu hob den tränenklaren Blick, worin der Morgen untergegangen war. Es war nicht die Abreise des Vaters, die ihn so traurig machte – das bedeutete nur weniger Prügel für ihn –, auch nicht der Umstand, daß er ihm nicht hinterherwinken konnte, nein, Senunu gehörte zu den rätselhaften Jungen, die es nicht ertragen können, wenn sie jemanden anderen nicht überholen können oder von diesem überholt werden.

2

Fünf Monate später brachten alle Frauen des Dorfs am selben Tag und zur selben Zeit ein Mädchen zur Welt. Die erfahrenen Frauen kauerten sich in ihren Kleidern auf den Schlafzimmerboden und preßten der Tochter, die jetzt Hebamme sein mußte, mühelos das Kind in die Hände. Für die jüngeren Frauen war die Geburt schmerzhafter und wurde begleitet von lautem Gebrüll; auf dem Rücken liegend sammelten sie zwischen dem Gekeuche genug Atem, um ihre abwesenden Männer zu verfluchen. Die Jungen nörgelten die ganze Zeit – schon wieder ein Familienmitglied mehr – und versteckten sich, aus Angst, die Mutter könnte sterben, doch noch größer war ihre Angst, der Vater könnte die Flüche der Mutter hören, so laut wie diese schrie.

Die Luft erschrak von den ersten Schreien, die alle zur gleichen Zeit ertönten, und die Vögel flogen auf. Die Babys wurden an die Brust gelegt, und die Mütter kehrten zu ihren Alltagsbeschäftigungen zurück. Sie, die geübter waren im Gebären, pflegten die Frauen, die wohlrosig und schwächlich das Bett hüteten, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen.

Das alles hörte Mamurra in ihrem Haus und warf Cheira und Heira einen Blick zu. Sie nahm gerade einen Vogel aus, während die eine der beiden alten Frauen in einem Steinmörser Pfeffer zerdrückte und die andere Bohnen palte. Sofort unterbrachen sie ihre Tätigkeit, um Mamurra mit klebrigen Fingern zu trösten. Seit Baba Baluks Abschied verbrachten sie jeden Tag bei ihr, nur schliefen sie nicht im Haus. Die Nacht, so sagten sie und zwinkerten dabei, sei ihr Arbeitsfeld.

Mamurra fürchtete die einsame Finsternis im einsamen Zimmer auf ihrem einsamen Bett, eine zärtliche Beute für Alpträume. Die mußte sie ertragen, denn aufgrund der Schwangerschaft konnten Cheira und Heira ihr keine Kräuter geben. Statt dessen legten sie Mamurra ein Messer und ein bißchen Salz hinters Kissen, damit sie nicht mitten in der Nacht aufwachte. Manchmal übernachtete Mamurra bei den Zwillingen, während diese zur Arbeit auszogen. Lärm und Aufruhr im Johannisbrotbaum gaben Mamurra zu denken, was taten die beiden eigentlich, bevor sie mit einem Kloß im Hals und ihrem Mann im Herzen einschlief. Das Kringeln des Kindes in ihrem Bauch beruhigte sie.

Nach Baba Baluks Abreise hatte sie die Zwillinge aufgesucht und überredet, jeden Tag zu ihr zu kommen und ihr bei der Zubereitung einer üppigen Mahlzeit zu helfen. Weil, so erklärte sie und starrte dabei ins Leere, er Hunger haben müsse. Cheira und Heira gehorchten ihrer zarten Laune. Sie hatten Mamurra noch nie etwas abschlagen können. Nach dem Kochen schloß sich Mamurra im Schlafzimmer ein und warf sich in Schale. Sie zog den kostbaren grünsamtnen Kaftan mit den gelben Sonnenmotiven an, am Kragen hatte er eine Goldborte und Knöpfe aus Goldfaden, und auch die Ärmel waren mit goldnen Litzen eingefaßt. Aus Mangel an Edelsteinen trug sie eine Halskette aus weißen und roten Blüten, Cheira und Heira hatten sie für sie geknüpft, ein Collier aus der Frühjahrskollektion.

Vor dem zersprungenen ovalen Spiegel kniend, bürstete sie die lockigen Ranken ihres schwarzen Haars mit Aufwärtsschwung vom Kopf weg, schlang sie zu einem Knoten und steckte sie mit einem Dorn fest. Das Kinn auf die Brust gedrückt, tätschelte sie den Dutt, als wäre er der Popo eines Negerkindes, wobei sich ein paar Strähnen lösten. Die langen Wimpern umrandete sie mit Kajal, bis sie wie knospende Zweige aussahen. Ihr zartes Fleisch war durch die Schwangerschaft voller geworden, und die Arme und Wangen hatten Grübchen bekommen. Hier und da zeichneten sich unter ihrer Haut blaue Aderchen ab wie Schatten von Ästen auf sonnenbeschienenem Schnee. Sie sah aus wie weiße und blauschwarze Trauben des Weinstocks, für keinen Markt bestimmt.

Sie setzte sich an den gedeckten Tisch und griff zu, aber erst, nachdem sie Baba Baluks Geist aufgefordert hatte, sich als erster zu bedienen. Cheira und Heira amüsierten sich köstlich über dieses Ritual, es war wie früher beim Hüttenbauen, woran sie sich noch aus den naßlila Nebeln ihrer antiken Kindheit erinnern konnten. Mamurra aber war es bitterernst, ihr Mann konnte nicht wirklich weg sein, wenn sie überall seine Anwesenheit spürte. Er war da, im Geruch der von ihm zurückgelassenen ungewaschenen Kleider, in dem Paar gelber Babuschen, den gestopften Wollsocken, die durchs Haus irrten.

Früher hatte sich Mamurra stets über diese Nomaden geärgert, jetzt aber waren sie Anlaß für liebevolle Seufzer. Außerdem gab es noch seinen Fußabdruck vor der Türschwelle zum Schlafzimmer: Einst war er unglücklicherweise in den nassen Zement getreten, der die Risse im offenen Innenhof kitten sollte. Wenn die Toilettentür quietschte, ein paar Bretter, zusammengehalten von Eisendraht und ein paar rostigen, krummen Nägeln, glaubte sie, er träte gleich heraus. In ihrer Erinnerung hatte sich sein Bild in Bruchstücken bewahrt: ein sinnierendes Auge, die Rundung seiner Nasenflügel, auf denen das Sonnenlicht spielte, die beiden tiefen Furchen zwischen den Augenbrauen, seine Gesichtszüge, die sich bei höchster Lust zusammenzogen, als müsse er sich mühsam an etwas erinnern. Zugleich spürte sie ihn noch in der Leere, die er hinterlassen hatte, im Bett, im eingedellten Kissen, in ihren verlassenen Armen. Verlassen, weil der Körper schnell vergißt, viel zu schnell, dachte sie. Sie hatte eine zwiefache Schwangerschaft, zu schwer für eine so zarte und zerbrechliche Frau wie sie, eine Schwangerschaft des Bauches und eine des Busens.

Ihr Leben mit einem Geist dauerte schon einen Monat, als Cheira und Heira beschlossen, daß es so nicht weitergehen könne, und Mamurra mit ins Badehaus nahmen. Sie verbrachten einen heiteren Nachmittag. Dann nahmen die Zwillinge sie mit zu sich nach Hause. Dort geschah es, daß Mamurra eines Nachts verschwand und nicht mehr aufzufinden war. Cheira und Heira entdeckten das leere Bett und suchten nach ihr. Erst im weißen und roten Morgen fanden sie sie im Abqar-Tal, leise singend betastete sie mit zärtlichen Fingern die reifenden Feigen. Ein warmes Glühen ging von ihr aus, die Mundwinkel waren gelöst, die Locken zerzaust, und ihre Augen schielten leicht und beschwipst. Sexgesättigt sah sie aus, müde, aber nicht befriedigt. Bei jedem Schritt sackte sie in den Hüften, die sie phlegmatisch wiegte, etwas ein. Die Zwillinge begriffen, daß Mamurra nicht mehr zu helfen war, und brachten sie nach Hause zurück. Im Haus des Dorfoberhaupts erhob sich gerade lautes Gejammer. Sie sahen sich an und lächelten.

Jetzt palten sie die Bohnen aus der Fruchthülle, wobei ihnen zum ersten Mal auffiel, wie sehr jede Bohne einem Embryo ähnelte. Der gemahlene Pfeffer ließ ihr Kichern im Niesen enden. An den grauen Ringen unter Mamurras Augen konnte man erkennen, daß die Schwangerschaft ihr schwerfiel. Sie hatte sich ein Tuch fest um den Bauch gebunden, der Rücken schmerzte; sie stützte die Hände in die Lendengegend und beugte sich leicht nach rechts und nach hinten. Immer wieder schwankte sie, ließ den Kopf baumeln, fing sich jedoch, bevor Cheira und Heira aufspringen konnten, um sie aufzufangen, wieder und lachte mit kokettem Achselzucken laut auf. Die beiden machten sich große Sorgen. Mamurras Stirn war von einem Sommer voller Sprossen geküßt worden, ein Ton heller in der Farbe als ihre Brustwarzen und vom Schweiß benebelt.

Die Haken ihres Büstenhalters waren abgesprengt, weshalb sie ihren Busen jetzt in ein altmodisches Brusttuch gewickelt trug, das nicht bequem zu sein schien, denn sie zupfte fortwährend daran. Schwangere Frauen können bekanntlich nie die Finger von ihren Papusen lassen. Ihr Duft spielte einen Tick ins Zitronen- und Anishafte, ein opalner Geruch aus den Schattenreichen der Achseln und zusammengepreßten Brüste.

Sie mochte diesen Geruch und inhalierte tief ihr eigenes Parfüm. Auch Cheira und Heira sogen Mamurra tief in sich ein, winkten mit ihren gehöhlten Händen, und hätten sie sie mit ihren im Kneten und Kneifen so geübten Fingern auspressen und als Saft trinken können, sie hätten es getan (das gilt auch für Sie, meine Herren). Mit eingefallenen Mündern küßten sie Mamurras blühende Unterlippe, die voll war und leicht herabhing, mit einer Kerbe in der Mitte, ein rotes Lilienblatt.

Das Essen war fertig. Mamurra zog sich weder um noch schminkte sie sich. Baba Baluk war weg, sie hatte es endlich begriffen. Nach ihrem Verschwinden veränderte sie sich. Sie wurde ruhig. Auch fragte sie nicht mehr, wann er ihr wohl endlich schreibe.

Die Geburt von Töchtern feierten die Mütter nicht.

Der karmesinfarbene Sonnenuntergang vollzog sich wolkenlos und verlassen, verlassen deshalb, weil auf den Hügeln die Silhouetten der Männer fehlten, die sich vor dem Abendessen die Beine vertraten, um die Trägheit aus den Gliedern zu vertreiben und den Appetit anzuregen; früher zog dort stets diese kleine schwarze Prozession, die zerfiel und sich wieder zusammenfand, mit den Bäumen verschmolz und sich von diesen wieder löste. Jetzt tobten Kinder auf den Hügeln herum, hüpften wie Spatzen, kletterten auf Bäume. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürten die Frauen, die vor den Häusern standen, um die Sprößlinge ins Haus zu rufen, so etwas wie Wehmut und Nostalgie. Ein Gefühl der Verlassenheit erfüllte die Luft und ihre Herzen. Alles schien so traurig zu sein, der Tod war mehr als dereinst die einzige Gewißheit, das Leben werde nur gelebt, um neues Leben hervorzubringen, und dieses neue Leben, das so leise atmend schlief in ihren warmen Armen, unterschied sich in nichts vom Frieden des Todes, nur war der Tod nicht so süßduftend, wenn auch für ihre Körper nicht minder verwelkend. Das Zirpen der Grillen ließ sie vor Wehmut zusammenschaudern. Wären die Augen vom vielen Weinen der ersten Ehejahre nicht vertrocknet gewesen, hätten sie jetzt geweint. Vor langer Zeit waren sie heilige Mütter gewesen, jetzt lagen Kindheit und Jugend in ihren verdorrten Leibern begraben: Mamas und Mumien gleichzeitig. Nur der Biest, die Vormilch ihrer Brüste, war jung.

Sie seufzten und riefen, lauter jetzt, die Buben nochmals, sie sollten zum Essen kommen. In der Stille, die danach einsetzte, verschwanden sie in den Häusern. Wie Läuse sprangen Schemen aus den Bäumen und stürmten die Abhänge hinab.

Vor den Resten des Lichts flammten die Streichholzgestalten der kleinen Teufel im Goldstaub auf, den sie aufwirbelten. Als sie atemlos die Haustüren erreichten, war die Nacht bereits hereingebrochen.

Mamurra war eine himmlische Köchin, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie kochte mit Vorliebe Geflügel.

Nicht das Geflügel, welches Sterbliche zu verzehren pflegen, sondern Vögel wie Stare, Amseln, Finken und manchmal sogar Nachtigallen. Ihre Erfindungsgabe in der Zubereitung war grenzenlos und variantenreich, auch wenn sie vom Fang abhängig war. Wäre sie je in den Besitz eines Kranichs oder eines Phönix gekommen, so hätte sie auch an diesen ihre Kochkünste erprobt. Baba Baluk, der Mamurras feine Küche anfangs gar nicht mochte, wurde mit der Zeit zum wohlgenährtesten Mann der Gegend. Die Vögel fingen Cheira und Heira für sie, der Baum hinter ihrem Haus war eine Taverne für das unterschiedlichste Federvieh, vor allem Spatzen flatterten höchst anmutig torkelnd draus hervor, besoffen vom eigenen Gezwitscher. Vogelleim oder Fallen waren unnötig; die Tiere fraßen den beiden buchstäblich aus der Hand.

Amseln und Stare füllte Mamurra mit Rosinen und Nüssen und servierte sie gegrillt oder gebraten mit gekochten Quitten, die sie mit Federn spickte, so daß sie aussahen wie Seeigel.

Wildtauben briet sie in echter Butter, Zwiebeln und Zimt an und bestreute oder füllte sie danach mit Mandeln, Pistazien und Rosinen, dem Ganzen gab sie mit gemahlenem Safran, der bei fast keinem ihrer Gerichte fehlte, Farbe: Das Auge esse noch vor dem Mund, pflegte sie zu sagen. Gegrillte Finken bettete sie auf Bananen- und Weinblättern, bedeckte sie mit Wachteleidottern und Rosmarin, würzte mit Zimt, Kardamom und Muskat und krönte alles mit einer Zuckerglasur. Die Nachtigallen wickelte sie mit Rosinen und getrockneten Feigen in Palmblätter und begrub sie für längere Zeit in glimmender Asche, danach bestrich sie sie mit Rosenhonig und Orangenblütenwasser und streute Granatapfelkerne darüber.

Als Garnitur dienten Zitronen- und Pfirsichblüten. Baba Baluk aß mit Wohlgeschmack und lautem Schmatzen, wie es einem Leckermaul ohne Manieren geziemte, die dankbaren Esser aber waren Cheira und Heira.

Mamurra hatte keine Ahnung, woher sie diese Cuisine kannte; sie mußte wohl ein Erbe aus ihrer Kinderzeit sein, denn der Geschmack entwickelt sich in frühester Kinderzeit, aber Mamurra wußte ja gar nicht, wo die Wiege ihrer Kindheit lag. Immerhin hatten Cheira und Heira ihr die beste Milch eingeflößt, von Kühen, edlen Kamelen und sogar von Gazellen. »Milchschlabbertrienchen« hatten sie sie genannt, sie hatte ihre Milch auch wirklich immer gierig und unersättlich geschlabbert. Und es war diese heilsame Milch, die jetzt durch ihre Haut schimmerte.

In den ersten Tagen nach Baba Baluks Abreise kochte Mamurra nur Fisch. Cheira und Heira erhandelten ihn beim Fischer im Tausch gegen Cannabis und Mutterkorn. An der Küste des Narvelmeers benetzte Meeresbrausen mit salzschläfrigem Tau ihre Augenlider. Zum Mittagessen grillte Mamurra kleine Sardinen mit Zitrone. Für den Abend stellte sie eine Auswahl aus Meerbrassen, Schwertfisch, Else, Merlan, Knurrhahn, Königsbarbe und Seehahn zusammen. Das Narvelmeer war an Fauna sehr reich, an Silberschuppen und Maschengold, entstanden aus dem alchemistischen Zusammenspiel von Sonne, Schaum und Aquamarin. Die rote Seebrasse – Cheiras und Heiras Lieblingsfisch und von ihnen ausgenommen – marinierte sie mit Koriander, Petersilie, Paprikapulver, Kümmel, Salz, Zitrone und Knoblauch und füllte den Fisch mit Reis, Oliven und Tomaten, bevor sie ihn auf ein Bett aus Kartoffeln legte und mit Tomaten bedeckte, damit er im Lehmofen nicht verbrannte: ein einziges Loblied auf das Land und das Meer, verführerisch triefend, als wäre alles gerade den Wellen entsprungen.

Als Dessert erwarteten ihn Stapel von Früchten, aufgelesen aus dem Füllhorn des Überflusses, in dem auch das Meer beheimatet ist.

Cheira und Heira, obgleich in Sorge darüber, welchen Aufwand Mamurra für den abwesenden Baba Baluk betrieb, ließen es sich schmecken, wischten die fettigen Finger und Lippen an den Fransen ihres Umschlagtuches ab. Kein Wunder, daß sie enttäuscht waren, als Mamurra nach ihrem merkwürdigen Verschwinden keinen Fisch mehr kochen wollte.

»Er kann keinen Fisch mehr sehen«, erklärte Mamurra.

An diesem Abend saßen sie vor einer einfachen Mahlzeit aus Huhn und Bohnen. Sie hörten die Haustüren des Dorfs in raschem Marschtempo zuschlagen. Danach folgte eine kurze Stille, die vorher stets von Mamurras Frage gefüllt worden war, wann er wohl endlich schreibe. Cheira und Heira hatten es sich angewöhnt, erst mit dem Essen zu beginnen, nachdem diese Frage gefallen war, und auch jetzt waren ihre Augen auf Mamurra gerichtet, die Finger lagen auf dem Tellerrand.

Mamurra brach das Brot für sie. Sie hörten das traurige Gemecker der Ziegen im Tal. Im Innenhof zerkleinerte der Esel die Gemüseabfälle. Kiefer und Zunge des Tiers kreiselten, als versuchte es ein festsitzendes Stück Gemüse zwischen den Weisheitszähnen hervorzupulen.

Nach dem Essen war Mamurra müde und ihr war so wohl, daß sie sich gleich hinlegte – sie aßen natürlich auf dem Boden

– und sofort einschlief. Die Zwillinge deckten sie mit einem Laken zu, räumten das Geschirr auf, spülten es im träumerischen Schein der Karbidlampe kauernd ab. Danach wachten Cheira und Heira bei ihr, die im Licht des Mondes, so rund wie ihr Bauch, dalag wie die Wölbung einer verschneiten Höhle am Ufer eines zugefrorenen Sees.

So saßen sie, bis die Morgendämmerung das veilchenförmige Flämmchen verwelken ließ, dann verschwanden sie lautlos.

Das Geschrei des Esels weckte Mamurra nicht. Sie schlief den ganzen Morgen, der nichts Neues brachte, und erwachte erst gegen Mittag. Eine wirklich schöne Frau ist beim Aufwachen am schönsten, dann, wenn in ihren ausgeruhten Augen ein verwunderter Blick liegt, der Körper durch und durch warm ist und das Haar ein kunstreiches Nest. Und so, wie sie dasaß, gestützt auf die eine Hand, den Kopf gegen die aufragende Schulter gelehnt, die Locken ein Lorbeerkranzgewirbel, die andere Hand schlaff und handflächennackt im Schoß liegend, eine Schale aus Schatten, dasaß mit trägen Muskeln und Wimpern und einem raubtierhaften, dunkelroten Gähnen, war sie zum Anbeißen schön.

Da erst bemerkte sie, daß nicht das Rattern der Zikaden sie geweckt hatte, sondern das stotternde Solex des Postboten, der, umgeben von den Halos der Noon-Sonne, einem Engel gleich auf die Siedlung zugefahren kam.

3

»Hör zu!« sagte die Mutter.

»Nein!« antwortete ihr Sohn bestimmt und stampfte mit den Füßen auf. Als sie die linke Hand erhob, keineswegs in der Absicht, ihn zu schlagen, sondern nur als Drohung, duckte er sich und schaute sie mit einem so herzzerreißend ängstlichen Blick an, daß sie Mitleid bekam. Der rechte Arm war vom Baby besetzt, das unbeirrt und mechanisch an ihrer Brustwarze nuckelte. An der Schläfe des Kindes pochte eine kaum sichtbare Ader wie in einer anderen Welt.

Ob es an der Geburt oder der Abwesenheit ihres Ehemannes lag, sie wußte es nicht; doch sie war spürbar nachgiebiger geworden. Auch die anderen Frauen legten eine Weichherzigkeit an den Tag, was sie selbst anfangs verwirrte, ihnen aber schließlich ein Gefühl der Ruhe verlieh, ja, des Stolzes. Das, so dachten sie sich, sei wahre Mutterschaft, ungeachtet des harten Schicksals, der täglichen Misere und der körperlichen Entbehrungen, die sie durchlitten. Wie erwachsen die Jungen sich auch gaben, es gelang ihnen nicht zu verbergen, wie sehr sie ihre Väter vermißten und wie schwer sie daran zu schlucken hatten, daß sie trotz aller Anstrengungen die Rolle des Mannes nicht so erfüllen konnten, wie ihre Väter es getan hätten oder wie ihre Väter es von ihnen erwarteten. Sie waren einfach noch zu klein dazu.

Sie waren und blieben, trotz rauherer Haut, ausgiebigem, von einem Brummen begleiteten Ausspucken und hingebungsvollem Kratzen an ihren kleinen Hoden, Kinder, Kinder zwar, die auf der Schwelle zur pubertären Hormonhölle standen, aber doch noch Kinder. Es kostete die Mütter viel vergebliche Mühe, sie dazu zu überreden, mit den kleinen Schwestern zu spielen und zwar liebevoll, nicht wie jemand, der nur auf sie aufpassen soll, sondern wie jemand, der Brust und Gebärmutter mit ihnen geteilt hatte. Die Jungen waren entsetzt. Respekt vor der Mutter, das ging ja noch, aber vor der Schwester, vor einem Mädchen!

Die Mütter, wie Mütter übrigens oft, seufzten gutmütig, umarmten die weinenden Mädchen und schleuderten die Splitter der Stöcke, die sie zerbrochen hatten, ins Feuer. Es war immerhin schon ein Fortschritt, daß die Burschen die Mädchen in Ruhe ließen, auch wenn sie ihnen Aufmerksamkeit und Zuneigung verweigerten. Die Mütter schmeichelten und streichelten, was das Zeug hielt, doch das Verhältnis unter den Geschwistern konnten sie dadurch nicht verbessern. Die Mädchen gaben sich alle Mühe, teilten jedes noch so rare und gehütete Stück Süßigkeit mit den Brüdern, doch den Jungen fiel darauf nichts weiter ein als immer wieder zu sagen: »Geh ins Haus!« Ihre Phantasie reichte einfach nicht zu mehr und war in dieser Richtung schon gar nicht trainiert.

Immer wenn eine Mutter den Sohn rief und ihn halb scherzenden, halb flehenden Tones aufforderte, sein weinendes Schwesterchen zu trösten, weil es das blutende Knie beweinte

– ein Kind entdeckt die Welt über die Knie –, tat der Junge mit aufgerissenen Augen ein paar Schritte rückwärts, hob beide Hände zur Abwehr und schüttelte heftig den Kopf. Beharrte die Mutter jedoch darauf, war er es, der in Tränen ausbrach, als hätte er sich gerade massenhaft das Knie aufgeschlagen. Bei diesem Anblick brach das hingefallene Mädchen in Lachen aus, stand auf und streckte dem Bruder die Zunge raus. Dann verschwand der Junge in den Falten der mütterlichen Umarmung, weniger auf der Suche nach Trost als nach einer Erklärung für diese vollkommen überflüssige Demütigung, während das Mädchen nach draußen rannte, um im Schatten des Hauses die geronnene Blutnaht abzukratzen. Und während die Heulsuse, als solche das Mädchen den Bruder beschimpft hatte, sich mit den Fäusten die Augen trockenrieb, hatte das Mädchen den Kampf gegen die wehrhafte, dolchspitze Erde längst wiederaufgenommen. Die Jungen hatten das Nachsehen, als sie mit nackten Füßen davonflog, gezäumt vom Wind. Der Bruder aber verließ ebenfalls das Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Ein paar Kinder jagten ein Mädchen, das einen kleinen Wirbelwind verursachte. Der Junge, Senunu natürlich, startete seine eigene Staubwolke und sauste hinter ihnen her.

Doch die Mütter gaben nicht auf, obwohl der Kampf gegen ein versteinertes Jungenherz unmöglich zu gewinnen ist.

Schwieriger ist für eine Mutter nur noch, den Sohn um die Essenszeit herum zu finden, wenn dieser sich in einem hohlen Baumstamm versteckt hielt, weil er gerade eine zweite, noch viel größere Demütigung erlitten hatte: Er war überholt worden, und zwar von einem Mädchen.

Doch weil Drohungen auch jetzt nichts nutzten, ließ sie die Hand sinken. Eine andere Strategie mußte her, eine von Bestechen und Versprechen. Sie wurde allmählich ungeduldig, der Eselskarren konnte jeden Augenblick eintreffen, und sie mußte sich noch schminken. So versprach sie, ihm vom Basar etwas Süßes mitzubringen.

»Zuckerwatte?«

Nein, Zuckerwatte würde die Fahrt nicht überstehen.

Der Postbote hatte nur einen einzigen Brief gebracht. Er war an alle sieben Frauen gerichtet, für Mamurra keinen, welche hin- und hergerissen war zwischen Beruhigtsein – schließlich hatte sie nichts anderes erwartet – und Betrübnis – sie hätte ja wider Erwarten eines Besseren belehrt werden können. Sie wand ihr Haar in einen Knoten, legte sich das Umschlagtuch um und ging zu Cheira und Heira.

Die Frauen umdrängten den Postboten. Er las die Namen auf dem Umschlag vor und übergab ihn der ältesten Frau, die mit kokettem Augenaufschlag die Hand danach ausstreckte. Der Brief war aber gar nicht an sie adressiert, sondern an ihren Sohn. Lüstern betrachteten die Frauen den blau-weißen Aufkleber mit dem Paravion; diese beiden Farben bedeuteten ungeheuer viel, sie beinhalteten das ganze Wesen des neuen Landes, die Fingerabdrücke ihrer Männer, das glaubten sie jedenfalls. Den Umschlag aufzureißen wagten sie nicht. Der Postbote weigerte sich, den Brief vorzulesen, nicht aus Unwillen. »Viel Arbeit, kann nicht!« sagte er, als spräche er zu einem Ausländer, und deutete auf sein keuchendes Solex. Er erklärte sich jedoch bereit – »falls ich noch Zeit habe« –, für eine Transportmöglichkeit zu sorgen, die die Frauen zum Basar brachte, wo sie einen Schreiber finden konnten, der ihnen den Brief vorlas. Sie gaben ihm Wasser aus einer mit Teer bestrichenen Schale zu trinken, dazu ein Stück Brot, Oliven und Mandarinen als Belohnung für sein Versprechen, für seine Mühe und als Wegzehrung. Er verstaute den Proviant in den Satteltaschen seines Solex, bestieg das Gefährt, tippte gegen den Schirm seiner Mütze und schuckerte davon. Er watete durch die wabernde Fata Morgana.

Die Frauen blickten einander an und wurden rot, die Herzen, an die sie den Umschlag abwechselnd preßten, flatterten. Es war ihr erster außerehelicher Kontakt, und er versetzte sie in amourös-heitere Stimmung. Einen Augenblick lang trugen sie wieder die Spatzenflügel der Jugend. Die Mütze des Postboten war nur noch blaßblau und so zerknittert, daß es aussah, als ob er sich öfter draufsetzte als sie aufsetzte. Liebend gern hätten die Frauen die Mütze für ihn gewaschen, notfalls hätten sie sich sogar drum geschlagen.

»Ach, ich weiß jetzt, was ich dir mitbringe«, sagte die Mutter. »Laß dich überraschen!« Aber damit war es der kleine Bursche natürlich nicht zufrieden und schüttelte schmollmundig die Grannen seines dickköpfigen Schädels. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und eilte ins Schlafzimmer, um sich zu schminken und umzuziehen. Der Junge war plötzlich so aufgeregt, daß er hinterherrannte, um sich bei ihr, die schon vor dem Spiegel saß, zu vergewissern, ob er richtig verstanden habe. Als sie bejahte, stürzte er zu seiner Schwester, umarmte sie unbeholfen, küßte ihre Schillerlocken und streichelte ihr über den Rücken, als wäre sie ein Stachelschwein.

Da schallte aus allen Häusern gleichzeitig ein »Mama!«, und zwar mit sehr langgedehnter zweiter Silbe und so heiser geschrien, daß diese Schreie ununterscheidbar in das Krächzen der aus den Olivenbäumen aufflatternden Krähen übergingen: Alle Jungen des Dorfes streichelten in diesem Moment als Reaktion auf Mutters Versprechen die Schwestern.

Mama selber verschönerte gerade ihr Gesicht: Kajal für fließende, ägyptische Augen mit schwarzen, tränenförmigen Augenwinkeln, die das Weiß des Augapfels betonten; perfekte Rouge-Kreise auf glänzenden Wangen; mit einem Stück Walnußbaumrinde rieb sie sich die Zähne weiß, doch färbten sich Zahnfleisch und Lippen dadurch so dunkel wie Gazellenlefzen; nun noch Rosenwasser und Lavendel für Hals und Achseln. Die hennaroten Finger waren Jujuben.

Geschmackvoll abgerundet wurde das Ganze mit einem lila eingefaßten Schleier.

Der Karren, gezogen von einem augenklappenbewehrten Maulesel, traf ein. Der Eseltreiber, ein magerer Greis mit langem Gesicht, zerrte mit dem dazugehörigen »u-hu« am Zaumzeug. Staub legte sich wie ein Brautschleier auf den schweißnassen Widerrist des Esels. Ein Frühling aus tausend Farben und Gerüchen trat aus den Türen, und der Eseltreiber wäre fast vom Bock gefallen. Die Frauen schepperten in den Wagen hinein, so üppig war ihr kupferner und silberner Schmuck. In Anwesenheit ihrer Männer wickelten sie sich von Kopf bis Fuß in weiße Überwürfe, jetzt aber hatten sie diese über die Unterarme gelegt, so daß sie über den Boden schleiften und die Schulterpolster ihrer bunten Kleider deutlich zu sehen waren. Nur Halsketten aus Bernstein und Lapislazuli bedeckten die obere Brust.

Die Jungen standen in den Haustüren und sahen den Müttern nach, ohne ihr Winken zu erwidern: Sie hielten ihre widerstrebenden Schwestern im Arm oder im Schwitzkasten, wild entschlossen, das gegebene Versprechen, brav zu sein, auch zu halten. Ihre Augen waren so rund und vor Erwartung glänzend wie die versprochenen glasierten Äpfel. Die sieben Babys schliefen in einem kühlen Raum, beaufsichtigt vom ältesten Mädchen des Dorfs, fünfzehn war sie und voller pubertärer Launen und Rundungen: Weder wollte sie mit Jungs schlafen noch ihre Haut der Sonne bloßstellen, ihre Wölbungen konnten sich zwischen Stolz und der Furcht vor Fettsucht noch nicht entscheiden.

Die Peitsche kringelte sich in der Luft, knallte zufrieden; der Wagen setzte sich fast kenternd in Bewegung. Der Eseltreiber schüttelte sich vor Lust und grinste über die Rosensträucher und Obsthaine hinter ihm, in Rauschen versetzt von den unruhigen und wohllautenden Vögeln ihrer Stimmen. Er fuhr jetzt langsamer, gab dem Maulesel die Anweisungen lauter als nötig. Die Frauen zitterten und schwirrten vor lauter bezauberndem Entzücken wie Prinzessinnen in ihren verschlossenen Gärtlein. Wartet nur, dachte er, wenn ich das den Brüdern im Teehaus erzähle! Die Geschichten des Teppichhändlers würden dagegen verblassen, und seine Teppiche auch.

Sie kamen an Mamurra vorbei. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen, tuschelten, und wie herausgeputzte Strauchgewächse erbebten sie vor Fröhlichkeit, als ihr Krähenlachen aufflatterte. Der schwankende Wagen, der durch die schiefen Räder schmale Hüften zu haben schien, hinterließ eine Spur aus Linien und Sicheln. Linien und Sicheln. Linien und –

»Hu!« rief der Eseltreiber, und der Maulesel blieb stehen.

Melancholisch ließ er den Kopf hängen, durch die Augenklappen erblindet, ein vierbeiniger Schwarzseher.

Der Wagen stand vor dem Eingang zum Lumpenmarkt auf dem großen Platz der kleinen, roten Stadt. Menschentrauben warteten auf die Busse. Diese kamen an und fuhren weg, bis zum Anschlag voll mit Passagieren, Köpfe ragten aus Fenstern, ein Fahrgast saß sogar auf dem Dach. Leute, die mit Busfahren bisher noch keine Erfahrungen gemacht hatten, benutzten die Schultern und Nacken anderer als Trittbretter, um einen Platz zu ergattern. Im Gedränge wurde einem Jungen die Mütze gestohlen, ohne daß er es der Mutter zu sagen wagte, die ihn wie ein Gepäckstück hinter sich herschleifte. Abgase von Solexen und Autos. Klingelgeklingel. Passantengeschrei. Ein vor einer durcheinandergeratenen Ampel wartender Esel preßte eine perfekte Kugel aus seinem Hintern, der sich wie eine Rosette öffnete und wieder schloß. Ein Polizeibeamter ruderte heftig mit den Armen, pfiff sich die Backen rund und die Lungen leer, doch der Verkehr auf Rädern, Hufen, Babuschen und Schuhen wollte gar nicht geregelt werden. Zwei Männer in braunen, grobwollenen Gewändern, der eine saß seitlich auf einem Esel, und der andere trug einen Schnappsack und neue Turnschuhe, die so gar nicht zum Rest seiner ländlichen Erscheinung paßten, schüttelten sich eine ganze Weile die Hände. Sie hatten sich offenbar seit längerem nicht gesehen, unterhielten sich ausgiebig, ohne die Hände loszulassen, und versperrten die Straße. Ein Mann steckte den Kopf aus dem Fenster seines Simcas und schleuderte Verwünschungen an die nickenden Köpfe, doch sie hörten ihn nicht. Gerade, als der Mann aus seinem Wagen steigen wollte, erwachten sie aus ihrem Zwiegespräch und rückten, ohne ihre Haltung zu verändern, ein Stück zur Seite. Obstverkäufer, Eismänner, Verkäufer von gekühlter Orangen- und Mandellimonade, alle hinter ihren kleinen Karren stehend, und Händler von Wasweiß-der-Himmel sangen Lob und Preis ihrer Waren.

Gendarmen, die Baretts entweder auf dem Kopf oder in der Hosentasche, patrouillierten mit schweren Knüppeln, die sie gegen die Hüfte prallen ließen, und verjagten zur Aufrechterhaltung einer Parodie von Diensterfüllung ab und zu einen Bettler. Schwarze, von der Sonne geröstet, in Scharlachkleidung und schwarzen venusmuschelverzierten Mützen, kauerten am Boden und rösteten Erdnüsse. Kioske boten Zeitungen, Zeitschriften, Zigaretten und Postkarten an.

Eine Biene ließ sich von der Abbildung einer Rose in die Irre führen und knallte immer wieder gegen das Harte. Auf ausgebreiteten Laken wurde Schmuck dargeboten, alles Stücke

– das versicherten jedenfalls die wollbemützten und aufmüpfigen Verkäufer – aus purem Silber. Fliegen waren Stammkunden. Von einem fernen Brunnen, der eine Kristallähre mitsamt irisierenden Grannen versprühte, kamen einige Wassertropfen auf fliegenden Teppichen des Windes neugierig angeflogen. Bürgersteig und Grünanlagen waren übersät mit Spelzen von Sonnenblumenkernen. Alte Männer spielten unter den Platanen Dame oder stützten sich auf alten Bänken sitzend auf ihre alten Spazierstöcke, ein vertrauter Anblick in jeder Stadt der Welt. Einer schlief auf einer Bank, die Zeitung über das Gesicht gebreitet, und las in seinen Mittagsträumen. Bettler hielten ihre Jeremiaden, Esel iahten, Autos hupten. Es war ein glückliches Chaos.

Der Eseltreiber verkündete, daß das Ziel erreicht sei. Die ganze Reise über hatten die Frauen gequasselt, gesungen, in die Hände geklatscht, den Schmuck klirr-klirren lassen, geschwiegen, bis die Stadt sie übertönte. In den verstreut liegenden Dörfern unterwegs kamen neugierige Kinder angerannt, manche warfen mit Steinen; Jungen, die mit Körben voller Obst am Straßenrand standen, liefen hinter dem Karren her. In der Ferne winkte ein Schäfer und setzte danach sein Flötenspiel fort. Ein Solex fuhr am Horizont Richtung Ende der Welt.

Die Frauen waren entschlossen, den Tag bis zur Neige auszukosten. Warum auch nicht? Sie wollten es sich gut gehen lassen, schließlich war das ihr erster Tag ohne Babys, Kinder und außerhalb der Küche, und so, wie sie das Leben kannten, würde das auch ihr letzter sein.

Der Eseltreiber drehte sich um und sah niemanden mehr. Bei der Ankunft in der Stadt waren die Frauen eine nach der anderen von der Ladefläche gesprungen, um sich das Fahrgeld zu sparen. Sie brauchten das Geld dringend für die Rückfahrt.

Wo vorher Rosen, Jujuben und Jasmin geblüht hatten, erstreckten sich jetzt nur noch die trocknen Planken des Karrens. Das Segeltuch des Sonnenverdecks flapperte im Wind, als übermittelten die Geflohenen damit eine Nachricht.

Er ließ seinen Blick schweifen, obwohl es unmöglich war, die Frauen unter all den Frauen hier wiederzufinden, da sie alle die gleichen weißen Überwürfe trugen. Er war sich sicher: Im Teehaus würde er heute das große Wort führen. Er lachte und setzte seinen Maulesel in Bewegung.

Vor dem großen Tor des roten Basars stand ein Geschichtenerzähler in weiten, schwarzen, fledermausärmligen Gewändern, um den Kopf einen zerwickelten Turban, und schlug elegant gestikulierend einen Kreis Zuhörer in den Bann.

»Hört zu, meine Herren!« befahl er, und die Leute wichen vor Schreck zurück. Mit wundervollen Augen, aus denen die Nacht mit ihren Sternen nicht weichen wollte, nahm er das Publikum in Augenschein, bevor er fortfuhr. Er war ein Riese von einem Mann, die Falten seiner eleganten Kleidung bildeten eine Skulptur, und es war nicht zu sehen, ob er auf einer Seifenkiste stand, einem Sockel. Vor ihm auf der Erde lag aufgerollt sein fliegender Teppich, von einem Stein an Ort und Stelle gehalten; diese Dinger waren unberechenbar, man konnte sie kaum allein lassen, egal, was die verkaufstüchtigen Teppichhändler behaupteten. Es war mit ziemlicher Sicherheit ein Nevernym.

Eine kleinere Menschenmenge hatte sich um einen Zauberkünstler geschart, der gerade ein neues Kapitel seines Auftritts eröffnete. Er bat um einen Freiwilligen. Ein großer Schwarzer in gelbem Rollkragenpulli und verschossener Cordhose, die, obwohl von einem Stück Seil gehalten, von seinen Hüften zu rutschen drohte, trat vor.

Mit einer machtvollen Geste rang der Zauberkünstler den Zuschauern Aufmerksamkeit ab: »Aus dem Hintern dieses Mannes«, so sprach er geheimnisvoll, »werde ich gleich eine Frucht hervorzaubern. Na, worauf hättest du Lust?«

Der Freiwillige überlegte einen Augenblick, lächelte eine Mondsichel und antwortete: »Auf eine Banane!«

Der Zauberkünstler bat ihn, die Antwort laut zu wiederholen, und nachdem er gehorcht hatte, brüllte der Zauberer ins Publikum: »Hört, hört, dieser Herr will eine Banane!« und brach in gellendes Gelächter aus. Das Publikum stimmte ein.

»Als ob deine Fresse eine Banane wert wäre!« Verächtlich sah er den Freiwilligen an, der verstört schluckte. »Weißt du, was du von mir kriegen kannst? Eine getrocknete Feige.« Darauf zog der Zauberer eine solche aus der hinterwärtigen Hosennaht des Freiwilligen, auf dessen Stirn die Sonne den Flügel einer Elster offenbarte: Sie schimmerte magisch blau. Die ihm angebotene Feige wies er jedoch zurück, schließlich wußte er, wo sie herkam, und reihte sich wieder ins Publikum ein, das laut applaudierte. Tsss, dachte der Zauberer noch und schüttelte den Kopf, hat man so was schon… eine Banane!

Er griff nach seinem Bettlernapf, um die Runde damit zu machen, doch das Publikum war, na klar, wie durch Zauberhand verschwunden.

Eine fröhliche Gruppe aus sieben Frauen ging kichernd am Geschichtenerzähler vorbei in den Basar.

»… im Hintergrund zählte der Kuckuck eine Ewigkeit von Stunden auf, die Grillen zirpten, und süß drang in seine Ohren das Läuten von Ziegenglöckchen. Wie soll ich, meine Herren, das Mädchen beschreiben, welches er da gewahrte…«

Im Basar war das Schauspiel nicht weniger bunt als das Warenangebot. Links gingen die Frauen zum Badehaus, rechts die Männer Richtung Grillbuden, wo der Duft von Lamm und Koriander aufstieg, appetitanregend, egal, ob man satt war oder nicht. Ein Bündel Lanzenschäfte aus getrübtem Sonnenlicht wies den Weg zur Kasbah, wo Gewürzpyramiden die Nasen der Passanten reizten und zum Niesen brachten: das Samtrot von Paprikapulver, das Schwarz gemahlenen Pfeffers, Pfefferkörner wie Kaviar, gemahlener Ingwer und Ingwerwurzeln, schneebedeckte Berggipfel rohen Salzes, Panflöten aus Zimtstangen, Dünen aus gemahlenem Zimt und Kümmel, nachmittaggelbes Safranpulver; Petersilie, Koriander und Krauseminzeblätter bildeten einen Urwald, Frühlingszwiebeln ein schilfbewachsenes Ufer, Knoblauch Sträuße: eine Stadt orientalischen Reichtums in nuce.

Unsichtbare Kupferschmiede schlugen das Metrum eines unhörbaren Gedichts. Geruch von Sägemehl und Zitronenholz drang wie der Duft neugeborenen Lebens aus der Ecke der Zimmermannsgilde. In den Buden der Juweliere tanzten grelle Kaleidoskope. Nähmaschinengeratter war aus der Welt der Schneider zu hören. Ambra und Moschus – egal ob vom Wal, Hirsch oder der Ratte, vermutlich aber synthetisch – betäubten bei den Parfumeuren die Passanten. Alte Frauen, aus Berggestein geschaffen, mit eingedetschten Gesichtern und greisigen Spaltkiefern, verkauften Pfauenfedern, getrocknete Chamäleons, mumifizierte Reptilien, Getränke, Kräuter; doch nur Cheira und Heira kannten den wirklichen Verwendungszweck all dieser Waren, und sie lasen außerdem noch gleichzeitig Hände und legten Karten. Oder umgekehrt.

Die Frauen gingen zum zentralen Platz des Basars, dem Treffpunkt der Fliegen, wo Metzger in ihren weißgekachelten Buden Fleisch zerhackten, zerschnitten, filetierten, entsehnten und Eingeweide und Köpfe auf den Theken drapierten. An Fleischerhaken hingen halbe und ganze Schafe, Lämmer, Hühner, Kapaune, Ochsen- und Kuhviertel, Landkarten aus zartem Rot und unverdaulichem Weiß. Schafsköpfe streckten ihre rauhen rosa Zungen heraus. Abgehackte Hufe lagen auf dem Boden. Gegenüber den Schlachtern befanden sich die Fischer, stinkend wie Meerjungfrauen, ihre Theken waren Salzstrände aus angespültem Silber und Kupfer. Aus großen Kesseln, in denen Schnecken gekocht wurden, stieg Dampf auf. Und in allen Ecken erklang das Geschrei der Händler.

Am Ende der Passage, auf dem Platz mit der Palme in der Mitte, saßen die Schreiber an Tischchen, auf denen rote Schreibmaschinen standen. Die Frauen holten den Brief hervor und gingen, eine kleine Prozession bildend, die jüngste vorneweg, auf die Schreiber zu. Dann blieben sie einen Augenblick stehen, um sich zu beraten, für welchen sie sich entscheiden sollten. Für den schönsten natürlich, doch waren ihre Geschmäcker verschieden. Die Zeigefinger an die Unterlippen gepreßt, eine Geste tiefen Nachdenkens, unterhielten sie sich über die Männer und betrachteten einen nach dem anderen.

Der älteste, der Zeichen von Vitiligo aufwies, obwohl es auch sein konnte, daß sich das Grauwerden bei ihm einfach nicht nur auf das Haar beschränkte, schied sofort aus. Seine Haut war mit Mondflecken bedeckt, Spuren verlorengegangenen Pigments. Ein anderer, der mit verknoteten Händen und kreiselnden Daumen über dem runden Bauch hinter seinem Tischchen döste, den Hut ins Gesicht gezogen, sah geheimnisvoll aus. Plötzlich schreckte er hoch, schob den Hut nach hinten; er hatte obszön dicke Augenbrauen, die er fragend hob. Er räkelte sich und zwinkerte den Frauen zu, doch die kehrten ihm den Rücken zu.

Ein dritter Mann, mit Sonnenbrille und Turban, der sich ihm wie ein Fahrradschlauch um den Kopf schlang, ohne die Kopfmitte zu bedecken, spielte mit einer weißen Maus. Sehr unhygienisch. Und als wäre das noch nicht genug, rief er ihnen noch zu: »Kommt zu mir, meine Damen, ich werde eure Enveloppen schon aufmachen!« Alles lachte. Die Frauen schnoben stolz durch ihre pferdigen Nüstern. Die älteste entschleierte ihr Gesicht, und was sie offenbarte, ließ die Männer sofort verstummen und schamvoll die Blicke senken.

Da entdeckten sie ihn. Abseits von den anderen sitzend, tauchte er mit einemmal im grünbraunen Schatten der Palme auf. Vor ihm auf dem Tisch lag eine ordentlich zusammengefaltete Zeitung und ein Päckchen Zigaretten. Die schwankenden Palmblätter kleckerten ab und zu etwas Licht über sein hübsches Gesicht, das von einem Schwall Locken umrahmt wurde, als wären es Rabenfedern. Samt und Leben lagen in seinem Augenaufschlag, über den sich sogleich die Wimpern fächerten. Er war ganz in Schwarz gekleidet, ein Herr aus der Unterwelt oder ein Verbannter vom grünen Himmel – schwer zu sagen. Der Wind bewegte seine Haarschnörkel mit den flinken Fingern eines Friseurs. Eine einsame Locke baumelte über den Falten der nachdenklich verdüsterten Stirn. Es ging ein Traum von ihm aus, dessen dunstige Vision jedoch keiner deuten konnte.

Perfekt.

Die Frauen küßten ihre aneinandergepreßten Fingerspitzen.

Und ein weiterer Glücksfall: Hinter ihm verkaufte ein älterer Mann, bekleidet mit einem Arbeitskittel und rotem Halstuch, glasierte Äpfel. Die glänzenden Früchte hingen an den blättrigen Zweigen eines dünnen Baumstamms, den er gegen die Schulter gelehnt mit beiden Händen festhielt. Sie sahen frisch aus, am Morgen gepflückt, wie er den Frauen später sagte.

Die jüngste wurde nach vorn vorgeschubst, um das Wort zu führen, und sie ließ es mit gespielter Widerwilligkeit geschehen. Dann setzte sie sich mit ihrem besten Hüftschwung, präzise einen hennaverzierten Fuß vor den anderen plazierend, in Bewegung, ein sinnlicher Ritualtanz von Spann und Zehen in hübschen Sandälchen. Unter dem zierlichen Bogen ihrer Fußsohle hätte eine sich räkelnde Katze Platz gehabt. Sie ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder, auf dem ein altes Stück Sämischleder lag: Ganz langsam sanken ihre eigensinnigen Pobacken auf die braune Schafshaut herab, der schlanke Rücken folgte in einer schwungvollen Bewegung, eine elegante Phiole. Der Mann selbst saß auf einem zusammengelegten Teppich.

Schweigend, aber mit geschwätzigen Augen übergab sie ihm den Brief. Die Wimpern schienen ihrem heißen Blick Kühle zuzuwedeln. Mit einem Nicken nahm er den Brief in Empfang und öffnete den Umschlag. Der Wind spielte ein Glissando zwischen den beiden, und ihr Schleier antwortete mit einem Glissando der durchsichtigen Falten. Die Genossinnen standen direkt hinter ihr, und doch in einer gänzlich anderen Welt.

Alles geschah langsam: Wie seine Finger sich bewegten – ein roter Stein funkelte an seinem Ringfinger –, wie das Papier flatterte, wie sie atmete, die blinzelnden Augen, der Sonnenkronleuchter in der Palme: träger konnte keine Seeanemone tanzen.

Der Tag würde lang werden, vor allem für die ungeduldigen Kinder zu Hause.

»Meine Dame«, sprach er und sah sie einen Moment lang an.

Der Basar fiel in sein ursprüngliches Tempo und Getöse zurück. »Hören Sie zu.«

Bevor sie zu Cheira und Heira ging, brachte Mamurra den Esel ins Abqar-Tal hinunter und band ihn an einen Feigenbaum. Sie setzte sich, um Platz für ihren Bauch zu schaffen, mit gespreizten Beinen auf den Boden und streichelte den Ziegen über den Rücken. Einst, gut möglich, daß sich die Zwillinge noch daran erinnern konnten, war hier ein Bach geflossen. Jetzt war das Bett vollkommen ausgetrocknet, die Strömung des Wassers hatte tiefe Furchen hinterlassen, Disteln wuchsen am Rand dieses Orts, wo der Bach begraben lag, die krummen Feigenbäume ließen traurig die Äste hängen, bedeckten mit den Blättern ihre fruchtlose Scham. Hier wollte sie begraben werden oder aufgebahrt für die Aasgeier.

In einem Haus fingen die Babys an zu schreien, verstummten aber nach kurzer Zeit wieder. Mamurra summte leise vor sich hin, streichelte den Bauch und blickte neben sich auf den Boden. Nein, hier gab es kein Spiegelbild, nur ihren Schatten.

Das Kind in ihrem Bauch drehte sich um, und sie sah, wo sein Po gegen die Bauchwand drückte.

Sie sang:

Innige Umarmung einer inneren Welt

in meinem Bauch, dem Lebensglobus, mein Kind; werde ich mein ganzes Leben lang spüren, wie eine Leere meine Gebärmutter aushöhlt,

wenn du einen Kreis bildest um meine Brustwarze, deine Arme eine Schnur um meinen Hals sind, und du mir ganz nah sein wirst,

doch nie mehr so nah wie jetzt?

Sie fragte sich, ob das Kind nur das Klopfen ihres Herzens hörte oder auch das gedämpfte Wiege-wiegen der Feigenblätter.

Wie schön wäre es, hier Kränze flechten zu können, inmitten eines gurgelnden Vogelchors, heimlich beobachtet von Baba Baluk, den Jungen, den Männern. Nackt könnte sie ins Wasser steigen, ihr Körper im Gekräusel wie Wasser in Absinth, die äußeren Labia wie zwei Rosenblätter, die die Strömung nicht mit sich reißen könnte: sie würde sich benetzen, von den Flecken Sonnenlichts die Haut schrubben lassen, während der Wind bereitstand mit tausenden spinnwebgewebten Handtüchern. Räkelnd und rosafarben und mit geschlossenen Augen empfinge sie dann ihren Gatten, der sie bekröche, wobei sie anfangs unwillig zu sein schiene, das läge am Wasser, ihn aber dann doch mit ihrer Taunässe willkommen hieße. Den Mund würde sie zu einer Mohnkapsel hohlbeuteln, damit er seinen Durst stillte an ihrem Saft. Die Frösche würden quaken, die Grillen zirpen, die Vögel alte Motive zwitschern, dann würde er brummen und sie kurz und melodiös stöhnend den Rücken krümmen und zerspringen.

Aber sie wußte auch, daß zu der Zeit, als das Wasser rauschte und die Felder noch lebendig waren, sie sich von alledem nichts hätte ausmalen, nichts hätte erlauben dürfen. Sie war eine andere Frau geworden, früher hätte sie solche sinnlichen Phantasien verabscheut. Jetzt aber genoß sie ihren neuen Geruch und Körper. Es war noch nicht lange her, da hatte sie ihre Scham in einer Spiegelscherbe betrachtet, voller Herzklopfen und der Angst vor unsichtbaren Blicken, obwohl sie ganz allein im verschlossenen Raum gewesen war. Aber jetzt sei sie schwanger, und dann müsse sie auch diesen Teil ihres Körpers kennen, hatte sie die Tat vor sich gerechtfertigt.

Und was sie sah, sie gestand es sich verlegen ein, war etwas Wunderschönes. Etwas, das sie stolz und glücklich machte; und zu Cheiras und Heiras Rührung und Freude hatte sie sich mit den beiden aufgeregt und ausführlich darüber unterhalten.

Eine Gelegenheit mehr für die beiden, ihr Lieblingsthema zur Sprache zu bringen: »Wir haben unsre Rührbutte beim Altwerden verloren, wir wissen nicht mal mehr, wo sie mal war«, sagten sie und lachten selbst über ihren Witz. Mit Baba Baluk hätte Mamurra nie über so etwas reden können: Der war an Details nicht interessiert.

Eine Eidechse war Zeugin ihrer Visionen und ihres Nachsinnens, mißtrauisch und jederzeit zur Flucht bereit.

Senunu kam den Hügel heruntergeflogen und störte ihre Tagträumerei. Nachdem sein Schwesterchen sich doch seiner Obhut entrissen hatte, übte er durchs Dorf rennend seine Flugkünste. Die Flucht der Schwester machte ihm Sorgen, er würde von der Mutter sicher kein Geschenk bekommen, wenn sich herausstellte, daß er nicht auf sie aufgepaßt hatte. Aber er beruhigte sich damit, daß er sie schon auftreiben werde, wenn der Wagen in der Ferne auftauchte. Er war ja nicht umsonst, trotz des Fehlschlags neulich und des Getuschels der Kinder, der schnellste von allen!

Ab und zu hopste er in die Luft, als wolle er sich in die Lüfte erheben, wollte fliegen, doch pflückte ihn die Schwerkraft aus der Luft, wo seine Füße noch wild strampelten, dann rannte er weiter, schneller schneller, streckte die Arme aus, brachte die Feigenblätter in Aufruhr. Der Esel wurde unruhig. Mamurra erhob sich mühsam und stieg keuchend den Hügel zum Haus der Zwillinge hinauf.

Das Billigste, was die Frauen auftreiben konnten, war ein verdeckloser Wagen mit einem Karrenlenker, der aus dem gleichen Holz gezimmert zu sein schien wie das Gefährt. Er war klein und hatte viereckige Knochen. Unklar war, was so knarrte, die Planken seines Fahrzeugs oder seine Schultern.

Jedesmal, wenn er röchelnd hustete, fielen Staub und Stroh von ihm ab. Die Frauen, durch den Aufenthalt in der Stadt kokett und anspruchsvoll geworden, konnten sich nur mit Mühe dazu überwinden, auf dem Karren Platz zu nehmen, und wedelten bei jeder Lungeneruption des Mannes vielfingrig die belegt riechenden Schwaden von sich weg. Kaum zu glauben, daß es ihnen bisher nicht aufgefallen war, wie – erbärmlich die Umgebung war, in der sich fortzubewegen sie gezwungen waren! Und dieser vollkommene Mangel an Manieren bei den meisten Männern.

Der Mann hüstelte unaufhörlich und mußte vom Staub, den er selber abgab, ständig niesen. Er nieste auf seine höchst eigene Art, es klang wie Habtschah, Habtschah!

»Sag dann doch wenigstens ›Hatschi!‹ wie jeder vernünftige Mensch!« rief ihm die älteste der Frauen mürrisch zu.

Der Karrenlenker verstand sie nicht richtig und entschuldigte sich: »Pardon, meine Damen, ich kann nichts dafür. Ich habe früher als Vogelscheuche gearbeitet.«

Die Frau wiederholte ihre Bemerkung, lauter jetzt, er aber lächelte nur hold und sagte: »Das können Sie laut sagen, ja ja, schwere Arbeit!« Die Krähen hatten ihn ertauben lassen.

Nach einer endlos erscheinenden Fahrt erreichte der Karren im Trab das Dorf, just zur Stunde, als der Nachmittag sich allmählich abkühlte. Sie stiegen aus, von ihrem Putz war nur noch wenig übrig, alles ein Opfer von Staub und Bazillen. Sie kamen zur richtigen Zeit, denn die Babys hatten gerade ein Gebrüll angestimmt, das nur Muttermilch stillen konnte. Sie bezahlten den Eseltreiber und eilten in die Häuser, bevor er ihnen danken konnte.

Senunu kam spät nach Hause geschwebt, erquickt von großen Schlucken Äthers, an Leib und Gliedern leicht. In der Ferne sah er einen Eselskarren davonschwanken. Der Mann auf dem Bock hopste immer wieder, begleitet von höchst ungereimten Lauten, auf und ab, und der ganze Wagen, inklusive Esel, hopste mit. Er brauchte die Peitsche nicht zu schwingen, die knallte von allein. So hopsten und hicksten sie vorwärts, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Senunu flog ins Haus, wo seine Schwester mit einem unausstehlich triumphierenden Blick, wie ihn nur Kinder haben können, an der Zuckerglasur eines Apfels leckte.

Vollkommen außer Atem flehte er seine Mutter an, sie möge ihm zuhören, er könne alles erklären, weil und dann, und er, und dann, und dann, und sie, ja, vor allem sie, ja sie, und er deutete mit sämtlichen Zeigefingern auf seine Schwester, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er weinte und seine Zunge raste im Schädel herum wie er am selben Nachmittag über die Felder. Echt, genau so war es!

Mutter stopfte ihm mit einem Apfel den Mund, sonst hätte er an diesem Abend nicht mehr aufgehört zu reden. Vor dem Einschlafen flüsterte er der Schwester mit klebrigen Lippen ins Ohr, was er wirklich von ihr hielt, und daß er es gar nicht ehrlich gemeint habe, als er am Morgen so lieb zu ihr gewesen sei, und daß es nie mehr, ganz sicher nie mehr vorkommen werde. Daran könne eine ganze Apfelplantage nichts ändern.

Sie aber ließ sich nicht einschüchtern und bedachte ihn mit einem so verblüffenden Schwall Schimpfworte, daß man hätte denken können, Cheira und Heira seien ihre Lehrmeisterinnen gewesen. Warm war ihrer beider Atem und süßsäuerlich.

Mamurra blieb bei den Zwillingen und kehrte auch nicht in ihr jetzt unbewachtes Haus zurück. Zwei Monate lang blieb es unbehelligt, dann wurde es aufgebrochen und in Besitz genommen. Man pflückte die Trauben und verkaufte sie teilweise. Das Haus wurde zum zusätzlichen Gemeinschaftsraum umfunktioniert: Im Hof wusch man Kleider und hängte sie zum Trocknen auf, Wäscheleinen kreuzten sich mit dem Haus und untereinander wie Telegrafendrähte, auf denen die Spatzen schliefen, und wenn das Dorf sich zum gemeinsamen Essen traf, dann wurde hier gekocht. Sämtliche Spuren Mamurras und Baba Baluks wurden getilgt. Man stritt sich um den Spiegel. Abends trafen sich hier heimlich die Jungen, um Zigarettenstummel zu rauchen, die sie tagsüber auf dem Schulweg gesammelt hatten.

Hier erzählten sie sich haarsträubende Sexgeschichten, ohne die Mädchen, die schickten sie erst weg.

Der Herbst hielt Einzug, nicht erkennbar an der Farbe oder den Niederschlägen, sondern nur an der Länge der Nächte; die Kinder, die Jungen, gingen zur Schule. Der Schreiber aus dem Basar – ah! sag nichts, was für ein Mann! – war gleichzeitig Lehrer, er arbeitete in einer Schule der Vorstadt. Der Schulweg der Kinder war sehr lang, sie verlümmelten, was die Mütter übrigens wußten, unterwegs mehr Zeit, als sie fürs Lernen aufbrachten. Dafür hatten die Frauen ihre Ruhe, die Jungen waren inzwischen kaum mehr zu bändigen.

Der Postbote kam und ging. Briefe brachte er nur wenig, dafür aber in unregelmäßigen Abständen einen Beutel voller Geld. Er sammelte auch das Schulgeld ein, wenig Münzen für wenig Wissen.

Weiße Eulen besuchten die Häuser und flogen von Fensterbank zu Dach. Sie heulten laut.

Vor und während der Geburt hatte Mamurra nur ein Thema: Baba Baluk. Sie beschimpfte ihn so, wie das sonst nur perfekte Mütter und Hausfrauen können. Warum nur hatte er einen Teppich der Marke Nevernym gekauft? Beschwatzen hat er sich lassen vom Händler, der ihn aus Prinzip so wenig leiden konnte wie die Dorfbewohner. Jeder wußte, und Cheira und Heira hatten ihm das auch mehrmals gesagt, daß ein Teppich der Marke Shlomon viel besser und zuverlässiger sei. Aber Männer und ihre Männersachen! Natürlich wollte der Teppichhändler an Baba Baluk seine schlechte Ware loswerden, die gute Ware war den anderen Männern vorbehalten. Sie habe selber gesehen, wie der Dorfälteste, der jetzt in der Erde vor sich hinschimmelt, sich übertrieben gestikulierend mit dem Teppichhändler unterhalten und dabei auf ihr Haus gezeigt habe. Gut, das Verhandeln war Männersache, das wollte sie ja gar nicht leugnen, doch was konnte ein Mann schon wissen über die Qualität eines Teppichs oder über dessen Knüpftechnik! Cheira und Heira waren Spitzenkenner, doch Baba Baluk hörte nicht auf sie, lieber vertraute er dem Dorfältesten und dem Teppichhändler, blind für deren Verachtung.

»Hör zu«, hatten die Zwillinge zu ihm gesagt, »ein Nevernym fliegt am Anfang ausgezeichnet, aber nach einer Weile läßt er sich immer schlechter lenken; er bockt wie ein cholerischer Esel und ist unberechenbar, außerdem franst er leicht aus und windfest ist er auch nicht.«

Aber er wollte ja nicht hören, dieser Depp, dieser Gimpel!

Sie hatte auf ihrer linken Seite gelegen, jetzt drehte sie sich auf den Rücken. Die Preß wehen setzten ein.

Cheira und Heira forderten sie auf, zu pressen und ihre Schimpfkanonade fortzusetzen.

Dieser Gimpel, dieses Mondkalb, dieser Grützkopf: Die Zwillinge freuten sich diebisch daran. Was für eine Stimme!

Und was für Worte!

»Taub und stumm sind sie, die Männer. Sie sehen nie was«, tobte Mamurra weiter. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie Baba Baluk ihre Einwände lächelnd weggewischt hatte, und wegen dieser einen Geste, wegen dieser einen Schiefmäuligkeit hätte sie ihn jetzt erwürgen können, ihm den Hals wringen wie einen nassen Mop.

Was sollte nur aus dem Kind werden?

Cheira und Heira blieb nichts übrig, als zu nicken und sie anzuspornen.

Ihre Vagina, die sie so bewundert hatte, zerriß zur großen Wunde, ein Schlachtfeld, aus dem das Kind wie ein Überlebender hervorkroch. Das verschmierte Köpfchen mit seidigem, wie mit Pomade eingeschmiertem Haar wurde sichtbar. Ein letzter Schrei der Mutter, und das Neugeborene zitterte in den Händen der Zwillinge. Der Junge kreischte, Kopf und Mundwinkel hingen traurig herab, als wäre er erkältet. Das schwarze Hodensäckchen schien viel zu groß zu sein für den kleinen Körper. Überall an ihm waren noch die Falten der gekrümmten Haltung zu sehen. Sie schnitten die Nabelschnur durch, wickelten ihn in ein Tuch und legten ihn auf Mamurras Busen, diese aber zerfloß gerade in einer Schmerzenswelt, war ein tauentfesselter Bach. »Mein Kind, mein Kind«, flüsterte sie weinend, »mein Kind, ich werde dich nicht verlassen.« Das wiederholte sie immer wieder, und bevor sie starb, sagte sie etwas, das Cheira und Heira nicht verstanden, die letzten Silben hörten sich an wie »bleiben«

oder »schreiben«. Offenbar delirierte sie, denn sie blieb weder noch konnte sie schreiben. Vielleicht meinte sie ja Baba Baluk damit, wer weiß. Es fiel eine vollkommene Stille, das Baby atmete schnell, die Zwillinge drückten Mamurra die Augen zu und legten sich das Kind, nachdem sie es nur mit Mühe der klammernden Umarmung der Mutter hatten entreißen können, auf den Schoß und ließen voller Trauer die Köpfe hängen.

Sie begruben Mamurra unter dem Feigenbaum. Jeden Abend besuchte eine Eule das Grab und stimmte eine monotone Elegie an. Cheira und Heira kümmerten sich um den Jungen, wie sie sich um Mamurra gekümmert hatten. Sie nannten ihn Baba Baluk, nach seinem Vater und Großvater. Er wurde gestillt und bekam vierzig Tage lang Harmel eingeflößt, damit er Kräfte sammeln und tief durchschlafen konnte. Sie beschmierten seine Handflächen mit Henna, damit die Fingernägel nicht wuchsen, färbten seine Augenlider gegen das böse Auge mit Indigo, und um den Hals knüpften sie ihm ein Amulett mit Harmel, gegen Erdgeister und die Mutter der Nacht, und ans Ohr hängten sie ihm einen Kupferring, abermals gegen das böse Auge. Trotzdem wurde das Kind später empfänglich für das Flüstern und Murmeln von Finsternis und Tal. Das Abqar-Tal war nun einmal ein Ort der Heimsuchung.

Mit zwei Jahren beschnitten ihn die Zwillinge, danach brach eine Zeit der Verwöhnerei an. Um die Knöchel schnürten sie ihm ein kleines Säckchen mit Salz und Kräutern, damit sein Striemelchen rascher verheilte. Sie legten ihn sich auf den Schoß und lausten ihn. Hörbar zerknackten sie die Tiere zwischen den Fingernägeln: »Da, guck mal, was für ein großer!«

Mit fünf nahmen sie ihn zum ersten Mal auf dem Esel mit ins Badehaus. Dort lehrten sie ihn die Funktionen seiner Anatomie und zeigten ihm auch das Schwalbennest, dem er entflogen war.

»Siehst du, aus solch einer Rührbutte bist du gekrochen, und eines Tages wirst du nichts lieber wollen, als dahin wieder zurück, und zwar mit deinem Lausewenzel hier.« Und sie deuteten auf seine kleine Rute, der sie diesen Ammennamen gegeben hatten. Ihr rauhes Gelächter brach sich an den Fliesen des Badehauses. Sie lachten nur noch selten. Nach Mamurras Tod war Trauer in ihren Herzen und in ihre Blicke eingezogen.

Im Dampf bewegten sich monsterhafte Schatten. Die beiden schrubbten den Jungen, als ginge es um Leben und Tod.

Abgestorbene Haut löste sich; wie schwarze Würstchen, sagten sie.

Baba Baluk erschrak zutiefst, als er Cheira und Heira nackt sah. Woher hätte er auch wissen sollen, daß die beiden siamesische Zwillinge waren? Er sah die grobe Naht, die sie an den Körperseiten miteinander verband, ein schlampiger, fleischiger Batzen Teig; jede von ihnen hatte ihr eigenes Herz und jeweils einen Arm; sie teilten sich ihre Rührbutte, und hätte Mamurra sie jemals so gesehen, dann hätte sie gewußt, daß die beiden nicht gespaßt hatten, als sie behaupteten, sie hätten vergessen, wo diese liege. Irgendwo zwischen den massigen Fleischfalten und der ewigen Dämmerung mußte sie geblieben sein. Sie hatten zwei Beine, die jetzt ausgestreckt auf dem Boden lagen und die sie gerade hingebungsvoll kratzen.

Wer von beiden die schwerere Last trug, war nicht zu entscheiden, und wer aus wem herausgewachsen war, auch nicht. Baba Baluk brach in untröstliches Weinen aus. Nach beendigter Waschung glänzte er in seinem neuen Gewand, das die Zwillinge für ihn gekauft hatten, wie Ebenholz. Das Sonnenlicht glitt an seiner Haut herab.

Als Baba Baluk sieben wurde, brachten Cheira und Heira ihn ins Abqar-Tal, zum Grundstück mit den Feigenbäumen, das er geerbt hatte. Sie gaben ihm einen Krummstab und eine Schäfertasche. Von nun an mußte er die beiden Ziegen seines Vaters hüten. Ein kleiner Bach, der gerade laufen gelernt hatte, holperte unter den Bäumen entlang, und Gras sproß dort für sein Vieh. Die jungen Halme bewegten sich im Wind, erstaunte Keimlinge in einer neuen Welt. Unter dem Baum hatte sich ein Findling niedergelassen, er hatte dort eigentlich nur etwas Kühlung gesucht und mußte jetzt erkennen, daß seine Reise hier zu Ende war: Er wurde zum Sitzplatz des jungen Schäfers. Dort aß Baba Baluk mittags Roggenbrot mit Käse und Oliven. Seine Fingerspitzen wurden ganz gelb von den Mandarinen und Orangen, die er Tag für Tag schälte und tropfend verschlang. Danach hielt er einen Mittagsschlaf.

Der Postbote verließ das Dorf. Weil um die Mittagszeit immer alle Siesta hielten, sah nie jemand, daß währenddessen Tag für Tag in einer Fata Morgana Paravion auftauchte: graue Kuppeln von alten Kirchen, verwitterte Kirchtürme, in denen Glocken zwar glitzerten, doch schwiegen, obwohl sie einst vermutlich lang und wohllautend geklungen hatten. Andere schlanke Türme überragten sie, zu welchen Gebäuden sie gehörten, war nicht zu erkennen, so hoch reichte die Fata Morgana nicht. Auf den Stromleitungen der Straßenbahnen schliefen die Spatzen, wunderliche Wolken schmückten den Azur, und überall an diesem glückseligen Ort atmete reiches Schattenlaub, eine grüne Antwort auf die Baumwolle, die am Himmel wuchs.

Der Postbote schauderte durch die Luftspiegelung, als führe er durch flappernde Schleiergewänder, er stoppte sein Solex vor den Toren der Stadt und stieg ab. Dann warf er sich die Posttasche über die Schulter, spuckte aus, nickte den Torwächtern zu und betrat Paravion.

II

1

Ein Mandelbaum blühte als erster.

Auf Befehl des Windes hin huben die Bäume im Tal an zu sprechen, sie schüttelten die Blätter wie Waschfrauen am Waschtag ihr Leinzeug, der Bach strömte entschlossen und brachte Abkühlung, die Feigen reiften. Im Wasser trieben Goldfrüchte, die die Sonne fallen ließ. Die Ziegen waren wohlgenährt, und in ihrem Meckern klang ein trauriges Vibrato. Baba Baluks Stirn war schön rund, er hatte den Mund seiner Mutter, die Oberlippe war bei den Schneidezähnen etwas aufgeworfen, die Unterlippe hing leicht herunter, ein kleines Becken bildend, in dem Speichel glitzerte und das das Zahnfleisch entblößte. Er hatte eine reizende, runde Stupsnase, und seine Wimpern wölbten sich stolz wie die Blätter einer vollerblühten Lilie. Im Weiß seiner Augäpfel lag ein weiter, diesiger Himmel. Die genetischen Wunder seiner Mutter glommen an verschiedenen Stellen. Der Rücken war hohl und der Bauch rund, sein Hintern sprang hervor. Die Sohlen seiner hornhäutigen Füße waren wie grobe gelbliche und rosafarbene Schuhe, weil er immer barfuß ging. Er war schweigsam, bewegte sich still und mit launiger Anmut, strahlte die junge Ruhe eines Kindes aus, das unerfüllte Wünsche gewöhnt war.

Cheira und Heira waren seine Mütter. Obwohl sie sich in einem Sarkophag aus apathischer Schwermut zu bewegen schienen, war ihre Liebe für das Kind überschwenglich. Die Kräfte hatten sie zum großen Teil verlassen, die Dorfjungen, die sie jetzt in Ruhe ließen, hatten keine Ahnung, daß ihre verkrümmten Finger kaum noch zwicken konnten. Sie waren vertrocknet und knotig wie Reisigholz und würden vermutlich zerbrechen.

Wie schon bei seiner Mutter war es eine intensive Liebe, die sich nur körperlich zum Ausdruck bringen ließ. Und wie zärtlich sie ihn zwickten und mürbe drückten! Die Milch, mit der er gestillt worden war, hatte gute Arbeit an seinem Skelett und seinen Muskeln getan. Zum Frühstück bekam er Honig, Datteln und Feigen und zum Abendbrot verschiedene Arten Fleisch und Gemüse und Kartoffeln.

Alles, was geschah, ertrug er mit großer Gelassenheit, mit Weisheit, wie es schien, doch kann man Einfältigkeit und Weisheit bei einem Kind oft nur schwer unterscheiden. Jeden Nachmittag, wenn die anderen Kinder aus der Schule kamen, stürzten sie sich auf ihn und ließen Füße und Fäuste auf ihn niederprasseln. Wehrlos nahm er die Tracht Prügel entgegen, ohne sich bei seinen Müttern darüber zu beklagen, und winkte seinen Peinigern sogar noch nach, nachdem er sich aufgerappelt hatte und sie davongerannt waren, enttäuscht, weil er nicht weinte und nicht schrie. Die Aggressivität der Kinder war unerklärlich, für Baba Baluk war sie ein selbstverständlicher Teil seiner Kindheit, die sich an der Schwelle zur Jugend bewegte. Nur Senunu hielt sich abseits, er hatte himmlische Weiten zu erkunden.

Was das Kapitel Dorfjungen und Schule betrifft, so vergaßen diese alles, was sie morgens im Unterricht lernten, mittags während ihres langen Nachhausewegs schon wieder. Am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schule erinnerten sie sich dann vage an den Unterrichtsstoff, an Schatten von Lehrerworten, an Geisterfragmente aus Büchern, die in den Maschen ihres Gedächtnisses hängengeblieben waren.

Leichter und rascher lernten sie dagegen Rauchen und Masturbieren. Einer von ihnen tat dies sogar immer wieder während der beklemmend öden Unterrichtsstunden, die bloß aus Vorlesen oder Wörterlernen bestanden. Wie er sich unbemerkt einen Schleimbatzen, eine Mischung aus Luftbläschen und Speichel, es sah aus wie Froschlaich, in die Handfläche spucken konnte und sich ohne hörbare Schmatzgeräusche einen abhobelte, war ein Geheimnis und ließ sich gewiß nicht in Schulbüchern ergründen. Der Lehrer bemerkte es nie, obwohl die Jungs hinter vorgehaltenen Händen kicherten.

So geschickt schon die jungen Mädchen das Haar nach hinten streichen können, um es in einen Pferdeschwanz oder einen Knoten zusammenzubinden, so versiert waren die kleinen Jungen im Onanieren.

Über dem Schulhof voll mit Kies und Stimmen schwebte Senunu umher und sah unter sich das Chaos aus spielenden und, was öfter der Fall war, sich prügelnden Kindern. Unter einem Vordach befand sich die offene Hölle nie gereinigter Latrinen. Sie waren so ekelerregend, daß der verlegenste Junge der Klasse sie nicht zu betreten wagte. Weil der arme Knabe aber keine Kontrolle über seinen Schließmuskel hatte, geschah es, daß er aufgrund dieser Empfindlichkeit fast täglich die Schule mit einer wohlgefüllten Hose verließ, als trüge er noch Windeln, die er zeitlebens nie getragen hat, und mit einer Schar Fliegen als Gefolge. Natürlich war er das Gespött der Schule, aber verdroschen wurde er nie; er hatte ja auch ein sehr wirksames Abwehrgeschütz. Die Hiebe bekam er dann zu Hause, was seiner Sauberkeit nicht unbedingt Vorschub leistete. Einmal half ihm Senunu, sich und die Hose beim verlassenen Brunnen zu waschen. Zusammen warteten sie, bis die Hose, schwarzgestreift und rosa, getrocknet war, Senunu hielt den Arm um die Schultern des Jungen gelegt. Danach gingen sie nach Hause, glücklich, stolz und sich einer gewaltfreien Heimkunft sicher.

Warum er so spät sei? erkundigte sich die Mutter mit bereits erhobener Hand. Warum sie ihn das frage, wenn sie es gar nicht wissen wolle, wunderte sich der Junge, während er in eine Ecke gekauert sich Herz und Lungen herausplärrte und über seine schmerzenden Stellen strich. Zum Glück mischte sich sein Vater nicht ein, das ersparte ihm eine weitere Tracht.

Er schwor sich jedoch, daß er nie, nie im Leben diese Latrinen betreten werde. Dann lieber eine Tracht Prügel. Oh, paradiesische Kindheit.

Dabei war es keineswegs so, daß die Jungen etwaige Züchtigungen, die sie auf der Schule erlitten, an Baba Baluk abreagierten. Der Lehrer, der zerstreute, melancholische Schreiber, schlug sie nie. Zu blöd nur, daß einer der Schüler dies dem Vater erzählte, der sogleich am nächsten Tag in der Schule auftauchte, den Sohn wie den Lehrer verfluchend, weil sie ihn zu diesem Gang nötigten. Also schloß er seine Frau im Haus ein und ging die Asphaltstraße entlang zur Schule, als bestiege er einen Berg. Beim Schultor nahm er den Lehrer beiseite und brachte laut und empört sein Anliegen vor.

Warum er die Kinder nicht schlage? Was für eine Unterrichtsmethode der gute Mann sich einbilde? Wie er den Kindern auf diese Weise etwas beizubringen gedenke? Und während er so sprach, hackte der Mann in die Luft, als ob er in der Hand eine unsichtbare Gurke hielte. So, so müsse man das machen.

»Ein Kind hat Rechte, Herr Lehrer, und Sie haben Pflichten!«

Der Lehrer hörte geistesabwesend zu, ließ ab und zu seinen Blick schweifen, nickte und versprach Besserung, worauf er die noch immer zuhackende Hand des Mannes, nachdem er sie einige Male vergeblich zu haschen versucht hatte, endlich fing und schüttelte. Der Mann entfernte sich ächzend und zufrieden über die zweifellos bevorstehende Veränderung. Zu seiner Frau sagte er, daß jetzt alles gut werde.

Die Jungen saßen gelangweilt in ihren Schulbänken, die Fingerspitzen violett von der Tinte, die Hefte voller Flecken und Tätowierungen. Das Klassenzimmer besaß keine Fenster.

Und trotzdem hatten die Kinder einen Blick, als starrten sie durch Fenster in eine schummrige, augenermüdende Landschaft. Die Schulglocke läutete, und sie schreckten zusammen. Weg waren sie.

Baba Baluk trieb die beiden Ziegen bimm-bammelnd den Hügel zu seinem Haus hinauf. Sein Körper schmerzte von all den Schlägen. Das Abendrosa legte einen sanften Schleier über Felder und Berge. Ein Gefühl der Sicherheit und des Glücks erfaßte Baba Baluk. Er hatte die Schmerzen im Bach abzuwaschen versucht, und jetzt prickelten seine Glieder vor Sauberkeit. Er hatte im Wasser geplanscht, umfangen von goldnem Staub und grünem Schatten, umweht von einer Brise wie der Atem aus dem Mund eines Mädchens, das Erdbeeren und Zitronen gegessen hatte. Die Bäume hatten bereitgestanden mit ausgebreiteten Handtüchern, gewebt aus Sonneneinschlag und Chloroformschuß, flaumige und weiche Herbstbaumwolle. Weiß und rot spielte das Licht in seinen geschlossenen Augen, ein Sturz in die Tiefen seiner Pupillen.

Die Ziegenglöckchen hatten sein Bad begleitet, Musik, die ihn stets umgab und am Morgen weckte.

Während des Abwaschs nach dem Abendessen fragten die Mütter die Jungen, was sie in der Schule gelernt hätten. Die Mädchen hörten, den Daumen im Mund, der Geschichte schläfrig zu, jeden Abend dieselbe, denn es war die einzige Geschichte, die die Jungen sich merken konnten. Die Mütter unterbrachen sie, um die Daumen aus den Mündern ihrer Töchter zu ziehen.

»Hör auf, am Daumen zu lutschen!« sagten sie dann. »Sonst darfst du nicht mehr zuhören.«

Die Mädchen zuckten mit den Schultern, na und? Erpressen ließen sie sich nicht. Außerdem wollten sie ihren Brüdern nicht das Gefühl geben, daß sie ihnen gerne zuhörten.

»Ich verstehe nicht, was daran schmecken soll«, sagten die Mütter, nicht zum ersten Mal.

»Es schmeckt nach Tomaten und Bananen«, parierten die Mädchen, die Mundwinkel naß vom Speichel, schwer verständlich, als kauten sie tatsächlich auf Tomaten und Bananen.

Dann erzählten die Jungen die Geschichte weiter, die der Lehrer so oft schon vorgelesen hatte. Die Geschichte spielte in einer Schule irgendwo auf dem Land. Eines Tages fragte der Lehrer die Kinder in der Schule ab, die nur aus einem Klassenzimmer bestand, wie man auf dem Bild im Buch sehen konnte. Jedesmal, wenn einer der Schüler die Antwort nicht wußte, wurde sie durchs offene Fenster hereingerufen.

Nachdem dies einige Male geschehen war, ging der Lehrer hinaus, um das Orakel zu suchen. Und was war es? Ein Schäfer, der seine Schafe immer in der Nähe der Schule hütete, saß zusammengekauert unter dem Fenster. Er wußte die richtigen Antworten. Unter dem Fenster versteckt verfolgte er den Unterricht, und er war so wissensdurstig – der Lehrer runzelte die Brauen und warf einen Blick auf seine Klasse –, so wissensdurstig war er – er wiederholte das Wort extra noch einmal –, daß er sich alles merkte. Davon beeindruckt beschloß der Lehrer aus dem Buch, daß der Schäfer von nun an am Unterricht teilnehmen dürfe. Und er wurde der beste Schüler von allen und später ein berühmter Wissenschaftler, was für ein Streber.

In Augenblicken wie diesen vermißten die Jungen ihre Väter, die für solche Gelegenheiten immer eine passende Bemerkung parat hatten, wie auch für den Fall, daß die Frauen wieder mal die Leier herunterrasselten, wie ungeheuer wichtig die Schule und das Lernen doch seien.

»Wenn du zur Schule gehst«, sagte die Mutter und streichelte ihren Sprößling voll antizipierender Hoffnung, »lernst du lesen und schreiben. Und dann wirst du ein berühmter Wissenschaftler, und Mama ist ganz stolz auf dich.«

»Ein Wissenschaftler?« Vater warf ihr dann einen Blick zu, als hätte sie gesagt: ein Stricher. »Pah, er soll lieber lernen, wie man Kartoffeln anhäufelt.«

Solche Dinge knüpften das Band zwischen Vater und Sohn enger.

Die Mädchen waren inzwischen eingeschlafen. Sie hatten die Geschichte schon so oft gehört.

2

Die Ziegenglöckchen weckten Baba Baluk und begleiteten ihn den Hügel hinab. Die Ziegen grasten und fraßen Kakteen und Olivenblätter. In der Ferne sah er die Jungen zur Schule gehen, rennen, hopsen, sich schubsen und sich fangen. Er setzte sich auf einen Stein. Die Stimmen erstarben, und süß und beruhigend drang in sein Ohr das Läuten der Ziegenglöckchen.

Irgendwo testete eine Grille ihr Morsealphabet, ein Kuk-kuck zählte eine Ewigkeit von Stunden auf, eine Krähe krächzte, ein Frosch furzte, der Esel iahte, doch nichts war lauter als das bimmelnde Läuten der Ziegenglöckchen.

Der Himmel öffnete sämtliche Pforten, um Raum zu schaffen für die Sonne, die zenitwärts kletterte, die Stille traf Vorkehrungen für die Siesta, die Frauen in den Häusern hielten ihre Morgenrituale, die sieben Mädchen, ein paar Monate älter als Baba Baluk, lümmelten gelangweilt herum. Wie jeden Morgen rochen die Häuser nach benutzten Latrinen und Krauseminzetee. Aus dem ältesten der Mädchen, einst mit begehrenswerten Rundungen ausgestattet, in der Jugend gereift, war inzwischen ein gemütliches Magoggelchen geworden, das vom Heiraten träumte. Im Haushalt wollte sie nicht mithelfen, manikürte sich die Nägel und war hochnäsig wie eine junge Braut. Ihre Mutter, die älteste unter den rasch alternden Frauen, konnte ihr Bett nicht mehr verlassen, ermattet vom Leben und Gebären; sie sollte noch am selben Tag im Mittagsschlaf sterben. Die restlichen Frauen, nicht nur die Mütter, sondern auch die Jungfern, würden sie überleben und in Altersschwachsinn versinken. Baba Baluk hatte noch den Schlaf in den Gliedern und Lidern und war wie hypnotisiert vom Läuten der Ziegenglöckchen.

Im ingwerfarbenen Innern ihres Häuschens, das nach gefolterten Kräutern und deren pulverisiertem Geist roch, saßen Cheira und Heira und starrten traurig ins Leere. In Ritzen und Schlitzen wartete der Tag, ohne die Erlaubnis zu erhalten, eintreten zu dürfen. Nach einem Seufzer nahmen sie die Arbeit wieder auf, wie ein Rosenkranz glitt eine Blütenkette durch ihre verschrumpelten Finger, in der Ferne hörten sie die Ziegen. Sie hielten das Collier hoch, an dem sanft Blüten von Granat, Mandeln und Zitronen baumelten, Marionetten gleich, die sprachen mit geliehenen Stimmen, in diesem Fall dem Läuten der Ziegenglöckchen.

Die Schulglocke ertönte, und die Schüler stürmten aus den Klassenzimmern. Der Lehrer nahm sein Feuerzeug, Marke Zarolho, aus der Brusttasche, und sofort flammte eine prometheische Glut auf, welche seine Zigarette, Marke Casa Sport, in Brand setzte, sie schien nicht aus Tabak, sondern aus Reisig zu bestehen. Nikotin und Teer sengten Löcher in des Lehrers Lungen, wie Reißzähne trat der Rauch aus seinen Nasenlöchern. Auf der Galerie stehend, ließ er den Blick über den Hof schweifen. Die Stimmen hatten den Platz verlassen, und es herrschte jene außergewöhnliche Stille, wie sie nur auf Schulhöfen vorkommt: eine flirrende Stille, als wären die Stimmen nicht verschwunden, sondern holten nur kurz Atem, um gleich wieder losplappern zu können. Eine Stille mit Erinnerungsvermögen. Und rund um Baba Baluk herum wurde die Stille mit kurzen Klapsen verjagt vom Läuten der Ziegenglöckchen.

Was für ein lärmiges Land, dachte der Lehrer; während auf weitgestreckten Ebenen und in schroffen Bergpässen die Stille über eine Bevölkerung aus Grillen regierte, wurde dieses Schweigen andernorts übermäßig kompensiert, nämlich dort, wo sich die Menschen drängten, sei es in Siedlungen, Dörfern oder Städten. Dort war das Reich der Stimmen, wie jetzt im Basar, den er betrat, um sich an seinen Tisch zu setzen. Er nutzte die Mittagspause stets, um sich als Schreiber zu verdingen. Der Apfelverkäufer kam gleichzeitig mit ihm dort an, die glasierten Früchte umkränzt von jungen Blättern. Auf einem staubigen Feld luden die Disteln die Ziegen zu einer Mahlzeit ein; die Tafelmusik oblag dem Läuten der Ziegenglöckchen.

In der Stadt drängelten sich die sieben Jungen vor dem Eisverkäufer, er hatte lediglich drei Sorten Eislollis im Angebot: rot, farblos und weiß. Das rote Eis bestand aus gefrorenem Wasser mit Farbstoff und schmeckte wie das farblose: nach nichts. Das weiße aber bestand aus gefrorener Milch und lag in einem Extraeisfach. Mit dem Zahnstocher in jedem Würfelchen sah es aus wie ein kleiner Nordpol mit Polstange. Echtes Eis, pistaziengrün, erdbeerrosafarben, zitronengelb und negerleinbraun-schokoladig, luftig wie gefärbte Baumwollzausel, in echten Waffeln und Hörnchen, gab es bei anderen Eisverkäufern, doch dafür reichte ihr Geld nicht. Der Eisverkäufer trank eine Orangina, Flöhe aus Kohlensäure sprangen auf und ab, und die Eiswürfel klickerten gegen das Glas und klangen wie das Läuten der Ziegenglöckchen.

Es war Zeit für den Nachmittagsunterricht, der Lehrer stieg gemächlich die Treppen zum Klassenzimmer hoch, wo alle acht Schulbänke leer waren. In der Ferne kauerte ein Junge einsam vor einem Bach und wusch weinend seine Hosen, ein Kranz aus smaragdfarbenen Fliegen umsummte ihn erst und trollte sich dann enttäuscht. Er schluchzte und wischte sich die Tränen weg, die trotzdem weiterflossen. Seine Wangen waren so rot wie der ausschlaggerötete Hintern. Er wurde schlichtweg windelweich gedroschen. Irgend jemand sollte mal ausrechnen, wieviel Liter Tränen in einer Kindheit durchschnittlich vergossen werden. Er hängte die Hose auf, und als sie trocken war, zog er sie an und ging nach Hause. Dort schlich er sich ins Haus, Vater schlief angestrengt, Mutter war beim Hühnerfüttern hinterm Haus, wobei sie sich mit der Nachbarin unterhielt, man konnte ein Gegacker kaum vom anderen unterscheiden. Er wußte nicht, was er tun sollte, wenn sie ihn jetzt entdeckten, kassierte er eine Tracht Prügel, weil er die Schule schwänzte, käme er später zurück, erwartete ihn wieder eine Abreibung, weil seine Mutter ihm nicht glauben würde, daß er unbesudelt den Tag überstanden habe. Denn wie gründlich er auch wusch, die Mutter fand stets ein Zeichen an seiner Hose; waren es nicht gelbe Streifen, dann trockenharte Falten im Hosenstoff. Also beschloß er, später wiederzukommen, und schlenderte über die dunstigen Felder, wo ihm ums Herz ganz wehmütig wurde vom Läuten der Ziegenglöckchen.

Als die Jungen mit dem Lecken fertig waren, bereuten sie es, ihr Geld für Schmelzwasser ausgegeben zu haben. Die Zahnstocher wippten zwischen ihren Lippen. Der Geschichtenerzähler gestikulierte heftig und bannte darauf mit ausgestreckter Hand – »Hört zu!« – die atemlose Aufmerksamkeit. Beim Kiosk, er hieß Sidi Garrot, suchten sie nach Zigarettenstummeln, fanden aber nur eine Münze und wurden schließlich vom griesgrämigen Verkäufer verjagt.

Beim Kino »Coulisses« starrten sie begierig auf die zerfetzten Filmplakate und seufzten traurig. Ein Mann, der gerade eine Eintrittskarte kaufte, fragte sie, ob sie hinein wollten. Sie zeigten ihm zur Antwort das Futter ihrer Hosentaschen.

Er nickte und sagte: »Wenn ihr hier auf mich wartet, erzähl’

ich euch nachher den Inhalt.« Er lachte und tauchte in die Unterwelt ein. Ein schwarzer Wasserverkäufer in langem rotem Hemd, dessen Saum er unter den Gürtel gesteckt hatte, einen Wassersack aus Ziegenleder über die Schulter geschnallt, mit weißer Pumphose, gelben Babuschen, bimmelte mit einem Kupferglöckchen, ein Geisterecho vom Läuten der Ziegenglöckchen.

– Sicheln. Linien und Sicheln ratterten der Esel und der Karren. Die Jungen blieben stehen, als sie einen Trauerzug sahen. Der taube Karrenlenker war in den Sielen gestorben.

Seine mit Stroh gefüllten Lungen hatten keine Luft mehr bekommen, er hatte sein gesamtes Phlegma ausgehustet, von den Lymphdrüsen gekratzt wie Essensreste aus einem zerbeuteln Topf. Mitten auf dem Marktplatz der Stadt waren Leben und Karren plötzlich stehengeblieben. Nicht mal der Höllenlärm der Hupen konnte ihn noch wecken, und hätte es auch nicht gekonnt, wäre er noch am Leben gewesen. Seine Leiche wurde auf dem Karren aufgebahrt, um zum Friedhof gebracht zu werden. Freunde, Familienmitglieder und Krähen folgten ihm. Der Esel war so daran gewöhnt, daß sein träger Schritt von einem Husten unterbrochen wurde, der ihn und den Karren hochhüpfen ließ, daß er dies auch jetzt noch tat, obwohl sein Herr und Meister sich nicht mehr rührte. Alle paar Meter hickste der Karren, und die Leiche federte mit: Linien und –

hops – Sicheln, so rhythmisch wie das Läuten der Ziegenglöckchen.

In den grünen Tälern, wo Anemonen blühten, hütete ein alter Schäfer seine Herde und zerriß mit seiner Schalmei die kühle Stille. Das Echo erwiderte das Pfeifen. Am Narvelmeer zog der Fischer die Netze ein, schwer von Leichen und zappelndem Silber. Um ihn herum flatterten weiße Eulen und fragten »u-hu?«, um wieviel trauriger war dieser Gesang als das Läuten der Ziegenglöckchen!

In der Fata Morgana wurde Paravion geboren, ein Spiel aus flirrenden Linien und ineinander verschwimmenden Farben.

Die Kirchtürme schwiegen vor einem Hintergrund aus buckligen Wolken, die Glocken waren alt, und aus einer kaum sichtbaren Vergangenheit vernahmen sie, als wäre es eine Erinnerung aus Kinderzeiten, ihr eigenes Gebimmel wie das Läuten der Ziegenglöckchen.

In der Bar Zach erzählten sich der Postbote, der Teppichhändler und der magere, noch lebende Eseltreiber Geschichten und schlürften süßen Minztee. Das Teehaus barst von Stimmen und haarsträubenden Geschichten. Draußen blühte ein Baum mit glasierten Äpfeln, die Zweige bogen sich unter der Last, und die Früchte schwankten auf und nieder, noch nicht ganz reif. Sie glänzten wie Billardkugeln. Der Eingang des Teehauses war mit einem Perlenvorhang verhängt, jeden Neuankömmling mit einem leisen Klimpern ankündigend, das klang wie das Läuten von Ziegenglöckchen.

Unter den Feigenbäumen hing eine absinthgrüne Glut. Baba Baluk aß sein Brot, die Oliven und den Käse und schlummerte langsam ein. Ein unsichtbares Moped summte. Er schrak auf, blinzelte, sah fern in der Fata Morgana einen dunkelroten Schleier flirren, eine Spiegelung des Sonnenlichts womöglich.

Im Hintergrund zählte der Kuckuck eine Ewigkeit von Stunden auf, ohne dessen müde zu werden, die Grillen zirpten, das Bächlein war aufs Zungenreden verfallen. Süß drang ihm ins Ohr und verwandelte sich dort in etwas anderes das Läuten der Ziegenglöckchen.

Baba Baluk spürte etwas an der Schulter und erwachte langsam. Er blinzelte träge, die Augen wollten sich nur widerwillig öffnen. Traumfetzen kämpften mit der Umgebung um Vorrang. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, gähnte, streckte sich und sah auf. Um ihn herum standen die Dorfjungen, übersät mit Flicken aus Schatten, Sonnenlicht und Ultramarin: Es war Zeit für seine Tracht Prügel. Sie waren früh heute; das Schulschwänzen hatte ihrer Laune merkwürdigerweise gehörig Abbruch getan. Draußen vor seinem kleinen Garten sah der Schäfer, wie Senunu fliegend seine Kreise zog.

Er nickte und wollte sich erheben, wurde aber daran gehindert. Die Jungs gingen zum Angriff über, drückten ihn zu Boden, traten ihn und zogen ihn durch den Staub. Die Ziegen rannten davon. Es war ein Ritual, das Baba Baluk in- und auswendig kannte, und weil er wußte, wo und wann welcher Schlag und welcher Stoß erfolgen würden, wußte er auch, welche Haltung er einnehmen mußte. Also warf er sich auf die eine Seite, um den schlechtgezielten Tritt in die Lenden zu empfangen, dann auf die andere, um eine Faust im Rückgrat zu spüren; auf dem Bauch liegend erhielt er einen Tritt gegen den Hinterkopf; instinktiv verdeckte er sein Gesicht und preßte die Beine steif aneinander, um sein Leben zu schützen. Vielleicht machte es den Jungen deshalb so wenig Spaß; ihre Aggression war lustlos, pflichtgemäß, ihre Schläge waren ohne Elan.

Selbst das Spucken machte ihnen Mühe, Speichel, rot vom Eis, flog ihm matt um die Ohren, der Masturbant aber hatte seine Mundflüssigkeit bereits aufgebraucht.

Mißvergnügt ließen sie von ihm ab und rannten davon. So machte das Ganze keinen Spaß. Senunu wollte hinter ihnen herlaufen, hatte aber vergessen, daß er in einem Baum gelandet war, und stürzte ab. Humpelnd und zusammengekrümmt, die Flügel zerzaust, stolperte er weiter, ihm war schlecht vor Schmerz. Der Schäfer, der nicht begriff, was los war, stand auf, ging zum Bach, zog sein ockerfarbenes Gewand aus und stieg ins Wasser. Im Laub bewegte sich etwas, sprang von einem Baum zum anderen, große Flügel schossen vorbei, ein goldnes Gekräusel. Als er einen Schlag zwischen den Schulterblättern spürte, erstarrte er für einen Augenblick.

Plötzlich war da dieses Mädchen. Wie es beschreiben? Stück für Stück, so wie Baba Baluk es gewahrte, während er den Kopf hob? Auch eine Eidechse, unterwegs wer weiß wohin, hielt einen Augenblick inne, um das Mädchen zu betrachten.

Es starrte ins Leere, die Spiegelung des Wassers glitt über sein Gesicht und die leicht gebogenen Schienbeine, ein Kettenpanzer aus Schleiern. Die junge Frau trug ein ärmelloses Kleid aus weinroter Gaze, durch die neblig ihr heller Körper rosa schimmerte. Ihre großen Zehen bogen sich aufwärts, berührten den Boden nicht, ragten aus den übrigen geordneten Zehen mit muschelfarbenen Nägeln hervor. Ihre Knie, unbedeckt von der Aurora ihres Schleiers, hatten die Form von Birnen, Ausbeulungen in glatten, schlanken, geschmeidigen Beinen. Sie war hellhäutig, von fast krankhafter Blässe, wäre da nicht die Sonne, die sich erfreute an diesem Weiß, auf das Gelb und Grün gekleckert waren, glänzend wie Ölfarbe, Farbstudie für einen Zitronenbaum. Sie sah müde aus, schien eine lange Reise hinter sich zu haben. Sie schüttelte ihre Glieder, strich unsichtbare Knitterfalten glatt. Die Blätter rauschten.

Unter Wasser bedeckte Baba Baluk mit beiden Händen seinen schwimmenden Lausewenzel, der einzige Fisch, der in diesem Bach leben wollte. Sie sah ihn an und lächelte mit Lippen wie ausgestreckte Ibisflügel. Ihre schmalen Schultern hingen kopfstehenden Fragezeichen gleich unter den Strähnen ihrer rabenschwarzen Locken. Die Welt zog sich probeweise ein Glitzerkleid an und betrachtete sich in den Spiegeln ihrer Augen, aus denen plötzlich alle Farbe wich: Die Sonne schien darauf.

Der Schäfer wußte nicht, was er tun sollte, er starrte auf seine Beine, die unter den Wasserriffeln tanzten. Dann hob er wieder den Kopf und hoffte insgeheim, sie wäre verschwunden. Sie aber hatte sich ans Ufer gesetzt.

Langsam stippte sie ihre flaumigen Finger ins Naß und zog Schnörkel und Kringel ins Wasser, eine unleserliche Handschrift. Ein paar Locken fielen ihr in die Stirn, neugierig, was die Hände da taten. Aus hochgezogenem Mundwinkel blies sie sie weg. Die Wasserrillen versuchten, ihre Hände mit sich zu ziehen, bildeten ein Kreiselnest für etwas, das sie wohl für einen kleinen Schwan hielten. Das schien sie zu erfrischen, ihre ganze Haut sog die Feuchtigkeit auf.

»Mein lieber Baba Baluk«, hob sie an. Was anfangs ausgesehen hatte wie blaue Reflexe im Haar, waren jetzt tatsächlich blaue Blumen, Flachs. Sie schöpfte Wasser und führte die gekrümmte Hand zu ihrem getüllten Mund, wie neugeboren bebte das Wasser in der Hand. Sie trank und zupfte danach mit nassen Fingern an ihren Weidenlocken.

»Warum läßt du dir das gefallen?«

Der Kuckuck rief ein paarmal seinen eigenen Namen. Sie schöpfte noch einmal aus dem Born, eine Nabelschnur aus Wasserzapfen zwischen den Fingern, eine weitere Geburt. Jetzt war sie gelabt, die Augen erquickt, das Gesicht taubedeckt.

»Man kann sich verteidigen. Und nicht nur mit den Händen.«

Sein Gewand lag zu weit weg, um es erreichen zu können, auch sein Stock und sein Schäfersack, welcher ihm als Feigenblatt hätte dienen können, dessen Kumpane sich übrigens ebenfalls außerhalb seiner Reichweite bewegten.

»Du bist noch nicht sehr reif.«

Jetzt erhob sie sich resolut, griff sein Gewand und setzte sich auf einen Felsen.

»Komm und hol es dir.«

Er hätte heulen können. Sie hatte die Knie aneinandergepreßt, die Zehen aufgestützt und zog die Schultern hoch, als sie das Kleidungsstück an die Brust drückte. Nacht, Morgenabendrot und ein noch unvollendeter Mond – daraus bestand sie. Ihre Augen waren verschattet, die Arme samtüberzogen von haarigem Licht.

Langsam stieg Baba Baluk aus dem Bach, das Wasser glitt in Schlieren von seinem Körper wie von einem Felsbrocken, und trat auf sie zu. Sein Fisch schwappte hin und her.

»Du bist«, sagte sie, während sie genau hinschaute, »du bist«, wiederholte sie mit so etwas wie Bewunderung und Erfahrung in der Stimme, »groß geworden.« Und brach in ein Lachen aus. Dann gab sie ihm sein Gewand zurück, das er verkehrt herum anzog.

»Es gibt so viel, was ich dir erzählen muß«, fuhr sie fort,

»und noch viel mehr, was ich dir beibringen muß. Komm her und hör zu.«

Es kam zu einer kleinen Rangelei, als sie versuchte, ihn an sich zu ziehen, und er sich wehrte. Im Baumgeäst erhob sich ein Aufstand, die Ziegen stürzten davon, schleiften die Stengel der Disteln mit, die Zweige schienen den Armen des Mädchens beizustehen. Schäfer und Mädchen waren in ein Gestrüpp gestürzt. Er kullerte in ein Wirrwarr aus weichen, aber starken Armen, Zweige und Äste pieksten ihn. Schließlich gab er jeglichen Widerstand auf und lag in ihrer Umarmung. Ihr Atem war warm und süß, als hätte sie gerade warme Erdbeeren gegessen, ihre feuchten Handflächen unter seinem Kinn rochen nach Anis, die Spitzen ihrer Locken kitzelten ihn an der Stirn.

Er legte seinen Kopf auf ihre Hüfte.

Wunderbar war das Geräusch des Windes im Feigenbaum und wunderlich der Laut des kleinen Bachs, als er die Augen schloß und sich sogleich in einer Welt befand, deren Inneres mit dem Stoff ihres Kleides gefüttert war. Ihr Atem hollerte ihm über das Gesicht. Sie umschloß ihn wie die Schale einer Frucht das Fleisch. Als sich auf ihrer Haut die Haare stellten, fühlte sich das an wie die Oberfläche handgeschöpften Papiers, ansonsten aber war sie nestwarm und daunenweich.

Im Bachbett glitzerte ein Goldpfeil.

»Hör zu!«

Schon bald nach der Abreise bekam Baba Baluk Probleme mit seinem fliegenden Teppich. Die Männer des Dorfes saßen auf einem Teppich der Marke Peri Banu – »Die hatten einen, logisch!« klagte Mamurra bitter –, der Dorfälteste hatte den Männern das Fluggerät zur Verfügung gestellt. Ein Familienteppich mit einer Tragekapazität von genau sieben Personen, nicht mehr als achthundert Kilogramm, wie auf dem Etikett zu lesen stand, und: Nicht in Kontakt bringen mit Wasser und Frauen. Frauen durften keine Teppiche fliegen.

Während er behende von einer Sphäre zur nächsten kletterte und an die Vorhaltungen seiner Frau dachte, lächelte er und hatte Respekt vor der Weisheit des Teppichfabrikanten:

»Kinder (m/ – ) nur unter väterlicher Aufsicht«. Er würde seinem Kind das Fliegen beibringen.

Die Männer flogen an ihm vorbei, und er sah sie in einer weißen Wolke verschwinden.

Das war ihm egal, er hatte es nicht eilig, doch als der Teppich immer öfter stotterte, ins Schwanken geriet und abwich vom Kurs, machte er sich doch Sorgen. Er klammerte sich an den Teppichrändern fest, voller Angst, abgeworfen zu werden, und hielt den Blick starr auf einen Punkt gerichtet, als säße er zum ersten Mal auf einem Pferd. Höher und höher flog er, sein Atem ging schneller und tiefer, er bekam Kopfschmerzen, und es wurde ihm schlecht. Erst als Nevernym eine störungsfreie Himmelsbahn gefunden hatte, eine bequeme Position zwischen den Windböen, die Baba Baluks Ohren zum Sausen brachten, entspannte er sich und gab sich dem himmlischen Rausch und der Ekstase des Fluges hin. Wie der Äther ihm Kopf und Lungen füllte! Er kam sich ganz durchsichtig vor, seiner sterblichen Hülle entledigt, und das Herz schlug und hämmerte ihm vor irrsinniger Freude, die Adern erneuerten sich in reinster Luft, Sauerstoff putzte seine Organe durch und brachte sein Gehirn, eine wimmelnde Masse Wahnsinn, fast zum Explodieren. Ihm war, als müsse er nicht mehr atmen, sondern wäre davon befreit. Bizarre Visionen und Lichterspiele tanzten vor den geblendeten Augen. Ein azurnes Brüllen schnitt ihm die Luft ab und zerriß seine primitiven Freudenschreie. Er bestand nur noch aus pochendem Blut. Glitzernde, regenbogenfarben pulsierende Blitze rasten durch die Spiegelhallen der Sonne. Noch nie hatte er das Licht und den Himmel so dreidimensional gesehen. Er jagte durch flüssigen Diamant und Kristall, war reine Essenz, ohne Körper, den hatte er abgestoßen. Sein Gehirn brodelte, und er glaubte, das Innenfutter seines Schädeldaches würde in Fetzen gerissen; zwischen ihm und den musikalischen Sphären nichts.

Wolkenschlieren schlugen ihm ins Gesicht, hier, mein Schatz, ein Souvenir. Seine Augen bewegten sich durch die funkensprühende Atmosphäre, geblendet von Myriaden Nägeln des Lichts. Etwas wie eine Leere zerrte an seinem Unterleib und preßte sich gegen seine Rippen, eine Woge versetzte sein Herz in Wallung; er hätte sich erbrochen, wäre er nicht durch und durch bewußte Leere gewesen.

Plötzlich sackte der Teppich durch, schuckerte, schoß vorwärts, sank ab, stotterte, stammelte, stoppte und torkelte.

Verschwunden waren Bezauberung und heilbringender Tod.

Der Teppich weigerte sich weiterzufliegen und ließ nicht ab von seiner Laune. Wie ein Blatt trudelte er Richtung Erdboden, doch kurz bevor er aufschlug, schauerte er zusammen, bockte, schien vorwärts sausen zu wollen, stürzte statt dessen aber einfach ab. Baba Baluk rollte zu Boden.

»Nevernym, unzuverlässig«, hatte Mamurra gesagt. Jetzt erst verstand er den Ausdruck, den Cheira und Heira öfter benutzten: Etwas sei »Spatz wie Nevernym«, äußerst kurzlebig also, was Vogel und Teppich gemeinsam hatten. Made in Qashqar, daran erinnerte er sich plötzlich. Kein Wunder: China. Shlomon, handgeknüpft in Judäa, war den Preisunterschied mehr als wert. Das Nonplusultra war natürlich Peri Banu. Dieser Teppich stammte aus dem Iran und war das Beste, was dieses Land je hervorgebracht hat. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß dieses Reich sonst nichts zu bieten hat.

Obwohl – die dort hergestellten schwarzen Leichengewänder für lebende Frauen waren von unschlagbarer Qualität, fanden reißenden Absatz, merkwürdig nur, daß bisher noch niemand auf die Idee gekommen ist, sie mit reizenden Spitzenborten oder hübschen Fransen zu verzieren – aber ich schweife ab.

Baba Baluk rappelte sich auf. Nur keine Panik, nach einer Ruhepause würde Nevernym sicher wie ein Adler weiterfliegen. Der Teppich jedoch lag auf der Erde und wand sich in Zuckungen, Nerventicks, einer merkwürdiger als der andere. Baba Baluk konnte den Teppich nur mit Mühe aufrollen, bevor er sich in den Schatten einer hohlen Felswand setzte, um sich auszuruhen. Oben auf dem Felsen führte ein Johannisbrotbaum eine unsichere Existenz, die Früchte waren noch nicht reif. Baba Baluks Körper schmerzte vom Sturz, und er stöhnte, als er sich hinsetzte: »Ach und weh, ich armer Jäckel!« – Ausdrücke von Cheira und Heira paßten irgendwie immer.

Die Ebenen, die Bergpässe vor ihm und die lila Gebirge am Horizont waren steingewordene Verlassenheit, trotzdem war die Luft merkwürdigerweise durchzogen vom Geruch menschlicher Exkremente. Er aß etwas Roggenbrot, Oliven und Feigen und schlief eine Weile. Als er erwachte, fühlte er sich erfrischt – im Gegensatz zu Nevernym, der keineswegs die Absicht hatte, auch nur einen einzigen Schuß- oder Kettfaden zu rühren. Baba Baluk fühlte sich nicht allein erfrischt, sondern auch gesättigt, in der Nase trug er den Duft marinierten Fisches, und seine Rülpser mischten den Geruch von Olivenöl, Zitrone und Tomaten. Sogar das Schwindelgefühl nach einer übermäßigen Mahlzeit plagte ihn, die Beklemmung ungleich verteilten Blutes: im Kopf zuwenig, im Magen zuviel. Er konnte sich an keine Einzelheit seines Traums erinnern.

Baba Baluk beschloß, seinen Weg zu Fuß fortzusetzen, das tat gleichzeitig seiner Verdauung gut. Die Landschaft bot nur wenig Abwechslung: Berge und Plateaus, Senken, ausgetrocknete Fluß-

oder Bachbette, Kakteen,

Dornengestrüpp und die unvermeidlichen grauen Olivenbäume, gekrümmt wie vergreiste Straßenhändler unter schwerer Korblast. Ein einsamer Oleander zeigte die letzten verschrumpelten Blüten wie eine Halbweltdame die verwelkten Brüste. Leben gab es hier keins, nur Stein, und am Himmel Höllenfeuer. Hartes Licht, hartes Gestein. Am Nachmittag traf er in einem Tal auf ein Dorf aus Lehmhütten.

Kinder kamen angerannt, um dem einsamen Reisenden hinterherzuwinken.

Erst gegen Abend wollte der Teppich wieder fliegen. Die letzten Sonnenstrahlen streiften Baba Baluks Augen, und er schwebte mitten hinein in die ersten Sterne. Dort, wo er saß, beulte sich der Teppich aus, denn er war schwerer geworden von einer unerklärlichen Mahlzeit, einem unsichtbaren, aber zweifellos äußerst schmackhaften Gericht. Abermals Fisch.

Baba Baluk, der Schäfer, legte seinen Kanten Brot ab: Er hatte nur spärlich vom Fischgericht genommen, das Cheira und Heira in stiller Verehrung Mamurras zubereitet hatten. Still, weil sie ihm nichts von Mamurra erzählt hatten, was sie aber zu gegebener Zeit nachholen wollten. Sie wußten sehr wohl, daß sie nicht so gut kochen konnten wie Mamurra. Aaach, dieses Mädchen, was für himmlische Hände sie hatte! Sie selbst hielten es mehr mit Eintöpfen, Fleischwürfeln, Kartoffeln und Gemüse, das Ganze abgeschmeckt nur mit einer einzigen Pfefferschote, dafür aber mit den Kernen.

Gerade auf die Kerne kam es an. Die beiden vermißten Mamurra, nicht so, wie man jemanden vermißt, der abwesend war – denn Mamurra war für sie nicht abwesend –, sondern wie man schönen Zeiten hinterhertrauert.

Baba Baluk fühlte sich komisch, lustlos, irgendwie vergnügt, und dann war ihm doch nach Weinen zumute. Sein Magen war wie versperrt, die Kehle zugeschnürt, das Herz ein Schwalbennest, in dem unsicher ein paar Jungvögel zappelten.

Die Zwillinge wußten genau, was ihm fehlte.

»Geh schlafen, Hosseloddelchen«, sagten sie. »Dann wird es schneller Morgen.«

Der hohle Baum hinterm Haus hatte bis zur Dämmerung gezwitschert und gebebt vor lauter Vögeln. Die beiden weißen Eulen hatten ihr Truppenlager dort verlassen. Cheira und Heira hofften noch, daß sie eines Tages wiederkämen.

Doch im hohlen Baumstamm schlief jetzt ein Vogel, der an Umfang der größte war, an Flügeln aber der kleinste: Senunu.

Seine Flugkünste machten nur hopsweise Fortschritte, und seitdem schlief er nicht mehr zu Hause; die Mutter hatte ihn in den Dunstschwaden ihres Schwachsinns längst vergessen. Die Schwestern vermißten ihn nicht, sie hatten nur noch Augen für sich: Weibliche Rundungen schlangen sich wie Blattgerank um ihre Körper, Festons für zukünftige Bräutigame. Sie betrachteten ihre manikürten Fingernägel, pusteten feinsten Diamantgrieß weg und drehten die ausgestreckten Hände im Sonnen- und Mondlicht: Mädchen, die vor einem Spiegel stehend kostbare Gewänder anprobierten.

Baba Baluk lag im porzellanblauen Dämmer seines Zimmers, der Mond ließ durchs offene Fenster eine Hinterbacke sehen.

Cheira und Heira kamen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen und küßten den roten Hennakreis auf seiner Hand. Fast hätten sie Mamurra zu ihm gesagt, so allgegenwärtig war diese.

Der Horizont trug einen weißen Kragen. Allmählich füllte er sich mit überblendendem Schein. Ein Cape aus goldnem Licht legte sich über den Grat, und ganz langsam stieg eine gehörnte Sonne auf. Die Morgendämmerung ergriff Besitz vom Land, und die Vögel begannen ihre Matinee in gelbgrünem Morgen, ein aus blühenden Zitronenzweigen gewebter Baldachin, unter dem die Sonne mit stets länger werdenden Strahlen die ersten alten Frauen weckte, welche daraufhin, gebeugt unter Dornenkronen aus Sammelreisig, in die Stadt aufbrachen, um dort ihre Waren zu verhökern. Baba Baluk stürzte aus dem Haus, den Hügel hinab. Auf halbem Weg bremste er, rannte den Hügel wieder hoch, um die Ziegen mitzunehmen. Cheira und Heira standen in der Tür und winkten mit Schäfersack und Krummstab, doch er sah sie nicht. Am Fuß des Hügels blieb er erneut stehen, lief abermals nach oben, riß den beiden den Sack aus den Händen, wollte wieder davonsausen, doch die Zwillinge hielten ihn am Kragen fest. »Urgh«, sagte er. Sie gaben ihm den Stock und auf Hinterkopf und Hintern jeweils einen Klaps. Er rannte den Hügel wieder hinunter. Die Ziegen stoben auseinander. Er stemmte die Fersen in den Boden und blieb schlitternd stehen, machte kehrt, stürzte den Hügel wieder hinauf, wo noch immer Cheira und Heira standen und lächelten, gab jeder einen Kuß und jagte wieder davon. Etwas ließ ihn mit aufgerissenen Augen wieder innehalten, bevor er ein weiteres Mal hügelan lief. Cheira und Heira, die gerade ins Haus wollten, drehten sich, als er an ihnen vorbeiflitzte, erstaunt nach ihm um. Unter dem Johannisbrotbaum stand der Esel, peitschte mit dem Schwanz und fraß Heu; er zog gerade irgendeine unter der Haut liegende Falte glatt und zeigte – wie Nevernym – zahlreiche andere Nerventicks, aber deshalb gleich fliegen? Nö!

»Guten Morgen, Vögel!« Der Baum schüttelte ein paar Vögel von sich ab, die kreischend davonflatterten.

Baba Baluk setzte sich auf den Esel und gab ihm die Sporen; träge setzte sich das Tier in Bewegung, der Schäfer stieß ihm rascher die Fersen in die Flanken – der Rhythmus seines Herzens –, und im Zuckeltrab ging es den Hügel hinunter.

Baba Baluk spornte ihn an. Senunu hatte ihn schon längst überholt.

»Hu! Hu!« rief Baba Baluk.

Der Bach hatte gut geschlafen und plätscherte fröhlich und pausenlos murmelnd in seinem Bett. Die Feigenbäume hatten Gesellschaft von Sträuchern bekommen, deren Zweige sich schüttelten, bewegt vom Wind oder von den darin sich verheddernden Eidechsen oder Vögeln, dazu ein blühender Granatapfel- und ein Zitronenbaum. Die Pflanzen und Sträucher waren so farbenfroh, daß sie wie geschminkt aussahen. Als Baba Baluk sich allmählich seinem kleinen Garten näherte, kam ihm ein weißer Schwarm entgegen: der Daunenflaum auffliegender Eulen, so sah es aus, oder eine Bö Schneeflocken – aber es waren Mandelblüten. Blätter und Blumen waren in bunter Bewegung, und die Wasserrillen rollten zitternd über die Spiegelbilder wie ein kleiner Aufmarsch von Kindern, die hinter einer Prozession herrannten, um sich ihr anzuschließen. Das Mädchen saß am Ufer und kämmte sich das Haar. Es sah ihn nicht. Die Locken schienen beschwipst vom Rot ihres Körperschleiers: Weintropfen schimmerten im schwarzem Fell. Sie zog einen Kamm aus Zitronenholz durch die Locken, die Zinken blieben an den Spitzen hängen; erst nach einem starken Ruck gaben diese nach und jedesmal, wenn sie mit einem Schlenker der Hand den Kamm wieder befreit hatte, waren die Locken ein Stück länger geworden. So ging das fort und fort, und das Haar wurde länger und länger dabei und spiralte sich erdwärts; träge erreichte es ihre Schulterblätter und rann wie Wasser in flachen Rinnen ihren Rücken hinab. Die Umgebung spiegelte sich verschwommen in ihrer üppigen Haarpracht. Beim Näherkommen aber sah er, daß es eigentlich visionenhafte Szenerien waren, Bilder, in ihren Locken zu sanftem Leben erweckt. Und was er da sah, war äußerst bizarr.

Plötzlich drehte sie sich um und gab dem Schäfer eine schallende Ohrfeige.

Vor Baba Baluks Augen tanzte ein Mini-Kosmos, und er sank auf die Knie. Sie ließ der ersten Ohrfeige gleich eine zweite folgen, aber sanfter diesmal, und fing an zu lachen.

Dann hauchte sie ihm ins Gesicht und legte ihm den Zeigefinger unters Kinn.

»Heimlich beobachten darfst du mich nur, wenn du etwas Bestimmtes vorhast. Aber, na ja«, sagte sie mit einem Seufzer und wandte den Kopf ab, »soweit bist du noch nicht.« Auf einmal schien sie traurig zu sein und starrte hinunter auf das seitwärtige Kringeln des Wassers. Der Wind blies ihr Haar ebenfalls seitwärts; ihre Augen waren erblüht wie Sonnenblumen, die Samenkränze waren die Pupillen. Blitze durchschossen ihre Iriden in den Farben Grün und Rostbraun wie das Fell einer Glückskatze. Am hellroten Rand der blassen Lider bog eine Wimpernkrone ihre dicken Zacken aufwärts, ein Geweih aus dunklen Äderchen lag im Schneeweiß ihrer Schläfe.

»Aber das kommt noch«, fuhr sie fort und stützte sich mit der Hand auf, preßte die Wange gegen die hochgezogene Schulter.

»Du wirst mich noch so bewundern, wie es dieser Bach hier tut, und mich streicheln wie der Atem dieser Bäume.«

Der Schäfer, der sich seine Backe rieb, schaute sie mit zitternden Mundwinkeln an, Trautropfen in den Augen.

»Ach! Fang ja nicht an zu flennen. Das fehlt mir noch!«

Er schmollte und warf ihr einen empörten Blick zu. »Guten Morgen«, sagte er leise.

»Guten Morgen, guten Morgen«, antwortete sie seufzend und nahm seine Hand. Zerknittert von den Handlinien, fand sie darin einen Kreis aus Hennarot.

»Küß mir die Hand.« Sie streckte den Arm aus. Er schreckte zurück, er hatte eine weitere Ohrfeige erwartet. Beruhigt preßte er die Lippen und mehr Spucke als nötig auf ihren Handrücken. Allmählich bekam er Hunger, denn er hatte nicht gefrühstückt. »Und nun, hör zu.«

Er wollte sich auf ihren Schoß legen, aber sie wehrte ihn ab, zog die Knie hoch. Er tat das gleiche, ihre Beine zwischen seinen, sie nahm sein Gesicht in die Hände.

Es spielten sich tatsächlich merkwürdige Szenerien in ihren Haaren ab. Anfangs hielt der Schäfer es für Lichtreflexe, für Sonnengespinste, doch als er näher hinsah – die Augen zusammengekniffen, wie er es bei seinen Müttern gesehen hatte

–, entdeckte er, daß es lebendiggewordene Tapisseriebilder waren. Sie kämmte ihr Haar gar nicht, sondern webte einen schwarzseidnen Teppich, auf dem sich ganz allmählich Bilder abzuzeichnen begannen. Im Mazisgewirr einzelner Härchen bildete sich ein Wasserfall ab, er stürzte in Kaskaden vom Felsen herab und zerfloß kräuselnd zwischen den begrünten Ufern. Das Laub der Bäume schwankte in stummgewordnem Tanz auf und nieder, denn es war kein Laut zu hören, außer ihrem Atem und dem Klopfen ihres Herzens in ihrer glatten, flachen Brust. Sie hatte einen Körper, der die Versprechungen weiblicher Sexualität vereinte mit der Zartheit jünglinghaften Aufblühens.

Die Stille gab dem Schauspiel etwas Unwirkliches.

Sträucher und Dornenbüsche raschelten und bewegten sich vorwärts und waren doch nur eine kleine Herde Böcke, welche jedoch, als sie die Köpfe hoben, listige Kindergesichter hatten.

Es waren Geschöpfe mit einem menschlichen Oberkörper und dem Unterleib eines Bocks, und sie sprangen und rannten durcheinander wie Kinder auf einem Schulhof. Im Wasser schwammen bezaubernde Mädchen heran und setzten sich ans Ufer, ihre Unterleiber bestanden aus Schuppen und endeten in einer Schwanzflosse. Alle Bilder, die er in ihrem Haar sah, waren in Silber- und Elfenbeintönen gehalten, Farben gab es nicht, außer in den Landschaften. Weiße Eulen zogen ihre Kreise.

Und alles wand und kräuselte sich, wogte unaufhörlich auf und ab wie Bilder einer Fata Morgana. Bizarr war dieses Schauspiel menschlicher Verführung und tierischen Spotts.

Es war reine unstillbare Wollust. Baba Baluk atmete durch den Mund, der vollkommen offen stand, er starrte gebannt, bis zum äußersten erregt. Das Mädchen erschien ihm begehrenswerter denn je. Sein Herz pumpte Blut wie Wasser aus einer Fontäne, sein Mund wurde trocken und sein Lausewenzel strafte seinen Ammennamen und seine kindliche Größe Lüge.

Die Ohrfeige, die sie ihm abermals versetzte, spürte er gar nicht. »Du hast schon wieder nicht aufgepaßt!«

Das stimmte, denn sein Verstand hatte ausgesetzt, er war nur noch durch und durch Beklemmung. Seine Erektion sprengte Schmerz und Scham.

»Dann geh ich«, sagte sie und entriß sich seinen klobigen Händen. Eine graue Eidechse, die gerade an ihrem Schienbein hochklettern wollte – wie ein Komma auf einem satzlosen Blatt –, stob davon. Sie stand auf, drehte sich mit einer charmanten Wendung ihres Pos um, der Saum ihres Tüllschleiers, worunter sie glorreich nackt war, wippte hoch und offenbarte einen gespaltenen Schatten, dann stakste sie davon.

Baba Baluk schluckte ein großes Stück trockener Luft hinunter und ließ sich vornüber fallen. Diese verdammte Eidechse.

»Geh und wasch dich.« Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu, und als sie den Kopf drehte, schwangen ihre Locken herum wie ein Umhang, der nicht länger einen Ehebruch verdeckte. »Du stinkst. Außerdem wird es dich abkühlen, du Gimpel.«

Abrupt wandte sie ihr Gesicht ab, und hinter ihr her flatterte die Schleppe ihres schwarzen Lockengewandes, hochgehalten vom Wind. Ein Strauch ritzte ihre Haut über dem Knöchel auf, und es dauerte einen Augenblick, bis kleine Pünktchen Blut zu sehen waren. Das Blut war schwarz. Als sie aus dem Schatten trat, schlug ihr das Mittagslicht in die Augen, in denen dämonisch eine Freude aufflackerte, die zu verdorben und zu erwachsen war für so ein junges Mädchen. Sie würde eines Tages noch stolz auf ihn sein. Zwischen ihre Schulterblätter bohrten sich die verlangenden Blicke des armen Schäfers, der sich, ihrem Rat folgend, ins Wasser begeben hatte. Wer konnte so einem Geschöpf schon widersprechen. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß er sein vom vielfältigen Tragen verwittertes und verblaßtes Gewand mitsamt dem Aufhänghaken noch anhatte.

Nachts, wenn Baba Baluk schlief oder keinen Schlaf finden konnte, oder wenn er über die merkwürdigen Veränderungen in seinem Körper und Geist nachdachte oder sich darüber wunderte, daß er überhaupt denken konnte, brachen Cheira und Heira zum Abqar-Tal auf, wo die Blumen schliefen wie Babys, um den Blättern und dem Bach abzulauschen, was am Tage passiert war, während sie zustimmend nickten und weiterknüpften. Feuerfliegen tauchten ihre Hände in Licht.

Die Nymphen und Faune, die sie knüpften, sahen genau aus wie jene, die der Schäfer am Nachmittag gesehen hatte. Sie mußten lachen, als sie den nächtlichen Hallworten entnahmen, der Schäfer sei traurig aus dem Wasser gestiegen, weil das Mädchen seinen Esel, mit dem er ihm doch imponieren wollte, keines Blicks gewürdigt habe.

Nevernym machte Fahrt. Baba Baluk, des Teppichs Launenhaftigkeit fürchtend, tätschelte ihn ab und zu, um ihn günstig zu stimmen: Das tat übrigens jeder, der, bevor er zum Teppich überwechselte, ein Lasttier geritten hatte. Nevernym also machte Fahrt, aber keineswegs problemlos, manchmal bäumte er sich auf oder schlug gar Saltos, wobei der arme Mann auf ihm Todesängste ausstand. Bisweilen setzte er sogar ganz aus, worauf Baba Baluk vorsichtig manövrieren mußte, um mit heiler Haut zu landen. Er versuchte, sich vorwiegend in warmen Luftschichten zu bewegen, in denen Nevernym ohne große Anstrengung schweben konnte. Ihm stand ein langer Flug bevor, damit aber hatte er sich inzwischen abgefunden.

In den unbarmherzigen Weiten eines Nachmittags, nach einem schimärischen Mahl erlesener, himmlisch marinierter Meerbrassen, setzte er unweit einiger Knaben, die am Rand einer Schlucht auf Kundschaft für ihre Aprikosen, Pfirsiche, Pflaumen und Trauben warteten, zum Sinkflug an. Obst wie Verkäufer waren matschig von der Sonne. Ohne vom Gefährt abzusteigen – Nevernym dümpelte wie ein wartendes Fischerboot auf der Stelle –, besah er sich die Früchte genau und wählte die schönsten Exemplare aus. Während er so tat, als krame er im Beutel an seinem Gürtel nach Geld, gab er Nevernym die Sporen und schoß davon. Die Kinder waren verblüfft, doch nur einen Moment lang, dann faßten sie sich rasch und griffen nach jedem verfügbaren Stein, um ihn unter Flüchen zu beschießen, in denen Baba Baluks Verwandte mütterlicherseits eine tragende Rolle spielten.

Außerhalb der Reichweite von Steinen und Stimmen widmete sich Baba Baluk seinem Dessert. Die Früchte schmeckten wie ein Zungenkuß. Seine Verdauung war eine erfüllte Liebe, der daran anschließende Stuhlgang die Erlösung aus befriedigender Umarmung. Fische und Früchte aus dem Füllhorn des Überflusses, schaumgeboren beide: eine höchst merkwürdige Zusammenstellung! Allmählich wurde er neugierig auf das Meer.

Im rotkupfernen Abend landete er in einem namenlosen Dorf, wo er in einem Gasthaus übernachten wollte. Die Dorfbewohner bestanden aus Dornen und Felsen und trugen grobwollene Gewänder, unter denen sich nichts Gutes erahnen ließ. Aufmerksam verfolgten sie seine Landung. Ein alter Schäfer kehrte gerade mit seiner Herde von den Weiden heim, die prächtigen Tiere trugen die Fruchtbarkeit der Wiesen in sich, das Rot und Grün saftiger Talsenken spiegelte sich auf ihrem Fell und auf den greisen Wangen des Schäfers. Traurig wie eine Dampflokomotive blies er seine Flöte.

Das Gasthaus lag verlassen, eine alte Frau saß im Hinterhof, buk am Boden kauernd Brot und brühte Tee auf. Nackte Kinder mit aufgeblähten Bäuchen linsten herein. Er trank Tee dort: Krauseminze wie Tiefseeflora in einem mit Honig und Gold gefüllten Glas, und aus dem Brunnen gewann man Silber: Alles wies unwiderruflich aufs Meer hin. Der Wirt richtete sein Bett her, ächzend und wild tatschend, als bereite er sein Ehegespons auf die Empfängnis vor. Baba Baluk verzichtete auf das ihm angebotene Abendmahl. Als er sich endlich erschöpft zu Bett legte, pustete ein windsüchtiger Schlaf die Segel seiner Träume hinaus aufs offene Meer, Richtung Paravion. Und sein Weib, warm und naß, plätscherte wie ein jauchzender Bach hinein nach Paravion, auf ihren Wellenfalten führte sie eine Reuse voll zappelndem Leben mit sich; das sich auf dem Wasser spiegelnde Wolkenweiß war ihre Haut, ihre Wimpern waren schrägfallender Regen.

Am nächsten Tag, als er gerade durch einen Bergpaß schwebte, stürzten sich Banditen von den Felsen auf ihn und prügelten sofort drauflos.

Baba Baluk lag unter Händen begraben, und die Bande warf einen Schatten über ihn. Ein Knie auf der Brust hielt ihn in Schach, und irgendwo im Gewirr aus Gliedmaßen glitzerte etwas. Über den Räuberköpfen kroch ein Baum gichtig himmelwärts, von der Jugend hatte er schon längst Abschied genommen wie von den meisten seiner Blätter auch. Die übriggebliebenen Blätter hingen jammervoll herab und hatten, wenn der gelangweilte Wind mal auffrischte, nichts mehr zu sagen, denn sie hatten schon alles gesagt.

»Hört her!« sprach Baba Baluk. »Oh, ich armer Wicht! Ich kann euch, gute Leute, die ihr seid, nichts geben. Meine bescheidene Barschaft habe ich – weh mir! – für Obst ausgegeben, das Kinder am Rande hungriger Abgründe verkauften. Ihr kennt mit Sicherheit die kleinen Obstverkäufer.

Die armen Teufel müssen ja stets auf der Hut sein vor Leuten wie euch; ihre erfrischenden Früchte sind euch gewiß willkommene Beute, vor allem, wenn die Kinder, was ja fast immer der Fall ist, kein Geld haben, das sie euch geben können. Diese armen Kinder, die dort in der Sonne braten oder im Schatten schwitzen, haben mein Mitleid erregt, schließlich müssen sie ja auch etwas einnehmen, oder? Verflucht und nochmals verflucht – nein, seid nicht ihr, sondern sei der Elende, der kein Erbarmen kennt. Ihr müßt nämlich wissen, daß ich – ich armer Wicht – ein mittelloser Reisender bin, trotzdem möchte ich mein karges Mahl mit euch teilen, das heißt, wenn eure Zähne meinem Brot werden widerstehen können, welches ich nur noch als Waffe bei mir trage, so hart ist es inzwischen geworden (ich hätte euch, meine Herren, damit tüchtig eins überziehen können, haha), und Wasser, um es aufzuweichen, habe ich auch nicht. Ich verstehe, daß in den heutigen Zeiten der Dürre ehrliche Leute wie ihr – um welche mein Herz in steter Trauer ist – die Not nur mühsam und mit unehrlichen Mitteln lindern können. Ach, wollen Sie mich mal kurz entschuldigen« – das Knie zog sich zurück, Baba Baluk bettete sich bequemer – »ich danke Ihnen, mein Herr.«

Die Sonne schimmerte durch jede Ritze und Öffnung, die sie finden konnte, um zu hören, was Baba Baluk zu erzählen hatte.

Die Jungen, die wieder mal die Schule schwänzten, lauschten mit offenen Mündern. Der Schäfer hatte noch nie vorher ein Wort gesprochen.

»Wo war ich stehengeblieben? O ja, ich armer Wicht!

Deshalb führt mich mein unzuverlässiger Nevernym – gemach, das ist kein Schimpfwort –, deshalb führt meine Reise mich also zum Narvelmeer, das schäumen, grollen und rollen kann, wie es will, es wird mich nicht aufhalten können. Gewiß nicht!

Wie die Schenkel einer Frau wird es mich in feuchtere und fruchtbarere Regionen führen. Wie sehr trauert mein Herz doch um diese Schenkel, die ich noch mehr vermisse als die Mutter, die ich nie gekannt habe, mein Vater war Witwer, und es ist ein kleiner Trost, daß diese Schenkel, nach denen es mich so verlangt, jünger sind als mein ganzes Leben. Ich habe mein Weib – ach, vergebt mir meine Tränen – zurückgelassen.

Mag sein, daß sie so alt ist wie ich, oder auch nicht, denn unsere Lust bewahrt sich das Bild des ersten Augenblicks und ist blind für die Spuren der Zeit im Fleische. Und dafür danke ich in allen meinen einsamen Nächten. Ihr Gesicht, das ich zuletzt streichelte, war jenes Gesicht, welches ich unter dem Weinstock unseres ersten Blickwechsels sah und unter der Myrte unserer ersten Berührung liebgewann. Ich werde verwelken und zerschrumpeln, sie aber bleibt ewig jung.«

Baba Baluk lag bequem auf der Seite und sprach mit großen Gesten. Er war in Fahrt. Die Banditen hörten zu. Die Jungen trauten ihren Ohren kaum. Die Ziegenglöckchen setzten ihre Hintergrundmusik fort.

»Ach, warum erzähle ich euch das alles? Euch interessieren die Fährnisse des Herzens doch wenig, ihr seid nur an körperlicher Kraft interessiert, vor allem, wenn sie irgendwo gebündelt ist. Ihr habt noch nicht in den warmen Armen eines Mädchens gelegen, habt nicht von ihrem Atem getrunken, sie erregt nicht eure Träume, wohnt nicht in eurem Geist, Ohrfeigen von ihren süßen Händen werden eure Wangen nie kosten. Nehmt mein Leben, wenn ihr wollt, etwas anderes habe ich nicht.«

Die Banditen wischten sich die Tränen weg und erhoben sich.

Sie waren gerührt. Sie halfen Baba Baluk auf und luden ihn zu einer Haschpfeife ein.

»Nur meine Geschichte habe ich noch«, fuhr Baba Baluk fort.

»Diese aber ist sehr lang und nur schwer zu ertragen. Ihr könnt mich schlagen und prügeln, ihr werdet keine blauen Flecken auf meiner Haut entdecken. Doch warum nennt ihr mich einen Angeber und Wissenschaftler?«

Einer der Banditen war in tiefes Nachdenken versunken und fragte: »Was meintest du mit den Schenkeln?«

Baba Baluk streckte sich. Einer der Jungen kam zurückgerannt und versetzte ihm einen Stoß. »Nichts als Geschwätz, das hat uns noch gefehlt«, sagte er und lief zu seinen enttäuschten Kumpanen zurück, die ihren Weg fortsetzten.

Die Arme des Mädchens erwarteten ihn unter den Feigenbäumen. Eine unruhige und raschelnde Umarmung folgte, und er hörte sie sagen: »Die werden sich jetzt nicht mehr an dir vergreifen. Das hast du gut gemacht, mein Hosseloddelchen. Ich bin stolz auf dich.« Er war ganz außer Atem, nicht nur weil sie ihn berührte, sondern weil er noch nie so lange ohne Unterbrechung geredet hatte, er wußte nicht, woher das alles plötzlich kam. Er war wie besessen gewesen.

Empört waren Cheira und Heira, als sie das alles vernahmen.

Im Bach dümpelte das Lächeln des Mondes, der seelenruhig auf dem Rücken dahintrieb. Sie ließen sogar aus Versehen ein paar Knoten aus, so daß das Einhorn, an dem sie gerade knüpften, mehr einem Nashorn glich. Warum hatte Baba Baluk nie von den Prügeln erzählt? Panisch schlugen sie die Hände vors Gesicht, wartet nur, ihr Söhne von Mistpforten, euch werden wir es schon zeigen. Sie erhoben sich, lebendig und voll guten Mutes wie zu der Zeit, als sie noch so gerne in zarte Kinderarme zwickten. »Das arme, arme Bürschchen, das liebe Fohlen.«

Am nächsten Tag konnte Baba Baluk auf seinem fliegenden Teppich das Meer riechen. Salzige Luft brannte ihm auf dem Gesicht. Endlich roch er, was seit Tagen seinen Magen füllte.

Der Körper kribbelte noch vom Traum, in dem Mamurra ihn besucht hatte. Darin war sie ihm in einem grüngelben Blätter-und Zitronenkaftan erschienen, unter dem sich ihre Schwangerschaft bauschte, und hatte einen Dutt getragen. Sie legte ihm die Jujubefinger auf die Lippen, still, niemand wußte, daß sie bei ihm war, sie bezwang seine ungeschlachte Lust, ungreifbar wie Parfüm schlüpfte sie durch seine Finger, marterte ihn, der doch selber eine Peitsche hatte. Verzweifelter denn je teilte er das Lager mit ihr. Er biß in ihre Apfelbäckchen, geißelte ihre Flanken, bevor er sich in ihrem warmen Tiefenstrom auflöste. Blaue Adern schimmerten durch ihre glänzende Haut, ihr Rückgrat war eine Radspur im Schnee und verschwand zwischen vorstehenden Schulterblättern. Die Schwangerschaft hatte sie verengt; ein Schatten, feigenschwarz, schimmerte vor Schweiß und Feuchtigkeit.

Seine Finger hinterließen rote Brandzeichen auf ihren Schenkeln.

»Du wirst es nie lernen«, sagte sie hinterher, ohne ihn anzusehen, und ihr Dutt bewegte sich hin und her, ob in herablassender Ergebenheit oder in verdrießlicher Gönnerhaftigkeit, er wußte es nicht. Er wurde im Traum gestört, dieser zerfiel, die Realität hielt Einzug, nahm Gestalt an und wurde verschluckt, nur mit Mühe konnte er die Augen öffnen: Der Gastwirt schüttelte ihn wach, Zeit zum Aufbrechen.

Das Meer sprühte ihm klebriges Salz ins Gesicht, und so fein dieses Salz war, so grobkörnig war das Licht, das ihm in die Augen fiel. Er verlor die Kontrolle über den Teppich.

Nevernym, vom starken Seewind gebremst, rollte die Vorderkanten auf, drunter schäumte und brüllte es ihm entgegen, der Teppich verweigerte den Weiterflug.

Am Strand des Narvelmeers war der Fischer gerade in sein Boot gestiegen, um die Netze einzuholen, als er eine wild fuchtelnde, unter einem trudelnden Teppich in der Luft zappelnde Silhouette entdeckte, die auf die hochärmelnden Wellen zustürzte. Ein Platsch, das weiße Wasser flog blütenreich auf, und nicht lange danach löste sich eine weiße Eule aus den Schaumkronen, unter wildem Flügelschlagen, um das Wasser aus den Flügeln zu schütteln. Jetzt ist der gesamte Fang drinnen, dachte sich der Fischer und fing an zu rudern.

Einige Tage vorher war ein Familienteppich vorbeigeflogen und nur mit knapper Not den Wellen entronnen. Einer der Reisenden wäre fast ins Meer gestürzt, doch die Reisegenossen hatten ihn gerettet: Die Füße strampelten in der Luft, während die anderen ihn mit vereinten Kräften am Kragen auf den Teppich zurückzogen. Jetzt aber trieb ein Garten auf den Wellen, bis die Tiefen daran zu zerren begannen.

3

In der Fata Morgana tauchte Paravion auf, die Straßenbahnen glitten laut klingelnd vorbei, Menschen mäanderten durch die Straßen, im Fluß Amstel spiegelten sich Gebäude und Passanten, und er führte die ganze Welt mit sich mit, die Wolken flimmerten, und im grünen Paradies in der Mitte schenkten die Menschen der raren Sonne ihre Nacktheit.

Der Schäfer schlief.

Paravion war schon verschwunden, als die Nachmittagssonne Baba Baluks Augen weckte, die sich daraufhin blumengleich öffneten: glatthäutige Löwenzahnblumen. Als er ein Glockenspiel aus Ziegenglöckchen hörte, richtete er sich auf.

Das Mädchen kam gerannt, hinter ihr eine kleine Ziegenherde, die ihr zahm und ehrfurchtsvoll folgte. Ihre errötenden Knie berührten sich beinahe beim Laufen, die Zehen zeigten leicht nach innen. Ihr Gang war keck und kindlich, dennoch legte sie die Strecke mit reifer Verhaltenheit zurück. Ihre wenig ausfälligen Hüften drehten sich in raschem Tempo, ihre pendelnden Arme knickten bei den Ellenbogen nach außen ab.

Die Haltung ihres Kopfes, schräg nach rechts – was hörte sie, was er nicht hören konnte? –, und die kleinen, runden Schultern verliehen ihr einen liebenswerten Charme. Sie lächelte, die Brauen zusammengezogen, weil sie das Licht blendete, die Augen ein Gewirr schwarzer Wimpern. In ihren Locken baumelten blaue Blüten, von denen ein paar zur Erde fielen. Unter ihrem Arm trug sie, auf die Hüfte gestützt, eine rote Plastikschüssel.

»Die Ziegen haben dir Cheira und Heira gegeben, stimmt’s?«

fragte sie.

Er nickte, sein Mund lächelte, seine Augen frohlockten. Sein Gesicht war jetzt voll erblüht, die fötalen Züge und Rundungen, die sich auf einem Kindergesicht so lange halten, waren bei ihm verschwunden. Der Kokon war aufgeplatzt, sein Körper hatte gegähnt und sich anmutig ausgestreckt. Die Arme waren etwas schlacksig, die Schultergelenke muskulös, die Schlüsselbeine breiteten von der tiefen, den Schweiß sammelnden Drosselgrube ausgehend die knochigen Flügel aus. Beine und Waden waren sehnig.

Die Ziegen waren mager, die Rippen traten an beiden Seiten hervor, in ihren schönen Augen lag etwas Trauriges, eine fast menschliche Traurigkeit, ein jünglingshafter Weltschmerz. Ihr Gemecker klang leise und unpäßlich, die Glöckchen zerrten an ihren Hälsen, so daß sie die Köpfe demütig gesenkt hielten.

Die Hörner ringelten sich schön, durch die Bärte sahen sie aus, als schmollten sie.

Sie stellte die Schüssel voller Lumpen, alter Taue und einem zerschlissenen Fischernetz am Bachufer ab. Ein paar Blumen fielen aus ihren Locken. Nachdem sie die Schüssel ins Wasser getaucht und so gefüllt hatte, sagte sie ernst: »So, das muß jetzt eine Weile einweichen. Das ist wichtig.«

Baba Baluk nickte und schaute zu seiner Herde hinüber, die jetzt neun Tiere umfaßte. Alles um ihn glänzte, erfrischt vom Schlaf und Schweiß der Siesta. Die Vögel trällerten die alten Madrigale, wie immer.

»Es ist schon komisch«, sagte er, »die Vögel machen einen Heidenlärm, aber ich sehe sie nicht. Nur manchmal.«

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Er erschrak über die Schärfe in ihrer Stimme und schaute sie verstört an: »Aber ja doch.«

Da kehrte ihr Lächeln zurück und ließ ihre Lippen auftauen:

»Gut so! Man sagt, Vögel sind Hüter der Seele«, sprach sie.

»Wenn das wahr ist, muß die Seele etwas sehr Lautes sein.

Und außerdem sterblich, besonders, wenn man bedenkt, wie kurz das Leben eines Spatzes ist. Mein Lieblingsvogel. Es kommt vor, daß Spatzen sich zu Tode paaren.« Sie hob die Augenbrauen.

Die Ziegen grasten weiter. Sie ging zu den Bäumen und inspizierte die Früchte.

»Ich habe was zu essen für dich mitgebracht«, sagte Baba Baluk und holte eine Feige, eine Dattel, Oliven und eine Orange aus seinem Schäfersäckel hervor. Die Hände zur Schüssel geformt, hielt er ihr die Früchte hin. Aber sie schüttelte den Kopf: »Ich habe keinen Hunger. Iß ruhig, du mußt noch wachsen.«

Enttäuscht ließ er die Hände sinken. Ihre Schönheit wird allein verunziert von ihren Launen, dachte er. Vielleicht muß ja in einer so ebenmäßigen Haut zwangsläufig ein launischer Charakter hausen. Er zuckte zusammen, als ihm eine Ziege in die Hand biß; sie hatte an den Früchten geknabbert, verärgert stieß er sie weg. Ihr Euter schwabbelte gegen den Rhythmus ihres Glöckchens.

Der Schatten des Mädchens war dunkelrot, der Bach schlingerte ihm Beugungen und Brechungen wie Fußringe um die Beine; Reflexionen tauchten den Körper der jungen Frau in Grün, Braun, Gelb und Rosa, Sonnenlicht folgte ihr zwischen den Blättern, Fliegen brummten und summten, Mücken zogen Schlingerlinien durch die Luft. Sie fand, was sie suchte, betastete es und pflückte zwei Granatäpfel. Danach wählte sie zwei Oleanderblüten aus. Die ganze Zeit hielt sie ihm den Rücken zugekehrt, was ihn traurig machte. Der Mut aus seinen Träumen ließ ihn im wachen Leben vollkommen im Stich. Und dabei war sie so begehrenswert, so bezaubernd, schlichtweg eine Marter.

Sie ging wieder zu ihm zurück. Etwas an ihr hatte sich verändert, doch was es war, konnte er nicht sagen.

»Laß uns anfangen, ich glaube, es ist Zeit«, sagte sie, eine Welt aus Feuerfliegen in den Augen. »Komm näher.« Er gehorchte. Sie hob den Saum seines Gewands, unter dem er nackt war. »Hier, halt mal«, fuhr sie fort, ohne ihre Augen abzuwenden von dem, was sie entblößt hatte, bläulichem Kräuseln und bläulichem Glanz.

»Gut!« Sie warf ihm einen fröhlichen Blick zu. »Jetzt paß gut auf!«

Sie hatte, zum ersten Mal, violettrosafarbene Flecken auf den Wangen, und im Handgemenge und sanften Gerangel, was nun folgte, füllten plötzlich wohlgeformte, junge Brüste seine Hände und entglitten ihnen wieder. Feucht war alles, es roch nach Anis und Jasmin, Frösche quakten wild, Tropfen flüssigen Granats tröpfelten aus ihren Brustwarzen auf seine Zähne, in seinem Kopf hämmerte es und sein Blut frohlockte.

Aus ihrem beschatteten, gefurchten Fruchtfleisch stieg ein Hauch Karamel auf, der Kuckuck rief, die Grillen zirpten, er schürfte sich den Rücken auf, sie umklammerte seine Hüften mit kraftvollen Schenkeln, er packte ihre angespannten Hinterbacken, seine Zunge glitt von hier nach da, ziellos, das Mädchen schüttelte die Blumen aus seinen Locken, preßte die Hände kraftvoll auf Baba Baluks Brust, der Mittag füllte sich mit Aureolen und pfauenhaftem Schimmern, die Vögel tobten wie verrückt, der Esel iahte traurig wie ein Nebelhorn.

»Daran werden wir noch lange zu kauen haben«, sagte sie, als wäre nichts geschehen, während er entkräftet und abgekämpft dalag. Eine Ziege knabberte an seinem Gewand.

Die Sonne las in seinen Handflächen. Speichel glitzerte ihm auf den Lippen. Alles war still.

»Aber«, fuhr sie fort, »es ist strengstens verboten, Cheira und Heira um Kräuter zu bitten!« Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Nase. Ihr Mund war ein schwarzes Loch. In ihren Augen kein Glanz. Als sie ihr Gesicht abwandte, sah sie, wie ein Maulesel einen Karren Richtung Siedlung zog. Nicht viel später ertönten Freudenschreie.

»Am Küssen müssen wir auch feilen.« Sie sah ihn nicht an.

»Deine Zunge ist närrisch. Du küßt wie Schlamm und grabschst wie ein Berber. Steh jetzt auf.«

Sie war schon weg, als er endlich Kraft und Lust fand, sich aufzurappeln. Die Ziege hatte ein Stück von seinem Gewand gefressen. Er klopfte es ab und ließ es träge am Körper herabgleiten. Hinter seinen Freudentränen sah er den Eselskarren zwischen den trocknen Hügeln verschwinden.

Das erste, was Baba Baluk an diesem Abend tat, war, seine Lektion an einem der Mädchen aus der Siedlung auszuprobieren. Die Väter waren weg. Die Jungen waren auch verschwunden. Die Mädchen machten sich keine Sorgen um ihre Brüder, die ihre Zeit mit Sicherheit in irgendeiner Weinschenke oder einem Bordell verlümmelten. Dort wurden sie vermutlich gerade beraubt oder von den Huren und Zuhältern bis auf die letzte Kupfermünze ausgenommen.

Die schwachsinnigen Mütter und alten Jungfern saßen im Abendlüftchen vor den Häusern und zitterten und sabberten und siechten sinnlos dahin. Neben ihnen stand eine Dose Insektenspray, Flutox, gegen die Moskitos, doch sie fingerten nur daran herum oder bliesen in die Öffnung. Ein dünner Nebel überzog die einst so lebendigen Augen, die jetzt ganz andere Dimensionen erschauten: die Mütter die Welt, in der ihre Jugend so früh verblich, und die alten Jungfern die Ödnis nutzloser Weiblichkeit. Alle aber waren sie am Elend und an der Frustration irre geworden. Wie oft hatten sie gesagt, sie wollten lieber sterben als unverheiratet durchs Leben gehen, doch Leben und Tod waren offensichtlich anderer Meinung.

Was für eine Schande. Das Umschlagtuch bedeckte zerschrumpelndes Fleisch über einem zerbröselnden, verkümmerten Skelett. Sie bestanden nur noch aus Knorpel.

Ihre zerbrechlichen krummen Finger lagen wie verbrannte Streichhölzer auf Dingen, die nur ihre Knie sein konnten. Ab und zu lachte eine der Hexen oder stieß ein Elsternkrächzen aus. Dann kam eine junge Dame – die Mädchen dort wuchsen schnell –, tippte ihr gegen die Stirn und wischte das Sabbergespinst weg, wonach die Zunge ihre Spinnweberei fortsetzte. Sie atmeten nicht, sondern haschten nach Atem; Zahnfleisch ohne Zähne.