110»Echt cool«, sagte Nudge beifällig, als ich ihr die Rückseite meiner neuen Jeansjacke zeigte. Selbstverständlich musste ich noch Schlitze für die Flügel hineinschneiden, aber ansonsten war es ein edles Teil.
Ich grinste sie an. Sie sah überhaupt nicht wie Nudge aus. Jedes Mal wenn ich sie sah, war ich wieder verblüfft. Ihr dunkelbraunes Kraushaar war total geglättet und in Stufen geschnitten und mit blonden Strähnchen aufgelockert. Der Unterschied war unglaublich – sie war innerhalb von einer Stunde von einem schmuddligen Teenager zu einem Model geworden. Mir war nie aufgefallen, dass sie das Potenzial hatte, eine Schönheit zu werden, wenn sie erst erwachsen war.
»Und schaut euch das an!« Der Gasman hatte sich von Kopf bis Fuß in gelbgrüne Klamotten mit Tarnmuster gehüllt.
»Ich find’s okay«, sagte ich und streckte die Daumen hoch.
In diesem Secondhandladen, der so groß wie eine Scheune war, vollendeten wir unsere Totalveränderung. Der Gasman hatte in seinem feinen blonden Haar ganz weiße Strähnen. Diese hatten sie mit Gel hochgestellt und die Spitzen leuchtend blau gefärbt. Die Seiten waren superkurz geschnitten.
»Ich wünsche mir immer noch, du hättest erlaubt, dass sie mir auf den Hinterkopf rasieren: ›Bite Me‹«, beschwerte er sich.
»Nein!«, erklärte ich und rückte seinen Kragen zurecht.
»Aber Iggy hat sich ’n Ohrstecker machen lassen!«
»Nein!«
»Aber das machen doch alle!«, erklärte er mit perfekter Imitation seines Stylisten.
»Neiiiiin!«
Er stöhnte und ging zu Fang, dessen Haar ebenfalls kurz geschnitten war. Nur eine lange Strähne fiel ihm über die Augen. Diese hatte mehrere helle Strähnchen und sah aus wie das Gefieder eines Habichts. In diesem Geschäft hatte er seine schwarzen Klamotten gegen eine leicht andere schwarze Kleidung vertauscht.
»Mir gefällt das«, sagte Angel und hielt eine todschicke, flauschige Fleecejacke hoch. Ich hatte sie bereits mit neuen Cargohosen und einem T-Shirt ausgestattet.
»Hm«, meinte ich.
»Die ist so hübsch, Max«, flehte sie. »Bitte.«
Ich war nicht sicher, ob sie es schaffen würde, Gedanken in meinen Kopf zu bringen. Ihre Augen waren groß und unschuldig.
»Und Celeste gefällt sie auch«, fügte Angel noch hinzu.
»Angel, ich weiß nicht, wie praktisch so ein edles Teil ist«, sagte ich. »Schließlich sind wir ja auf der Flucht und so.«
Sie blickte den blauen Wunschtraum an und verzog das Gesichtchen. »Na ja, vielleicht hast du recht.«
»Alle fertig?«, fragte Iggy mit einem Hauch von Ungeduld. »Es ist ja nicht so, dass ich nicht liebend gern einkaufen gehe.«
»Du siehst aus, als hättest du die Finger in eine Steckdose gesteckt«, sagte der Gasman.
Iggys blondes Haar war wie beim Gasman mit Gel zu Spitzen hochgedreht, die am Ende schwarz waren.
»Echt?«, fragte Iggy. »Cool.« Er hatte sich ein Loch ins Ohr stechen lassen, ehe ich es mitgekriegt hatte. Sein schmaler goldener Ohrring war das Einzige, für das ich hatte bezahlen müssen.
Wir spazierten in den späten Nachmittag hinein. Ich fühlte mich frei und glücklich, obwohl die Sache mit dem Institut nur für den Moment zurückgestellt war. Ich wette, nicht mal Jeb würde mich so erkennen.
Mein Stilist hatte meinen langen Zopf gepackt und einfach abgeschnitten. Jetzt wehte mein Haar lose wie Federn. Beim Fliegen würden mir auch keine Haare mehr in die Augen kommen. Nie mehr Strähnen ausspucken während einer Flucht.
Doch damit nicht genug. Sie hatten mir pinkfarbene Strähnchen verpasst und – trotz meines Protests – ein dickes Make-up. Ich sah jetzt völlig verändert aus und mindestens wie zwanzig Jahre alt. Dass ich einen Meter siebzig groß war, half.
»Da vorn ist ein kleiner Park«, sagte Fang.
Ich nickte. Dort war es dunkler als auf der Straße, und wir hatten genügend Platz, um loszufliegen. Fünf Minuten später waren wir hoch über der Stadt und ließen die Lichter und den Lärm unter uns zurück. Es war ein herrliches Gefühl, die Flügel auszubreiten. Ich drückte mit voller Kraft. Alles war so viel leichter und cooler als unten auf der Erde.
Nur zum Spaß flog ich weite Kurven, atmete tief durch und genoss das neue Gefühl meines leichten Haars. Die Stylistin hatte die Frisur »Vom Winde verweht« genannt.
Wenn die wüsste!
111Von hier oben sah ich die Umrisse von Manhattan ganz deutlich. Auf der anderen Seite vom East River war Long Island, das viel, viel größer als New York City war. Wir flogen bei Sonnenuntergang hoch über der Küste und sahen kaum noch die Schaumkronen, die an den Strand schlugen.
Nach anderthalb Stunden waren wir über einem langen Strandstück, das ziemlich schwarz war. Wenig Lichter bedeutete wenig Leute. Fang nickte mir zu, und wir setzten zur Landung an. Wir genossen den Luftstrom, als wir hinunterschossen. Eine Achterbahn war ein Dreck gegen uns.
»Sieht gut aus«, meinte Fang und musterte den Strand, nachdem wir im weichen Sand gelandet waren. Es war ein wilder Strand, ohne Parkplätze. Große Felsbrocken sicherten uns an beiden Enden. Andere Felsen, ungefähr dreißig Meter landeinwärts, bildeten eine Art Höhle, einen Unterstand.
»Trautes Heim«, sagte ich und nahm meinen neuen Rucksack ab.
Ich suchte darin nach etwas Essbarem und gab den anderen, was wir hatten. Danach ließ ich mich auf einem großen angetriebenen Holzstumpf nieder. Zwanzig Minuten später legten wir die Fäuste aufeinander und rollten uns im Sand der Höhle zusammen.
Ich zuckte leicht zusammen, als sich die Stimme in meinem Kopf meldete. Zeit zu lernen, sagte sie.
Danach versank ich in Bewusstlosigkeit, als wäre eine Welle über mir zusammengeschlagen und hätte mich in die Tiefe gezogen. Ganz entfernt hörte ich Fetzen in fremden Sprachen, die ich nicht verstand. Dann sagte die Stimme: Das ist, weil du es wissen musst, Max. Du musst es wissen.
112Der Ozean. Wieder eine neue und unglaubliche Erfahrung. Wir waren bis vor vier Jahren in Laborkäfigen aufgewachsen. Bis Jeb uns gestohlen hatte. Danach hatten wir uns versteckt und unter allen Umständen neue Erfahrungen vermieden.
Jetzt taten wir jeden Tag etwas Neues. Es war eine Abenteuerreise.
»Eine große Krabbe!«, schrie der Gasman und deutete in die Brandung vor seinen Füßen. Angel lief zu ihm. Sie hielt Celeste so, dass deren Beine kaum das Wasser berührten.
»Plätzchen?«, fragte Iggy und hielt eine Tüte hoch.
»Hab nichts dagegen«, sagte ich. Am Morgen hatte ich mein Äußeres ein wenig gemildert. Dann war ich mit Nudge in die nächste Stadt gegangen. Wir hatten unsere Vorräte in einem Tante-Emma-Laden aufgestockt, der selbst gebackene Plätzchen verkaufte.
Ich machte es zu meiner Mission, Schokoladenplätzchen zu finden, die so gut waren wie die, die ich mit Ella und ihrer Mom gebacken hatte. Deshalb hatte ich gleich mehrere Dutzend gekauft.
Ich biss vom Plätzchen ab und kaute genüsslich. »Hmmm«, sagte ich und bemühte mich, nicht zu krümeln. »Deutlich Vanille, etwas zu süße Schokoladenchips, eindeutiger Geschmack von braunem Zucker. Ein ordentliches Plätzchen, aber nicht spektakulär. Was sagst du?«, fragte ich Fang.
»Ist okay.«
Manchen Menschen fehlt eben das gewisse Etwas, um gute Plätzchen zu schätzen.
»Ich geb ihm sieben von zehn Punkten«, bohrte ich nach. »Allerdings, warm aus dem Ofen ist noch besser.«
Iggy lachte und wühlte in meinem Rucksack nach einem Apfel.
Nudge kam. Ihre Sachen waren bis übers Knie nass. »Hier ist es echt cool«, sagte sie. »Ich liebe das Meer! Wenn ich groß bin, werde ich Wissenschaftlerin, die das Meer studiert. Dann fahre ich aufs Meer hinaus und tauche und finde neue Dinge, und National Geographic wird mir einen Job geben.«
Logisch, Nudge! Wahrscheinlich zu der Zeit, wenn ich Präsidentin werde.
Nudge lief zurück zum Wasser. Iggy stand auf und folgte ihr.
»Sie sind hier glücklich«, sagte Fang und blickte ihnen hinterher.
Ich nickte. »Es ist ja auch nichts dagegen zu sagen. Frische Luft, Friede, Stille, der Ozean. Schade, dass wir nicht hierbleiben können.«
Fang schwieg kurz. »Was, wenn wir hier sicher wären?«, fragte er. »Zum Beispiel, wenn wir wüssten, dass uns hier niemand etwas antun würde. Würdest du dann bleiben wollen?«
Ich war überrascht. »Wir müssen das Institut finden«, sagte ich. »Und wenn wir dort etwas erfahren, wollen die anderen bestimmt ihre Eltern aufspüren. Und dann? Wollen wir Jeb zur Rede stellen? Und wer ist der Direktor? Warum haben sie uns das angetan? Warum erzählen sie mir dauernd, ich müsse die Welt retten?«
Fang hielt die Hand hoch. Da wurde mir bewusst, dass ich die Stimme erhoben hatte.
»Was wäre, wenn …«, sagte Fang langsam, ohne mich anzuschauen. »Was wäre, wenn wir das alles vergessen würden?«
Mir fiel der Unterkiefer runter. Da verbringt man mit jemandem das gesamte Leben und glaubt, man kennt ihn, und der lässt plötzlich eine solche Bombe los. »Was bist du …«, fing ich an, aber da rannte der Gasman mit einer lebenden großen Krabbe auf uns zu. Die ließ er mir in den Schoß fallen, und Angel wollte Lunch. Ich hatte keine Chance, Fang bei den Schultern zu packen und zu brüllen: »Wer bist du? Und was hast du mit dem echten Fang gemacht?«
Vielleicht später.
113Am nächsten Morgen kam Fang aus der Stadt zurück und warf mir mit kurzer Verneigung die New York Post vor die Füße. Auf Seite sechs las ich: »Mysteriöse Vogelkinder nirgends zu finden.«
»Gut für uns«, sagte ich. »Wir haben zwei Tage geschafft, ohne große Aufregung an einem öffentlichen Ort zu erregen und unsere Fotos landesweit zu verbreiten.«
»Wir gehen schwimmen«, erklärte Nudge und tippte Iggy zweimal auf die Hand. Er stand auf und folgte ihr, Angel und dem Gasman hinunter zum Wasser.
Die Sonne schien. Obwohl das Wasser noch ziemlich kalt war, schien ihnen das nichts auszumachen. Ich war froh, dass sie diesen Kurzurlaub hatten, wo sie einfach nur Spaß haben konnten. Essen und schwimmen ohne Stress.
Ich stand natürlich weiterhin unter Stress.
Wieso hatten die Eraser uns noch nicht gefunden? Manchmal spürten sie uns so leicht auf, und dann wieder – wie jetzt – schienen wir uns tatsächlich sicher versteckt zu haben. Hatten sie nun eine Art Sender mit dem Chip in mich eingepflanzt oder nicht? Wenn ja, warum waren die Eraser nicht schon längst aufgetaucht? Es war, als spielten sie nur mit uns, wollten uns ständig Angst machen.
Wie ein Spiel. Wie ein Scheißspiel!
Genau wie Jeb in der Schule gesagt hatte. Genau wie die Stimme mir immer wieder sagte, dass alles nur ein Spiel sei, dass man durch Spielen lerne, dass alles ein Test sei.
Ich hatte das Gefühl, als leuchte plötzlich ein Neonschild vor mir auf. Zum ersten Mal begriff ich endlich, dass das alles vielleicht nur ein riesiges abartiges wichtiges Spiel sein könnte.
Und mich hatte man als Hauptspielerin ausgesucht.
Ich ließ groben Sand durch die Finger rinnen und dachte angestrengt nach. Okay. Wenn das ein Spiel war – wo waren die beiden Seiten? Gab es Doppelagenten?
Ich machte den Mund auf, um meine Gedanken an Fang weiterzugeben, hielt aber inne. Er schaute mich mit seinen dunklen Augen neugierig an. Plötzlich packte mich die kalte Angst. Ich senkte den Blick und fühlte, wie meine Wangen heiß wurden.
Was, wenn wir nicht alle im selben Team spielten?
Zum Teil schämte ich mich furchtbar, weil ich das gedacht hatte, aber andererseits erinnerte ich mich, wie oft mein wunderschöner Verfolgungswahn unsere Ärsche gerettet hatte.
Ich schaute hinaus aufs Wasser, wo Angel spritzte und der Gasman lachte. Sie tauchte unter, und Gasi jagte sie.
Hatte Angel sich verändert, seit wir sie aus der Schule gerettet hatten? Ich stöhnte und legte den Kopf zwischen die Hände. Es war alles zu viel! Wenn ich diesen fünf Menschen nicht trauen konnte, dann war mein Leben nicht lebenswert.
»Tut dir der Kopf weh?«, fragte Fang ruhig.
Seufzend schüttelte ich den Kopf, dann schaute ich wieder aufs Meer. Fang war meine Stütze. Ich brauchte ihn. Ich musste ihm trauen.
Musste ich wirklich?
Der Gasman starrte auf die Wasseroberfläche und schien verwirrt. Dann schaute er mit Panik im Gesicht zu mir.
Angel war nicht wieder raufgekommen. Sie war immer noch unter Wasser.
Ich rannte los.
114»Angel!«, schrie ich und stürzte mich ins Wasser. Ich erreichte den Gasman und packte ihn an der Schulter. »Wo ist sie untergegangen?«
Fang war dicht hinter mir, und Nudge und Iggy kamen auch zu uns. Wir fünf starrten in das kalte graublaue Wasser. Aber wir konnten nur einige Handbreit sehen. Dann schlug eine Welle über uns zusammen.
»Das wäre ein hervorragender Zeitpunkt für uns, den Röntgenblick zu bekommen«, meinte ich. Eine kalte Hand legte sich um mein Herz. Ich spürte, wie die Strömung an meinen Beinen zerrte und sah, wie der Wind das Wasser hinaus aufs Meer trieb.
»Angel!«, schrie Nudge und legte die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund.
»Angel!«, schrie ich auch und watete mit großen Schritten durchs Wasser. Dabei betete ich, dass ich sie berühren würde.
Fang schwenkte die Arme durchs Wasser und hielt das Gesicht dicht über die Oberfläche. Die Sonne blendete uns. Wir schwärmten aus und tauchten immer wieder in die Brandung.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Meine Stimme war schon ganz rau. Meine Augen brannten wegen der grellen Sonne und des Salzwassers.
Wir hatten einen großen Kreis abgesucht, vielleicht knapp dreißig Meter, und immer noch kein Zeichen von Angel. Meine Angel! Ich blickte zurück zum Strand, als würde ich sie dort zu Celeste gehen sehen, die auf einem Stück Treibholz wartete.
Endlose Minuten tickten.
Ich spürte jetzt, wie die Strömung an meinem gesamten Unterkörper zerrte. Es gelang mir nicht, das Bild abzuschütteln, wie Angels Leiche aus dem Meer geholt wurde. Ihre Augen vor Entsetzen geweitet. Waren wir so weit gekommen, um sie jetzt zu verlieren?
»Siehst du irgendwas?«, schrie ich Fang an.
Er schüttelte den Kopf und hielt die Augen aufs Wasser geheftet, dabei schwenkte er mit den Armen hin und her.
Wieder suchten wir das ganze Gebiet ab. Das Wasser, den Strand, das offene Meer.
Und dann noch mal.
Und noch mal.
Ich sah etwas, blinzelte und schaute noch mal hin.
Was war – o Gott! Knapp hundert Meter entfernt tauchte ein blonder Kopf aus dem Wasser auf. Ich konnte es nicht fassen. Angel stand bis zur Hüfte im Wasser und winkte uns fröhlich zu.
Mir wurden die Knie weich. Beinahe wäre ich ins Wasser gefallen.
Angel und ich stürmten aufeinander zu. Die anderen kamen ebenfalls angerannt.
»Angel«, konnte ich kaum flüstern, als ich endlich nahe genug war. Unfassbar! »Angel, wo warst du?«
»Wisst ihr was?«, sagte sie fröhlich. »Ich kann unter Wasser atmen!«
115Ich nahm Angel in die Arme und drückte ihren kalten nassen Körper an mich. »Angel«, sagte ich und bemühte mich, nicht zu weinen. »Ich habe gedacht, du bist ertrunken! Was hast du gemacht?«
Sie schmiegte sich an mich, und ich brachte sie an den Strand. Wir brachen auf dem nassen Sand zusammen. Ich sah, dass der Gasman auch Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten.
»Ich bin bloß geschwommen«, sagte Angel. »Und dann habe ich zufällig Wasser geschluckt und musste husten. Aber ich wollte nicht, dass Gasi mich findet. Wir haben doch Verstecken gespielt«, erklärte sie. »Unter Wasser. Deshalb bin ich einfach unten geblieben, und dann habe ich gemerkt, dass ich das Wasser schlucken und unten bleiben konnte, ohne zu ersticken.«
»Was meinst du – Wasser schlucken?«, fragte ich.
»Ich habe es einfach geschluckt und dann so gemacht.« Angel presste Luft aus der Nase. Beinahe hätte ich über das komische Gesicht gelacht, das sie machte.
»Es kommt aus deiner Nase raus?«, fragte Fang.
»Nein«, antwortete Angel. »Ich weiß nicht, wo das Wasser hingeht. Aber Luft kommt aus meiner Nase.«
Ich schaute Fang an. »Sie zieht den Sauerstoff aus dem Wasser.«
»Kannst du uns das zeigen?«, fragte Fang.
Angel stand auf und lief zum Wasser. Sie ging bis zur Taille hinein. Ich war dicht neben ihr, damit sie uns ja nicht wieder verloren ging, nicht mal für eine Sekunde.
Sie kniete nieder, nahm den Mund voll Wasser und stand auf. Sie schien das Wasser zu schlucken, dann blies sie Luft aus der Nase. Meine Augen traten vor, dass ich Angst hatte, sie würden herausfallen. Aus unsichtbaren Poren an Angels Hals sickerte Meereswasser heraus.
»Wahnsinn«, stieß der Gasman hervor.
Nudge schilderte Iggy, was passierte. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Und das kann ich machen und damit unten bleiben und einfach weiterschwimmen«, sagte Angel. Sie schüttelte die Schultern und entfaltete die Flügel, damit diese in der Sonne trocknen konnten.
»Ich wette, das kann ich auch«, erklärte der Gasman. »Weil wir Geschwister sind.«
Er hockte sich ins Wasser und nahm den Mund voll. Dann schluckte er und versuchte Luft auszustoßen.
Er würgte und fing an, heftig zu husten. Meereswasser floss aus seiner Nase. Wieder würgte er. Beinahe hätte er sich übergeben.
»Alles okay?«, fragte ich, als er endlich wieder normal atmete.
Er nickte, sah aber immer noch aus, als sei ihm kotzübel.
»Iggy«, sagte ich. »Fühle doch mal Angels Hals. Vielleicht kannst du diese Poren spüren, wo das Wasser rauskommt.«
Wie Federn glitten Iggys Fingerspitzen über ihre helle Haut am ganzen Hals. »Ich kann überhaupt nichts fühlen«, sagte er. Das überraschte mich.
Nur um sicher zu sein, probierten wir es alle. Aber nur Angel konnte es. Ich erspare dir die ekligen Einzelheiten. Ich will nur so viel sagen, es gibt da einen Uferstreifen, neben dem ich nicht im Meer schwimmen möchte.
Also konnte Angel unter Wasser atmen. Unsere Fähigkeiten zeigten sich immer deutlicher, fast als hätte man sie so programmiert, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten ans Licht kamen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte ich beim Damespiel eine Dame gemacht – plötzlich verfügte man über mehr Kraft, mehr Macht als zuvor.
Echt abartig!
Überhaupt nicht abartig, Max!, meldete sich die Stimme. Göttlich. Brillant. Ihr sechs seid Kunstwerke. Genießt es.
Würde ich gern, wenn ich nicht ständig um mein Leben rennen müsste, dachte ich stinksauer. Mein Gott! Kunstwerke oder Missgeburten? Glas halb voll oder halb leer? Als würde ich nicht gern meine Flügel abgeben, wenn ich als Gegenleistung ein normales Leben mit normalen Eltern und normalen Freunden leben könnte!
Die Stimme in meinem Kopf lachte. Aber, Max, sagte die Stimme. Du und ich wissen, dass das nicht stimmt. Eine normale Familie und ein normales Leben wären für dich doch sterbenslangweilig.
»Wer hat dich gefragt?«, sagte ich wütend.
»Was gefragt?«, sagte Nudge überrascht.
»Ach, nichts«, meinte ich. Da hast du es! Manche Menschen haben coole Fähigkeiten. Sie können Gedanken lesen und unter Wasser schwimmen. Andere haben quälende Stimmen im Kopf.
Was war ich doch für ein Glückskind!
Was würdest du denn gern können, Max?, fragte die Stimme. Wenn du dir etwas aussuchen dürftest.
Hmmm. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich meine, ich konnte schon fliegen. Vielleicht würde ich gern Gedanken lesen können, wie Angel. Aber dann würde ich alles wissen, was alle dachten. Zum Beispiel, ob jemand mich tatsächlich nicht mochte, nur so tat. Was, wenn ich freie Wahl hatte?
Vielleicht würdest du die Welt retten wollen, sagte die Stimme. Hast du je darüber nachgedacht?
Nein. Ich runzelte die Stirn. Das überlasse ich den Erwachsenen.
Aber die Erwachsenen sind es, die die Welt zerstören, sagte die Stimme. Denk darüber nach!
116»Schaut mal, wer
hier am Strand ist.«
Eine tiefe weiche Stimme, voller Bosheit, weckte mich in der Nacht
aus dem Schlaf. Mein Körper verspannte sich wie ein Langbogen. Ich
wollte aufspringen, aber ein großer Fuß in einem Stiefel presste
mich nieder.
Ari. Immer Ari.
In der nächsten Sekunde waren Fang und Iggy wach. Ich streckte die freie Hand aus und weckte Nudge.
Ein Adrenalinstoß schoss durch meine Adern und verknotete die Muskeln. Angel wachte auf und legte einen Senkrechtstart ohne Anlauf hin. Sie presste Celestine an sich und schwebte ungefähr sieben Meter über uns. Ich sah, wie sie umherblickte, sah, wie sich auf ihrem Gesichtchen blankes Entsetzen abzeichnete.
Auch ich blickte umher.
Und mir stockte der Atem.
Wir waren von Erasern umzingelt, mehr Erasern als ich je zuvor gesehen hatte. Buchtstäblich Hunderte und Aberhunderte. Ich konnte es nicht fassen, dass sie derartige Mengen dieser widerlichen Wesen gezüchtet hatten.
Ari beugte sich herunter und flüsterte: »Du bist so hübsch, wenn du schläfst – und wenn dein Mund zu ist. Aber wie schade, dass du deine Haare abgeschnitten hast.«
»Wenn ich deine Meinung hören will, frage ich dich«, fuhr ich ihn an und wehrte mich gegen seinen Stiefel.
Er lachte, bückte sich und strich mir mit einer Klaue übers Gesicht. »Ich mag die Temperamentvollen.«
»Weg von ihr!« Fang stürzte sich auf Ari und überraschte ihn. Ari wog locker hundert Pfund mehr als Fang, aber Fang war wütend und blutrünstig. In diesem Zustand war er wirklich zum Fürchten.
Iggy und ich wollten ihm helfen, aber Eraser packten uns sofort.
»Nudge, Gasman!«, schrie ich. »Jetzt!«
Ohne Fragen zu stellen, sprangen die beiden hoch und flogen zu Angel hinauf. Eraser griffen nach ihren Beinen, aber die beiden waren schneller. Ich war so stolz, besonders, als Nudge wütend die Zähne zeigte.
Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, aber drei Eraser hielten mich fest. »Fang!«, schrie ich, aber er war außer Hörweite und in den Kampf mit Ari verstrickt. Dieser fuhr Fang mit seinen Klauen übers Gesicht und hinterließ parallele rote Linien.
Wir sechs sind übermenschlich stark, aber wir haben nicht die schiere Muskelmasse eines ausgewachsenen Erasers. Fang war total unterlegen, trotzdem gelang es ihm, Ari das Schlüsselbein zu brechen.
Ari schrie und fletschte die Zähne. Dann holte er aus und versetzte Fang einen Faustschlag gegen den Kopf. Sein Kopf flog seitwärts. Er schloss die Augen und stürzte wie eine bleierne Ente zu Boden.
Ari packte Fangs Kopf und schlug ihn gegen einen Stein. Und dann noch mal.
»Lass ihn in Ruhe! Hör auf! Bitte, hör auf!«, schrie ich. Rote Nebel der Wut waberten vor meinen Augen. Ich wehrte mich gegen die Eraser, die mich festhielten. Dem einen trat ich kräftig gegen den Spann. Er fluchte und verdrehte mir den Arm, bis mir die Tränen über die Wangen liefen.
Fang öffnete die Augen einen Spalt. Als er Ari über sich sah, nahm er Sand und warf ihn in Aris Gesicht. Dann kam Fang auf die Beine und trat Ari mit aller Kraft gegen die Brust. Ari taumelte zurück und hustete. Dann erholte er sich schnell und rammte Fang einen Ellbogen gegen den Mund. Blut spritzte aus Fangs Mund, und er ging wieder zu Boden.
Ich weinte und konnte nicht mehr sprechen, weil ein Eraser seine haarige Pranke über meinen Mund gelegt hatte.
Dann beugte sich Ari über Fang. Er hatte das Maul offen. Die scharfen Fänge waren bereit, Fang die Kehle zu zerfetzen. »Hast du genug vom Leben?«, stieß er hervor.
O Gott, o Gott, o Gott! Nicht Fang, nicht Fang, nicht Fang –
»Ari!«
Meine Augen wurden groß. Diese Stimme kannte ich nur allzu gut.
Jeb. Mein Adoptivvater. Jetzt mein schlimmster Feind.
117Kochend vor Wut sah ich, wie Jeb Batchelder locker durch die Menge der Eraser schritt und sie teilte, als sei er Moses und sie das Rote Meer. Es war bizarr, ihn so zu sehen – ich war so daran gewöhnt, ihn zu betrauern, nicht, ihn abgrundtief zu verachten.
Ari hielt inne. Sein stinkendes Maul war direkt über Fangs Hals. Fang war bewusstlos, atmete aber noch.
»Ari!«, sagte Jeb noch mal. »Du hast deine Befehle.«
Jeb kam auf mich zu, dabei behielt er Ari im Auge. Nach endlosen Sekunden zog sich Ari langsam, ganz langsam von Fang zurück. Dieser lag widernatürlich zusammengekrümmt im Sand.
Jeb blieb vor mir stehen.
Er hatte mir das Leben mehr als ein Mal gerettet. Er hatte unser aller Leben gerettet. Er hatte mir beigebracht zu lesen, wie man Rühreier macht, wie man Autos kurzschließt. Früher hatte ich an ihm gehangen, als sei er der Atem in meiner Lunge. Er war meine einzige Konstante, meine einzige Gewissheit.
»Begreifst du es jetzt, Max?«, fragte er freundlich. »Siehst du die unglaubliche Schönheit des Spiels? Kein Kind, kein Erwachsener, niemand hat je erfahren, was du empfindest. Verstehst du jetzt, weshalb all das notwendig ist?«
Der Eraser, der mich festhielt, nahm seine Hand von meinem Mund, damit ich sprechen konnte. Sofort räusperte ich mich und spuckte aus. Dabei traf ich Jebs Schuh.
»Nein«, sagte ich ruhig, obwohl ich im Inneren schrie und zu Fang laufen wollte. »Ich begreife es nicht. Ich werde es nie verstehen. Ich will raus aus alldem.«
Sein herzzerreißend vertrautes Gesicht verzog sich, als würde er gleich die Geduld mit mir verlieren. »Aber ich habe dir doch gesagt, dass du die Welt retten wirst«, sagte er. »Das ist der Zweck deiner Existenz. Glaubst du, ein normales, nicht trainiertes vierzehnjähriges Mädchen könnte das schaffen? Nein. Du musst die Beste sein, die Stärkste, die Klügste. Du musst absolute Spitze sein. Maximum.«
Ich gähnte und verdrehte die Augen, weil ich wusste, dass er das hasste. Jeb biss vor Ärger die Zähne zusammen. »Versage ja nicht«, sagte er dann mit harter Stimme. »In New York hast du dich okay gehalten, aber du hast auch ernste, ziemlich blöde Fehler gemacht. Fehler schaden dir. Triff bessere Entscheidungen.«
»Du bist nicht mehr mein Dad, Jeb«, sagte ich und versuchte so hasserfüllt wie möglich zu klingen. »Du bist nicht für mich verantwortlich. Ich tu, was ich will. Ich habe mir selbst den Namen gegeben: Maximum Ride.«
»Ich werde immer für dich verantwortlich sein«, erklärte er barsch. »Wenn du glaubst, dass du tatsächlich selbst dein Leben bestimmst, dann bist du offenbar nicht so intelligent, wie ich geglaubt habe.«
»Entscheide dich«, fuhr ich ihn an. »Entweder bin ich die Größte oder nicht. Na, was jetzt?«
Er gab mit der Hand ein Zeichen, und die Eraser ließen mich und Iggy los. Ari drehte sich um, grinste gemein und blies mir eine Kusshand zu.
Ich spuckte nach ihm. »Daddy liebt mich immer noch am meisten!«, zischte ich. Er lief dunkelrot an.
Er ging mit geballten Fäusten schnell einen Schritt in meine Richtung, aber die anderen Eraser stießen ihn unsanft zurück. Sie schoben ihn zu einem der großen Felsen am Ende unseres Strandes. Jeb war bei ihnen. Nein, er war einer von ihnen.
118Meine Schulter brannte wie die Hölle, als ich zum Strand hinunterlief. Zuvor hatte ich Fang abgetastet, ob er sich den Hals gebrochen hatte. Dann drehte ich ihn behutsam um. Blut tropfte aus seinem Mund.
»Fang, du musst aufwachen«, flüsterte ich.
Die anderen liefen zu uns. »Er sieht echt übel aus«, sagte der Gasman. »Er sollte zum Arzt.«
Nichts schien gebrochen zu sein – außer vielleicht der Nase –, aber er war immer noch ohne Bewusstsein. Ich legte seinen Kopf in meinen Schoß und tupfte mit meinem Sweatshirt die Blutstreifen von seinem Gesicht.
»Wir könnten ihn tragen, du und ich«, sagte Iggy. Seine langen, schmalen Finger glitten über Fang und ertasteten jede Beule und das Blut.
»Und wohin?«, fragte ich. Ich hörte die Bitterkeit in meiner Stimme. »Wir können ihn ja nicht einfach so ins Krankenhaus bringen.«
»Kein Krankenhaus«, murmelte Fang, immer noch mit geschlossenen Augen.
Mann, war ich erleichtert!
»Fang!«, sagte ich. »Wie schlimm ist es?«
»Ssiemlich ssslimm!«, antwortete er undeutlich. Dann stöhnte er, als er versuchte, sich auf die Seite zu legen.
»Nicht bewegen!«, befahl ich ihm, aber er drehte den Kopf und spuckte Blut in den Sand. Dann hob er die Hand und spuckte etwas hinein. Erst danach öffnete er die Augen.
»Zahn«, erklärte er. »Fühl mich echt scheiße.« Dann berührte er die Beulen am Hinterkopf.
Ich versuchte zu lächeln. »Du siehst aus wie eine Miezekatze«, meinte ich und malte Schnurrhaare auf meinem Gesicht, um ihm zu zeigen, wo Aris Klauen ihn verletzt hatten. Er blickte mich sauer an.
»Fang, ich bin ja nur froh, dass du lebst!«, sagte ich, dann versagte mir fast die Stimme. »Wenn du lebst, bist du auch bald wieder okay.«
Ohne Warnung beugte ich mich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund. Einfach so.
»Aua«, sagte er und berührte seine geplatzte Lippe. Dann starrten wir uns beide schockiert an.
Ich wurde rot wie eine Tomate. Nudge und der Gasman blickten mich auch ungläubig an. Zum Glück war Iggy blind, und Angel holte für Fang Wasser.
Der Gasman schaute mich an, dann Fang, dann Iggy. Offensichtlich war er sicher, dass ich jegliche Verbindung zur Realität verloren hatte.
Langsam setzte Fang sich mit zusammengekniffenen Lippen auf. Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. »Mann, das fühlt sich echt übel an«, sagte er.
Das war das Höchste, was er je zugegeben hatte, jedenfalls in Bezug auf Schmerzen. Mühsam stand er auf und nahm von Angel das Wasser. Er spülte sich den Mund aus und spuckte in den Sand.
»Ich werde Ari umbringen«, erklärte Fang.
119Fang und der Rest von uns flogen zurück nach Manhattan, ohne wegen Verletzungen oder Erschöpfung – oder beidem – vom Himmel zu stürzen.
»Du bist schon ein echter Macho«, sagte ich, als wir in der Dunkelheit des Central Park landeten. Er sah total fertig aus, verschwitzt und blass, aber er war die gesamte Strecke geflogen, ohne sich zu beklagen.
»Ja, so bin ich eben«, sagte er und blickte mich durchbohrend an. Dieser Blick sagte deutlich: Ich habe nicht vergessen, was du getan hast. Der Kuss.
Ich wurde tiefrot. Es war mir unglaublich peinlich. Darüber würde ich nie im Leben hinwegkommen.
»Ist wirklich alles okay mit dir, Fang?«, fragte Nudge rührend besorgt. Nudge liebte Fang.
Fang sah aus, als sei er von einer Klippe gefallen. Große purpurrote Blutergüsse entstellten sein Gesicht. Dann die furchtbaren Kratzer von Aris Klauen auf den Wangen. Steifbeinig, offensichtlich mit Schmerzen, bewegte er sich.
»Alles im grünen Bereich«, erklärte er. »Das Fliegen hat mir geholfen.«
»Hört mal, wir müssen einen Platz finden, wo wir eine Zeit lang untertauchen und wieder zu Kräften kommen können. Danach starten wir einen neuen Versuch wegen des Instituts«, sagte ich. »Wir müssen herausfinden, wo es ist – wir können jetzt nicht aufgeben. Richtig, Leute?«
»Ja, richtig«, sagte Nudge. »Das machen wir, damit wir es hinter uns bringen. Ich will über meine Mom Bescheid wissen. Und noch anderes. Ich will die ganze Geschichte wissen – gut oder schlecht.«
»Ich auch«, sagte der Gasman. »Ich will meine Eltern finden, damit ich ihnen sagen kann, was für Ärsche sie sind. Zum Beispiel: Hallo, Mom und Dad. Ihr habt sie echt nicht mehr alle!«
Ich beschloss, aus Sicherheitsgründen lieber unterirdisch zu bleiben. In der U-Bahn-Station sprangen wir vom Bahnsteig und marschierten auf der Strecke weiter. Irgendwie sah alles bekannt aus. Und tatsächlich – nach wenigen Minuten kamen wir zu der großen, von Feuern erleuchteten Höhle, wo die Obdachlosen lebten. Ein trautes Heim, besonders wenn man eine Kanalratte war.
»Mann, das sieht echt einladend aus«, sagte Fang und rieb sich die Hände.
Ich schnitt eine Grimasse, als wir auf unseren Betonvorsprung kletterten. Im Inneren war ich froh, noch genug Energie zu haben, um sarkastisch zu sein.
Plötzlich fühlte ich mich erschöpft und emotional ausgelaugt. Ich streckte die Faust vor, um unsere Schlafzeremonie durchzuführen. Danach kuschelte sich Angel an mich. Ich vergewisserte mich, dass alle, besonders Fang, okay waren. Dann legte ich mich hin. Verzweiflung legte sich über mich wie eine Decke.
Ich war mitten in einer durch den Schlaf verursachten Hirnexplosion, als ich spürte, wie ich an die Oberfläche des Bewusstseins trieb. Ich öffnete aber nicht die Augen. Ohne den Impuls zu analysieren, streckte ich blitzschnell die Hand aus – und erwischte von jemandem das Handgelenk.
Immer noch rein instinktiv setzte ich mich auf und drehte dem Unbekannten den Arm auf den Rücken. Dann waren alle meine Sinne hellwach.
»Ganz cool bleiben!«, flüsterte der Besitzer des Arms wütend. Ich drückte weiter. Gleich würde ich ihm den Arm auskugeln. Ja, das hätte ich tatsächlich getan.
»Du pfuscht wieder an meinem Mac rum«, sagte der Hacker. Ich ließ ihn los. »Mein Gott, was ist mit dem passiert?« Er deutete auf Fang.
»Hab mich beim Rasieren geschnitten«, sagte Fang.
Der Hacker rieb sich die Schulter des Arms, den ich ihm verdreht hatte. »Warum seid ihr zurückgekommen?«, fragte er wütend. »Ihr habt meine Festplatte total ruiniert.«
»Mal sehen«, meinte ich. Mürrisch öffnete er seinen Laptop.
Den Bildschirm bedeckte der Inhalt meines Kopfes: Bilder, Wörter, Fotos, Karten, mathematische Gleichungen.
Der Hacker schien verblüffter als ich zu sein. »Das ist komisch«, sagte er. »Ihr habt doch gar keinen Computer bei euch, oder?«
»Nein«, sagte Fang. »Nicht mal ein Handy.«
»Was ist mit einem Palmtop?«, fragte der Hacker.
»Nichts«, antwortete ich. »Wir sind eher die Null-Technik-Typen. Ein Papiertaschentuch wäre schon ein Riesenschritt für uns.«
»Und was ist mit einem Memory Chip?«, bohrte er nach.
Mir stockte der Atem. Beinahe unwillkürlich wanderte mein Blick zu Fang.
»Was für eine Art von Memory Chip?«, fragte ich.
»Na, irgendeiner«, erklärte der Hacker. »Irgendwas, das meine Festplatte stört.«
»Könntest du denn Zugang zu dem Chip bekommen, wenn wir einen hätten?«, fragte ich vorsichtig.
»Wenn ich wüsste, was er ist, schon möglich«, sagte er. »Was für einen hast du denn?«
»Er ist klein und viereckig«, sagte ich, ohne ihn anzuschauen.
»So groß?« Der Hacker hielt seine Finger ungefähr einen Zentimeter auseinander.
Ich nickte.
»Mal sehen. Wo ist er?«
Ich holte tief Luft. »In mir. Eingepflanzt. Ich habe ihn beim Röntgen gesehen.«
Entsetzt starrte er mich an. Dann schaltete er den Laptop aus und machte den Deckel zu. »Man hat so einen kleinen Memory Chip in dich eingepflanzt?«
Ich nickte. Offenbar was das schlimmer als Läuse.
Er trat einige Schritte zurück. »So ein Chip ist echt ätzend«, sagte er langsam, als sei ich total blöd. »Es könnte die NSA sein. Damit will ich nichts zu tun haben. Hör mal, bleibt mir vom Leib! Sonst ist der Geheimdienst noch hinter mir her.« Er hob die Hände und verzog sich in die Dunkelheit. »Ich hasse sie! Ich hasse sie!« Dann war er in den Eingeweiden der Tunnel verschwunden.
»Bis später«, flüsterte ich. »Du möchte ich auch nicht sein.«
Fang blickte mich verdrießlich an. »Dich kann man auch nirgendwohin mitnehmen.«
Ich wünschte, er wäre nicht so verletzt – dann hätte ich ihm eine knallen können.
120Wir versuchten etwas zu schlafen – bei Gott, das hatten wir nötig. Ich döste ein. Aber ich schlief nicht richtig, das wusste ich genau. Aber ich war auch nicht richtig wach.
Es war, als hätte mich eine andere Dimension aufgesaugt, wo ich zwar meinen Körper spüren konnte und wusste, wo ich war, aber mich nicht rühren, auch nicht sprechen konnte. Ich war in einem Film und betrachtete mich und alles, was um mich geschah. Ich ging einen dunklen Tunnel hinunter – oder der Tunnel glitt an mir vorbei, und ich stand still. An beiden Seiten rauschten Züge vorbei. Demnach war ich in einem U-Bahn-Tunnel.
Ich dachte: Okay, U-Bahn-Tunnel. Und?
Dann sah ich eine Haltestelle. Thirty-third Street. Das Gebäude des Instituts war an der Thirty-first Street. In der Dunkelheit das Wachtraums im Tunnel sah ich ein schmutziges, verrostetes Gitter. Ich sah, wie ich das Gitter hochhob. Stinkendes Wasser gurgelte unten. Pfui – es war das Abwassersystem unter der Stadt.
Hallo!
Unter einem Regenbogen …
Bingo, Max, sagte meine Stimme.
Jetzt waren meine Augen auf. Fang betrachtete mich besorgt. »Was nun?«
»Ich weiß, was wir machen müssen«, erklärte ich. »Alle aufwachen!«
121»Hier entlang«, sagte ich und marschierte in dem dunklen Tunnel voran. Es war, als sei eine genaue Karte auf meine Netzhaut gedruckt und überlagerte das, was ich sah, sodass ich nur dem eingezeichneten Pfad folgen muste. Wenn dieser Karteneffekt für immer Teil meines Leben sein sollte, würde ich den Verstand verlieren, aber im Moment war er ziemlich hilfreich.
Ach ja, eines sollte ich noch erwähnen – ich hatte Angst, furchtbare Angst, mehr Angst als je zuvor im Leben, wusste aber nicht so richtig weshalb. Vielleicht wollte ich die Wahrheit nicht erfahren. Außerdem pochte mein Kopf, was mich auch verrückt machte. Näherte ich mich meinem Verfallsdatum? Würde ich sterben? Würde ich einfach umkippen und diese Welt und meine Freunde verlassen?
»Hat die Stimme dir davon erzählt, Max?«, fragte Nudge.
»So ungefähr«, antwortete ich.
»Super«, hörte ich Iggy murmeln, aber ich ignorierte ihn. Jeder Schritt brachte uns dem Institut näher – das spürte ich. Endlich würden wir die Antworten auf unsere Fragen erhalten – und vielleicht den schlimmsten Kampf unseres Lebens austragen. Aber unsere Neugier übte einen unwiderstehlichen Zwang aus: Wer waren wir? Wie hatten sie uns von unseren Eltern fortgeschafft? Wer hatte uns die Vogel-DNA eingepflanzt und warum? Vor der Elternfrage scheute ich zurück. Ich war nicht sicher, ob ich es ertragen konnte, die Wahrheit zu erfahren. Aber alles in mir brannte darauf, die anderen Warum und Weshalb beantwortet zu bekommen. Ich wollte Namen. Ich wollte wissen, wer verantwortlich war. Ich wollte wissen, wo diese Leute lebten.
»Okay, hier teilt sich der Tunnel«, sagte ich. »Wir nehmen den ohne Schienen.«
Angels Händchen lag voll Vertrauen in meiner Hand. Der Gasman war immer noch leicht schlaftrunken und stolperte gelegentlich. Iggy hatte einen Finger in Fangs Gürtelschleife.
Wir suchten nach einem rostigen Gitter im Boden. In meinem Traum hatte ich es bei der Verzweigung der beiden Tunnel gesehen, demnach musste es hier sein. Aber ich sah es nicht. Ich blieb stehen, die anderen ebenfalls.
»Es muss hier sein«, stieß ich hervor und spähte in die Dunkelheit.
Denk nicht daran, was sein soll, Max, sondern an das, was ist!
Ich knirschte mit den Zähnen. Kannst du mir nicht einfach eine klare, verständliche Antwort geben?, dachte ich. Warum musste es immer so geheimnisvoll sein?
Aber, okay! Was war nun hier? Ich schloss die Augen und erspürte nur, wo ich war, und ließ bewusst jeden Eindruck in mich hinein. Ich kam mir selten blöd vor.
Dann ging ich mit geschlossenen Augen vorwärts und versuchte zu fühlen, wohin wir gehen sollten. Instinktiv hatte ich das Gefühl, hier müsse ich stehen bleiben. Ich blieb also stehen und blickte nach unten.
Dort zu meinen Füßen waren die schwachen Umrisse eines großen rostigen Gitters.
Na, bist du nicht tatsächlich Spitze, dachte ich. »Hier ist es«, rief ich.
Das Gitter ließ sich ganz leicht heben. Die Schrauben lösten sich zu Roststaub auf, sobald Fang, Iggy und ich daran zogen. Wir legten es beiseite.
Darunter führte ein Schacht mit rostigen Handgriffen an einer Seite in die Tiefe. Ich ließ mich über die Kante hinab und kletterte ins Kanalisationssystem von New York City.
Was für ein Schicksal.
Schließlich musste ich die Stimme etwas fragen. Ich musste es einfach. Werde ich sterben? Geht es darum?
Es folgte eine Pause, eine lange Pause. Echt schlimm, grauenvoll.
Dann entschied sich die Stimme zu antworten. Ja, Max, du wirst sterben. Genau wie alle anderen Menschen.
Danke, Konfuzius.
122Du bist vielleicht überrascht, aber das Kanalisationssystem einer Stadt von acht Millionen Einwohnern ist weniger entzückend, als du es dir womöglich vorstellst. Wir kletterten einer nach dem anderen in den Schacht hinunter. Schließlich standen wir auf einem gut einen halben Meter breiten schmutzigen Band, das gekachelt war. Über uns wölbte sich der Tunnel, mit etwa viereinhalb Metern Durchmesser, und unter uns rauschte das schmutzige Abwasser.
»Boooo«, sagte Nudge. »Das ist ätzend. Wann können wir wieder rauf? Ich möchte mich mit irgendeinem Desinfektionsmittel einsprühen.«
Angel stopfte Celeste unters T-Shirt.
»Max?«, sagte der Gasman. »Sind das – äh – Ratten?«
Entzückend. »Ja, das sind Ratten oder Mäuse auf Anabolika«, antwortete ich und hatte Mühe, nicht kreischend die Wände hochzugehen wie ein typisches kleines Mädchen.
Vor uns war eine Tunnelkreuzung wie ein großes Kreuz. Ich zögerte kurz, ging dann nach links. Mehrere Minuten später blieb ich unvermittelt stehen. Ohne Grund.
Hallo, Stimme?, dachte ich. Ein bisschen Hilfe, bitte.
Ich hatte keine Hoffnung, dass die Stimme antworten würde, aber wenn doch, würde sie bestimmt etwas sagen wie: Wenn im Wald ein Baum fällt, dann –
Ich schaute nach unten und holte so schnell Luft, dass ich fast erstickte. Ich stand auf einer durchsichtigen Plattform, die hoch über der Kanalisation schwebte. Ich wollte schreien, hatte Angst, das Gleichgewicht zu verlieren. Unter mir sah ich noch eine Max, die wie ein Reh aussah, das die Autoscheinwerfer erwischt hatten. Der Rest des Schwarms starrte mich nur an. Fang ergriff den Arm der anderen Max. Ich spürte es, aber bei mir war niemand.
Wann wirst du mir endlich vertrauen, Max?, fragte die Stimme. Wann wirst du endlich dir selbst trauen?
»Vielleicht, wenn ich mich nicht total wahnsinnig fühle«, meinte ich bissig.
Ich schluckte und riss mich zusammen. Versuchsweise blickte ich noch mal auf die durchsichtige Oberfläche hinab. Dünne Lichtlinien zeigten den Pfad, den wir bereits gegangen waren. Diese Linien führten wie ein Neon-Hinweisschild durch die Tunnel.
Schnell schaute ich nach oben, sah aber nur die in hässlichem Gelb gekachelte Deckenwölbung, auf der schon Schimmel war – keine Glasdecke. Fang hielt immer noch meinen Arm und schaute mir durchdringend in die Augen.
Ich lächelte verlegen. »Es muss dir doch zum Hals raushängen, mich die ganze Zeit so besorgt anzuschauen.«
»Ja, es ödet mich an«, sagte er. »Was ist passiert? Diesmal, meine ich.«
»Das will ich dir gar nicht erst erklären«, antwortete ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Du würdest mich sofort in die Klapsmühle stecken.«
Vorsichtig ging ich um ihn herum und führte den Schwarm weiter. Einige Abschnitte der Tunnel wurden von oben durch Gitter schwach erhellt, andere waren stockdunkel und unheimlich. Aber ich war nie unsicher. Meine Route lag klar vor mir. Nach einer Strecke, die mir wie Meilen vorkam, blieb ich wieder stehen, weil ich das sichere Gefühl hatte, am Ziel zu sein. Weil das Feng Shui richtig war. Oder so ähnlich.
Wir standen in der Dunkelheit und schauten uns an. Dabei vermieden wir die kleinen, piepsenden Rattenfreunde, die um unsere Füße huschten. Dann sah ich, weshalb wir hier waren.
In einer dieser ekligen Wände war eine fast unsichtbare graue Metalltür.
»Wir sind da, Leute. Wir haben es geschafft.«
123Kein Grund zu
überschäumender Freude! Selbstverständlich war die Tür
verschlossen.
»Okay, Leute«, sagte ich leise. »Falls einer von uns das Schloss
mit Gedankenkraft öffnen kann, soll er sich melden.«
Niemand konnte das.
»Dann ran, Iggy.« Ich ging aus dem Weg und leitete ihn zur Tür. Seine sensiblen Finger tasteten die Tür ab und erspürten die fast unsichtbaren Kanten um das Schlüsselloch.
»Okay«, sagte Iggy und holte seine Dietriche aus der Tasche. Ich wusste, dass er sie immer bei sich trug, obwohl ich sie erst vor zwei Monaten für immer und ewig beschlagnahmt hatte, nachdem er zu Hause das Schloss an meinem Schrank geknackt hatte.
Zu Hause. Nur nicht daran denken. Du hast kein Zuhause mehr. Du bist obdachlos.
Behutsam suchte Iggy ein Werkzeug heraus, änderte seine Meinung und nahm ein anderes. Angel trat von einem Fuß auf den anderen. Nervös schaute sie zu den Ratten, die sich immer neugieriger an uns heranwagten.
»Sie wollen uns beißen«, flüsterte die Kleine und umklammerte meine Hand. Mit der anderen tätschelte sie Celeste durch ihr schmutziges T-Shirt. »Ich kann bei denen auch die Gedanken lesen.«
»Nein, Kleines«, sagte ich. »Sie haben bloß Angst vor uns. Sie haben noch nie so große, hässliche … Wesen gesehen, und sie wissen nicht, dass wir harmlos sind.«
Ein kleines Lächeln war meine Belohnung. »Wir sind hässlich für sie, richtig?«
Iggy brauchte drei Minuten – das war sein persönlicher Rekord –, um seinen Viereinhalb-Minuten-Rekord zu brechen. So lange hatte er für die drei Schlösser an meinem Schrank gebraucht.
Iggy, Fang und ich packten die Tür an den Kanten und zerrten. Es gab keine Art von Klinke oder Türknopf. Langsam, ganz langsam öffnete sich die ungeheuer schwere Tür.
Vor uns war eine lange, dunkle, endlose Treppe. Selbstverständlich führten die Stufen nach unten.
»Ja, genau richtig für uns«, sagte Fang. »Eine Treppe in die Unterwelt.«
Iggy atmete aus. »Gehst du zuerst, Max?«
»Ja.« Ich betrat die erste Stufe.
Jetzt bist du auf dich allein gestellt, Max, sagte meine Stimme. Bis später.
124Meine Kopfschmerzen
waren wieder da und schlimmer als vorher. »Los, Bewegung«, rief ich
über die Schulter.
Im Gegensatz zur Kanalisation gab es bei dieser Treppe nicht mal
weiter unten einen Lichtschein. Es war pechschwarz. Zum Glück
konnten wir alle gut in der Dunkelheit sehen. Besonders Iggy.
Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen, und es gab kein Geländer. Ich nehme an, wer auch immer diese Treppe gebaut hat, war wegen der Sicherheit nicht besonders besorgt.
»Weißt du wirklich, was du tust?«, fragte Fang leise.
»Wir nähern uns unserem Ziel«, antwortete ich und stieg weiter hinab in die Dunkelheit. »Wir nähern uns den Antworten, von denen wir unser ganzes Leben lang geträumt haben.«
»Wir tun, was die Stimme dir befohlen hat«, verbesserte er mich.
Ich war misstrauisch. »Ach ja? Bis jetzt hatte die Stimme recht, oder?«
Endlich hatten wir das untere Ende erreicht. »Hier sind wir«, sagte ich. Mein Herz klopfte.
Ich tastete mich in der Dunkelheit weiter bis zu einer Mauer, dann zu einer Tür, dann zu einem Türknopf. »Tür«, sagte ich. »Iggy, vielleicht brauch ich dich.«
Ich drehte den Knopf nur so – und, welches Wunder, die Tür öffnete sich.
Wir waren stumm vor Staunen. Lautlos ging die Tür ganz auf. Frische kühle Luft schlug uns entgegen. Nach dem ekligen Gestank in der Kanalisation war das verblüffend.
Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland, die durch das Kaninchenloch fällt. Meine dreckigen Stiefel versanken in einem dicken Teppich. Jawohl, Teppich.
Im Zwielicht sah ich noch eine Tür. Vor Spannung fast schreiend, öffnete ich sie.
Alles kam mir auf einmal entsetzlich leicht, verdächtig leicht, beängstigend leicht vor.
Wir gingen durch die zweite Tür, dann blieben wir wie angewurzelt stehen und starrten.
Wir befanden uns in einem Labor. Ein Labor, das genauso aussah wie das in der Schule, Tausende von Meilen entfernt in Kalifornien.
»Wir sind im Institut«, sagte ich.
»Hm, und ist das gut?«, fragte der Gasman.
125»Heiliger Bimbam!«,
sagte Fang fassungslos.
»Wahnsinn!«, sagte ich. Reihen von Computern, höher als ich. Und
Tische mit erstklassigen Laborgeräten. Tafeln mit Diagrammen –
viele davon hatte ich während meiner Kopfschmerzattacken gesehen.
Die Geräte waren im Standby-Modus; sie summten leise, liefen aber
nicht – es war noch vor Tagesanbruch.
Wir gingen durch die Tischreihen und versuchten alles zu besichtigen. Dabei zitterten wir am ganzen Leib. Ich wusste, dass Eraser in diesem Gebäude waren – ich spürte sie.
Dann sah ich, dass ein Computer lief. Sein Bildschirm war hell, Daten liefen vor unseren Augen darüber. Das konnte unsere Chance sein, mehr über unsere Vergangenheit, unsere Eltern und den ganzen Scheiß zu erfahren.
»Okay, Leute«, sagte ich leise. »Ausschwärmen und Augen auf. Haltet mir den Rücken frei. Das meine ich ernst! Ich versuche mich einzuhacken.« Ich setzte mich auf den Laborstuhl vor den Computer und legte die Hand auf die Maus.
Password?
Ich knackte mit den Fingerknöcheln. Fang verzog angewidert das Gesicht. Das Passwort konnte ja nur eins unter hundert Millionen sein, dachte ich. Null Problem!
Ich fing an zu tippen.
Ich will dich nicht mit der langen Liste der Wörter langweilen, die alle abgelehnt wurden. Ich war dankbar, dass das System mich nach drei Fehlversuchen nicht rausschmiss. Aber »Pandora«, »Batchelder«, »Mother«, »Eraser«, »Maximum« und eine Menge anderer brachten keinen Zugang.
»Das ist doch sinnlos«, sagte ich. Ich war fertig mit den Nerven.
»Was ist denn, Max?«, fragte Nudge leise und stellte sich neben mich.
»Machen wir uns doch nichts vor«, sagte ich. »Nie im Leben knacke ich das Passwort. Jetzt sind wir so weit gekommen – und nichts. Ich bin eine Verliererin! Das packe ich nicht!«
Nudge lehnte sich näher und berührte den Monitor mit dem Finger. Sie bewegte stumm die Lippen. Ich wollte sie wegschieben, wollte aber nicht ekelhaft sein.
Nudge schloss die Augen.
»Nudge?«, fragte ich.
Sie breitete die Hand aus und legte sie auf den Monitor, als suche sie dort nach Wärme.
»Hallo?«, fragte ich. »Was machst du?«
»Hm, versuch mal großes X, kleines j, großes P, die Zahl 7, großes O, großes H, kleines j und die Zahl 4«, flüsterte sie.
Ich starrte sie an. Fang beobachtete uns von der gegenüberliegenden Seite des Labors. Unsere Blicke trafen sich.
Schnell, ehe ich es vergaß, tippte ich ein, was Nudge gesagt hatte. Die Buchstaben und Zahlen erschienen als Punkte in dem Rahmen fürs Passwort.
Dann drückte ich auf Enter. Der Computer begann zu arbeiten. Auf der linken Seite des Bildschirms erschien eine Reihe Icons.
Wir waren drin.
126Ich starrte Nudge
an. Sie öffnete langsam die Augen. Dann lächelte sie strahlend.
»Hat es funktioniert?«
»Ja, wir sind drin«, antwortete ich. »Woher hast du das
gewusst?«
»Der Computer«, antwortete sie. »Als ich ihn angefasst habe.« Sie legte die Hand wieder auf den Bildschirm. »Ich kann die Person sehen, die hier arbeitet. Das ist eine Frau mit krausen roten Haaren. Sie trinkt viel zu viel Kaffee. Sie hat das Passwort eingetippt, und ich kann das spüren.«
»Wahnsinn«, sagte ich. »Fass mal was anderes an.«
Nudge ging zum nächsten Stuhl und legte die Hand darauf. Sie schloss die Augen. Gleich darauf lächelte sie. »Hier sitzt ein Mann. Er hat eine Glatze und kaut an den Nägeln. Er ist gestern zu früh nach Hause gegangen.« Sie öffnete die Augen und strahlte mich an. »Ich kann was Neues!«, jubelte sie. »Ich kann was Neues! Das ist echt cool!«
»Wie schön für dich, Nudge«, sagte ich. »Du hast uns hier den Arsch gerettet.«
Ich versuchte mich zu konzentrieren, obwohl mir die letzten Neuigkeiten fast den Verstand raubten. Ich betrachtete die Icons und klickte auf Explore. Dann suchte ich nach »Vogel«, »Schule«, »Genetik« …
Dann – o mein Gott – füllten Dateien mit Dokumenten den Bildschirm!
Meine Finger flogen über die Tastatur. Ich suchte nach Namen, Daten, nach allem, was mir einfiel, um eine Verbindung zu schaffen.
Herkunft. Das sah vielversprechend aus. Ich klickte es an. Meine Augen rasten über die Zeilen. Dann schnürte es mir die Kehle zu. Beinahe wäre ich auf der Stelle in Schock versunken.
Ich sah unsere Namen. Namen von Krankenhäusern, Namen von Städten – sogar etwas, was wie Namen von Eltern aussah. Dann sah ich die Fotos der Erwachsenen, die zu den Namen gehörten. Waren das unsere Eltern? Sie mussten es sein. O Gott, o Gott! Ins Schwarze getroffen! Das war genau, was wir brauchten.
Ich drückte auf Drucken, und der Drucker spuckte Seiten aus.
»Was machst du?«, fragte Fang und kam zu mir herüber.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, stieß ich atemlos hervor. Ich wusste, wir hatten nicht genug Zeit, um die ausgespuckten Seiten zu lesen. »Ich drucke es aus, dann sollten wir aber so schnell wie möglich abhauen. Hol die anderen.«
Ich griff die Seiten, so wie sie herauskamen, faltete sie zusammen und stopfte sie alle in meine Taschen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele es waren, aber schließlich hörte der Drucker auf. Ich platzte fast vor Aufregung, es den anderen zu erzählen, tat es aber nicht. Ich biss mir innen auf die Wange, dass es wehtat. Verstehst du jetzt, weshalb ich die Führerin bin?
»Los, kommt!«, rief ich. »Wir müssen abhauen! Los!«
»Nur eine Sekunde, Max«, sagte der Gasman. Seine Stimme klang sehr, sehr eigenartig.
127Der Gasman stand vor einer mit Stoff bezogenen Wand. Mit seiner üblichen Neugier hatte er den Stoff ein wenig beiseite gezogen. Langsam ging ich zu ihm. Sechs Paar Augen waren so groß wie Untertassen.
Als ich noch zwei Schritt entfernt war, blieb mir das Herz in der Brust abrupt stehen. Ich legte die Hand über den Mund, um nicht zu schreien. Angel schrie, bis Fang ihr seine Hand auf den Mund legte.
Hinter dem Vorhang war eine Glaswand. Okay, das raubt einem ja noch nicht die Sinne.
Aber hinter der Glasscheibe war noch ein Labor, mit technischen Geräten, Computern und … Käfigen.
Käfigen mit schlafenden Figuren darin. Figuren so groß wie Kinder.
Dutzende.
Mutanten.
Genau wie wir.
128Ich konnte nicht sprechen. Ich musterte die Glaswand genauer. In Augenhöhe sah ich eine handgroße Konsole. Ich drückte instinktiv darauf, ohne nachzudenken – wie üblich.
Die Glaswand öffnete sich, und wir gingen auf Zehenspitzen weiter. Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Tatsächlich – da schliefen Mutantenkinder in Käfigen. Meine eigene grauenvolle Kindheit war mit einem Schlag wieder da. Mir drehte sich der Magen um. Ich spürte, wie Panik mich zu überwältigen drohte. Eine Minute lang hatte ich meine Kopfschmerzen vergessen, doch jetzt waren sie wieder da. In meinem Kopf pochte es, als würde er im nächsten Moment explodieren.
Angel schaute tieftraurig in einen Käfig. Ich ging zu ihr. Von Hunderten von genetischen Experimenten waren – soweit ich wusste – nur wir und die Eraser lebensfähig gewesen. Die beiden kleinen Kreaturen, die auf dem Käfigboden schliefen, waren offensichtlich schreckliche Fehler und würden wohl nicht lange leben. Viele ihrer lebenswichtigen Organe befanden sich an der Außenseite der Körper. Nieren, Därme, ein Herz. O diese armen Babys!
»Das ist zum Weinen«, flüsterte Fang. Ich drehte mich zu ihm um. Er betrachtete eine große Katze, so was Ähnliches wie ein Serval oder Marguay. Ich hatte noch nie in den Laboren ein echtes Tier gesehen. Gerade als ich mich fragte, was man mit dieser Raubkatze tun würde, da wachte sie auf und blinzelte verschlafen. Dann drehte sie sich auf die Seite und schlief weiter.
Ich schluckte. Dieses Tier hatte Menschenaugen! Und als ich die Pfoten genauer betrachtete, sah ich menschenähnliche Finger unter den einziehbaren Krallen. O mein Gott!
Ich schaute auf. Angel las die Karte, die an einem anderen kleinen Käfig angebracht war. Das hundeähnliche Wesen zappelte im Schlaf. »Hallo, Hündchen«, flüsterte Angel. »Hallo, du siehst aus wie Toto aus dem Zauberer von Oz.«
Ich ging zu Nudge, die wie erstarrt vor einem Käfig stand. Ich schaute hinein.
Das Ding hatte Flügel.
Ich fing Fangs Blick auf, und er kam zu uns. Als er das Vogelkind sah, seufzte er und schüttelte den Kopf. Ich sah tatsächlich Trauer und Zärtlichkeit in seinen Augen. Am liebsten hätte ich Fang umarmt, aber das tat ich natürlich nicht.
»Du weißt, dass wir nicht alle retten können«, sagte er leise.
»Aber angeblich rette ich doch die ganze Welt, erinnerst du dich?«, flüsterte ich zurück. »Also, dann fange ich mit denen hier an.«
Gut so, Max, sagte die Stimme. Das ist der Unterschied zwischen dir und Fang.
Wage ja nicht, etwas gegen Fang zu sagen, dachte ich. Normalerweise hat er recht. Und wahrscheinlich hat er hier auch recht.
Ist es wichtig, recht zu haben, oder ist es wichtig, das Richtige zu tun? Das ist eine der schwierigsten Lektionen, die man im Leben lernen muss.
Okay, was auch immer. Ich habe jetzt zu tun.
»Fangt an, die Schlösser aufzumachen«, flüsterte ich Iggy zu. Dieser gab die Anweisung an den Gasman weiter und so weiter.
Ich öffnete einen Käfig und rüttelte das Geschöpf darin behutsam wach. »Du kannst gleich weglaufen«, sagte ich. »Wir holen dich hier raus.« Das arme Baby blickte mich völlig verständnislos an.
Mehrere dieser Eingesperrten waren jetzt wach und drückten sich gegen die Käfigstangen. Dabei stießen sie merkwürdige Laute aus, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Wir machten so schnell wir konnten und rissen die Türen auf. Schließlich waren die meisten Gefangenen frei. Sie standen herum und schauten mit einer Mischung aus Angst und Verwirrung zur Tür.
In einem Käfig war ein Kind, das die Stangen umklammerte. Die feinen Züge deuteten darauf hin, dass es wohl ein Mädchen war. Die Kleine hatte Flügel – ich konnte sie zusammengefaltet an den Seiten sehen. Sie war älter als das andere Kind mit Flügeln, das wir gesehen hatten.
Schnell öffnete ich ihren Käfig. Doch dann machte ich einen Satz nach hinten, als ich eine Stimme hörte.
»Wer bist du? Warum tust du das?«, flüsterte sie.
»Kinder gehören nicht in Käfige«, erklärte ich ihr. Dann rief ich laut: »Okay, Leute. Nichts wie raus aus diesem Laden.«
129»Hier entlang«, sagte Nudge und bemühte sich, die Mutanten aus dem Labor zusammenzuhalten. »Keine Angst.«
»Ich höre Stimmen«, sagte Iggy. »Ein bisschen Angst wär besser. Oder große Angst.«
»Los, schneller!«, befahl ich. Mein Herz klopfte schnell – was tat ich? Wollte ich für alle diese Kinder sorgen? Ich schaffte das kaum für meine eigene Familie.
Morgen würde ich darüber nachdenken.
»Nudge! Fang! Angel!«, rief ich. »Raus, raus, raus!«
Sie liefen an mir vorbei und trieben die anderen dabei an. Dann hatten wir die erste Tür geschafft und rannten über den dicken Teppich zur zweiten Tür. »Die Treppe rauf!«
Ich konnte nicht so gut hören wie Iggy, aber ich spürte deutlich, dass unsere Befreiungsgruppe schon bald entdeckt werden würde. Und das würde übel werden.
Plane voraus, Max. Denk es durch. Benutze deinen Kopf.
Ja, Stimme. Okay, erst Treppe, dann Kanalisation – ich schob die anderen praktisch die Stufen hinauf. Eins, zwei, drei … Ein Mutantenkind drehte durch und rollte sich wimmernd zu einem Ball zusammen. Ich nahm es unter den Arm und kletterte weiter, zwei Stufen auf einmal. In Gedanken sah ich die Route, die wir nehmen mussten.
Vor mir stieß Fang die letzte Tür auf, die in den Tunnel führte. Schnell drängten wir uns hinter ihm hinaus. Nach der frischen, kühlen Luft schlug uns jetzt die feuchtwarme, stinkende des Tunnels entgegen. Ich rümpfte die Nase.
»Wo sind wir?«, fragte das Vogelmädchen, das wir befreit hatten. Sie war wohl ungefähr zehn Jahre alt und eine der wenigen, die sprechen konnten.
»Kanalisationssystem unter einer großen Stadt«, erklärte ich kurz. »Auf dem Weg zu frischer Luft und Sonnenlicht.«
»Aber jetzt noch nicht!«, zischte Ari hinter mir. »Erst müssen wir uns unterhalten, Maximum. Du und ich. Um der alten Zeiten willen.«
130Ich stand stockstill. Auch die Augen des Vogelmädchens waren vor Angst ganz groß. Kannte die Kleine Ari? Langsam reichte ich ihr das wimmernde Bündel und drehte mich um.
»Wieder da? Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Ich dachte, Dad hält dich an der kurzen Leine.«
Ari ballte die Fäuste.
Ich brauchte Zeit. Hinter mir gab ich mit der Hand das Zeichen: Lauft weg! »Also, was ist inzwischen passiert, Ari?«, fragte ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Wer hat für dich gesorgt, nachdem Jeb mit uns abgehauen ist?«
Seine Augen verengten sich. Ich sah, wie die Zähne länger wurden. »Die Weißkittel. Mach dir deshalb keinen Kopf. Ich war in guten Händen. In den besten. Auf mich hat jemand aufgepasst.«
Ich verzog das Gesicht und wunderte mich. »Ari, hat Jeb ihnen erlaubt, dich zu einem Eraser zu machen, oder hat jemand das getan, während er weg war?«
Aris muskelbepackter Körper zitterte vor Wut. »Was geht dich das an? Du bist so perfekt. Das einzige erfolgreiche Rekombinant-Modell. Und ich bin ein Niemand, erinnerst du dich? Ich bin der Junge, den man vergessen hat.«
Trotz allem, trotz der Tatsache, dass ich ihm wegen dem, was er Fang angetan hatte, liebend gern die Zähne eingeschlagen hätte, tat mir Ari ein bisschen leid. Es stimmte – seit wir die Schule verlassen hatten, hatte ich nie wieder einen Gedanken an ihn verschwendet. Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum sein Vater Jeb ihn zurückgelassen hatte oder was mit ihm geschehen war.
»Jemand hat schreckliche Dinge mit dir gemacht, weil Jeb nicht da war, um dich zu beschützen«, sagte ich.
»Halt die Klappe!«, sagte er wütend. »Du hast keinen blassen Schimmer! Du bist so blöd wie Affenscheiße!«
»Vielleicht wollte jemand sehen, ob Eraser länger leben, wenn man sie nicht im Säuglingsalter mutiert«, fuhr ich fort. Jetzt zitterte Ari. Seine Hände zuckten krampfhaft. »Du warst drei Jahre alt. Dann haben sie dir die DNA eingepflanzt, um einen Supereraser zu machen. Richtig?«
Unvermittelt holte Ari aus und traf mich trotz meiner superschnellen Reflexe so hart an der Wange, dass ich mich um die eigene Achse drehte und gegen die raue Tunnelmauer flog. Irgendein schmieriges Zeug blieb auf meinem Gesicht kleben.
Ich holte tief Luft und akzeptierte, dass er mich jetzt in Grund und Boden schlagen würde. Der alte Jeb, eindeutig ein Agent des Teufels, hatte uns die nützliche Kunst des Straßenkampfes beigebracht. Nie fair kämpfen – sonst kannst du nie gewinnen. Setze jeden schmutzigen Trick ein, den du kennst. Rechne mit Schmerzen. Rechne damit, dass man dir wehtut. Wenn die Schmerzen dich überraschen, hast du verloren.
Langsam drehte ich mich zu Ari um. »In der richtigen Welt wärst du jetzt in der zweiten Schulklasse«, sagte ich und schmeckte Blut im Mund. »Wenn Jeb dich beschützt hätte.«
»In der richtigen Welt hätte man dich getötet, weil du so eine widerliche Mutantenmissgeburt bist.«
Jetzt hatten wir die Handschuhe ausgezogen. »Und du bist ein … was?«, fragte ich Ari gespielt höflich. »Kapier doch, Ari, du bist nur ein großer behaarter Siebenjähriger. Du siehst viel mehr wie eine Mutantenmissgeburt aus als ich. Und dein eigener Vater hat das zugelassen!«
»Halt’s Maul!«, brüllte Ari außer sich vor Wut.
Ich konnte nicht anders – eine Sekunde lang tat er mir leid.
Aber nur eine einzige Sekunde lang.
»Ja, Ari, so ist das«, sagte ich betont gelassen. Dann stürzte ich vor und versetzte ihm einen Tritt mit der Fußkante gegen die Brust, der jedem normalen Mann alle Rippen gebrochen hätte. Ari taumelte nur.
Er taumelte nur einen halben Schritt zurück, nicht mal einen ganzen.
Wieder landete er bei mir einen Fausthieb. Ich sah Kreise und Sterne. Er hatte mich in den Magen getroffen. Mein Gott, er war so stark wie ein Paar Ochsen. Das ist doch stark, oder?
»Du bist totes Fleisch«, erklärte Ari. »Und das meine ich buchstäblich.«
Dann stürzte er sich auf mich, die Klauen voraus – und dann rutschte er aus.
Er rutschte mit der Stiefelsohle auf dem schleimigen Tunnelboden aus und fiel auf den Rücken. Er knallte so hart auf, dass ich hörte, wie ihm die Luft herausgepresst wurde.
»Schaff sie hier raus!«, brüllte ich Fang zu. Dann warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf Ari.
Ich hörte mein Herz und spürte den Adrenalinstoß in meinen Adern. Ich wurde zu Supergirl. Ich erinnerte mich, wie Ari am Strand Fang zugerichtet hatte – und es hatte ihm auch noch Spaß gemacht!
Ari wehrte sich. Er keuchte wie ein großes Tier mit Lungenentzündung. Er wollte mich abschütteln. Ich packte seinen Kopf mit beiden Händen. Mein Gesicht war vor Wut verzerrt.
Aber er entkam mir. Er war schnell, viel schneller als ich.
Dann schlug Ari wieder zu. Ich glaubte, ich hörte eine meiner Rippen knacken. Er nahm mich auseinander – Stück für Stück. Warum hasste er mich so? Warum hassten alle Eraser uns so?
»Ja, Maximum, es macht mir Spaß. Ich möchte, dass es lange, ganz lange dauert.«
Ich war jetzt sein Sandsack, und ich konnte nichts dagegen tun. Du kannst dir die Schmerzen oder seine Kräfte oder seine Wut auf mich nicht vorstellen.
Nur der schlüpfrige Boden im Tunnel, der Schmutz unter seinen Füßen, rettete mich vor der totalen Vernichtung.
In diesem Moment verlor Ari wieder das Gleichgewicht. Ich sah eine Chance, wenn auch eine sehr winzige.
Wieder trat ich zu. Diesmal traf ich ihn gegen die Kehle. Ein guter, fester Tritt.
Ari würgte und ging in die Knie. Ich warf mich auf ihn und packte seinen Kopf. Wir fielen gemeinsam um – wie in Zeitlupe. Er war groß und schwer. Dann knallte Ari mit dem Kopf auf den Boden. Ich hörte ein entsetzliches Knacken. Ari und ich starrten uns entsetzt an.
»Du hast mir echt wehgetan«, sagte er. Er klang völlig überrascht. »Ich würde dir nie so wehtun.« Dann fiel sein Kopf nach hinten, und Aris Körper wurde schlaff. Seine Augen rollten nach oben, dass man das Weiße sah.
»Max?« Iggy versuchte ruhig zu klingen. »Was war das?«
»Ich … ich …« Mir versagte die Stimme. Ich saß auf Aris Brust und hielt immer noch seinen Kopf. »Ich glaube, ich habe ihm den Hals gebrochen.«
Ich schluckte, weil ich das Gefühl hatte, ich müsste gleich kotzen. »Ich glaube, er ist tot.«
131Wir hörten wütende
Stimmen und schwere Schritte auf der Treppe unter uns.
Keine Zeit nachzudenken oder zu ergründen, was soeben passiert
war.
Ich sprang von Aris leblosem Körper auf und packte Angels Hand. Angel nahm Iggys. Dann rannten wir, gefolgt vom Gasman und Nudge, los. Mir tat alles weh, aber ich rannte trotzdem. Ich rannte wie der Teufel. Von Fang und den anderen Mutanten war nichts zu sehen – sie waren bereits verschwunden.
»Fliegt!«, brüllte ich und ließ Angels Hand los. Sofort sprang sie über die Abwasserbrühe, entfaltete ihre Flügel und drückte nach unten. Ihre Schuhe tauchten noch ins Wasser, aber dann erhob sie sich und flog durch den Tunnel. Ihre weißen Flügel waren wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Der Gasman folgte ihr. Er sah total verstört und blass aus. Iggy flog direkt hinter ihm.
Ich hörte eine dröhnende Stimme.
»Er war mein Sohn!«
Jebs Schrei hallte hinter mir und brach sich an den Tunnelwänden. Aus allen Richtungen stürmte er auf mich ein. Mir blieb die Luft weg. Hatte ich tatsächlich Ari umgebracht? War ich der Grund, dass er jetzt tot war? All das kam mir so völlig surreal vor – die Kanalisation, die Akten, die Mutanten, Ari … Träumte ich?
Nein. Ich war schmerzvoll wach, schmerzvoll ich selbst, schmerzvoll hier an diesem Ort.
Ich drehte mich um und schaute zurück zu Jeb, dem Mann, der früher mal mein Held gewesen war.
»Warum tust du das?«, schrie ich. »Warum dieses Spiel? Dieser Test? Schau, was du angerichtet hast.«
Jeb starrte mich nur an. Ich erinnerte mich deutlich an die Zeit, als er wie mein Vater gewesen war, der Einzige, dem ich vertraute. Wer war er damals wirklich gewesen? Wer war er jetzt?
Unvermittelt wechselte er die Methode. Er schrie nicht mehr. »Max, du willst Antworten auf die Geheimnisse des Lebens, aber so funktioniert es nicht. Für niemanden, nicht einmal für dich. Ich bin dein Freund, vergiss das nie.«
»Das habe ich schon!«, brüllte ich, drehte mich um und ließ Jeb zurück.
»Flieg nach rechts«, rief ich Angel zu. Gehorsam bog sie anmutig in einen größeren Tunnel ein.
Als ich ihr folgte, wäre ich beinahe gegen eine Mauer geprallt, weil ich zu spät abgebogen war. Da hörte ich noch einen letzten, entsetzlichen Schrei. Jeb hatte wieder seinen Tonfall geändert – er schrie mich an. Ich sah sein Gesicht vor mir, so rot wie ein Halteschild.
»Du hast deinen eigenen Bruder getötet!«
132Jebs schreckliche Worte hallten in meinem Kopf nach. Immer wieder. Die Bedeutung und die Konsequenzen schienen bei jedem Mal schlimmer zu werden. Du hast deinen eigenen Bruder getötet. Konnte das wahr sein? Wie? Oder war das auch nur wieder Theater? Teil meines Tests?
Irgendwie schafften wir es zur Straße hinauf, wo Fang wartete. Ich fühlte mich hundeelend, als hätte mich ein Lastwagen überrollt, aber ich zwang mich weiterzumachen. Ich erinnerte mich an das, was ich in die Taschen gestopft hatte. Namen, Adressen, Fotos – von unseren Eltern?
»Wo sind die anderen Kinder, die Mutanten?«, fragte ich Fang. Die Ereignisse überschlugen sich. Es fiel mir schwer, den Durchblick zu behalten, aber ich musste.
»Das Mädchen mit den Flügeln hat sie mitgenommen.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie wollte nicht bei uns bleiben. Ließ sich einfach nicht davon abbringen. Hört sich bekannt an, oder?«
Ich winkte ab – darüber wollte ich jetzt nicht reden. Ich wollte über gar nichts reden.
Immer noch sah ich, wie Aris Augen nach oben rollten und hörte, wie sein Hals knackte.
»Einfach weitergehen«, sagte ich und humpelte vorwärts. »Einfach weitergehen.«
Erst zwei Minuten später bemerkte ich, dass Angel außer Celeste noch etwas trug.
»Angel?« Ich blieb abrupt stehen. »Was ist das?«
Unter ihrem Arm bewegte sich etwas Kleines mit schwarzem Fell.
»Das ist mein Hund«, erklärte Angel und reckte das Kinn vor, wie immer, wenn sie auf stur schaltete.
»Dein was?«, fragte Fang und musterte das fragliche Ding.
Wir umringten Angel, aber dann wurde mir bewusst, wie auffällig wir waren. »Kommt, gehen wir lieber weiter«, sagte ich. »Aber die Diskussion ist noch nicht beendet, Angel.«
Im Battery Park, an der Spitze Manhattans, stand eine verlassene Muschel mitten in dichten Eibenbüschen und Rhododendren. Im Schutz dieser Muschel hatten früher Konzerte im Freien stattgefunden. Jetzt drängten wir uns dort zusammen, während der Regen den Staub von der Stadt wusch. Ich war am Ende. Ich hatte das Gefühl, total fertig zu sein.
»Okay«, sagte ich und setzte mich auf. Ich bemühte mich, Autorität in meine Stimme zu legen. »Angel, erklär mir den Hund.«
»Das ist mein Hund«, erklärte sie fest, ohne mich anzusehen. »Aus dem Institut.«
Fang schickte mir einen Blick, der besagte: Wenn du sie den Hund behalten lässt, werde ich dich umbringen.
»Angel, wir können keinen Hund bei uns haben«, sagte ich.
Der Hund löste sich aus ihren Armen und setzte sich neben sie. Soweit ich es beurteilen konnte, sah er ziemlich normal aus. Er schaute mich mit glänzenden dunklen Hundeaugen an und wedelte freundlich mit dem Stummelschwanz. Er schnupperte fröhlich in der Luft. Offenbar fand er diese vielen neuen Gerüche der Welt aufregend.
Angel drückte den Hund an sich. Der Gasman kam näher, um den Hund genauer zu betrachten.
»Außerdem hast du Celeste«, erklärte ich.
»Ich liebe Celeste«, sagte Angel. »Aber ich konnte Total nicht dort lassen.«
»Total?«, fragte Iggy.
»Das stand auf seiner Karte«, erklärte Angel.
»Total ein Mutantenhund, der wahrscheinlich plötzlich über uns herfällt und uns tötet, wenn wir schlafen«, sagte Fang.
Der Hund legte den Kopf schief. Dann wedelte er wieder, als hätte er die Beleidigung nicht gehört.
Fang schaute mich an. Muss ich jetzt den bösen Bullen spielen und das Gesetz vertreten?
»Angel«, fing ich beschwörend an. »Wir haben manchmal nicht mal für uns genug zu essen. Wir sind auf der Flucht. Hier draußen ist es gefährlich. Wir haben genug mit uns zu tun.«
Angel schob das Kinn vor und schaute auf ihre Schuhe. »Er ist der wunderbarste Hund in der ganzen Welt«, erklärte sie. »So!«
Hilflos blickte ich zu Fang.
»Angel«, sagte er streng. Sie schaute ihn mit ihren großen blauen Augen an. Ihre Sachen waren schmutzig.
»Beim ersten Mal, wo du nicht für ihn sorgst, fliegt er raus«, sagte Fang. »Kapiert?«
Angels Gesicht leuchtete auf. Sie warf sich in Fangs Arme. Ich stand mit offenem Mund da. Er drückte Angel, dann fing er meinen Blick auf und ließ sie los.
»Sie hat Bambi-Augen gemacht«, flüsterte er. »Du weißt, ich kann ihren Bambi-Augen nicht widerstehen.«
»Total!«, schrie Angel. »Du darfst bleiben.«
Sie drückte den kleinen schwarzen Hund an sich. Dann hielt sie ihn von sich und strahlte ihn an. Total quiekte glücklich und sprang aufgeregt in die Luft.
Wir standen mit offenem Mund da und konnten es nicht fassen. Total sprang ungefähr fünf Meter hoch, fast bis zum Dach der Konzertmuschel.
»Oh«, sagte Angel. Total landete, sprang hoch, leckte Angels Gesicht und sprang wieder in die Luft.
»Ja, oh!«, meinte ich nur.
133An diesem Abend machten wir ein kleines Lagerfeuer und saßen dort nahe am Wasser in einem Teil New Yorks, der Staten Island hieß. Wir leckten unsere Wunden. Besonders ich. Mir tat alles weh. Aber ich war auch unglaublich aufgeregt über das, was ich im Institut herausgefunden hatte.
»Okay, wir sind alle heil, sicher und zusammen.« Ich holte tief Luft und atmete ganz langsam aus. »Wir haben das Institut gefunden und vielleicht das, was wir dort gesucht haben. Leute, ich habe Namen, Adressen, sogar Fotos von Menschen gefunden, die vielleicht unsere Eltern sind.«
Auf den Gesichtern spiegelten sich Überraschung, Schock, unglaubliche Aufregung, aber auch Angst. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, deine Eltern kennenzulernen, wenn du zwischen sechs und vierzehn bist? Ich konnte es nicht. So viel steht fest.
»Worauf wartest du?«, fragte Iggy. »Bitte, den Umschlag. Mach ihn auf. Und dann soll mir jemand sagen, was drinsteht.«
Ich zitterte vor Aufregung, als ich die Blätter herausholte, die ich im Institut ausgedruckt hatte. Hier waren die Antworten auf die Mysterien unseres Lebens, richtig? Die anderen drängten sich um mich, lehnten sich über meine Schultern und halfen mir, die Seiten zu glätten.
»Max, was hat Jeb damit gemeint – du hättest deinen Bruder getötet?«, fragte Nudge aus heiterem Himmel. Diese Frage war so typisch für sie – wieder in ihrer eigenen Welt. »Er hat doch nicht etwa gemeint, dass Ari dein Bruder war, oder? Ihr wart doch nicht – ich meine – das ist ja dreifach ätzend …«
Ich hielt die Hand hoch und bemühte mich, nicht loszuschreien. In mir explodierten fast die aufgestauten Gefühle. »Ich weiß es nicht, Nudge«, antwortete ich und zwang mich, ruhig zu reden. »Aber darüber kann ich mir im Moment keine Gedanken machen. Komm, wir wollen diese Seiten lesen. Wenn jemand etwas Interessantes findet, soll er schreien.« Ich verteilte die zerknitterten Blätter.
»Wer ist dein Daddy?«, rief der Gasman. »Wer ist deine Mammi?«
134Angel fing an, ganz langsam zu lesen. Sie sprach die Worte laut aus. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie nach ungefähr zehn Sekunden.
Dann setzte sich der Gasman auf. »Hier bin ich!«, rief er. »Hier bin ich!«
Der Gasman reichte mir seine Blätter. Ich las schnell. Tatsächlich, da stand sein Name: »F28246eff (der Gasman).« Mir blieb beinahe das Herz stehen.
»Hier ist eine Adresse!«, sagte ich und fuhr mit dem Finger über die Seite. »Das ist in Virginia.«
»Ich habe auch eine Adresse und ein paar Namen«, sagte Fang. »Und meinen Namen. Und – o Mann – da sind auch Fotos.«
»Lass sehen! Zeig mal her!«
Alle drängten sich um Fang, der normalerweise Mr Cool, der Eisberg, persönlich war. Jetzt zitterte er am ganzen Leib. Wir alle zitterten wie Espenlaub.
Nudge deutete auf das Foto in Fangs Hand. Darauf sah man einen Mann und eine Frau, die Mitte dreißig zu sein schienen. »Er sieht genau wie du aus, Fang. Und sie auch. Das müssen deine Mom und dein Dad sein! Da gibt es gar keinen Zweifel!«
Dann stockte ihr die Stimme. Plötzlich weinten wir alle. Nur Fang natürlich nicht. Er murmelte nur: »Vielleicht ja, vielleicht nein.«
Dann lasen alle wie verrückt und blätterten die Seiten durch. Alle suchten nach ihren Eltern. Niemand machte einen Mucks. Bis –
»Hier sind sie! Meine Mom und mein Dad!«, schrie der Gasman. »Einhundertsiebenundsechzig Cortlandt Lane in Alexandria, Virginia! Angel, schau! Das sind sie. Es ist ein Wunder. Sie sehen aus wie ich – und wie du, Angel!«
Angel starrte einen Moment lang stumm auf das Foto, dann verzog sich ihr Gesichtchen, und sie brach in Tränen aus. Sofort nahm ich sie in die Arme, drückte sie an mich und streichelte ihr Haar. Eigentlich ist Angel keine Heulsuse. Als ich spürte, wie sie vor Schluchzen bebte, zerriss es mir fast das Herz. Was für ein Moment. Jetzt ein Foto.
»Auf diesen Seiten steht aber auch ein Haufen Unsinn«, sagte Fang und brachte mich ins Jetzt zurück. »Zahlen und so.«
Ich sah es auch. »Warum haben sie nur einen Teil der Informationen verschlüsselt? Das ergibt keinen Sinn.«
»Ist doch total egal!«, schrie der Gasman glücklich. »Ich habe meine Mom und meinen Dad gefunden! J-U-U-H-U! Ich nehme zurück, dass ich wütend auf sie war.«
Fang, der Gasman und Angel hatten den Jackpot gewonnen, aber Iggy bis jetzt noch nicht. Auch Nudge war nicht sicher, ob ihre Eltern im Westen waren oder nicht.
»Iggy! Iggy! Deine Mom! Oh – hier steht, dein Dad ist gestorben«, meldete der Gasman. »Tut mir leid wegen deinem Dad. Aber deine Mom sieht super aus.« Er beschrieb sie laut.
Ja, da blieb von uns allen nur ein Kind ohne Mom und Dad, ohne Unterlagen im Institut. Du hast es erraten: moi! Ich gehörte immer noch niemandem und nirgendwohin.
Ich würde gern behaupten, dass ich ein so guter Mensch war, ein so guter Mannschaftsspieler, dass ich mich nicht total ausgeschlossen fühlte, es mir das Herz nicht zerriss, ich nicht am Boden zerstört war – aber ich bemühe mich, nicht zu lügen. Genauso fühlte ich mich und noch viel elender.
Aber ich machte ein tapferes Gesicht und lächelte und las die Unterlagen für die anderen und freute mich für meine Familie – schließlich hatte keines der Kinder in ihrem kurzen und abartigen Leben viel Freude gehabt.
Trotzdem konnte ich mich nicht ganz zusammenreißen. »Also, weshalb haben sie diese anderen Informationen verschlüsselt?«, fragte ich noch mal. Nur um etwas zu sagen, um mich von meinem Thron der Schmerzen herunterzuholen.
»Vielleicht sind das Informationen, die so geheim sind, dass niemand sie je erfahren darf«, meinte Fang mit der hohlen Twilight-Zone-Stimme, die er manchmal benutzte, wenn die Situation besonders eigenartig war, nicht nur normal eigenartig.
»Vielleicht geht’s dabei um Geld«, meinte ich nachdenklich. »Oder um die Krankenhäuser, die ihnen die Babys gegeben haben. Um andere abartige Wissenschaftler, die ihnen helfen. Oder die Schlüssel zum ganzen Reich des Bösen …«
»Heiliger Strohsack«, sagte Iggy und richtete sich aufgeregt auf. »Wenn wir das Zeug hätten, könnten wir sie total auffliegen lassen! Wir könnten alles an eine Zeitung schicken. Der fette Typ könnte einen Film drehen – wie Bowling for Columbine oder so.«
Mein Herz schlug Saltos, als ich nur daran dachte.
»Mir ist das ganze Zeug total wurscht«, erklärte Nudge. »Ich will nur meine Mom und meinen Dad finden. Wartet! Wartet! Das bin ich!« Sie hielt die Luft an und las die Information um N88034gnh (Monique). »Wisst ihr was?« Nudge überflog noch einmal schnell die Seiten. »Alle diese Adressen sind in Virginia und Maryland und Washington, D. C. Das ist doch alles ziemlich eng beisammen, richtig? Plus, in Washington sitzt doch die Regierung, richtig?«
»Das ist das Coolste von allem«, sagte Iggy und blickte träumerisch in die Ferne. »Erst treffen wir unsere Eltern. Freudiges Wiedersehen. Umarmungen. Küsse. Dann zerstören wir die Schule, das Institut und alle diese elenden Schweine – ich meine, alle diese Typen, die uns kaputtgemacht haben. Das wäre super. Am schönsten wäre, wenn wir auch alle Eraser auf einmal ausradieren könnten. Absolut cool!«
»Also, was machen wir jetzt?«, fragte der Gasman, plötzlich sehr ernst. »Ich meine, wirklich.«
»Ich will das machen, was Max macht«, sagte Angel. »Und Celeste und Total auch.«
Total wedelte, als er seinen Namen hörte, und leckte Angels Hand. Was immer man ihm im Institut angetan hatte – er schien keine bösen Gefühle gegen Menschen zu hegen. Jetzt leckte er auch Celeste.
Dieser arme Bär brauchte dringend ein Bad. Wir alle. Ich musterte meine Truppe. Im Augenblick waren wir in Sicherheit. Wir waren zusammen. Eine Woge der Dankbarkeit ergriff mich.
»Wir fliegen nach Washington, D. C.«, erklärte ich schließlich. »Dort baden wir. Und dann suchen wir eure Eltern auf. Die Adressen haben wir, richtig?«
»Juuuhuuu!«, schrie der Gasman und schlug Iggy auf die Schulter, was diesen überraschte.
Ich lächelte die beiden an. Ich liebte sie alle so sehr und wünschte mir, dass sie glücklich würden. Das konnte ich für sie tun. Aber im Inneren fühlte ich, als fräßen sich schwarze Löcher durch meine Brust. Heute hatte ich jemanden getötet. Vielleicht meinen eigenen Bruder. Jetzt würden wir mehr über unsere Vergangenheit herausfinden, vielleicht über die Bedeutung unseres Lebens, und ich wusste nicht, ob ich das wirklich wissen wollte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wer meine Mom und mein Dad waren.
Aber das spielte keine Rolle, richtig? Diese Kinder waren meine Familie. Ich war es ihnen schuldig, ihnen dabei zu helfen, dass sich ihre Träume erfüllten.
Selbst wenn es mich umbrachte.
Sehr spät in der Nacht – vielleicht auch gegen Morgen – versuchte ich mit der Stimme zu sprechen. Vielleicht – nur vielleicht – würde sie so gütig sein, mir zu antworten.
Ich habe zwei Fragen, okay? Nur zwei Fragen. Nein, mach drei Fragen daraus. Okay. Wo sind meine Mom und mein Dad? Wie kommt es, dass über mich überhaupt keine Akten da sind? Warum habe ich diese schrecklichen Kopfschmerzen? Und wer bist du? Bist du ein Feind in meinem Inneren? Oder bist du mein Freund?
Die Stimme meldete sich prompt: Das sind mehr als drei Fragen, Max. Und manchmal hängt die Frage, ob jemand dein Freund oder dein Feind ist, davon ab, wie man es betrachtet. Aber wenn du es schon wissen musst, dann sage ich dir, dass ich mich als dein Freund sehe, als ein guter Freund, der dich sehr liebt. Niemand liebt dich mehr als ich, Maximum. Und jetzt hör mir gut zu. Ich stelle die Fragen, nicht du. Du bist nur für den Ritt dabei. Die Stimme lachte leise. Für einen unglaublichen, unbeschreiblichen Ritt, den Maximum Ride.