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FREITAG, 15. OKTOBER 2010

ZAGREB/KROATIEN

In Ahrens’ Wohnung kam die Befangenheit.

Sie saßen am Esstisch, tranken im Halbdunkel Bier. Sie hatten über Adamek, Ćavar, Marković geredet, die bevorstehende Reise nach Rottweil, wo sie von einer Kollegin Adameks in Empfang genommen würden, er selbst war wieder in Berlin. Über Bleiben oder Heimfahren hatten sie noch nicht gesprochen, das wurde, dachte Ahrens in einem Anflug von Vergnügtheit, hinausgezögert.

Jetzt herrschte Schweigen.

Ihre Blicke streiften sich. Sie lächelten.

»Hm«, machte Vori. »Dann werde ich wohl …«

»Du wolltest noch von Ruder Finn …«

»Stimmt, Ruder Finn.«

»… erzählen.«

»Ja, Ruder Finn.« Er schwieg.

Sie hatte die Haare für den Empfang im Innenministerium nach hinten gebunden, streifte das Haargummi nun ab, ließ sie ein bisschen fliegen. »Nicht, wenn du nicht willst.«

»Doch, doch. Die Wirklichkeit, für die sich niemand interessiert.« Vori fuhr sich mit der Hand über den Mund, die Bartstoppeln knirschten. »Alle hatten sie PR-Agenturen Anfang der neunziger Jahre, Kroaten, Serben, Bosnier. Sie sollten vor allem die amerikanische Öffentlichkeit beeinflussen, du weißt schon, Imagewerbung, Lobbyismus, politische Propaganda. Ruder Finn war besonders engagiert, die haben zwischen 1991 und 1993 sowohl Kroatien als auch Bosnien und die Kosovo-Albaner vertreten. Kroatien ab August 1991, Bosnien ab Juni 1992 und die Albaner …« Er gähnte, zuckte die Achseln, grinste schief.

»Noch ein Bier?«

»Ja.«

Ahrens holte zwei weitere Flaschen aus dem Kühlschrank. »Die letzten.«

Sie tranken.

»Du solltest nicht mehr fahren, du hast zu viel getrunken.«

Vori winkte ab. »Bin’s gewöhnt.«

»Nein, wirklich.«

Er betrachtete das Sofa. »Sieht ganz bequem aus.«

»Ist es. Hab auch eine zweite Decke.«

»Sogar bequemer als mein Bett.«

»Wo steht das eigentlich, dein Bett?«

Er bewegte die Hand in Richtung Westen. »Eins in Stenjevec. Eins in Dubrava.« Er deutete nach Osten, dann nach Süden. »Eins in Novi Zagreb, aber nur für den Notfall, da laufen Ratten unten durch.«

»Jetzt hast du auch eins in Donji grad

»Das wäre natürlich praktisch.«

Sie lächelte. »Ruder Finn.«

»Nehmen wir Bosnien«, sagte er. »Ruder Finn kümmerte sich um alles. Amerikanische Medien, Kongress, Senat, Außenministerium, Botschaften, UN-Sicherheitsrat, humanitäre Organisationen. Sie haben für die Bosnier Pressekonferenzen und Interviews organisiert und Treffen mit hochrangigen Politikern, darunter Al Gore und Margaret Thatcher. Sie haben Artikel für wichtige amerikanische Zeitungen geschrieben, bosnische Regierungsmitglieder zu internationalen Balkan-Treffen wie dem KSZE-Gipfel begleitet, Briefe an Bush, Thatcher und andere diktiert, ein Infoschreiben nach dem anderen verbreitet … Steht alles in den Rechenschaftsberichten, die die Agenturen dem amerikanischen Justizministerium vorlegen müssen.«

»Klingt nach aufregender Lektüre«, sagte Ahrens. »Ich hab sogar eine Zahnbürste für dich.«

»Das Einzige, was mein Laptop noch nicht kann. Mir die Zähne putzen.«

Sie lachten.

Vori saß ihr gegenüber, zu weit entfernt, fand Ahrens. Zwischen ihren Köpfen die untere Hälfte der Hängelampe, zwischen ihren Händen Bierflaschen, allzu viele Barrieren.

»Hast du sie heute gekauft? Die Zahnbürste?«

»Nein, ich hatte sie schon, für … Gäste.«

Vori hob die Brauen. »Hast du öfter … Gäste?«

»Schon fertig mit Ruder Finn? War gerade so spannend.«

Er schmunzelte flüchtig. »Ein Beispiel: Serbische Heckenschützen hätten für die Erschießung von Kindern Geld bekommen und deswegen Jagd auf sie gemacht.«

»Hab davon gehört.«

»Elftausend verletzte, vierhundert ermordete Kinder«, sagte Vori. »Ein Bericht der BBC. Die Nachricht kam, wie sich später herausstellte, vom Informationsministerium der Kroaten. Ruder Finn hat sie verbreitet. Eine Mitarbeiterin hat gesagt, sie hätten nicht die Möglichkeiten, so was zu überprüfen. Das sei Aufgabe der Journalisten.«

Er lehnte sich vor, verschränkte die Finger. Löste sie, langte vorsichtig an den Bierflaschen vorbei, nahm ihre rechte Hand.

Ahrens hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ihr aufgrund einer zärtlichen Berührung Tränen in die Augen schießen wollten. Mühsam drängte sie sie zurück.

»Ob eine Information stimmt, ist egal«, sagte Vori. »Es geht nur darum, die Information, die dem Kunden nützt, möglichst schnell und weitflächig in Umlauf zu bringen. Dann hast du die Leute schon beeinflusst. Ich, ähm …«

Sein Griff wurde schwächer.

Sie schloss beide Hände um seine. »Weiter«, murmelte sie.

»James Harff, der damalige Ruder-Finn-Chef, hat das in einem Interview zugegeben. Lohnt sich zu lesen, es ist unglaublich. Die verstehen ihren Job. Haben es sogar geschafft, die amerikanischen Juden auf die Seite der Kroaten und der Muslime zu bringen, gegen die Serben, ihre Leidensgenossen aus dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl Tuđman antisemitische Tendenzen hatte und Izetbegović von einem fundamental-islamischen Bosnien geträumt hat. Harff wusste das. Als die ersten Berichte über serbische Lager veröffentlicht wurden, hat Ruder Finn sich an jüdische Organisationen gewandt und den Vergleich zu Nazi-Deutschland hergestellt. Viele Juden wandten sich entsetzt von den Serben ab. Aus den Lagern waren ›Konzentrationslager‹ geworden, aus den Serben Nazis, und kaum einer hat sich noch getraut, sich anzusehen, wie’s wirklich war.«

»Schlimm genug.«

»Ja, natürlich. Aber die Begriffe trafen nicht zu. Sie wurden benutzt, um zu manipulieren. Um die Wirklichkeit zu verschleiern. Ich meine, es ist verständlich, wenn ein bosnisch-muslimischer Politiker sagt, das alles erinnere ihn an Auschwitz. Aber es ist eben was anderes, wenn westliche Medien und Politiker das Wort aufgreifen. Irgendwo sitzt ein PR-Mann und reibt sich die Hände.«

»Verstehe. Bier ist keins mehr da, aber Rotwein.«

Vori nickte. Ein Glas Rotwein, zum Abschluss, warum nicht.

Sie holte Flasche und Gläser, schenkte ein.

»Das macht mich rasend«, sagte er. »Unsere Haltungen anderen Menschen und Ländern gegenüber basieren auf Phantasien. Auf den Lügen, die sich Dritte ausgedacht haben.«

»Die Wirklichkeit ist eben manchmal nicht zu ertragen.«

Vori erwiderte nichts.

»Ich hatte einmal für zwei Monate eine Tochter«, sagte Ahrens.