LANGSAM FOLGTE SIE der Straße Richtung Schönberg. Der Nebel wurde mit jedem Schritt dichter. Aus einem nahen Haus war das Geklapper von Töpfen zu hören, ein Kind lachte, ein Motor brummte. Ansonsten herrschte wieder Ruhe in Merzhausen. Die Fremden mit ihren Autos, Hunden, Hubschraubern, Fragen waren fort, die das Spektakel und die Bedrohung nach Merzhausen gebracht hatten. Manchmal sah sie in den Blicken der Menschen, mit denen sie bei Einsätzen wie diesem sprach, die Angst vor der Heimsuchung, vor dem Eindringen des Unbekannten ins Bekannte. Sie wollten die Tür schließen und schweigen, denn mit dem Polizisten kam ihnen der Verbrecher ins Haus und ins Gefühl. Spektakel und Bedrohung, Lust und Angst, erst wenn der Polizist gegangen war, herrschte wieder Ruhe. Der Polizist verkörperte den Verbrecher. War der eine fort, hörte der andere auf zu existieren.

Ganz gleich, ob er noch irgendwo im Dunkeln saß und wartete.

Ein paar Minuten lang überlegte sie, ob sie es nicht darauf ankommen lassen sollte. Ob sie sich nicht ins Dunkel setzen und warten sollte. Vielleicht besagte der Fluchtplan, dass er warten würde, bis wieder Ruhe herrschte in Merzhausen.

Sie wusste jetzt, dass sie umdenken mussten. Sie führten einen asymmetrischen Krieg mit den Methoden symmetrischer Kriege. Sie kamen mit Dutzenden Leuten, mit Hunden und Hubschraubern, mit ihrer Technik, ihren Fragen, ihren Theorien. Sie taten, was sie immer taten, weil sie davon ausgingen, dass der Mann, den sie suchten, tat, was die Männer, die sie gewöhnlich suchten, immer taten. Dabei wussten sie inzwischen, dass dieser Mann anders war.

Also überlegte sie, ob sie sich ins Dunkel setzen und warten sollte.

Aber sie war zu müde für einen asymmetrischen Krieg.

 

Am Ende der Straße, am Rand der Felder und Äcker, wo sie den Mann aus dem Blick verloren hatte, blieb sie stehen. Im Licht der Lampen waren nur ein Streifen Erde und weißer Nebel zu sehen und ein Paar Scheinwerfer, die sich von Osten langsam näherten. Sie hatte eine Ahnung, die Ahnung wurde bestätigt. Ein blauer Audi aus einem Carport vor einem Haus mit viel Glas und viel Holz, jetzt blieb der Audi stehen, hinter der Windschutzscheibe ein fahles, schmales Gesicht mit Brille, das nach einem Albtraum suchte und eine Kommissarin fand. Sie trat zur Beifahrertür, öffnete sie, ließ sich in die Wärme und Stille des Wageninneren sinken. Klassische Musik, der Geruch nach Feuchtigkeit, Traurigkeit, Angst, nach Fragen, wie zählt er, wann kommt er, was für Feinde ... Flüchtig berührte sie Paul Niemanns Arm mit der Hand, sagte nichts.

 

Landwasser, Lahr, Merzhausen, eine einsame Suche ohne Sinn, wo sollte das hinführen? Aber sie schwieg. Sie ließ sich durch den Nebel fahren, begleitet von Mozart oder Bach oder Beethoven, oder was der Chor da sang. Musik zum Ergriffensein, zum Einsamsein, dachte sie, gefährliche Musik für Menschen, die in halbverlassenen Häusern ohne Treppen lebten, ihre Wohnungen am falschen Ende betraten und zu begreifen begannen, dass sie vielleicht doch besser hätten umziehen sollen. Dass ihnen doch nicht gleichgültig war, wo sie wie lebten.

Sie ließ den Zeigefinger über den CD-Player gleiten.

»Leiser?«, fragte Paul Niemann.

»Aus«, sagte Louise.

»Natürlich.«

Die Musik verstummte.

»Mögen Sie Brahms denn nicht?«

»Nicht, wenn ich Hunger hab.«

Sie grinste, doch Paul Niemann nickte nur, nachdenklich, als lohnte es sich, über eine solche Antwort nachzudenken. Aber dann sagte er: »Wir haben das gesungen, meine Frau und ich, als wir in München gelebt haben.« Er sah sie an. »Also, natürlich nicht diese Aufnahme ... Das Requiem, meine ich.«

»Sie waren in einem Chor?«

»Einem Kirchenchor.« Kein besonderer Chor, ein kleiner, engagierter Chor, der Chor der Lutherkirche in Giesing, dort hatten sie gewohnt, in München-Giesing, unterhalb des Giesinger Bergs, wo die Wohnungen einfach und manchmal schäbig waren und die Leute genauso einfach und manchmal schäbig, das schon, ja, aber eben menschlich, ganz einfach Menschen wie du und ich, und über ihnen auf dem Berg die mächtige Heilig-Kreuz-Kirche und in ihrem Schatten die kleine rostbraune Lutherkirche, an einer vielbefahrenen Straße gelegen, da hieß es manchmal, gegen den Verkehr anzusingen, und das hatten sie getan, gegen den Verkehr und den Alltag und die Anonymität der Großstadt angesungen ...

Sie bogen in die Straße der Niemanns ein. Der Nebel vor ihnen wurde sonnengelb, das Glashaus war hell erleuchtet.

Musik gegen den Alltag, Licht gegen die Angst.

»Und jetzt?«

»Jetzt haben wir keine Zeit mehr fürs Singen.«

»An der Zeit wird’s nicht liegen, Herr Niemann.«

Er schwieg.

»’Tschuldigung. Ich bin manchmal so, wenn ich Hunger hab.«

»Sie müssen oft Hunger haben.«

Sie sah ihn lächeln und lächelte mit. Das Opfer und die Kommissarin witzelten miteinander wie einst die Therapeutin und die Patientin am Krankenbett im Januar null drei.

Da wusste sie, dass Anne Wallmer mit ihrem schroffen Kommentar recht gehabt hatte. Weshalb sie immer wieder von vorn anfing, wenn die anderen den Beruf ablegten und das Privatleben anzogen.

Weil Beruf und Privatleben für sie längst eins geworden waren.

 

Paul Niemann hielt im Carport, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Louise hatte die Hand schon am Türgriff und zog sie zurück. Ihr war nicht wirklich nach weiteren Geschichten aus München-Giesing, doch sie spürte, dass sie jetzt wieder dicht dran war an Paul Niemann, um den sich doch alles drehte in dieser Geschichte aus Merzhausen. Also würde sie noch eine Weile zuhören.

Aber Paul Niemann schwieg.

Eine Bewegung ließ sie den Kopf wenden. Die Haustür war jetzt offen, ein Mädchen mit kurzem, rotem Haar stand auf der Schwelle, blickte zu ihnen herüber. Das kleine Gesicht und die selbstbewusste Haltung erinnerten an Henriette Niemann. An Paul Niemann erinnerte auf den ersten Blick nichts.

Das Mädchen winkte, Paul Niemann winkte lächelnd zurück. »Meine Tochter Carola.«

»Ja.«

»Sie sollten mit ihr reden. Sie ist ... Also, sie sieht viel, und sie macht sich viele Gedanken. Vielleicht ...« Paul Niemann brach ab.

»Morgen«, sagte Louise. »Jetzt muss ich ins Büro und dann ins Bett.«

Er nickte.

»Ich steig jetzt aus, Herr Niemann.«

»Ich ... Ich habe ihn fotografiert.«

»Den Mann?«

»Heute Nachmittag, als Sie ...«

»Lassen Sie sehen.«

Paul Niemann zog die Digitalkamera aus der Jackentasche, schaltete sie ein, betätigte Tasten, reichte sie ihr, hier drücken, um durchzuklicken. Ja, da war er, der Krieger, rannte in weiter Ferne, von schräg hinten aufgenommen, kaum sichtbar vor dem dunklen Acker, dem dunklen Wald, eher ein Schatten als ein Mensch. Dann, auf dem nächsten Foto, war er näher, ein Stück herangezoomt, wenn auch unscharf, ein verschwommener Körper, vom Kopf war nur das eisgraue Haar zu sehen. Die nächste Aufnahme zeigte ihn noch ein wenig näher, jetzt hatte er den Kopf gedreht, seine linke Gesichtshälfte war zu sehen, Paul Niemann musste exakt in dem Moment ausgelöst haben, als sich der Mann nach ihr umgedreht hatte.

»Das sind alle, mehr konnte ich leider nicht machen.«

»Wo ist der Zoom?«

»Oben rechts.«

Sie zoomte das Gesicht des Mannes heran, bis es sich in der Unschärfe auflöste. Sie wusste, dass die Techniker selbst aus der Unschärfe noch etwas herausholen würden.

»Nicht zu fassen ... Fotografieren Sie den Kerl.«

»Tja.« Paul Niemann lachte unsicher.

»Nicht zu fassen.«

»Ich ... Leider sind die Aufnahmen nicht gut, ich meine, ich war so weit weg, und ich konnte ja nicht laufen, sonst ...«

»Für ein erstes Fahndungsfoto wird’s reichen.«

»Meinen Sie?«

»Meine ich.«

Sie stiegen aus, gingen auf das Mädchen zu, das ihnen mit dunklen, ruhigen, wachsamen Augen entgegensah. Eine seltsame Kraft ging von ihm aus, eine natürliche Würde. Henriette mochte die schützende Klammer um die Familie sein, dachte Louise, aber ihr Zentrum war das Mädchen.

Morgen, dachte sie, nicht jetzt. Nicht wieder von vorn anfangen, jetzt, wo es zu Ende geht.

»Ich muss den Fotoapparat einstweilen behalten.«

»Ja, natürlich.«

»Bis morgen früh werden wir’s nicht schaffen. Falls Sie ...«

Nach Landwasser fahren oder nach Lahr oder nach Merzhausen – sie musste es nicht aussprechen.

»Oh, das macht nichts«, sagte Paul Niemann und zog aus der anderen Jackentasche eine zweite Digitalkamera.

 

Dann wurde sie dem Mädchen vorgestellt, das immer noch würdevoll, aber auch ein bisschen kühl wirkte, anschließend dem Jungen, der schon eher an den Vater erinnerte, auch so blass und unsicher war, dann kam die Mutter und lud sie auf einen Tee oder einen Kaffee oder ein Gläschen ein, vielleicht ja jetzt? Sie geriet ernsthaft in Versuchung, ein Tee, dachte sie, und hinterher was zu essen, und dann in die Badewanne, die sie sich groß und weiß und elegant vorstellte, und dann aufs Sofa im zweiten Stock, ein bisschen fernsehen unter einem Berg von Decken in einem Haus ohne Gerüst, und morgen geweckt werden von Henriette Niemann mit einem Becher Kaffee, und dann weiterreden von Frau zu Frau ...

Sie schüttelte den Kopf, ein anderes Mal.

 

Auf der Fahrt ins Büro fiel ihr ein, dass Jenny Böhm nicht angerufen hatte. An einer Ampel wählte sie ihre Handy-nummer, doch die Nummer war nicht mehr gültig. Im Weiterfahren wählte sie die Auskunft, ließ sich zum Festnetz der Wohnung verbinden, doch weder Jenny Böhm noch ihr Mann nahmen ab, und einen Anrufbeantworter gab es nicht. Sie ließ sich ins Pfarramt verbinden, lauschte der Bandansage, während sie in die Überwachungskamera der Verkehrskollegen winkte, die keine Strafbescheide schickten, sondern gelegentlich ein Foto. »Frau Böhm«, sagte sie sanft, »Frau Bonì bittet um Rückruf.«

 

Um zehn war sie in ihrem Büro, um elf hatte sie die Unterlagen, die Anne Wallmer, Mats Benedikt und Alfons Hoffmann auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatten, gelesen und gegengezeichnet und einen Bericht der Ereignisse des Tages ins Diktiergerät gesprochen, außerdem das Formular für die DNA-Untersuchung der Zigarette ausgefüllt, für die ein richterlicher Beschluss notwendig war. Sie ging zu Alfons Hoffmann, in dessen Büro noch Licht war, doch er war nicht da. Als sie die Unterlagen und Paul Niemanns Digitalkamera auf seinen Schreibtisch legte, fiel ihr auf, dass auch sein Hightechstuhl nicht da war. Da grunzte und schnarchte es aus einem Winkel des Raumes – inmitten von Yuccapalmen, Farnen und sonstigen Wedeln saß Alfons Hoffmann auf seinem Stuhl und schlief, als wäre er im Schlaf quer durch den Raum ins Gebüsch gerollt. Superstuhl entführt Hauptkommissar ... Sie lachte leise, Alfons Hoffmann erwachte. Aus dem grünen Dickicht heraus starrte er sie an. »Lass die Scherze, ich bin ein alter Mann.«

»Ein alter Mann im Rollstuhl.«

Gähnend stand er auf, befreite sich und den Stuhl aus dem Grünzeug. Am Schreibtisch setzte er sich wieder. »Ich hätte runterfallen können, Louise.«

»Ich war’s nicht, ich war bis eben in meinem Büro.«

»Dann war’s Rolf.«

»Rolf ist längst fort.«

»Aber wer war’s dann?«

»Der Stuhl war’s.«

»Der Stuhl?«

»Hat das Ding keine Feststellbremse? Wie bei einem Kinderwagen, du weißt schon, wo die Mami drauftreten kann, wenn sie Straßenbahn fahren, die Mami und ihr kleiner Liebling.«

Sie grinste. Alfons Hoffmann brummte.

»Dass das Ding von allein fährt, stand nicht im Handbuch.«

»Für den Stuhl gibt es ein ganzes Handbuch?«

»Gesundheit ist komplex und braucht Erklärung, Louise.«

»Und wenn du runtergefallen wärst?«

»Dann«, sagte Alfons Hoffmann lächelnd, »hätte mich der Stuhl aufgefangen.«

 

Sie gingen zusammen hinunter, vom dritten Stock ins Erdgeschoss, was mit Alfons Hoffmann immer eine Weile dauerte, doch Aufzug nach Feierabend war nicht, abends war Bewegung. Abends war »das andere Leben«. Alfons Hoffmann hatte einen entwurzelten niederbayerischen Drachen geheiratet, und der Drachen ging Punkt neun Uhr dreißig schlafen. So blieb Alfons Hoffmann abends lange im Büro, machte ausgedehnte Spaziergänge am Dreisam-Ufer, setzte sich an die Fitnessmaschinen in der Akademie, lebte »das andere Leben«, das ohne den Drachen, und stellte sich vor, er hätte nie geheiratet, zumindest nicht ein Wesen, das nur an Weihnachten gute Laune hatte.

»Die Lahrer haben angerufen«, sagte Alfons Hoffmann im zweiten Stock. »Wollten wissen, was sie mit dem Obdachlosen machen sollen. Ich hab gesagt, sie sollen ihn bis morgen behalten, wir kommen morgen rauf, heute ging es nicht.«

»Morgen früh, gleich nach der Besprechung.«

»Das Grundbuchamt hat zurückgerufen«, sagte Alfons Hoffmann im ersten Stock. »Das Land gehörte einem Bauern aus Au, der hat vor acht Jahren an den Bauträger verkauft. Ein alter Kauz, hat sich nie was zuschulden kommen lassen, aber man weiß ja nie.«

»Den sollen sich die Schwenninger ansehen.«

»Bob war da«, sagte Alfons Hoffmann im Erdgeschoss. »Wollte wissen, wie’s aussieht. Ich hab gesagt, es sieht noch nicht so gut aus.«

»Jetzt sieht’s besser aus.« Sie erzählte von Paul Niemanns Fotos.

»Also, wenn wir ihn jetzt nicht kriegen«, sagte Alfons Hoffmann. »Ich meine, mit Foto, wo soll sich der Kerl jetzt noch verkriechen?«

Sie betraten den Hof.

»Es sei denn, er ist ganz woanders abgetaucht«, sagte Alfons Hoffmann.

Louise sagte nichts. Plötzlich war das Wort, das sie gesucht hatte, da – untertauchen. Es war nicht ausgesprochen worden, sie hatte es lediglich gedacht, er war, hatte sie gedacht, nicht nur das Wegrennen gewöhnt, sondern auch das Untertauchen.

»Besorg morgen für Mats einen Plan der Kanalisation von Merzhausen«, sagte sie.

»Du meine Güte ...«

Sie nickte. Vielleicht hatte der alte Krieger einen halben Tag lang unter ihnen gehockt.

Hatte gewartet, bis wieder Ruhe herrschte in Merzhausen.

 

Um zwölf stand sie im Erdgeschoss ihres Hauses und starrte hinauf zu den Sternen. Keine Treppen mehr, kein Aufzug mehr, nur ein Schacht in den Himmel.

Im Briefkasten lag wie abgemacht der neue Schlüssel.

Sie stieg ein Metalltreppenhaus im Hof hinauf, betrat einen Metallsteg, stand vor einer Metalltür. Zu ihren Füßen lag die Schuhmatte, ein bisschen schief, fand sie und schob sie gerade, dann schob sie sie wieder schief, das wär ja noch schöner, wegen einer Metalltür neurotisch werden, du bist doch jetzt gelassen. Sie schlüpfte aus den Schuhen, steckte den Schlüssel ins Schloss, immerhin, die Tür quietschte nicht, das war ja schon mal was.

Sie tastete sich zum Lichtschalter, ließ den Anrufbeantworter laufen. Ein Anruf von Richard Landen aus Japan, ein Anruf vom kleinen Germain aus Kehl, kein Anruf von Jenny Böhm. Richard Landen sagte, er sei am Mittwoch wieder da. Ihr Bruder sagte, er wolle sie am Wochenende besuchen. Louise sagte, keine Zeit, Leute.

Ihr Blick fiel auf den Couchtisch, auf dem in einer Bierflasche eine Rose stand. So wünschten Oberschlesier, die aus unerfindlichen Gründen ein schlechtes Gewissen hatten, »Willkommen«.

Erst als sie den rötlichen Feinstaub bemerkte, der jede Horizontale in ihrem Wohnzimmer bedeckte, verstand sie das schlechte Gewissen.

Da war’s vorbei mit der neuen Gelassenheit.