PARTRIDGE
Papierschneeflocken
Die Straßen sind leer. Partridge rennt den schmalen Bürgersteig entlang, unter den gedämpften Lichtern des Mitchard Theater, vorbei am Good Morning Coffee Shop und den Wohnkomplexen der Elite – die Oakes, Hawks Rise, das Wenderly. Er befindet sich auf der zweiten Ebene, Oben Zwei, die deutlich hochklassiger ist als Oben Eins. Von hier aus kann er Betton West erkennen, wo er früher mit seinem Vater und Sedge gewohnt hat. Sie hatten einen Balkon und einen Privatzugang zum Dachgarten.
Die Sperrstunde wird von patrouillierenden Wachen kontrolliert. Um diese Uhrzeit darf man sich nur im Notfall auf der Straße aufhalten, etwa wenn man auf direktem Weg ins Medizinische Zentrum auf Ebene Zero muss. Auf Zero liegt auch Partridges Ziel: die Akademie. Die Ebenen über Zero reichen nicht bis zum äußersten Rand des Kuppelbaus; zur Optimierung der Beleuchtung und der Luftzirkulation werden Oben Eins, Zwei und Drei auf ihrem gesamten Umfang von soliden Glaswänden eingefasst. Weiter vorne kann Partridge das Ende der Ebene erkennen, die gewölbte Scheibe an ihrem Rand. Doch er muss zu Zero, und dazu muss er es zu den Aufzügen in der Mitte des Kapitols schaffen – aber in den Ecken eines jeden Lifts hängen Kameras. Sollte er das morgendliche Treiben abwarten und sich unter die Leute mischen oder wäre das nur noch schlimmer? Außerdem gibt es einen Privataufzug, den sein Vater und andere hohe Tiere benutzen. Partridge durfte ein paar Mal mitfahren, unter anderem zu der kleinen Gedenkveranstaltung für Sedge. Doch dieser Aufzug wird streng bewacht.
Schnell biegt Partridge in eine schmale, dämmrige Gasse ein, gerade mal breit genug für ein Elektromobil. Er hält sich im Schatten eines Apartmenthauses und lauscht auf das typische Surren eines Sicherheitsmobils. Doch er hört nur seinen Atem, seine Schritte auf dem Beton und das immer wiederkehrende Zischen der Monorail auf ihrer spiralförmigen Rundreise durch die Ebenen des Kapitols.
Er kommt am Smokey’s vorbei, einem Restaurant, in dem er schon mindestens hundertmal war. Angeblich wird dort echtes Essen serviert, doch es schmeckt trotzdem künstlich – zum Beispiel das spezielle Soja, das sich zwischen den Zähnen wie Fleisch anfühlen soll, bis hin zu nachgebildeten Knorpelstückchen. Aber immer noch besser als Soytex-Pillen. Die Massen, die auf der ersten Ebene wohnen, dürfen hier höchstens einmal im Leben speisen – in den Flitterwochen. Die Einrichtung des Lokals ändert sich nie, das Personal auch nicht, die Speisekarte erst recht nicht.
In Partridges Rücken ertönt ein seltsames Kratzen. Er dreht sich um – und sieht nur eine Straßenlaterne und eine Motte, die ums Licht schwirrt. Eine Motte? Gelegentlich entkommen Vögel aus der Voliere, weshalb man ab und zu flitzende Flügel entdeckt, manchmal sogar ein echtes Nest zwischen künstlichen Ästen. Doch bei Insekten kennt man keine Gnade. Der Boden wird mit Pestiziden getränkt, Arbeiter in weißen Schutzanzügen mit Gifttanks auf dem Rücken drehen endlose Runden. Deshalb ist eine Motte eine Seltenheit, die Partridge beunruhigt. Vielleicht weil er doch nicht so allein ist, wie er dachte.
Er verfällt wieder in Laufschritt, vorbei an einem Waschsalon, einer Drogerie, einem Fitnessstudio, bis er eine Fensterreihe voll wogendem Weiß erreicht – eine Grundschule mit Papierschneeflocken an den Scheiben. Manche sind kompliziert gearbeitet, fast wie Spitzentücher; andere wirken unförmig, ungeschickt ausgeschnitten. Doch alle beben im Wind der Klimaanlage, als wären sie am Leben, als würden sie atmen.
So eine Schneeflocke wollte er Lyda schenken. »Papierschneeflocken?«, hat er ihr zugeflüstert. »Mehr braucht es nicht, um dich glücklich zu machen?« Und sie hat geantwortet: »Ja. Und dich.« Sie hat ihn geküsst. Partridge erinnert sich, wie weich ihre Lippen waren. »Das.« Sie fehlt ihm – ein scharfer Schmerz, wie ein Fausthieb. Er ist bereits außer Atem, und nun wird ihm auch noch schwindlig.
Partridge verlässt die Straße und läuft durch den Bellevue Park, quer über den perfekt manikürten Kunstrasen. Er muss sich erst bewusst machen, dass dieser Boden keine Augen, Zähne oder Klauen hat, dass es harmloser Pseudorasen ist. Der Boden, auf dem er großgeworden ist. Die Bäume wachsen nie, die Blätter wechseln nie die Farbe. Sie sind exakt wie damals, als Sedge und er Kriegsspiele ausgefochten haben, abwechselnd als Soldat und Unglückseliger. Sedge war ein guter Junge, der immer tat, was von ihm erwartet wurde, der nie jammerte oder länger aufbleiben wollte. Der nie ein Geschenk auswickelte und sagte: »Ich hab mir aber was anderes gewünscht.« Ganz anders als Partridge. Partridge war ein bockiges Kind. Er hielt sich für besonders hart, brach aber beim kleinsten Anlass in Tränen aus. Er stellte zu viele Fragen und starrte fremde Leute an. Wenn ihm jemand Süßigkeiten anbot, nahm er sich so viele, wie man ihm gerade noch durchgehen lassen würde. Lauter geringfügige Verfehlungen, aber eins kam zum anderen. Sedge forderte ihn auf, sich zusammenzureißen. Er wollte ihm helfen, sich besser anzupassen, weniger Ärger zu machen und einfach erwachsen zu werden, die Kindheit hinter sich zu bringen. Es ergibt keinen Sinn, dass Partridge überlebt hat und Sedge nicht.
Er hätte nie gedacht, dass es ihm so schwerfallen würde, ins Kapitol zurückzukehren. Er hat Sedge und seine Mutter verloren, Pressia und die anderen verlassen. Vor allem Lyda.
Hinter sich hört er das leise Surren eines Motors – ein Elektromobil mit Suchscheinwerfer. Er drückt sich in ein Pappelwäldchen. Der Lichtkegel huscht über die Stämme und zieht weiter. Partridge kann den Fahrer erkennen. Sein Bauch ist zwischen Sitz und Lenkrad eingezwängt, beinahe gequetscht. Wer hat diesem Typen einen Platz im Kapitol verschafft, wen kannte er? Hatte er mal einen guten Job, hatte er mal die Macht, seiner Familie ein kleines Apartment und sich selbst einen Job im Golfmobil zu sichern?
Partridge lockert seine Krawatte. Hat Iralene in ihrer Ausbildung gelernt, Männern die Krawatte zu binden? Schade, dass er sie nicht überreden konnte, ihn zu begleiten. Er traut seinem Vater und Mimi nicht. Vor seinem inneren Auge sieht er die aufgereihten Türen. Versuchsobjekte. Was für Objekte? Und wozu?
Irgendetwas kitzelt ihn am nackten Knöchel. Er kratzt sich – und ein großer, schwarzer Käfer landet auf dem Rücken im Gras und strampelt mit den Beinen. Schon wieder ein Insekt? Als Partridge ihn mit der Fußspitze umdreht, leuchtet der Käfer in einem schwachen, trüben Dunkelrot auf und wieselt davon. Noch eine Mischung aus Roboter und Tier, wie die Spinnen, die das Kapitol ausgesandt hat? Partridge fragt sich, was die Motte und der Käfer zu bedeuten haben. Vielleicht gehören sie zur neuesten Überwachungstechnik seines Vaters, um Informationen zu sammeln und den Gehorsam aufrechtzuerhalten.
Da hört er Stimmen. Er duckt sich hinter die Hecke am Maschendrahtzaun vor den Tennisplätzen. Zwei Wachen kommen den Weg entlang, einer mit der Hand auf der Taschenlampe. Ihre Schlüssel klimpern.
»Der Junge kriegt einen perfekten Spiralwurf hin. Mit fünf Jahren. Ein perfekter Wurf. Du weißt ja, ich hab selber mal gespielt.«
»Ja, das wissen wir alle.« Jetzt sind die Wachen so nah, dass Partridge ihre schimmernden Stiefel erkennen kann.
»Im Ernst, der Junge hätte Karriere machen können. Und jetzt? Keine vernünftigen Mitspieler, kein Training. Ich sag’s dir, wir sind hier nur …«
»Halt den Mund.« Der andere Wachmann bleibt abrupt stehen. Als er sich umsieht, hält Partridge den Atem an. Er spürt das pulsierende Blut in seinen Schläfen. Doch dann sagt der Mann: »Hier draußen kann wer weiß wer mithören. Unter der Dusche kannst du Selbstgespräche führen, so lange du willst, aber nicht hier draußen. Nicht mit mir.«
Die beiden gehen schweigend weiter.
Langsam atmet Partridge aus. Verdammt, wie soll er es jemals unbemerkt zur Akademie schaffen? Da spürt er etwas auf der Schulter – wieder ein Käfer? Nein, eine Hand. Eine blasse Hand mit langen, zierlichen Fingern.
»Partridge?« Ein Gesicht erscheint vor seinen Augen, fast als würde es schweben – ein mageres, sommersprossiges Jungengesicht.
»Wer bist du?«
»Vinty Firth.«
»Vinty Firth?« Sein Bruder Algrin war ein Freund Vic Wellingslys, er hat Partridge schon immer gehasst – doch seine Eltern standen auf der Cygnus-Liste von Partridges Mutter. Partridge erinnert sich, wie Algrin von Vinty geredet hat. Seine Eltern haben sich Sorgen gemacht, dass Vinty zu schwächlich sein könnte, um in der Akademie unterzukommen.
»Genau der«, erwidert Vinty. »Wusst ich’s doch, dass wir dich finden!«
»Bist du jetzt in der Akademie?«, fragt Partridge, als wäre das inzwischen nicht völlig bedeutungslos.
»Ja, im ersten Jahr.«
»Und was machst du dann hier?«
Vinty blickt sich hastig um. »Du musst mitkommen. Sofort.« Auf welcher Seite steht Vinty? Haben die Motte und der Käfer Partridges Aufenthaltsort am Ende schon an ein Überwachungssystem seines Vaters weitergegeben? Aber warum sollte er ihm ausgerechnet ein halbes Hemd wie Vinty Firth auf den Hals hetzen?
»Hör mal, ich lass mich nicht von meinem Vater einfangen. Du kannst ihm ausrichten, dass …«
»Dein Vater?«, antwortet Vinty. »Nicht dein Vater. Der Cygnus. Wir sind der Cygnus. Wir haben auf dich gewartet.«