4

»Er witterte das frische Blut an meiner Hand. Ich wusste, ich würde schnell sein müssen. Sehr schnell und achtsam. Kein Zögern jetzt, wenn man sein Zeichen erkannt hat, muss man handeln.«

Als Mama mich am nächsten Morgen weckt, habe ich keine Sekunde geschlafen und fühle mich, als wäre ich todkrank. Ich schleppe mich ins Bad und dann zum Frühstück, obwohl der Gedanke an Schwallfis aufdringliche Fröhlichkeit am Morgen geradezu unerträglich ist. Wahrscheinlich hätte er für das, was ich getan habe, auch noch vollstes Verständnis. Obwohl er Anwalt ist, trieft sein Einfühlungsvermögen geradezu aus jeder seiner stark vergrößerten Poren.

Wie immer hat Mama den Tisch reichlich gedeckt, es gibt Müsli, Käse und Wurst, von Tomaten bis Nutella ist alles da.

Ich könnte kotzen.

Schwallfi schickt mir ein heiteres »Guten Morgen!« entgegen und sucht meinen Blick. Warum kann der Mann nicht einfach Zeitung lesen wie andere Leute?

Zeitung! Ich muss die Zeitung lesen! Vielleicht steht etwas über den Toten in der Tiefgarage.

»Gut geschlafen?«, unterbricht Schwallfi meine Gedanken und zupft seine rosa Gerichtskrawatte in Form. Er hat für jede Gelegenheit eine; für Mandantengespräche, für Sitzungen, zum Joggen, zum Einkaufen, zum Fernsehschauen, fürs Klo.

»Super!«, nuschle ich, bloß keine Diskussion jetzt. Ich lege einen Toast auf meinen Teller und starre den Teller an. Wo ist die Scheißzeitung?

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«, blafft er, der freundlich-aufmerksame Ton ist immer nur Maskerade, die Mama täuschen soll. Er ist froh, wenn wir endlich ausziehen, aber Mama glaubt, er liebt uns. Ha.

Ich starre ihm ins Gesicht. Jetzt wird er als Nächstes sagen, dass ich nicht so frech schauen soll.

»Du siehst ziemlich mies aus. Zu lange aus gewesen?«, fragt er stattdessen.

»Antoinette war im Gegensatz zu mir den ganzen Abend zu Hause!«, kommt mir Kati zu Hilfe. Sie zwinkert mir zu, aber als sie meine Miene bemerkt, stutzt sie.

Kati hat heute ein Outfit gewählt, als wäre sie die Chefsekretärin der Bayerischen Landesbank, ganz im grauen Kostüm. Wie kann man nur so rumlaufen! Schwallfi mustert sie genauso wie ich, aber er findet’s natürlich toll.

»Jetzt esst mal, ihr beiden, damit ihr was im Bauch habt, bevor die Schule losgeht.« Mama kommt zu uns an den Tisch und verteilt das Rührei, das sie gerade zubereitet hat.

Mir wird flau.

»Wie geht es eigentlich dem kranken Schaf, das ihr vorgestern operiert habt?«, heuchelt Schwallfi Interesse.

»Schon viel besser, aber es braucht noch ein paar Tage Ruhe, bevor es wieder auf die Weide kann.«

»Wieso wurde es eigentlich nicht gleich geschlachtet?«, fragt Kati, der man solche Fragen nie übel nimmt. Wenn ich das gefragt hätte, wäre das als Provokation und mit »Entschuldige dich sofort bei deiner Mutter!« geahndet worden. Aber bei Kati...

Mama lächelt. »Es war noch nicht groß genug und soll noch ein bisschen Wolle bringen, bevor es geschlachtet wird.«

»Fressen und gefressen werden!«, grinst Schwallfi in die Runde und nimmt demonstrativ ein Stück Schafskäse, damit es auch jeder checkt.

Nun ist mir richtig übel.

So schlecht war mir das letzte Mal beim Oktoberfest, nachdem ich eine Currywurst mit Pommes rot-weiß gefuttert hatte und gleich danach Achterbahn gefahren bin. Ich stürze zum Klo, was mir wieder missbilligende Blicke von Schwallfi einbringt.

Beim Blick in die weiße Kloschüssel würge ich zwar, aber es kommt nichts. Mama ist mir gefolgt.

»Hast du dir den Magen verdorben?«

»Vielleicht.«

»Willst du lieber zu Hause bleiben?« Sie legt ihre Hand auf meine Stirn. »Fieber hast du aber keins.« Ein prüfender Blick scannt mein Gesicht. »Was ist denn los?«

Ich zucke mit den Achseln. »Nichts«, lüge ich. Als ich den genervten Ausdruck in ihren Augen erkenne, füge ich schnell noch hinzu: »Mir ist nur übel und ich hab Bauchweh.«

»Dann bleibst du zu Hause. Soll ich bei Dr. Wagner einen Termin machen und heute freinehmen? Wir haben zwar heute diese schwierige OP, aber...«

Bloß nicht. »Nein, Mama! Ich werde jetzt eine Cola trinken und Salzstangen knabbern und im Bett bleiben. Ich bin ja kein Kleinkind mehr, okay?«

»Na gut«, erleichtert streicht sie über meine Haare, »dann leg dich wieder hin.«

Kaum habe ich mich in meinem Bett verkrochen, kommt Kati mit einem Tablett herein. Sie balanciert in ihren schwarzen Pumps über die Klamotten, die auf dem Boden herumliegen, und stellt das Tablett neben mein Bett.

»Ganz sicher hat es was mit Valle zu tun. Du benimmst dich immer total irre, wenn der Kerl ins Spiel kommt.«

»Danke für die Cola. Viel Spaß mit Robert.«

Kati setzt sich auf die Bettkante. »Du bist gemein, du weißt genau, ich würde nie etwas tun, was dich verletzt. Also, wenn du willst, dann gehe ich Robert aus dem Weg.«

»Lass mich einfach in Ruhe.«

»Na, dann gute Besserung noch!« Kati knallt meine Tür zu.

Bitte! Sie sollen doch alle nur abhauen!

Raus hier!

Ich muss endlich Valle erreichen und mit ihm reden, noch besser, mich mit ihm treffen. Ich muss endlich wissen, was er mit dem Detektiv gemacht hat.

Kaum höre ich die Wohnungstür das letzte Mal klappern, springe ich auf und haste in die Küche, um die Zeitung zu holen. Ich finde sie schließlich auf dem Klo, wo Schwallfi sie liegen gelassen hat. Ich schaue alle Teile durch, sogar Sport und Wirtschaft und Autos, aber da steht nirgends etwas über einen toten Mann, den man irgendwo in München gefunden hat.

Zwischendrin versuche ich ständig, Valle ans Handy zu bekommen, aber er geht nicht ran und meine verzweifelten SMS ignoriert er einfach.

Ich halte es einfach nicht mehr aus, habe Angst, vor Panik völlig durchzudrehen.

Es gibt nur einen Weg. Ich muss zu ihm.

Mir ist immer noch übel, als ich mich anziehe und das Haus verlasse. Auf dem Weg zu Valles Wohnung bleibe ich vor jedem Zeitungskasten stehen. Vielleicht war die Meldung über den Toten nur nicht in der Süddeutschen, sondern in einem anderen Blatt. Ich durchblättere die Bild-Zeitung, die TZ und die AZ nach Artikeln über unbekannte männliche Tote, aber auch hier nichts.

Endlich erreiche ich den vornehmen Altbau in der Widenmayerstraße. Der Hausflur ist voll vergoldetem Stuck und es gibt sogar einen winzigen vergitterten Holzaufzug, der beim Hochfahren derart rattert, dass ich beim letzten Mal Angst hatte, ich würde nicht lebend oben ankommen.

Valle wohnt allein oben im fünften Stock, von wo aus man einen Blick auf die Isar und das Müllersche Volksbad hat.

Als ich ihn das erste Mal dort besucht habe, hatte ich erwartet, dass die Wände alle schwarz oder dunkelrot gestrichen wären und überall seltsame Symbole – zum Beispiel ägyptische Zeichen von Seth oder Runen – an die Wand gemalt wären. Doch da hatte ich mich getäuscht.

Die Wohnküche war knallrot, die Holzschränke sahen aus wie von Ikea, genauso die Spüle. Der Flur und das halbhoch türkis geflieste Bad waren weiß gestrichen. Überall waren Keramikfiguren verteilt, auf den Fensterbrettern, den Regalen und Kommoden. Tänzerinnen, Frösche, Kutschen. Fand ich zwar etwas eigenartig, aber nicht wirklich beängstigend.

Außer Valle kenne ich nur Robert, der allein lebt. Robert wohnt in einem 70er-Jahre-Albtraum in Schwabing, aber sein Apartment ist modern und sehr stylish; schwarze Ledersessel, schwarze Regale mit vielen Büchern, in der Küchenecke alles aus Stahl, das Schlafzimmer asiatisch reduziert, nur ein Futonbett vor einer roten Wand, gegenüber ein fußballfeldgroßer Flachbildschirm.

So etwas wie diese Herz-und Hortensienmagnete an Valles Kühlschrank hätte Robert sofort in den Müll geworfen.

Mama wäre ganz sicher von beiden Wohnungen beeindruckt gewesen, weil sie so ordentlich aufgeräumt waren – ganz im Gegensatz zu meinem Zimmer.

Ich klingle bei Behrmann und frage mich mal wieder, was Valle eigentlich den ganzen Tag macht. Mit der Schule ist er fertig, aber auf meine neugierigen Fragen hat er immer nur geheimnisvoll gegrinst und gemeint, dass ich es bei passender Gelegenheit schon erfahren würde. Und es für mich besser wäre, wenn ich es jetzt noch nicht wüsste. Was eindeutig unter Wichtigtuerei abzuspeichern ist. Ich vermute, dass er auf einen Studienplatz wartet. Wahrscheinlich gammelt er den ganzen Tag herum.

In diesem Moment ertönt der Türsummer. Ich habe keine Zeit für den Aufzug und stürme die fünf Stockwerke hoch.

Völlig außer Atem komme ich oben an, die Tür zur Wohnung ist offen. Valle steht im Flur, er scheint erst aufgestanden zu sein, trägt nur ein T-Shirt und schwarze Boxershorts. Seine Haare sind verstrubbelt. Er gähnt.

»Was willst du denn hier um diese Uhrzeit? Hast du keine Schule?« Er geht in die Küche, stellt den Wasserkocher an und holt Kaffee aus dem Kühlschrank.

»Ich muss endlich wissen, was mit dem Detektiv passiert ist«, presse ich noch immer fast atemlos hervor.

»Wir haben uns um ihn gekümmert.« Er gießt Wasser auf das Pulver in der Kanne und rührt um.

»Wir? Wieso wir? Ich dachte, du kümmerst dich um ihn.«

Valle hält fragend einen leeren Becher hoch, aber ich schüttle den Kopf. Wie kann er jetzt an Kaffeetrinken denken? In aller Seelenruhe gießt er sich ein und setzt sich dann zu mir an den Tisch. »Wir sind eine Gruppe von Gleichgesinnten.« Er pustet über den dampfenden Becher.

»Von Gleichgesinnten?«

»Gibt’s hier ein Echo? Frag, was du willst, aber bitte lass dieses alberne Nachgequatsche.«

»Rede nicht so mit mir! Ich fühl mich verdammt mies! Also noch mal: Wer sind diese Gleichgesinnten?«

Er schlürft weiter seinen Kaffee, als wäre nichts passiert.

Ich springe auf, plötzlich möchte ich ihn schütteln. »Geht’s vielleicht auch ein bisschen weniger geheimnisvoll? Ich werde verrückt, weil ich einen Menschen auf dem Gewissen habe! Kannst du jetzt endlich die Klappe aufmachen und mir erzählen, was genau ihr gemacht habt?« Meine Stimme überschlägt sich fast.

Valles Augen blitzen auf. »Nicht in diesem Ton. Das kann ich nicht leiden.«

Jetzt kann ich meine Tränen kaum mehr zurückhalten. Das ist alles zu viel für mich.

»Sorry, aber du musst aufhören, dich so gehen zu lassen!« Er streckt eine Hand nach mir aus, aber ich bleibe, wo ich bin. »Pass auf: Ich hab Giltine angerufen und die hat sich um alles gekümmert.«

»Wer ist Giltine? Und was hat sie gemacht?«, frage ich, diesmal mit beherrschter Stimme.

»Giltine ist eine...nun... eine Bekannte von mir. Was sie mit der... Leiche gemacht hat, weiß ich nicht. Aber Giltine ist eine erstklassige Problemlöserin. So viel ist sicher. Heute Abend erfahren wir dann, was los ist. Du bist übrigens aufgenommen.«

Ich versteh nur Bahnhof. Kein Wunder, dass ich ständig alles wiederholen möchte.

»Aufgenommen? Bei was aufgenommen? Habe ich etwas verpasst?« Verwirrt starre ich Valle ins Gesicht.

»Aufgenommen in unsere Gruppe. Wir haben dich die letzten Tage beobachtet und nach allem, was passiert ist, finden wir, dass du würdig bist, bei uns einzusteigen.« In Valles Augen ist ein freudiges Blitzen zu erkennen.

Mir wird gleich noch übler. »Weil ich einen Menschen getötet habe?«, frage ich fassungslos.

Das ist ja krank. Das alles ist verdammt krank!

»Nein, weil du Grenzen überschritten hast. Und das mit dem Detektiv war eindeutig ein Unfall. Letztlich hat er sich das selbst zuzuschreiben. Du wolltest ihn doch nicht töten, oder?«

»Aber er ist tot!« Eigentlich hatte ich diese Worte schreien wollen, doch mir gelingt nur ein heiseres Flüstern.

Valle nickt. »Giltine hat alles arrangiert. Niemand wird dich verdächtigen.«

Die Wahrheit ergreift Stück für Stück Besitz von meinem Körper. Unaufhaltsam dringt die Erkenntnis zu mir vor, dass ich wirklich jemanden getötet habe. Thor Friedrichsen ist tatsächlich tot. Diese Gewissheit ist grauenhaft.

»Ich hätte mich auf diesen Mist gar nicht erst einlassen sollen. Und wenn ich nicht einfach abgehauen wäre, dann . . .«

»Hätte, wäre, könnte, sollte...Du musst lernen, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Du hast Scheiße gebaut, okay, dann steh dazu. Du wolltest, dass ich mich drum kümmere, das hab ich getan. Und jetzt ist es erledigt, also sei zufrieden.« Valle kommt näher. »Du gehörst jetzt zu uns.«

»Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen. Es ist einfach schrecklich, was ich getan habe«, stammle ich kaum hörbar.

»Akzeptier es. Die Sache ist erledigt, mach dir nicht so viele Gedanken deswegen.«

Nun steht er vor mir und jetzt endlich nimmt er mich in den Arm und für einen Moment ist alles gut, ich fühle mich geborgen, aufgehoben. Irgendwann löst er sich aus der Umarmung. »Ich glaube, du solltest nach Hause fahren und dich ein bisschen ausruhen.« Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Okay?«

Ich nicke. Wie ein ferngesteuertes Spielzeug lasse ich mich von ihm zur Tür führen. Valle drückt mich noch einmal fest an sich, dann umfasst er meine Haare mit einer Hand und zieht damit leicht, aber bestimmt meinen Kopf zur Seite, sodass mein Hals freiliegt, beugt sich darüber wie ein Vampir und küsst mich dort ganz sanft, verteilt zarte flatternde Küsse, knabbert, saugt sich fest.

Eiskalte Schauer breiten sich in meinem Körper aus und doch fühle ich mich, als würde ein heißes Feuer in mir lodern. Ich möchte weglaufen und ich möchte, dass er mich weiter festhält, ich möchte schreien und ich will, dass er mir den Mund mit seinen Küssen verschließt.

Da hört er plötzlich auf, als wüsste er, wie durcheinander ich bin, und räuspert sich. »Musst du nicht wieder zurück?«

Er hat recht. Ich muss hier weg, muss nachdenken, alleine nachdenken.

Ich schiebe ihn von mir und renne beinahe aus seiner Wohnung. Ein paar Minuten später stehe ich auf der Straße.

Und weiß gar nicht mehr, wie genau ich dorthin gekommen bin.

 

Ich bin schwingen

Du beklagst dich über mein Schweigen. Beklage dich nicht, freue dich lieber mit mir, denn ich habe meinen Kuss bekommen und nicht nur den. Weil ich bereit war, jeden Preis dafür zu zahlen. Wenn ich nur in seiner Nähe sein kann, diesen Duft einatmen und zuweilen sogar diese Hand auf meiner fühlen, dann begreife ich, warum ich überhaupt am Leben bin, warum mein Herz schlägt. Schon wieder so pathetisch, aber ich fürchte, alles, was ich noch weiter schreiben könnte, wird sich so anhören. Also entschuldige, wenn ich dir schwachsinnig vorkomme, vielleicht bin ich ja auch schwachsinnig, einfach deshalb, weil ich liebe. Dein L.