NACHWORT

von Lois Rosenthal
Herausgeberin der Zeitschrift Story

›Adressat unbekannt‹ von Kressmann Taylor wurde erstmals 1938 in der September/Oktober-Ausgabe der New Yorker Zeitschrift Story veröffentlicht und erregte sogleich ungeheures Aufsehen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt hat der fiktive Briefwechsel zwischen einem Amerikaner, der in San Francisco lebt, und seinem früheren Geschäftspartner, der nach Deutschland zurückgekehrt ist, das zersetzende Gift des Nationalsozialismus erzählerisch dargestellt.

Whit Burnett, der Gründungsherausgeber von Story, berichtete, daß die gesamte Auflage dieser Ausgabe innerhalb von zehn Tagen ausverkauft gewesen sei. Begeisterte Leser hätten Kopien der Geschichte angefertigt, um sie Freunden schicken zu können. Walter Winchell rühmte ›Adressat unbekannt‹ als »einen der besten Beiträge des Monats, etwas, das Sie nicht versäumen sollten«. Später druckte Reader’s Digest für seine drei Millionen Leser eine gekürzte Fassung ab. Filmproduzenten riefen in der Redaktion an. Die Anfragen nach Übersetzungsrechten häuften sich.

1939 brachte Simon & Schuster ›Adressat unbekannt‹ als Buch heraus und verkaufte 50 000 Exemplare – eine enorm hohe Zahl in diesen Jahren. In einer Besprechung der New York Times Book Review hieß es: »Diese moderne Geschichte ist die Perfektion selbst. Sie ist die stärkste Anklage gegen den Nationalsozialismus, die man sich in der Literatur vorstellen kann.«

Die gebündelte Aufmerksamkeit der Journalisten und Leser galt einer unbekannten Autorin – Kressmann Taylor, die von 1926 bis 1928 als Werbetexterin in einer Agentur gearbeitet und ihre Anstellung dann aufgegeben hatte, um gemeinsam mit ihrem Mann Elliott Taylor für ihre drei kleinen Kinder zu sorgen. Die Autorin erläuterte damals die Entstehung von ›Adressat unbekannt‹: Der Text basiere auf einigen tatsächlich geschriebenen Briefen, auf die sie gestoßen sei, aber erst im Gespräch mit ihrem Mann habe die Geschichte ihre endgültige Form gefunden.

In der Sommerausgabe des Jahres 1992 druckte Story ›Adressat unbekannt‹ noch einmal ab. Angesichts der grassierenden Fremdenfeindlichkeit in vielen Ländern der Welt war die soziale Bedeutung des Buches von neuem augenfällig. Die neonazistischen Strömungen im wiedervereinten Deutschland, das erneute Aufkeimen von antisemitischen Haltungen in Osteuropa und die zunehmende Popularität der weißen Suprematisten in den Vereinigten Staaten klangen wie ein unheimliches Echo der Vergangenheit.

Wieder erregte die Geschichte außergewöhnlich lebhaftes Interesse. In den Zuschriften kam zum Ausdruck, daß eine neue Generation von Lesern von der Kraft dieses Buches eingenommen war. Andere, die die Geschichte bereits 1938 gelesen hatten, begrüßten freudig ihren Wiederabdruck.

Die zeitlose Botschaft von ›Adressat unbekannt‹ wendet sich an unser moralisches Empfinden, und nicht zuletzt deshalb hat dieser Band einen Platz in jedem Bücherregal verdient.