Ein echter Freund
»Ich gehe jetzt baden. Kommst du mit, Antoine?«
Es war im Sommer 1992. Trotz der warmen Jahreszeit war die Luft in den schönen Schweizer Bergen recht frisch. Antoine, der am Flussufer saß, schien über den Vorschlag seines Freundes Edouard nicht besonders begeistert zu sein. Edouard jedoch, vom Fluss angelockt, streifte schnell seine Hose ab und watete in das eiskalte Wasser, das von den Bergen herunterfloss. »Juhu!«, rief Edouard ausgelassen.
Antoine sah ihm mit vorwurfsvollem Schweigen zu. Edouard hatte, wie man so zu sagen pflegt, »wieder genug geschluckt«. Wie gewöhnlich hatte er in den letzten Stunden gut gekühlten Fendant und Bier in großen Mengen durcheinander hinuntergekippt, sodass er bereits reichlich benebelt war. Und sein guter Freund Antoine, sein Kumpel, sein Partner, sein Chef, hatte nicht mehr als sonst versucht, ihn vor dem völligen Abrutschen in den Alkohol zu bewahren. Es war deprimierend, wenn man miterleben musste, wie ein so netter junger Mann mit keckem Schnurrbart und sympathischem Gesicht immer mehr dem Alkohol zusprach. Ja, Edouard hatte in letzter Zeit viel Pech gehabt: Scheidung, Trennung von seinen Kindern, Verlust des Arbeitsplatzes, den er vor dem jetzigen gehabt hatte. Trotz der Zuwendungen durch seine Mutter und seine Schwester musste er in einem Heim leben, unter der
Kontrolle einer Sozialhelferin, die sein kleines Budget verwaltete, mit dem er nie auskam.
Diese Gedanken gingen Antoine durch den Kopf, als er Edouard beobachtete, der zitternd im Wasser stand und darin herumplantschte. Die Kälte griff mit Eisesklauen nach ihm und jeder scharfsichtige Beobachter hätte sehen können, dass Edouard nicht gerade in guter Verfassung war. Antoine aber bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken. Wer weiß, was Antoine, dem guten Freund, durch den Kopf ging. Da wurde Edouard plötzlich ohnmächtig und vom Strom weggetrieben. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht unter Wasser, das ihm in die Nasenlöcher drang und allmählich auch seine Lungen füllte. Antoine sah dem Freund nach, der regungslos auf dem Fluss dahintrieb.
Doch Betrunkene haben offensichtlich einen besonderen Schutzengel. Etwas weiter entfernt gingen zwei Portugiesen am Ufer entlang und betrachteten das ruhig dahinfließende Wasser, ein Symbol der friedlichen Schweiz. Plötzlich wurden ihre Blicke von Edouard angezogen; sie glaubten zuerst, es handele sich um einen Ertrunkenen. Die Portugiesen machten einen Polizisten, der sich in der Nähe aufhielt, auf den Mann aufmerksam. Zu dritt gelang es ihnen dann, den leblosen Körper an Land zu ziehen. Die beiden jungen Männer führten eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch und pressten ihm das Wasser aus den Lungen. Edouard kam wieder zu sich, konnte sich jedoch an nichts erinnern. Nur allmählich kam ihm wieder ins Gedächtnis, dass etwas weiter oben am Fluss sein Freund wartete und auf seine Kleider aufpasste. Als er kurz darauf wieder auf Antoine traf, der immer noch an derselben Stelle saß, fragte er ihn leicht vorwurfsvoll: »Du hättest mich doch nicht etwa ertrinken lassen, oder?«
»Ich glaubte, du machst Faxen«, erwiderte Antoine gepresst.
Trotz seines Hangs zum Alkohol war Edouard ein gutmütiger Kerl und auch nicht nachtragend. Und wenn er einen Freund hatte, vertraute er ihm blind. Dies sollte allerdings zu seinem Untergang führen. Ein paar Tage später hatte er, durch zu viel Alkohol in seinem Erinnerungsvermögen beeinträchtigt, den ganzen Vorgang vergessen.
Antoine unternahm anschließend mit seinem Angestellten eine Geschäftsreise. Die Straße war schmal, schlängelte sich gefährlich zwischen steinigen Randstreifen und tiefen Felsschluchten dahin. Das Ganze war auch deshalb gefährlich, weil Antoine es eilig zu haben schien. Er drückte aufs Gaspedal, als hätte er eine Verabredung mit dem Teufel. Neben ihm klammerte sich Edouard, leicht nervös, krampfhaft ans Armaturenbrett. Dennoch war er sich der Gefahr nicht voll bewusst. Seit dem Morgen hatte er bereits wieder einige Glas Weißwein und Bier zu sich genommen. Eine gefährliche Mischung! Nach ihrer letzten Rast, die im Übrigen nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, stand Edouard dermaßen unter Alkohol, dass er anfing, die Augen zu verdrehen. Die Wirtin des Gasthofs erkannte daran, in welch bedauernswertem Zustand sich Edouard befand. Er führte Selbstgespräche und versetzte seinem Freund und Chef einen Klaps, als wolle er ihn für einen Fehler bestrafen, den nur er selbst kannte. Antoine beschwerte sich lautstark über die offensichtliche Betrunkenheit seines Angestellten, die diesen sogar aggressiv werden ließ. Die Wirtin würde dies bei passender Gelegenheit bezeugen können.
Antoine und sein Beifahrer fuhren also wie der Teufel auf einer nassen Serpentinenstraße. Plötzlich öffnete sich in einer besonders gefährlichen Kurve die Wagentür auf Edouards Seite und dieser wurde in eine Schlucht geschleudert. Antoine brachte den Wagen ein paar Meter weiter zum Stehen und rannte zu Edouard hin. Sein Freund lag unten im Geröll, das Gesicht blutverschmiert, die Glieder verdreht. Kein Zweifel, er war tot... Doch nein, der Tote bewegte sich, richtete sich auf und kam sogar auf die Beine! Er war zwar stark mitgenommen, aber nicht ernsthaft verletzt. Edouard kletterte die Böschung bis zur Straße hinauf. Sicherlich musste er ärztlich versorgt werden, doch war er immerhin am Leben. Leicht benebelt von zu starkem Alkoholgenuss, war er auf die Kieselsteine geschleudert worden, wo er weich aufgekommen war, wie das oft bei Betrunkenen der Fall ist, die gar nicht wahrnehmen, was geschieht. Und er hatte Glück gehabt.
»Nun, Antoine«, stieß Edouard mühsam hervor, als der Freund bei ihm war, »du hättest mich ja um ein Haar ins Jenseits befördert.«
Doch bereits ein paar Stunden später hatte Edouard wieder alles vergessen und hätte nicht mehr sagen können, was genau passiert war.
Die Tage verstrichen. Edouard gab weiterhin die paar Groschen, die er besaß, für alle möglichen Getränke aus, sodass sein treuherziger Hundeblick immer verschwommener wurde. Antoine spielte weiterhin den wohlwollenden Chef und verblüffte alle durch fantastische Projekte: Erwerb eines Restaurants, Gründung einer Firma etc. Nur — mit welchem Geld?
Dann fuhr Antoine allein nach Frankreich. Er hatte einen Plan, in den er Edouard nicht eingeweiht hatte. Er führte auch die Werkzeuge mit sich, die für die Umsetzung dieses Plans erforderlich waren. Antoine fuhr zur Festung Kleber, einer alten Militäranlage aus dem Jahr 1870, die schon seit langem dem Verfall preisgegeben war und durch die Tunnel und gefährliche Gänge führten, die nicht einmal mehr als Schlupfwinkel für Liebespaare dienen konnten. Antoine ging durch eine quietschende Eisentür, betrat einen Gang, der unter einem Gewölbe lag, und sah sich nach einer passenden Stelle um. Er kratzte am Zement und lockerte einen Stein. Hier befand sich ein Abstützpunkt, der einen Teil der ganzen Anlage zusammenhielt. Der Unternehmer war technisch begabt und achtete sorgfältig darauf, dass nicht die ganze Decke des Gangs einstürzte. Er befestigte eine Schnur an dem Stein, der jetzt fast ganz lose war. Dann zog er sich zurück und rief seinen Freund Edouard an, der in der Schweiz geblieben war. Dieser sollte sich auf der Stelle in den Zug setzen und zu ihm kommen. Edouard informierte seine Mutter auf der anderen Seite der Grenze über dieses mysteriöse Projekt. Doch die Sozialarbeiterin, die sein Geld verwaltete, wollte ihm das Geld für die Fahrkarte nicht geben. Edouard wusste sich aber zu helfen und verabredete sich mit Antoine nicht weit entfernt von der Festung.
Antoine schlug ihm voller Begeisterung vor, die Gänge zu erforschen, die sicherlich hochinteressant wären. Edouard verstand nicht, wozu das gut sein sollte. Fest stand jedoch, dass es ihn direkt in den Tod führen würde.
Einige Tage später stellte ein Polizist, der sich in der Nähe der Festung aufgehalten hatte, fest, dass ein neuerlicher Einsturz das Aussehen der Anlage verändert hatte. Er näherte sich einem Steinhaufen, der neu war. Zwischen den Steinen entdeckte er einen Arm — es war der von Edouard. Die Untersuchung ergab schließlich, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben musste. Das Opfer schien sich, der Himmel mochte wissen, warum, in der Festung umgesehen zu haben. Unter seinen Füßen hatte wohl der Boden nachgegeben und ihn ins Leere befördert. Der arme Junge wurde auf der Stelle unter einer Steinlawine begraben. Seltsam war nur, dass er eine Zigarette zwischen den Fingern gehalten hatte.
Als Antoine in der Schweiz vom Tod seines Freundes erfuhr, war er zutiefst erschüttert. Bei der Beerdigung hielt er am Sarg seines Angestellten eine Rede. Er bot auch an, sich am Grabstein seines Freundes zu beteiligen. Als im Laufe der folgenden Tage Edouards Schwester ihn um das versprochene Geld bitten wollte, war er allerdings seltsamerweise nicht zu erreichen. Und dennoch...
Antoine dürfte wohl ziemlich schnell über den Tod seines Angestellten hinweggekommen sein. Vermutlich aus einem Instinkt heraus hatte er als voraussehender Chef bei der Einstellung des armen alkoholsüchtigen Edouard eine Lebensversicherung für diesen abgeschlossen und sich selbst als Begünstigten eingesetzt. Eigentlich war das ganz normal, da er die Prämien selbst bezahlte. Allerdings schien er in letzter Zeit immer mehr Probleme damit gehabt zu haben, sie rechtzeitig zu begleichen. Wäre Edouard ein paar Tage früher gestorben, hätte die Versicherung keinen Pfennig gezahlt. Seltsam. Man stellte eine Untersuchung an, die jedoch zu keinem Ergebnis führte. Antoine erhielt als erste Anzahlung eine Million französische Franc (etwa hundertsiebzigtausend Euro) ausbezahlt. Die Versicherung versprach, nach Klärung der Angelegenheit weitere drei Millionen auszubezahlen. Man müsse aber erst abwarten...
Nach Edouards Tod und Begräbnis ging das Leben für Antoine weiter. Während er abwartete, genoss er das Leben. Offensichtlich machte er dabei etwas falsch, denn nach kurzer Zeit befand er sich wegen einer anstößigen Angelegenheit hinter Schloss und Riegel. Ihm wurde vorgeworfen, seine Adoptivtochter belästigt zu haben. In der Schweiz nennt man ein solches Vergehen »Angriff auf die sexuelle Integrität«. Antoine, der durch die Festnahme nervös geworden war, überlegte sich im Gefängnis, dass ihm das Geld der Versicherung wie gerufen käme, um sich einen Anwalt leisten zu können und seinen Aufenthalt hier angenehmer zu gestalten. Voller Ungeduld wartete er auf die drei Millionen Franc, die ihm die Versicherung noch schuldete. Er brachte dies lautstark zum Ausdruck und erregte dadurch die Aufmerksamkeit eines Richters. Allerdings nicht in dem von Edouards Freund gewünschten Sinne. Der Richter unterzog Antoine einem Verhör und stellte ihm Fangfragen. Die Untersuchung kam voran und allmählich zog sich die Schlinge zu.
Schließlich brach Antoine zusammen. Er gestand, dass er seit Monaten versucht hatte, sich auf betrügerische Weise Geld zu beschaffen, indem er die von seinem Freund unterschriebene Lebensversicherung kassieren wollte. Als er ihn das erste Mal auf dem Fluss dahintreiben sah, hatte er nicht den Mut besessen nachzuhelfen. Als er beim zweiten Mal das Schloss der Wagentür manipuliert hatte, hatte er gehofft, dass sich Edouard zu Tode stürzen würde. Das dritte Mal hatte er, nachdem er den Stein des Abstützpunkts im Gang der Militäranlage gelockert hatte, darauf gelauert, dass der arglose Edouard den Fuß darauf setzen würde, was dann auch geschah. Edouard hatte schließlich an der Schnur gezogen, die er zuvor präpariert hatte, sodass alles über dem ahnungslosen Opfer zusammengebrochen war. Edouard hatte sogar noch im Tod die Zigarette zwischen den Fingern. Wenn der niederträchtige Antoine die restliche Versicherungssumme nicht mit so viel Lärm eingefordert hätte, wäre ihm wahrscheinlich mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks das perfekte Verbrechen gelungen.