2. Kapitel
Mittwoch, 10. April 1912

 

Gladys hatte sich ein schwerfälliges, Respekt einflößendes Ungetüm vorgestellt und war überrascht, als sie sah, dass die Titanic eine Linienführung von erstaunlicher Harmonie besaß. Die hohen Masten und die vier großen Schornsteine hoben sich klar gegen den grauen Himmel ab, und der Rumpf mit dem leuchtend goldenen Band hatte fast etwas von der Schnittigkeit einer Jacht. Die Königin der Ozeane, wie man sie auf den Plakaten pries, wirkte nicht nur atemberaubend groß, sondern auch grazil – wie ein Schiff der Zukunft, und es ließ traumhafte Bilder vor ihrem inneren Auge entstehen.

Sie hatte es nicht eilig an Bord zu kommen und spazierte aus dem Hafen hinaus in Richtung City. Sie wollte Klarheit in ihre Gedanken bringen, denn die Entscheidung, die sie treffen musste, zog weitreichende Folgen nach sich. Sie war sich unsicher, ob es wirklich klug war, auf die Titanic zu gehen. Noch auf der Fahrt nach Southampton, während die sanfte südenglische Landschaft an ihr vorüberzog, hatte sie überlegt, ob sie nicht besser nach Dover fahren und ein Schiff besteigen sollte, das sie zum Kontinent anstatt nach Amerika brächte. Paris oder Hamburg waren Orte mit bedeutenden Vergnügungsvierteln, wo sie mit ihrem Aussehen ohne Schwierigkeiten eine Anstellung finden würde, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Es war das Bild des wundervollen Schiffes, das ihren Gedanken eine andere Richtung gab und ihr das Reiseziel der Titanic in ein glanzvolles Licht rückte. New York! Schon dieser Name war Verheißung! Paris und Hamburg lagen doch viel zu dicht an England, und es war gerade in diesen Orten nicht auszuschließen, dass man sie dort zufällig entdeckte. Verbindungen der Londoner Unterwelt zu der in Hamburg und Paris gab es zuhauf.

Amerika hingegen war weit genug weg. Das Land war groß; und sollte New York nicht halten, was sie sich davon versprach, könnte sie nach Chicago oder nach San Francisco gehen oder in irgendeine andere Stadt im Westen. Oder gar in die Provinz, in den mittleren Westen oder in eine Gegend, wo es noch Indianer gab. Dorthin würde ihr niemand folgen, um sich an ihr wegen ihrer Treulosigkeit und der Sache mit Jago zu rächen. Vielleicht fände sie einen netten Mann, mit dem sie eine Familie gründen könnte. Bei diesem Gedanken schmunzelte sie. Gladys Candee aus dem Londoner Osten als die Frau eines Farmers im Mittelwesten mit einer Schar Kinder? Nein, dazu würde es sicherlich nicht kommen; andererseits, dachte sie dann, wäre sie nicht die erste Frau mit Vergangenheit, die anderswo ein völlig neues und von dem früheren ganz verschiedenes Leben begann.

Die unbestimmte Angst, dass jemand sie verfolgte, war durch den Anblick der Titanic jedoch nicht gewichen, im Gegenteil! Die Abfahrt der Titanic wurde von vielen Menschen beobachtet, wie sie bei der Ankunft festgestellt hatte, und fand auch in der Presse ein lebhaftes Echo. Noch war sie nicht in der neuen Welt, und es war nicht auszuschließen, dass jemand, der sie kannte, von ihrer Flucht über den Atlantik erfuhr. Wie auch immer! Ihr Ziel war Amerika; alles Weitere würde sich finden, und ihr Gefühl sagte ihr, sie solle das nächste Schiff nehmen, um aus England zu verschwinden. Sie würde alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, die ihr möglich waren, musste das Risiko, dass man ihre Spur bis auf die Titanic verfolgte, jedoch eingehen. Ihr Leben war noch nie ohne Risiken verlaufen, machte sie sich Mut, letztlich war es immer gut gegangen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Es gab schlichtweg keinen schnelleren Weg, das Land zu verlassen, als die Passage an Bord des neuen Ozeanliners der White Star.

Als sie die Rückkehr zum Hafen antrat und die Landungsbrücke erreichte, war ihre Entscheidung gefallen. Inzwischen war auch der 9.45-Uhr-Zug mit dem Gros der Erste-Klasse-Passagiere eingetroffen. Überall an der Reling sah man Menschen, die aufgeregt das Ablegen des Ozeanriesen erwarteten. Auf einem der Decks spielte ein Orchester, und auch unten auf dem Kai hatten Musikkapellen Aufstellung genommen. Es herrschte Volksfeststimmung, denn eine unüberschaubare Menschenmenge war unterwegs, Reisende zu verabschieden oder einfach dabei zu sein, wenn der neue Ozeanliner zu seiner Jungfernreise über den Atlantik aufbrach.

Sie wartete, bis alle anderen Erste-Klasse-Passagiere über die breite Gangway an Bord gegangen waren, dann straffte sie sich, nahm ihr Handköfferchen und schritt über die leicht ansteigende Gangway zum Haupteingang mittschiffs auf das B-Deck hinauf.

Der Steward, der sie in Empfang nahm und freundlich begrüßte, wies ihr den Weg zu den Kabinen der ersten Klasse. Als sie sich in die angegebene Richtung wandte, erblickte sie einen elegant gekleideten Herrn von ungefähr 50 Jahren, der gerade ein paar Millionäre, die vor ihr das Schiff betreten hatten, mit Handschlag begrüßte.

»Mr. Ismay«, hörte sie jemanden von den Passagieren in der Reihe vor ihr ehrfürchtig raunen. »Der Präsident der White Star.«

Aus Phils Erzählungen war ihr bekannt, dass ein großer Teil der Erste-Klasse-Passagiere einem kleinen Zirkel aus Bankiers und Millionären, Aristokraten und Prominenten angehörte, die sich allesamt mehr oder weniger gut kannten, weil sie Geschäfte miteinander machten oder Partys miteinander feierten, und die Jungfernfahrt eines neuen Meeresgiganten war einer der gesellschaftlichen Höhepunkte des Jahres.

Obwohl Gladys nicht zu diesem erlauchten Kreis der Passagiere gehörte, entging sie Ismays Begrüßung nicht. Als er sie erblickte, machte der Präsident einen schnellen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hand.

»Darf ich mich vorstellen: Ismay, ich bin der Geschäftsführer der White-Star-Line.«

»Gladys Appleton«, gab sie zurück.

Appleton war der Name, den sie für die Reise ausgewählt hatte. Gladys wusste, dass niemand sie nach einem Ausweis fragen würde. Viele Leute reisten anonym oder unter falschem Namen, kein Mensch hinderte sie daran.

»Miss Appleton?«, fragte Ismay gedehnt.

»Nein, Mrs. Appleton«, antwortete sie. »Und bevor Sie fragen – ich mache diese Reise ohne meinen Gatten.«

Ismay lächelte nachsichtig. »Herzlich willkommen an Bord unseres Schiffes, Mrs. Appleton. Seien Sie versichert, schöne junge Lady, dass ich Ihren Namen nicht vergessen werde. Jede schöne Frau an Bord ist eine besondere Ehre für unser Schiff.«

Gladys überlegte, was er wohl zu den weniger attraktiven Frauen sagte, aber der Reeder war um eine passende Floskel sicher nicht verlegen, vor allem nicht, wenn die Betreffende genug Geld besaß. Reich oder schön – über eine dieser beiden Eigenschaften musste man verfügen, um in den Kreisen dieses Herrn wahrgenommen zu werden.

Hinter den anderen Passagieren ging sie auf blauem Teppich den Korridor zu den Kabinen entlang. Ein Gehilfe des Zahlmeisters kam mit der Passagierliste auf sie zu. Er schwitzte, denn er hatte alle Hände voll zu tun, um den Überblick zu behalten, gleichwohl strahlte er sie freundlich an.

»Gladys Appleton«, sagte sie und gewöhnte sich schon an den Klang ihres neuen Nachnamens.

Der Zahlmeistergehilfe fuhr mit dem Finger die Liste der Passagiere erster Klasse entlang und runzelte dann die Stirn.

»Stehen Sie vielleicht unter einem anderen Namen in der Passagierliste, Madam?«

»Mrs. Phil Ryland.«

Das Gesicht des Mannes leuchtete auf, als er den Eintrag gefunden hatte.

»Hier steht es.« Er blickte auf und strahlte sie an. »Mr. Ryland kommt noch an Bord?«

Sie strahlte mit der unschuldigsten Miene, die aufzusetzen ihr möglich war, zurück.

»Mr. Ryland ist verhindert«, sagte sie. »Eine überraschende Blinddarmreizung, weswegen der Arzt ihm die Reise verbot. Ich bitte Sie, seinen Namen aus der Liste zu streichen und den Namen von Mrs. Ryland gleichfalls zu entfernen.«

Der Mann blickte erstaunt von seiner Liste auf.

»Selbstverständlich, Madam! Doch – warum soll ich Ihren Namen streichen? Das kann ich eigentlich nicht tun.«

»Wird die Passagierliste auf dem Schiff ausgehängt?«

»Wenn alle Passagiere an Bord sind, geht die Liste in Druck.«

»Sie kennen sicher die Gesellschaftsnachrichten, die nach jeder Atlantiküberquerung veröffentlicht werden? Auch die Zeitungsleute schauen sich diese Passagierlisten an, nicht wahr?«

Er zuckte mit den Achseln. »Spricht etwas dagegen, in den Listen genannt zu werden?«

»Phil möchte es nicht, und auch mir wäre es sehr lieb, wenn nicht bekannt würde, dass ich – ohne ihn reise. Sie verstehen?«

Er konnte den Blick nicht von ihr lassen, aber er verstand noch immer nicht, was man ihm deutlich ansah.

»Wissen Sie, wir sind nicht verheiratet«, fügte sie deshalb hinzu. »Mr. Ryland ist noch nicht von seiner Gattin geschieden. Es würde ein falscher Eindruck entstehen. Mein geschiedener Mann hat schon einmal einen Detektiv beauftragt.« Sie setzte ein reizendes Lächeln auf und trat ein Stück näher an den Mann heran. »Es wäre wirklich ganz lieb von Ihnen.«

Die Wirkung blieb nicht aus. Ihrem erotischen Charme erlag fast jeder. Bei Gladys Liebreiz konnte man einfach nur denken, dass die Geschichte stimmte.

»Ach so! Ja, wenn es so ist.« Er zuckte mit den Achseln und machte ein ausgebufftes Gesicht. »Mich persönlich interessiert es nicht, welcher Name in der Passagierliste steht. Jeder kann unter dem Namen reisen, der ihm gefällt. Aber bedenken Sie, auch wenn ich Ihre Namen aus der Bordliste streiche – es gibt die Listen der Schifffahrtsgesellschaften, und da stehen die Namen drin, unter denen die Fahrkarten gekauft wurden. Wenn dort nachgefragt wird …«

»Ändern Sie es trotzdem«, sagte Gladys. »Mr. und Mrs. Phil Ryland sind nicht an Bord.«

Sollte später jemand die Bordlisten überprüfen, um sich Gewissheit zu verschaffen, ob eine Mrs. Ryland wirklich nach Amerika gefahren war, wäre kein Name in der Liste zu finden, der darauf hindeutete, dass sie England verlassen hatte. Ob diese Maßnahme sie hinreichend schützen würde, erschien ihr zwar zweifelhaft, aber sie wollte wenigstens nichts unversucht lassen, ihre Tarnung zu verbessern. Sie schenkte dem Zahlmeistergehilfen ein Lächeln und machte sich im verwirrenden Labyrinth der Gänge und Treppen auf die Suche nach ihrer Kabine.

Sie erreichte den Kabinengang auf dem C-Deck, wo sich ihre Unterkunft befand, und noch während sie die richtige Kabinennummer suchte, kam ein hilfsbereiter Steward auf sie zu, der sie zu ihrer Kabinentür begleitete.

»Mein Name ist Nevil Boyes, Mylady«, sagte der junge Mann, der ihr vorauseilte. »Ich bin für den Gang zuständig, an dem Ihre Kabine liegt. Nennen Sie mich einfach Nevil. Ihre Koffer wie auch die Koffer Ihres Gatten befinden sich bereits in Ihrem Appartement.«

Er war ein noch junger Mann, mit einem langen, schmalen Gesicht und einem forschenden Blick.

»Vielen Dank, Nevil. Aber ich werde die Reise ohne Mr. Ryland machen. Da ich noch nicht mit ihm verheiratet bin, bat ich den Zahlmeister, meinen Mädchennamen Appleton in der Passagierliste zu notieren. Nennen Sie mich bitte nicht Miss Appleton, sondern Mrs. Appleton.«

Der Steward lächelte. »Ich verstehe. Sie möchten nicht von den allein reisenden Herren belästigt werden. Wann immer Sie meiner bedürfen, Mylady, werde ich zu Ihrer Verfügung sein.« So wie er es sagte, klang es fast anzüglich, und Gladys musste unwillkürlich lächeln.

Nevil hielt ihr die Kabinentür auf und lächelte ihr auf eine fast verschwörerische Weise zu, dann ließ er sie allein. Sie schaute dem schlanken, gut aussehenden jungen Mann einen Moment nach, bevor sie über die Schwelle trat.

Entzückt blickte sie sich um. Obwohl die Kabine zu den preiswerteren Erste-Klasse-Etablissements gehörte, glich sie eher einer Wohnung in Mayfair als einer Schiffskabine. Die Doppelkabine war luftig, geräumig und hell. Das Bett war aus echtem Messing, es gab einen Marmorwaschtisch, ein grünes Netz, in das abends Wertgegenstände gelegt werden konnten, antike Möbel, ein Rosshaarsofa, einen Ventilator an der Decke, und überall waren Klingelknöpfe und elektrische Armaturen. Gladys seufzte, als sie den Koffer von Phil neben dem ihren vor einem der Schränke erblickte, doch dann nahm sie ihn und stellte ihn ungeöffnet in den Schrank, bevor sie den eigenen Koffer aufmachte. Sie packte alles aus, räumte ihre Kleidung in die Schränke und kehrte dann, ohne sich umzuziehen, an Deck zurück.

Die Passagiere waren gut gekleidet und zeigten sich von ihrer besten Seite, wie das wohl zu Beginn jeder Reise der Fall war. Die geröteten Gesichter spiegelten Aufregung und leichte Beklommenheit. Die Abfahrt des großen Schiffes stand unmittelbar bevor.

Mit ihrem Charme, dessen gezielter Einsatz ihr stets die Türen öffnete, verschaffte sich Gladys einen freien Platz an der Reling. Sie war gerade rechtzeitig gekommen, um zu sehen, wie die breite Gangway eingezogen wurde. Kurz darauf ertönte von unten machtvoll das Kommando: »Leinen los!«

Der ›blaue Peter‹ wurde gehisst, und ein ohrenbetäubender, mehrstimmiger Sirenenklang schallte über den Hafen von Southampton. Aus den beiden vorderen Schornsteinen entwich weißer Dampf. Der Sirenenton gab allen Musikkapellen auf dem Kai den Befehl, gleichzeitig mit dem Spielen zu beginnen. Ohrenbetäubender Lärm brandete auf. Die Leute begannen lauthals zu johlen, zu lachen und Abschiedsgrüße zu rufen. Kurz darauf ging ein Vibrieren durch das mächtige Schiff. Die kraftvollen Maschinen hatten zu arbeiten begonnen, und aus drei Schornsteinen stiegen gewaltige Rauchwolken auf. Das neue Wunder der Technik stellte seine Kraft und Bedeutung zur Schau, und Gladys überlief eine Gänsehaut.

Sie sah ein paar Männer, die laut rufend den Kai entlang auf die Gangway zugelaufen kamen, ihre Kleider und Habseligkeiten um die Schultern geschlungen in der Absicht, das Schiff noch zu erreichen. Als sie vor der Gangway standen, redeten sie wild gestikulierend auf einen Offiziellen ein, der dort Wache stand. Offenbar waren es Männer, die zur Mannschaft gehörten, wahrscheinlich Heizer. Ihre Versuche, die Verspätung zu entschuldigen, zeitigten keinen Erfolg. Der Offizier blieb unnachgiebig und wies die armen Kerle, die vermutlich dringend auf die Heuer angewiesen waren, zurück.

Die Titanic legte ab. Die Schleppschiffe zogen sie aus dem Dock, und der Abstand zwischen Dampfer und Ufer wurde größer. Alles geschah sehr langsam und würdevoll, wie es sich für das größte Schiff der Welt gehörte. Als die Schlepper die Fahrbahnrinne erreichten, zogen sie die Trossen straff, die Taue fielen ins Wasser und wurden von den Hafenarbeitern eingeholt.

Die Schiffsschrauben der Titanic begannen sich zu drehen, und während sie gegen die Flut anfuhr, gewann sie zusehends an Geschwindigkeit. Sie fuhr an den Liegeplätzen anderer Schiffe vorbei, an Dampfern und Frachtern, die neben ihr winzig wirkten und im Fahrwasser wie Nussschalen zu schaukeln begannen. In einer Linkskurve bog sie in den River Itchen ein und zog an den Liegeplätzen von zwei längsseits in Tandemformation vertäuten Schiffen vorbei. Von achtern näherte sich die Titanic einem dieser weit kleineren Schiffe mit dem Namen New York, und Gladys sah, wie sich die Taue der New York zuerst lockerten und dann wieder strafften, um gleich darauf wie gespannte Gitarrensaiten zu zerreißen. Sie erschrak, als sie erkannte, dass die New York, plötzlich herrenlos, im Sog des Ozeanriesen in dessen Weg hineindriftete, als wollte sie am festen Schiffskörper zerschellen. Man hörte Stimmen, die angstvoll aufschrien, doch die von vielen Passagieren befürchtete Kollision blieb aus. Es gelang der Titanic gerade noch, den Frachter haarscharf hinter sich zu lassen. Um Haaresbreite hatte das kleine Schiff die Bordwand der Titanic verfehlt.

Die Passagiere, die den Vorfall mitbekommen hatten, schüttelten verständnislos den Kopf. Es hatte nicht viel gefehlt, und die Titanic wäre ernsthaft beschädigt worden.

»Wie schnell kann etwas passieren«, rief eine adrett wirkende Dame mittleren Alters, die neben Gladys an der Reling stand.

»Fast wäre die Reise beendet worden, bevor sie überhaupt begonnen hat«, sagte ein anderer Passagier.

»Das bedeutet Unheil, wir werden es erleben. Lieber eine Kollision im Hafen als auf hoher See.« Die Dame neben Gladys machte ein bedenkliches Gesicht.

»Seien Sie nicht abergläubisch«, lachte Gladys. »Sie sind ja schlimmer als die Seeleute, die, was Aberglauben angeht, nicht zu übertreffen sind.«

»Ich wollte das Schiff gar nicht nehmen, aber mein Mann redete solange auf mich ein, dass ich schließlich nachgab«, erwiderte die Dame. »Seither bin ich von einem Gefühl quälender Unruhe erfüllt, und es wird von Tag zu Tag schlimmer.«

»Es ist die Aufregung des Reisens«, wandte Gladys ein; »wenn man selten reist, ist es ganz normal, dass man so fühlt. Lassen Sie uns erst einmal auf dem offenen Meer sein, dann werden Sie der Zuverlässigkeit dieses Dampfers vertrauen. Ist es nicht ein wunderschönes Schiff? Man fühlt sich doch hier wie auf festem Boden.«

»Ja, schön ist das Schiff, das ist wahr! Aber ist es wirklich so sicher, wie behauptet wird? Das Schiff ist aus Stahl, also kann es auch untergehen. Und dann dieser Name! Wie kann man so vermessen sein und ein Schiff ›Titanic‹ nennen. Er ist so anmaßend; eine Herausforderung unbekannter Mächte, ach, hätte das Schiff doch wenigstens einen anderen Namen!«

»Das nächste Schiff, das die White-Star-Line baut, soll Gigantic heißen«, sagte ein Mann, der hinter der Dame stand und ihr Gespräch offenbar mit angehört hatte. Er war ein kleiner, kräftig gebauter Mann mit einem pausbäckigen, ungestüm wirkenden Gesicht, dem der schwarze Schnauzer etwas Theatralisches verlieh. Bekleidet mit Knickerbockerhosen unterschied er sich in seiner ganzen Erscheinung auffällig, aber nicht unsympathisch von den anderen vornehm gekleideten Passagieren der ersten Klasse.

»Oh, diese Menschen«, erwiderte die Dame und wandte sich zu dem Sprecher um, »sie fordern das Unglück regelrecht heraus.«

Der Mann im Knickerbockeranzug lächelte zuerst Gladys, dann der anderen Dame zu und sagte:

»Ich möchte ja niemanden beunruhigen, aber der Name des Schiffes, mit dem wir fahren, scheint mir nicht nur aus mythologischem, sondern auch aus literarischem Grunde nicht sonderlich glücklich gewählt.«

Ein Wechsel in der Vibration zeigte, dass die Titanic Fahrt aufgenommen hatte. Der Zwischenfall mit der New York, der die Reise fast vorzeitig beendet hätte, schien schon vergessen. Die Titanic nahm Kurs in Richtung Normandie, wo sie in Cherbourg den nächsten Zwischenhalt auf ihrer Reise nach Amerika einlegen sollte.

»Wie kann es einen literarischen Grund für einen falschen Namen geben?«, fragte die Dame neben Gladys interessiert.

»Es hängt mit der mythologisch anmaßenden Bedeutung des Namens zusammen«, antwortete der Herr in Knickerbockern mit verschmitztem Lächeln. »Aber darf ich mich den Damen zuerst vorstellen. Mein Name ist Alfred Raubold. Reporter von den ›Hamburger Nachrichten‹.«

Gladys stellte sich als Mrs. Appleton vor, und die adrett aussehende Dame hieß Thayer.

»Sie sind Deutscher?«, fragte Gladys.

»Ein deutscher Reporter mit Korrespondenzen in London und New York«, erwiderte Raubold. »Ich beliefere meine Heimat mit Nachrichten aus aller Welt.«

Er strahlte Gladys mit einem zufriedenen Lächeln an, als ob er ein anerkennendes Wort erwartete. Er schien ein Reporter mit Leib und Seele zu sein.

»Also, mein Herr?«, sagte Mrs. Thayer, bevor Gladys etwas äußern konnte. »Lüften Sie das literarische Geheimnis!«

»Im Jahr 1898 verfasste ein wenig bekannter Schriftsteller namens Morgan Robertson einen Roman über einen Atlantikdampfer, der größer war als jedes andere bisher vom Stapel gelaufene Schiff«, antwortete Raubold. »Der Autor belud sein Schiff mit reichen und selbstgefälligen Passagieren und ließ es in einer kalten Aprilnacht einen Eisberg rammen und untergehen.«

»Mein Gott!« Mrs. Thayer schlug entsetzt die Hand vor den Mund.

»Das Romanschiff hatte eine Länge von 244 Metern, die Titanic ist 269 Meter lang«, fuhr der Sprecher fort, »beide Schiffe sind Dreischraubendampfer, erreichen eine Geschwindigkeit von 24 bis 25 Knoten, können ungefähr 3000 Passagiere aufnehmen und gelten als unsinkbar.«

»Sie wollen sich über mich lustig machen, nicht wahr, Mr. Raubold?«, fragte Mrs. Thayer.

»Das Buch können Sie kaufen – oder auch von mir ausleihen, wenn Sie mögen. Ich habe es in meiner Kabine. Ein Freund in London mit echtem britischen Humor gab es mir vor ein paar Tagen, als ich ihm erzählte, ich würde an der Jungfernfahrt der Titanic teilnehmen. Aber ich habe Ihnen noch nicht gesagt, wie der Name des Romanschiffes war.«

»Sprechen Sie.«

»Der Name war Titan.«

Mrs. Thayer wurde noch blasser, sodass Gladys befürchtete, sie könnte tatsächlich in Ohnmacht fallen.

»Das ist jetzt ein Scherz, nicht wahr?«

Der Reporter schüttelte den Kopf. »Bedauerlicherweise nein. Tja, manche Schriftsteller scheinen Propheten zu sein.«

»Warum sind Sie auf dem Schiff, wenn Sie damit rechnen, dass es untergeht?«, fragte Gladys.

Raubold hob seine Umhängetasche ein Stück an und deutete auf den Fotoapparat.

»Ich bin Fotoreporter, ein Pressemann«, sagte er. »Es gehört zu meinem Beruf, mich in Gefahr zu begeben. Das interessiert die Zeitungsleser. Sollte die Titanic das Schiff sein, dessen Untergang jener Autor vorausgesehen hat, hoffe ich, Aufnahmen vom Untergang machen zu können.«

Gladys lachte. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen, wenn Sie mit dem Schiff untergehen.«

»Nun«, lächelte Raubold, »ich hoffe natürlich, dass ich es rechtzeitig in eines dieser Rettungsboote schaffe, die sich hier oben befinden, und von dort aus die Aufnahmen machen kann. Die Titanic ist auf einer viel befahrenen Route unterwegs. Es wird nicht lange dauern, bis man von einem anderen Dampfer aufgenommen wird.«

Mrs. Thayer warf einen Blick hinüber zu den Rettungsbooten. »Gibt es denn genug Boote für alle Passagiere?«

Raubold schien einen Moment überrascht, als hätte er diese Möglichkeit noch gar nicht bedacht.

»Oh, jetzt machen Sie aber Scherze, meine Liebe! Ich muss mich wirklich einmal erkundigen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es für mich ein trockenes Plätzchen geben wird.« Er kratzte sich am Kopf. »Na ja – zur Not bin ich auch ein guter Schwimmer. Aber das ist natürlich nicht Sinn der Sache: Um die Fotos wäre es dann wohl geschehen.«

Es war etwas an Raubold, das Gladys vom ersten Moment an Vertrauen zu ihm fassen ließ.

»Sie werden keinen Platz im Rettungsboot brauchen, Mr. Raubold«, sagte Gladys zu dem Reporter. »Und schwimmen können Sie in dem großen, beheizten Bad, das es im Inneren des Schiffes geben soll. Die Titanic wird Sie währenddessen sicher bis nach New York tragen.«

»Hoffentlich haben Sie recht, meine Schöne«, schaltete sich Mrs. Thayer ein. »Ehrlich gesagt, bin ich immer etwas erleichtert, wenn jemand meinen negativen Ahnungen keinen Glauben schenkt.«

Die Titanic passierte die Küste der Isle of White, die im späten Sonnenlicht des Frühlingstages wunderschön aussah. Am Vordermast wehte die amerikanische Flagge, und als Gladys den Reporter fragte, wie das bei einem englischen Schiff sein könne, erklärte ihr dieser, die Beflaggung richte sich nach dem Zielhafen.

Als das Festland nicht mehr zu sehen war, verabschiedete sich Gladys von ihren neuen Bekannten und begab sich in ihre Kabine.

Erschöpft und müde lag sie auf ihrem Bett. Die Aufregungen der vergangenen Stunden, die sie seit ihrer Ankunft in Southampton recht erfolgreich überspielt hatte, hatten sie eingeholt. Sie musste dringend ein paar Stunden ruhen und war dankbar und froh über die Abgeschiedenheit ihrer Kabine. Sie schloss die Augen, und ganz allmählich, während das Schiff gleichmäßig summte, fiel die Anspannung der letzten 24 Stunden von ihr ab. Die erste Etappe ihrer Flucht war gelungen, und dafür musste sie dem lieben Gott dankbar sein. Zwar blieb ein dumpfer Zweifel, ob die Fluchtroute, die sie eingeschlagen hatte, die richtige war, aber nachdem das Schiff von England abgelegt hatte, fühlte sie sich an Bord der Titanic recht sicher.

Irgendwann schlief sie ein und erwachte dadurch, dass die beruhigenden Fahrtgeräusche nicht mehr zu vernehmen waren. Beim Blick durch das Kajütfenster stellte sie fest, dass die Titanic bereits die andere Seite des Kanals erreicht hatte und vor der Stadt Cherbourg vor Anker lag.

Die französische Stadt erstreckte sich entlang eines flachen Ufers vor dem Hintergrund eines purpurrot schimmernden Berges, gekrönt von einer viereckigen Festung. Die Sonne war noch nicht vollständig untergegangen, ihre Strahlen spiegelten sich in der sanften Dünung hinter den Wellenbrechern.

Der Hafen von Cherbourg war wesentlich kleiner als der von Southampton, sodass die Titanic weit vor der Küste ankerte. Den Transport der Passagiere hatten mehrere Tenderboote übernommen. Sie sah, dass nur wenige von Bord gingen und weit mehr neue Passagiere mit den Tendern auf die Titanic gebracht wurden. In der voranschreitenden Dämmerung sah Gladys, wie sich die Lichter der Titanic auf der Meeresoberfläche spiegelten.

Der Essensruf des Hornisten ertönte, und Gladys überlegte, ob sie sich die Mahlzeit vom Zimmerkellner servieren lassen sollte. Für einen Erste-Klasse-Passagier war es möglich, New York zu erreichen, ohne auch nur mit einem einzigen Mitreisenden sprechen zu müssen. Auch wenn sie nicht sehr erpicht darauf war, den elitären Zirkel näher kennenzulernen, entsprach es nicht ihrer Art, sich zu isolieren und von dem Geschehen an Bord auszuschließen. Die Mitreisenden boten ihr in dem Fall, dass ihre Feinde herausgefunden hatten, dass sie den Ozeanriesen bestiegen hatte, einen größeren Schutz. Angst vor hochgestellten Herrschaften hatte sie nicht. Wenn sie auch nicht bei jedem Thema mitreden konnte, war sie es aufgrund ihrer Schönheit gewohnt, sich in besseren Kreisen zu behaupten, zumal sie häufig Männer gegen gutes Geld zu Veranstaltungen der vornehmen Gesellschaft begleitet hatte.

Als die Anker gelichtet waren und der Wechsel in der Vibration anzeigte, dass die Titanic wieder Fahrt aufgenommen hatte, erhob sie sich. Für den Speisesaal wählte sie ein graues, schlichtes Kostüm. Übersehen würde man sie dennoch nicht. Sie gehörte zu den Menschen, von denen das Sprichwort sagte, sie könnten Säcke tragen und sähen deshalb nicht weniger schön aus als im teuersten Kleid.

Der Speisesaal der ersten Klasse, in elegantem Goldschnörkelstil gehalten, war riesig und bot Platz für mehrere Hundert Personen. Schwarzbefrackte Kellner mit weißen Handschuhen bedienten die Gäste und öffneten mit diskreter Geräuschlosigkeit Champagnerflaschen.

Gladys wählte einen kleinen Tisch, an dem sie allein sitzen konnte. Der Kellner brachte ihr die Speisekarte, und sie entschied sich für Fisch.

Es dauerte nicht lange, bis das begann, was immer geschah, wenn sie sich ohne Begleitung in der Öffentlichkeit aufhielt, die Männer – aber auch Frauen – wurden auf sie aufmerksam, und von den Nebentischen warf man Blicke auf sie. Von ihrer Begabung, Blicke zu ignorieren oder sie aufzufangen und gleichsam zurückzuwerfen, machte sie in der folgenden Stunde ausgiebig Gebrauch.

Als sie den Speisesaal wieder verließ, hörte sie hinter sich eine Stimme, und als sie sich umdrehte, erblickte sie den deutschen Reporter Raubold. Er hatte seine Kamera ausgepackt und strahlte sie an.

»Liebe Mrs. Appleton, darf ich für die Nachwelt festhalten, was für schöne Frauen die Titanic auf ihrer Jungfernfahrt begleiten? Darüber zu berichten ist ja der wahre Zweck meiner Reise.«

An Fotografien hatte sie überhaupt nicht gedacht, vor allem nicht daran, dass Aufnahmen der illusteren Erste-Klasse-Passagiere so interessant sein könnten, dass man sie in den großen Zeitungen der Welt, also auch in London, veröffentlicht sehen könnte.

»Auf keinen Fall, Mr. Raubold«, erwiderte Gladys und hob wie zur Abwehr die Hände. »Ich sehe heute unvorteilhaft aus.«

»Unvorteilhaft?« Raubold schüttelte den Kopf und war eine Weile sprachlos. »Aber nein! Wie können Sie so etwas sagen! Sie sehen einfach wundervoll aus!«

War es wirklich so schlimm, wenn ihr Bild um die Welt ging, überlegte sie. Amerika war groß. War sie erst einmal in den Vereinigten Staaten, würde man sie bald vergessen, egal, ob ein Bild von ihr in der Zeitung stand. So lang war der Arm der Rächer sicher nicht, als dass sie nach Monaten oder Jahren in den Vereinigten Staaten ergriffen werden konnte.

»Oh, Mrs. Appleton«, setzte Raubold nochmals an, und es klang wie resignierend; »Sie sind wahrhaftig verteufelt schön!«

»So? Wirklich?«, fragte sie lächelnd.

Das Kompliment dieses einfach wirkenden Menschen bedeutete ihr mehr als die geschnörkelte Höflichkeit eines faden Salonhelden. Eigentlich hatte sie nichts dagegen einzuwenden, fotografiert zu werden, und einen Augenblick rang sie mit sich selbst, ihm ihre Zustimmung zu geben; aber dann zwang sie ihre Eitelkeit nieder und sich selbst dazu, lieber vorsichtig zu sein.

»Nein, dafür ist es noch viel zu früh. Das möchte ich nicht. Heute auf keinen Fall.«

Raubold schaute verdutzt drein, da er mit ihrer nachhaltigen Weigerung anscheinend nicht gerechnet hatte. »Schade«, fügte er sich ihrem Willen. »Aber Sie versprechen mir, dass ich Sie bei anderer Gelegenheit ablichten darf, Mrs. Appleton.«

»Versprochen«, antwortete Gladys, die sich sagte, dass ihr schon etwas einfallen würde, wie sie mit Raubolds Anliegen fertig werden würde.

Raubold begleitete sie auf das Bootsdeck, wo die Sterne über der nur leicht gekräuselten Wasseroberfläche glitzerten.

»Ich habe heute Nachmittag die Rettungsboote gezählt«, berichtete er. »Ich kam nur auf 16, aber man erzählte mir, es seien zusammen mit den Faltbooten 20. Einen der Offiziere habe ich gefragt, wie viele Personen in einem Boot Platz fänden. Er meinte 65, was mir eigentlich ziemlich viel erscheint, wenn man sich die Boote so betrachtet. 20 mal 65, das sind 1300. An Bord sind zusammen mit der Besatzung mehr als 2200 Personen.«

»Mrs. Thayer hatte also wirklich recht«, seufzte Gladys. »Die Plätze in den Booten reichen nicht für alle Passagiere.«

»Wir müssen uns trotzdem keine Sorgen machen«, erwiderte Raubold. »Die Titanic selbst ist das Rettungsboot, wurde mir gesagt. Angenommen, das Schiff gerät in einen Sturm – wo würden Sie sich sicherer fühlen, hier auf dem Schiff oder in einer dieser Nussschalen?«

»Bei einem Sturm auf dem Schiff! Aber was passiert bei einer Havarie? Wenn das Schiff nach einer Kollision voll Wasser läuft?«

»So schnell läuft ein Schiff wie die Titanic nicht voll. Der Offizier erklärte mir auch, die Rettungsboote seien gar nicht dafür gedacht, alle Passagiere aufzunehmen.«

Gladys runzelte die Stirn. »Sondern?«

»Rettungsboote sind dazu bestimmt, bei einer Kollision Transporte von Schiff zu Schiff oder im Falle eines Auf-Grund-Laufens von Schiff zu Land auszuführen. In beiden Fällen kann ein Boot mehrfach verwendet werden.«

»Der Atlantik ist tief, auf Grund kann die Titanic hier nicht laufen«, sagte Gladys. »An eine Kollision mit einem anderen Schiff glaube ich auf dem riesigen Atlantik auch nicht. Aber Sie haben den Eisberg vergessen, von dem Sie mir berichtet haben. Was ist denn dann? Sollen wir etwa alle auf den Eisberg klettern?«

Raubold lachte. »In dem Buch haben es die Überlebenden tatsächlich so gemacht. Aber keine Sorge, wir folgen einer viel befahrenen Route. Ein größeres Rettungsboot als ein Eisberg ist immer in der Nähe.«

»Glauben Sie wirklich, wir werden Eisberge sehen?«, fragte Gladys. »Schließlich fahren wir nach New York und nicht zum Nordpol.«

»Sie verraten erhebliche Unkenntnis, meine Liebe. Die Eisberge dringen in dieser Jahreszeit bis weit nach Süden vor. Der April ist ein kalter Monat, was das Meer angeht. Die Temperatur des Wassers kann auch in den gemäßigten Breiten unter den Gefrierpunkt sinken.«

»Dann müssen wir alle gut aufpassen, damit wir die Eisberge rechtzeitig sehen und dem Kapitän Bescheid sagen können, damit er sie umfahren kann.«

»Besser wäre es schon, wenn ein Eisberg gar nicht erst in Blickweite kommt«, meinte Raubold nachdenklich. »Die Titanic fährt mit einer Geschwindigkeit von mehr als 20 Knoten. Mit einem Schiff dieser Größe fährt man nicht mal eben um einen Eisberg herum.« Er warf einen Blick hinüber zu den Booten. »In einer dieser Nussschalen hingegen gelingt das leicht.«

»Sie sind der Experte, Mr. Raubold«, sagte Gladys, »aber ich mach mir keine Sorgen. Und was dieses ominöse Buch angeht – ich bin jeglichem Aberglauben abhold.«

»Natürlich haben Sie recht«, sagte Raubold. »Das ist alles Unsinn! Aber sagen Sie – meine Liebe – sollten wir nicht in einem der Rauchsalons ein Gläschen Wein zu uns nehmen? Darf ich Sie einladen?«

»Gern, aber nur ein einziges Glas, ich habe mir vorgenommen, heute früh schlafen zu gehen. Mein Nachholbedürfnis an Schlaf ist ziemlich groß.«

Im Café Parisien, das im Stil der französischen Straßencafés gestaltet war, herrschte großer Andrang. Gladys und Raubold fanden einen kleinen Tisch in der Nähe der Tür. Trotz des Trubels wurden sie unverzüglich bedient, und sie bestellten Rotwein.

»Es gibt keinen Gatten, der Sie begleitet?«, fragte Raubold.

Gladys schüttelte den Kopf.

»Mein Mann musste mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus«, sagte sie, »ich konnte die Reise jedoch nicht aufschieben. Ich besuche eine Freundin, die in der nächsten Woche in New York heiratet.«

Raubold nickte. »Ich bin auch allein«, sagte er, »aber nicht nur hier auf dem Schiff.« Ein Leuchten erhellte seine Züge, als wäre ihm eine gute Idee gekommen. »Wir sollten einander Gesellschaft leisten.«

»Das tun wir doch schon«, sagte Gladys.

»Ich wollte sagen«, sagte Raubold, »an Bord der großen Schiffe ist es üblich, dass allein reisende weibliche Passagiere sich einen allein reisenden Herrn als Beschützer wählen.«

»Wovor wollen Sie mich beschützen?«

»Nun, eine schöne Dame wie Sie –«

»Ich weiß mich ungebetener Verehrer gut zu erwehren, falls Sie das meinen«, lächelte sie, »darin bin ich geübt.«

Vor Verehrern musste sie keine Angst haben, dachte sie dann; nein, gewiss nicht, wohl aber vor den Freunden und Helfern von Frank Jago. Bei dem Gedanken an Phils Mörder verflog ihre gute Laune, und ihr Blick umschattete sich.

Raubold bemerkte es. »Oh meine Liebe, habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein, Mr. Raubold«, erwiderte Gladys leise. »Wenn Sie ein Auge auf mich haben wollen, soll mir das recht sein. Ich halte Sie für einen Ehrenmann, der keine unlauteren Absichten verfolgt.«

Als sie den Blick durch das Café schweifen ließ, erblickte sie an einem der Nebentische ein Trio, bestehend aus zwei Frauen und einem Herrn, das ihre Aufmerksamkeit in besonderer Weise fesselte. Der Herr war ein groß gewachsener blonder Mann, deutlich über 50, der aussah wie ein Mann von Format, aber mit merkwürdig kalten blauen Augen, deren Unbeweglichkeit ihm eine unheimliche Aura verlieh. Die Frau an seiner Seite, deren Hand er hielt, war anscheinend seine Gattin. Sie war deutlich jünger als er, eine schöne, zart wirkende Person, sicher nicht über 40, der es trotz ihres guten Aussehens an Selbstbewusstsein zu mangeln schien. Auf irgendeine, schwer durchschaubare Weise schien sie von der anderen Frau dominiert zu werden, als stünde sie unter deren medialem Einfluss. Die andere Frau wirkte mit ihrer gedrungenen Gestalt und dem ungewöhnlich großen Kopf mit dem nach hinten abgeflachten Schädel eher wie eine Hexe. Ihr hartes Gesicht mit dem gelblichen Teint war von dichtem, kurzem Haar undefinierbarer, schmutziggrauer Farbe gerahmt. Es gab schon eigenartige Konstellationen in den Beziehungen der Menschen zueinander, überlegte Gladys und musste lächeln, als sie den herrischen Ton vernahm, mit der die hässliche Frau der hübschen ein paar Sätze zuwarf.

»Sie sind wirklich etwas ganz Besonderes, Mrs. Appleton«, sagte Raubold und hob seufzend sein Glas. »Ihr Gatte ist zu beneiden. Trinken wir auf Sie, schöne Mrs. Appleton – und auch auf den beneidenswerten Mann an Ihrer Seite.«

Gladys lächelte zart.

»Ja, stoßen wir darauf an, dass ich bald wieder einen liebenden Mann an meiner Seite haben werde, und darauf, dass wir trockenen Fußes nach Amerika gelangen.«