KAPITEL 8
Die Pioniere, welche die Schanzkörbe in Position gebracht hatten, waren zu aufgeregt, um sich schlafen zu legen. Stattdessen saßen sie an ein paar rauchenden Feuern, und ihr Gelächter klang mal laut, mal leise durch den Nachtwind. Major Stokes war zufrieden mit seiner Arbeit und hatte als Belohnung drei Krüge Arrak spendiert, und der Schnaps machte die Runde.
Sharpe beobachtete die kleine Feier. Dann ging er zu einem kleinen Zelt, wo er sein geliehenes indisches Gewand auszog, bevor er sich zu seiner Decke tastete. In der Dunkelheit wäre er fast über Clare gestolpert, die durch das Bombardement und dann durch die Stimmen der Pioniere wach geblieben war. Sie streckte eine Hand aus und spürte nackte Haut. »Du bist unbekleidet!« Clare klang alarmiert.
»Nicht ganz«, sagte Sharpe. Dann verstand er ihre Besorgnis. »Meine Kleidung war nass«, erklärte er, »und so habe ich sie ausgezogen. Wollte nicht nass ins Bett gehen. Und ich habe immer noch mein Hemd an.«
»Regnet es? Das habe ich gar nicht gehört.«
»Es war kein Regen, sondern Blut«, sagte er, tastete unter die Decke, die er sich von Syud Sevajee geborgt hatte, und fand Torrances Beutel.
Clare hörte das Klickern von Steinen. »Was ist das?«
»Nur Steine«, sagte er, »Kiesel.« Er steckte die zwanzig Juwelen, die er sich von Kendrick und Lowry zurückgeholt hatte, in den Beutel, schob ihn unter die Decke und legte sich nieder. Er wusste, dass er nur einen kleinen Teil seiner Steine wiedergefunden hatte, denn die meisten würde Hakeswill haben. Die beiden Privates hatten ihren Schatz lose in den Taschen bei sich getragen, nicht mal versteckt in ihren Rocksäumen. Gott, er war müde, und sein Körper hatte sich noch nicht von Hakeswills Tritten erholt. Das Atmen schmerzte, die blauen Flecken spannten und ein Zahn war locker.
»Was ist da draußen geschehen?«, fragte Clare.
»Die Pioniere haben die Schanzkörbe in Position gebracht. Wenn es hell wird, werden sie die Plattform für die Geschütze und die Magazine anlegen, und morgen Nacht werden sie die Geschütze raufbringen.«
»Was ist mit dir geschehen?«, präzisierte Clare ihre Frage.
Sharpe schwieg eine Weile. »Ich habe einige alte Freunde besucht«, sagte er schließlich. Aber Hakeswill war ihm entkommen, verdammt, und der würde jetzt doppelt wachsam und vorsichtig sein. Trotzdem würde Sharpe seine Chance bekommen. Er grinste, als er sich an Morris’ ängstlichen Tonfall erinnerte. Der Captain war bei seinen Männern ein Tyrann und bei seinen Vorgesetzten ein Speichellecker.
»Hast du jemanden getötet?«, fragte Clare.
»Zwei Männer«, gab er zu, »aber es hätten drei sein sollen.«
»Warum?«
Er seufzte. »Weil es Verbrecher waren«, sagte er und erkannte im selben Augenblick, dass es die richtige Antwort war. »Und weil sie versucht haben, mich zu töten«, fügte er hinzu. »Und sie haben mich beraubt. Du kennst sie. Kendrick und Lowry.«
»Sie waren schrecklich«, sagte Clare leise. »Sie haben mich immer lüstern angestarrt.«
»Das kann ich ihnen nicht verdenken.«
Clare schwieg eine Weile. Das Gelächter der Pioniere ließ nach, als sich die Männer nach und nach zu ihren Zelten zurückzogen. Eine Windböe zerrte am Eingang des Zelts und trieb den Geruch von verbranntem Pulver von der felsigen Landenge heran, wo immer noch Flammen um ausgebrannte Raketenhülsen im Gras züngelten. »Alles ist schief gegangen, nicht wahr?«, sagte Clare.
»Es ist wieder in Ordnung gebracht worden«, erwiderte Sharpe.
»Für dich«, sagte sie.
Abermals herrschte Schweigen, und Sharpe nahm an, dass sie weinte. »Ich werde dich nach Madras bringen«, sagte er.
»Und was wird dort mit mir geschehen?«
»Dir wird es gut gehen, Mädchen. Ich schenke dir ein paar von meinen Zauberkieseln.«
»Ich will nur heimkehren«, sagte sie leise. »Aber ich kann es mir nicht leisten.«
»Heirate einen Soldaten«, sagte Sharpe, »und er nimmt dich mit heim.« Er dachte an Eli Lockhart, der Clare aus der Ferne bewundert hatte. Die beiden würden gut zueinander passen, fand er.
Sie weinte sehr leise. »Torrance hatte mir versprochen, mir die Heimfahrt zu bezahlen, wenn ich meine Schulden abgearbeitet habe.«
»Warum ließ er dich für eine Passage arbeiten, um dir dann eine andere zu schenken?«, fragte Sharpe. »Er war ein verlogener Bastard.«
»Zuerst war er so freundlich.«
»So sind wir alle«, sagte Sharpe. »Erst Süßholz raspeln, wenn man eine Frau kennenlernt, und wenn man bekommen hat, was man will, ändert sich das.«
»Charlie war nicht so«, sagte Clare.
»Charlie? Dein Ehemann?«
»Er war immer gut zu mir.«
Sharpe legte sich zurück. Der Lichtschein der heruntergebrannten Feuer schimmerte durch den locker gewebten Stoff des Zeltes. Wenn es regnet, wird es hier wie durch ein Sieb tropfen, dachte er. »Es gibt gute und böse Menschen«, sagte er.
»Und was für einer bist du?«, fragte Clare.
»Ich nehme an, einer der guten, aber ich weiß es nicht.Immer gerate ich in Schwierigkeiten, und ich kenne nur einen Ausweg: kämpfen. Das kann ich ganz gut.«
»Ist es das, was du willst? Kämpfen?«
»Gott weiß, was ich will.« Er lachte leise. »Ich wollte mehr ein Offizier sein als alles sonst in meinem Leben! Ich habe davon geträumt, es mir so sehr gewünscht, dass es fast schmerzte, und dann wurde der Traum wahr, und ich wachte auf und fragte mich, warum ich es mir so sehr gewünscht habe.« Er legte eine Pause ein. Hinter dem Zelt stampften Syud Sevajees Pferde, und eines schnaubte leise. »Einige Leute versuchen mich zu überreden, die Armee zu verlassen. Das Offizierspatent zu verkaufen, verstehst du? Sie wollen mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihnen in ihre Suppe pinkle, Mädchen.«
»Und – wirst du gehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte es nicht.« Er dachte darüber nach. »Es ist wie ein Club, eine Gesellschaft. Sie wollen mich nicht aufnehmen, so schmeißen sie mich raus, und dann muss ich mich wieder hineinkämpfen. Vielleicht wird es bei den Schützen anders sein. Ich werde es jedenfalls versuchen und feststellen, ob sie anders sind.«
»Du willst weiterhin kämpfen?«, fragte Clare.
»Das ist das, was ich gut kann«, sagte Sharpe. »Und es macht mir Spaß. Ich meine, ich weiß, ich sollte mich nicht darüber freuen, aber es gibt keine andere Aufregung, die ich so genieße.«
»Keine?«
»Nun, eine schon.« Er grinste in der Dunkelheit.
Lange Zeit herrschte Schweigen, und er dachte schon, dass Clare eingeschlafen sei, aber dann sprach sie wieder. »Und was ist mit deiner französischen Witwe?«
»Sie ist fort«, sagte Sharpe knapp.
»Fort?«
»Abgehauen, Mädchen. Hat etwas Geld von mir mitgenommen und ist nach Amerika gereist, wie man mir gesagt hat.«
Clare schwieg wieder eine Weile. »Macht es dir was aus, allein zu sein?«, fragte sie schließlich.
»Nein.«
»Aber mir.«
Er drehte sich ihr zu, stemmte sich auf einen Ellbogen und streichelte über ihr Haar. Sie versteifte sich, als er sie berührte, entspannte sich aber, als sie die Sanftheit seiner Hand spürte.
»Du bist nicht allein, Clare«, sagte Sharpe. »Oder nur, wenn du es sein willst. Du warst die Gefangene, weil jemand dich in eine Falle gelockt hat. Das ist alles. Jetzt ist das vorbei. Du bist frei.« Seine Hand glitt über ihr Haar bis zum Nacken und spürte warme, nackte Haut. Clare zuckte nicht zurück, und er streichelte weiter hinunter. »Du bist nackt«, sagte er.
»Es war warm«, erwiderte sie leise.
»Was ist schlimmer?«, fragte Sharpe. »Es warm zu haben oder einsam zu sein?«
Er glaubte, sie lächeln zu sehen. Er konnte es in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er stellte sich vor, dass sie lächelte. »Einsam zu sein«, antwortete sie mit belegter Stimme.
»Das können wir ändern«, sagte er, hob die dünne Decke an und rückte an sie heran.
Sie hatte aufgehört zu weinen. Irgendwo draußen krähte ein Hahn, und die östlichen Felsen wurden vom ersten goldenen Licht des Tages berührt. Die Feuer auf der felsigen Landenge flackerten und erstarben, und ihr Rauch zerfaserte im dünnen Morgennebel. Signalhörner erklangen im Hauptlager und riefen die Rotröcke zum Morgenappell. Die Posten der Nacht wurden abgelöst, als die Sonne aufstieg, um die Welt mit Licht zu überfluten.
Und Sharpe und Clare schliefen miteinander.
»Sie haben die Leichen zurückgelassen?«, grollte Wellesley.
Captain Morris blinzelte, als eine Windböe ihm Staub in ein Auge blies. »Ich habe versucht, die Leichen zu bergen«, log er, »aber es war dunkel, Sir, stockdunkel. Colonel Kenny kann das bezeugen, Sir. Er hat uns besucht.«
»Ich?« Kenny, groß, schlank und jähzornig, stand neben dem General. »Ich soll Sie besucht haben?« Seine Miene verriet Zorn.
»Gestern Nacht, Sir«, antwortete Morris empört. »An der Postenlinie.«
»Das habe ich nicht. Die Sonne muss Ihnen zu Kopf gestiegen sein.« Kenny blickte Morris finster an, dann nahm er eine Schnupftabakdose aus der Tasche und klopfte sich eine Prise auf die Hand. »Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?«, fügte er hinzu.
»Morris, Sir. 33. Regiment.«
»Ich dachte, wir hätten nur Schotten und Sepoys hier«, sagte Kenny zu Wellesley.
»Captain Morris’ Kompanie hat einen Konvoi hierher eskortiert«, antwortete Wellesley.
»Eine Leichte Kompanie, wie?«, sagte Kenny mit einem Blick auf Morris’ Epauletten. »Sie könnten sogar von Nutzen sein. Ich kann in meinem Angriffstrupp noch eine Kompanie gebrauchen.« Er hielt sich einen Nasenflügel nach dem anderen zu und zog die Prise Schnupftabak hoch. »Es muntert meine Jungs auf, wenn sie sehen, wie weiße Männer getötet werden.« Kenny befehligte das 1. Bataillon des 11. Madrassi-Regiments.
»Was alles ist bis jetzt in Ihrer Angriffseinheit?«, fragte Wellesley.
»Neun Kompanien«, sagte Kenny. »Die Grenadiere und zwei andere von der Schottischen Brigade, die Flankenkompanien von meinem Regiment und vier andere. Gute Jungs, sie alle, aber ich wage zu sagen, dass sie nichts dagegen hätten, die Ehre mit einer englischen Leichten Kompanie zu teilen.«
»Und ich habe keine Zweifel, dass Sie die Chance, eine Bresche stürmen zu dürfen, willkommen heißen, Morris?«, fragte Wellesley trocken.
»Natürlich, Sir«, erwiderte Morris und fluchte innerlich.
»Aber in der Zwischenzeit«, fuhr Wellesley kalt fort, »bergen Sie die Leichen Ihrer Männer.«
»Jawohl, Sir.«
»Tun Sie es jetzt.«
Sergeant Green führte ein halbes Dutzend Männer zur Landenge, doch sie fanden nur zwei Leichname, keine drei, wie sie erwartet hatten. Sergeant Hakeswill blieb vermisst.
Der Feind, der die Rotröcke zwischen den Felsen oberhalb des Wasserbeckens sah, eröffnete das Feuer, und die Musketenkugeln prallten gegen die Felsen und jaulten als Querschläger durch die Luft. Eine Kugel riss Green den Stiefelabsatz ab, kratzte nicht mal die Haut am Fuß an, doch der Treffer schmerzte und er begann zu humpeln. »Packt nur die Toten und schleift sie fort«, sagte er. Green fragte sich, weshalb der Feind nicht mit einer Kanone gefeuert hatte, und gerade in diesem Augenblick schoss er eine Kartätschenladung auf seinen Trupp ab. Die Kugeln zischten über die Männer hinweg, und wie durch ein Wunder wurde keiner getroffen, als die Soldaten Kendrick und Lowry an den Füßen packten und zurück zu der halb fertig gestellten Batterie schleiften, wo Captain Morris wartete. Beide Toten hatten durchgeschnittene Kehlen.
Erst in Deckung der Schanzkörbe wurden die Leichen pietätvoller behandelt und auf behelfsmäßigen Bahren abtransportiert. Colonel Kenny fing die Träger ab, um die Leichen, die bereits stanken, genau zu betrachten. »Sie müssen ein Dutzend Halsabschneider aus der Festung geschickt haben«, vermutete er. »Sie sagen, ein Sergeant wird vermisst?«
»Jawohl, Sir«, antwortete Morris.
»Der arme Kerl muss ihr Gefangener sein. Seien Sie heute Nacht vorsichtig, Captain. Sie könnten es wieder versuchen. Und ich versichere Ihnen, wenn ich mich heute Abend zu einem Spaziergang entschließe, wird er nicht an Ihrer Postenlinie stattfinden.«
An diesem Abend formierte sich die Leichte Kompanie des 33. Regiments wieder zu einem Schirm vor den neuen Batterien, diesmal um die Männer beim Herauftransport der Geschütze zu schützen. Es war eine Nacht der Nervosität, denn die Kompanie rechnete damit, dass Marathen lautlos durch die Finsternis schlichen, um Kehlen durchzuschneiden, doch das geschah nicht. Die Festung blieb still und dunkel. Kein Geschütz feuerte und keine Rakete wurde abgeschossen, als die britischen Kanonen in ihre neuen Positionen gebracht und Pulver und Kanonenkugeln in den Magazinen gelagert wurden.
Dann warteten die Kanoniere.
Das erste Zeichen der Morgendämmerung war ein grauer Schimmer im Osten, dem das Licht der reflektierten Sonne folgte, deren Strahlen die Kuppen der östlichen Felsen berührte. Die Festung war noch grauschwarz. Immer noch warteten die Kanoniere. Eine einsame Wolke erglühte rosafarben am Horizont. Rauch stieg von den Kochfeuern in der Festung auf, wo die Fahnen schlaff in der windstillen Luft hingen. Signalhörner weckten das Lager, das eine halbe Meile hinter den Batterien lag, und Offiziere richteten Fernrohre auf Gawilgarhs nördliche Mauer.
Major Stokes’ Job war fast vollendet. Er hatte die Batterien eingerichtet, und jetzt mussten die Kanoniere die Breschen in die Mauern schlagen, aber zuerst wollte Stokes sicherstellen, dass die äußerste Bresche an der richtigen Stelle geschlagen wurde. Er hatte ein Fernrohr auf einem Dreibein montiert und schwenkte es jetzt über die von Flechten bedeckten Steine zur rechten Seite einer Bastei in die Mitte der Mauer. Die Mauer neigte sich leicht nach hinten, aber Stokes war sicher, dass er eine Stelle erkennen konnte, wo sich die alten Steine aus der glatten Fläche hervorwölbten, und er betrachtete die Stelle, als die Sonne aufstieg und die Spur eines Schattens warf, wo die Linie nicht ganz eben war. Schließlich verschraubte er die Arretierung, sodass das Fernrohr nicht mehr bewegt werden konnte, und rief den Geschützführer der Achtzehnpfünder-Kanone der Batterie. Er bestand darauf, dass der Sergeant zum Fernrohr ging. »Das ist Ihr Ziel«, sagte Stokes zum Sergeant.
Der Sergeant bückte sich zum Fernrohr. Er kaute einen Priem Kautabak und hatte kaum Zähne im Unterkiefer, so dass sein gelber Speichel ständig über sein Kinn tröpfelte. Er richtete sich auf, bückte sich dann wieder zum Fernrohr und spähte noch mal hindurch. Das Fernrohr war stark, doch alles, was er sehen konnte, war eine vertikale Fuge zwischen zwei Steinblöcken. Sie befand sich etwa vier Fuß oberhalb des Fußes der Mauer, und wenn die Mauer nachgab, würde sie den Hang hinabstürzen und die Rampe bilden, über die die Angreifer vorrücken konnten. »Mit Schmackes uff de Fuge?«, fragte der Sergeant mit einem so starken Akzent, dass Stokes ihn nicht sofort verstand.
»Tief auf die Fuge«, sagte Stokes.
»Genau das meinte ich, Sir.« Der Sergeant bückte sich wieder, um noch einmal durch das Fernrohr zu spähen. »Die Fuge klafft ein bisschen auf, nicht wahr?«
»So ist es«, sagte Stokes.
Der Sergeant nickte. »Diese beschissene Mauer, äh, Verzeihung, Sir, wird schließlich platzen wie ein Abszess«, sagte er glücklich und richtete sich vom Fernrohr auf. Er kehrte zu seinem Geschütz zurück und bellte den Männern zu, wie sie es genau einrichten sollten. Er selbst stellte an der Höhenschraube. Bis jetzt war das Geschütz noch hinter einigen halb gefüllten Schanzkörben verborgen, welche die Schießscharte blockierten. Alle paar Sekunden spähte der Sergeant über die Schanzkörbe hinweg und gab Anweisungen, wie das Geschütz penibel um einen halben Zoll mehr nach links oder rechts ausgerichtet werden sollte. Er warf Gras in die Luft, um die Windrichtung einzuschätzen, und dann drehte er wieder an der Höheneinstellung, um das Rohr ein winziges bisschen zu heben. »Vor dem ersten Schuss ist alles kalt. Deshalb drehe ich es ein bisschen höher. Vielleicht noch eine halbe Drehung.« Er hämmerte gegen die Schraube. »Perfekt«, sagte er.
Die puckalees brachten Wasser und schütteten es in große, hölzerne Wannen. Das Wasser diente nicht nur dazu, den Durst der Kanoniere zu löschen und die Schwämme anzufeuchten, mit denen die Rohre zwischen den Schüssen gereinigt wurden, sondern auch zum Kühlen der Geschütze. Die Sonne stieg höher, und es versprach ein glühend heißer Tag zu werden, und wenn die schweren Geschütze nicht von Zeit zu Zeit mit Wasser gekühlt wurden, konnten sie überhitzen, und die Pulverladungen konnten vorzeitig explodieren. Der Sergeant wählte jetzt seine Kugeln aus, rollte die Achtzehnpfünder-Kanonenkugeln über ein Stück kahle Erde, um abzuschätzen, welche die perfekteren waren. »Diese«, sagte er und spuckte Tabaksaft auf die Kanonenkugel seiner Wahl.
Morris’ Leichte Kompanie marschierte zurück zur Straße und zum Lager, wo sie schlafen würde. Stokes beobachtete ihren Vorbeimarsch und dachte an Sharpe. Der arme Sharpe, aber endlich würde er in seinem Gefängnis in der Festung die Belagerungsgeschütze hören und wissen, dass die Rotröcke kamen. Ob sie nun durch die Bresche stürmten oder es sogar schafften, die Schlucht zwischen dem äußeren und inneren Fort zu überwinden. Er versuchte, seinen Pessimismus zu unterdrücken, sagte sich, dass es nur seine Aufgabe war, die Bresche zu schlagen, und nicht, den ganzen Sieg zu erringen.
Der Sergeant lud die Kanone und meldete dem Major, der die Batterie befehligte: »Bereit, wenn Sie es sind, Sir.«
Der Major blickte Stokes fragend an.
Stokes zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, wir warten auf Colonel Stevensons Erlaubnis.«
Die Kanoniere der zweiten Batterie, die sich fünfzig Yards von der ersten entfernt befand, richteten ihre Fernrohre über die Schanzkörbe, um zu beobachten, wo der erste Schuss traf. Die Narbe, die er in der Mauer hinterließ, würde ihr Ziel markieren. Die beiden Batterien, die Flankenfeuer geben sollten, beobachteten ebenfalls. Ihre Arbeit würde erst richtig beginnen, wenn die erste der drei Breschen geschlagen war, aber bis dahin würden ihre Zwölfpfünder-Kanonen auf die Kanonen zielen, die auf Gawilgarhs Wehrgängen aufgestellt waren, und versuchen, sie unbrauchbar zu machen.
»Diese Mauer wird nicht lange standhalten«, sagte der Major der Batterie, dessen Name Plummer war. Er starrte durch Stokes’ Fernrohr auf den Wall.
»Wir werden sie noch heute öffnen«, stimmte Stokes zu.
»Gott sei Dank gibt es da kein Glacis«, sagte Plummer.
»Gott sei Dank, das können Sie laut sagen.« Stokes hatte über diesen Mangel nachgedacht und war sich jetzt nicht so sicher, ob dies ein Segen war. Vielleicht hielten die Marathen die große zentrale Schlucht für ihren wahren Schutz und boten die Mauer nur als scheinbaren Schutz für das äußere Fort an. Und wie sollte die Schlucht zwischen den beiden Forts überwunden werden? Stokes befürchtete, dass man von ihm eine Lösung auf Pionierart verlangte, aber was konnte er tun? Die Schlucht mit Erde auffüllen? Das würde Monate dauern.
Stokes’ düstere Vorahnungen wurden unterbrochen, als ein Adjutant, der von Colonel Stevenson geschickt worden war, fragte, warum die Batterien stumm blieben. »Ich nehme an, dies sind die Befehle für Sie, das Feuer zu eröffnen, Plummer«, sagte Stokes.
»Enttarnen!«, rief Plummer.
Vier Kanoniere kletterten auf das Bollwerk vor den Geschützen und entfernten die halb gefüllten Schanzkörbe. Der Sergeant spähte ein letztes Mal über das Rohr hinweg, nickte zufrieden und trat zur Seite. Die anderen Kanoniere hielten sich die Ohren zu. »Sie können feuern, Ned!«, rief Plummer dem Sergeant zu.
Der Sergeant zog einen Luntenstock aus dem Boden neben der Kanone, blies die glimmende Lunte an, griff über das hohe Rad der Lafette und hielt ihn ins Zündloch.
Die Kanone ruckte gut fünf Yards zurück, während sich die Luft mit ätzendem Rauch füllte. Die Kugel flog tief über die felsige Landenge und knallte gegen die Mauer des äußeren Forts. Es entstand eine Pause. Verteidiger rannten über den Wehrgang. Stokes spähte durch das Fernrohr, wartete darauf, dass sich der Rauch lichtete. Das dauerte eine volle Minute, aber dann sah er, dass ein Stück Stein von der Größe eines Suppentellers aus der Mauer gefetzt worden war.
»Zwei Zoll mehr nach rechts, Sergeant!«, rief er tadelnd.
»Muss ein Windstoß gewesen sein, Sir«, sagte der Sergeant, »eine verdammte Böe, denn da war nichts falsch an der Ausrichtung. Verzeihung, Sir.«
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, sagte Stokes mit einem Lächeln. »Sehr gut.« Er hielt die Hände als Schalltrichter vor den Mund und rief der zweiten Batterie zu: »Ihr habt die Zielmarkierung! Feuer frei!«
Eine Rauchwolke stieg von der Mauer der Festung auf, gefolgt vom Donnern eines Geschützes und dem Heulen einer Kanonenkugel. Stokes sprang in die Batterie hinab und hielt seinen Hut fest. »Anscheinend haben wir sie aufgeweckt«, bemerkte er, als ein Dutzend weitere Schüsse der Marathen fielen. Die feindlichen Kugeln schlugen in die Schanzkörbe oder prallten als Querschläger vom felsigen Boden ab. Die zweite britische Batterie feuerte, und das Echo hallte von den Felsen wider, um dem Lager weiter unten zu verkünden, dass die Belagerung von Gawilgarh jetzt richtig begonnen hatte.
Private Tom Garrard von der Leichten Kompanie des 33. Regiments war zum Rand der Felsklippe gewandert, um die Bombardierung der Festung zu beobachten. Nicht, dass da viel zu sehen war außer der ständig wieder dichter werdenden Rauchwolke, von der die felsige Landenge zwischen den Batterien und der Festung verschleiert wurde, doch dann und wann brach ein großes Stück aus Gawilgarhs Mauer. Das Feuer der Verteidiger war heftig, doch Garrard hatte den Eindruck, dass es schlecht gezielt war. Viele der Schüsse gingen über die Batterien hinweg oder bohrten sich in die großen Stapel der schützenden Schanzkörbe. Das britische Feuer hingegen war langsam und treffsicher. Die Achtzehnpfünder-Kanonenkugeln nagten an der Mauer, und keine war verschwendet. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne stieg immer höher und die Geschütze erhitzten sich, sodass nach jedem zweiten Schuss die Kanoniere nasse Felle auf die Rohre legen mussten. Das Material zischte und dampfte, und schwitzende puckalees eilten mit weiterem Wasser in Schläuchen über die Straße zur Batterie, um die großen Fässer aufzufüllen.
Garrard saß bei seiner Beobachtung allein, doch er bemerkte, dass er von einem Inder mit abgerissener Kleidung beobachtet wurde. Er ignorierte den Mann, hoffte, dass er weggehen würde, doch der Inder schob sich näher heran. Garrard hob einen faustgroßen Stein auf, als Andeutung, dass ihm der Mann vom Hals bleiben sollte, doch die Drohung ließ den Inder nur näher rücken. »Sahib!«, zischte er.
»Verpiss dich«, grollte Garrard.
»Sahib! Bitte!«
»Ich hab nichts, was sich zum Klauen lohnt, ich will nichts kaufen und ich will nicht deine Schwester vögeln.«
»Ich werde stattdessen deine Schwester vögeln, Sahib«, sagte der Inder. Garrard fuhr herum, den Stein bereits zum Wurf erhoben, und dann sah er, dass der Mann mit dem schmutzigen Gewand sein ehemals weißes Kopftuch zurückgeschoben hatte und ihn angrinste.
»Du sollst keine Steine auf Offiziere werfen, Tom«, sagte Sharpe. »Ich wollte das immer tun, also kann ich es dir nicht verdenken.«
»Verdammt, Mann!« Garrard ließ den Stein fallen und streckte ihm die rechte Hand hin. »Dick Sharpe!« Plötzlich wurde er verlegen. »Muss ich dich – Sie – ›Sir‹ nennen?«
»Natürlich nicht«, sagte Sharpe und drückte ihm die Hand. »Du und ich, wir sind doch alte Freunde, oder? Eine rote Schärpe ändert nichts daran, Tom. Wie geht es dir?«
»Ging schon schlechter. Und dir?«
»Schon besser.«
Garrard runzelte die Stirn. »Bist du nicht gefangen genommen worden?«
»Bin entkommen. Der Scheißer, der mich gefangen hält, muss erst noch geboren werden, Tom.« Sharpe setzte sich neben seinen Freund, mit dem er sechs Jahre lang in den Mannschaften marschiert war. »Hier.« Er gab Garrard einen Streifen getrocknetes Fleisch.
»Was ist das?«
»Ziege. Schmeckt aber einigermaßen.«
Die beiden saßen beisammen und beobachteten die Kanoniere bei der Arbeit. Die Geschütze, die ihnen am nächsten waren, gehörten zu den beiden Batterien, die Flankenfeuer schossen, und die Kanoniere benutzen ihre Zwölfpfünder, um die Mauer über Gawilgarhs Tor zu beschießen. Eine von Ochsen gezogene Protze hatte soeben weitere Munition gebracht, aber beim Verlassen der Batterie hatte sich ein Rad gelockert, und jetzt standen fünf Männer neben der schräg stehenden Protze und diskutierten, wie sie am besten repariert werden konnte. Garrard zog eine Sehne des Fleisches zwischen den Zähnen hervor. »Ich würde das kaputte Rad abnehmen und ein neues aufsetzen«, sagte er verächtlich. »Da brauche ich keinen Major und zwei Lieutenants, um darauf zu kommen.«
»Sie sind Offiziere, Tom«, sagte Sharpe tadelnd, »die haben nur ein halbes Gehirn.«
»Du solltest das ja wissen.« Garrard grinste. »Die Scheißer geben ein einladendes Ziel ab.« Er wies über die tiefe Schlucht, die das Plateau vom inneren Fort trennte. »Dort drüben ist ein verdammt großes Geschütz. Ungefähr so groß wie ein Heuwagen. Die Scheißer fuhrwerken jetzt schon eine halbe Stunde damit herum.«
Sharpe starrte an dem belagerten äußeren Fort vorbei zu den fernen Felsen. Er glaubte, eine Mauer zu sehen, auf der ein Geschütz aufgestellt sein konnte, aber er war sich dessen nicht sicher. »Ich brauche verdammt ein Fernrohr.«
»Du brauchst verdammt eine Uniform.«
»Dazu habe ich mir schon was einfallen lassen«, sagte Sharpe geheimnisvoll.
Garrard schlug nach einer Fliege. »Wie ist es denn so?«
»Wie ist was?«
»Ein Offizierspinkel zu sein.«
Sharpe zuckte mit den Schultern, überlegte eine Weile und wiegte den Kopf. »Es kommt mir unwirklich vor. Ich weiß es nicht.« Er seufzte. »Ich meine, ich wollte es, Tom, ich wollte es wirklich sehr, aber ich hätte wissen sollen, dass die Bastarde mich nicht wollen. Einige sind in Ordnung, Major Stokes zum Beispiel ist ein feiner Kerl, und es gibt noch andere, die prima sind. Aber die meisten? Weiß der Himmel. Sie mögen mich jedenfalls nicht.«
»Du hast sie beunruhigt, das ist der Grund«, sagte Garrard. »Wenn du Offizier werden kannst, dann können das auch andere.« Er sah Sharpes unglückliches Gesicht. »Du wärst lieber Sergeant geblieben, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Sharpe entschieden und überraschte sich selbst. »Ich kann den Job ausfüllen, Tom.«
»Welcher Job ist das, Mann? Herumzusitzen, während wir all die verdammte Arbeit machen? Einen Diener zu haben, der einem die Stiefel putzt und den Arsch schrubbt?«
»Nein«, sagte Sharpe. Er wies über die schattige Schlucht zum inneren Fort. »Wenn wir da reingehen, Tom, werden wir Jungs brauchen, die wissen, was sie tun. Das ist der Job. Es geht darum, der anderen Seite die Hölle heiß zu machen und die eigenen Männer am Leben zu halten, und ich kann das.«
Garrard blickte skeptisch drein. »Wenn man dich lässt.«
»Ja, wenn man mich lässt«, stimmte Sharpe zu. Er schwieg eine Weile und beobachtete die ferne Geschützstellung. Er konnte dort Männer sehen, war aber nicht sicher, was sie taten. »Wo ist Hakeswill?«, fragte er. »Ich habe ihn gestern gesucht, und der Scheißkerl war nicht mit euch beim Appell.«
»Gefangen genommen«, sagte Garrard.
»Gefangen genommen?«
»Das hat Morris gesagt. Ich hingegen glaube, der Scheißer ist abgehauen. Wie auch immer, er ist jetzt in der Festung.«
»Du meinst, er ist desertiert?«
»Zwei unserer Kameraden sind gestern Nacht ermordet worden. Morris sagt, das hat der Feind gemacht, aber ich haben keinen der Scheißer gesehen. Da schlich ein Typ herum, der behauptete, Colonel der Company zu sein, was aber nicht stimmte.« Garrard starrte Sharpe an, und ein Grinsen kroch in sein Gesicht. »Du warst das, Dick.«
»Ich?«, fragte Sharpe mit ausdruckslosem Gesicht. »Ich war ein Gefangener, Tom. Bin erst gestern entkommen.«
»Und ich bin der König von Persien. Lowry und Kendrick sollten dich verhaften, nicht wahr?«
»Sie waren das, die gestorben sind?«, fragte Sharpe unschuldig.
Garrard lachte. »Geschah ihnen verdammt recht.«
Eine gewaltige Rauchwolke stieg an der fernen Mauer auf den Felsen auf. Zwei Sekunden später hallte das Donnern des schweren Geschützes um Sharpe und Garrard herum, als die Kanonenkugel die gleich hinter der Batterie liegen gebliebene Protze traf. Sie zersplitterte, und alle fünf Männer wurden zu Boden geschleudert, wo sie ein paar Sekunden blutig zuckten und dann reglos liegen blieben. Stein-und Holzsplitter flogen Sharpe um die Ohren. »Hölle, fünf Mann erledigt mit einem Schuss!«, sagte Garrard bewundernd.
»Das wird sie lehren, den Kopf unten zu halten«, sagte Sharpe.
Beim Donnern der gewaltigen Kanone waren Männer aus ihren Zelten zum Rand des Plateaus gelaufen. Sharpe blickte sich um und sah, dass Captain Morris bei ihnen war. Der Captain, in Hemdsärmeln, starrte durch ein Fernrohr auf die große Staubwolke.
»Ich werde gleich aufstehen«, sagte Sharpe, »und du wirst mich schlagen.«
»Was werde ich tun?«, fragte Garrard.
»Du wirst mir einen Hieb verpassen. Dann werde ich fortlaufen, und du wirst mich jagen. Aber du wirst mich nicht einfangen.«
Garrard schaute seinen Freund verwirrt an. »Worauf willst du hinaus, Dick?«
Sharpe grinste. »Frag nicht, Tom, tu es einfach.«
»Du bist ein verdammter Offizier, nicht wahr?« Garrard grinste zurück. »Du befiehlst, und ich gehorche.«
»Bist du bereit?«, fragte Sharpe.
»Ich hab mir schon immer gewünscht, einen Offizier zusammenzuschlagen.«
»Dann auf die Füße.« Sie standen auf. »Also schlag zu«, sagte Sharpe. »Ich habe versucht, dir ein paar Patronen zu klauen, okay? Versetz mir einen Hieb in die Magengrube.«
»Verdammte Scheiße, Mann«, murmelte Garrard.
»Los, mach schon!«
Garrard versetzte Sharpe einen halbherzigen Hieb, und Sharpe stieß ihn zurück, sodass er fiel. Dann warf er sich herum und rannte am Rand der Felsen entlang. Garrard stieß einen Schrei aus, rappelte sich auf und nahm die Verfolgung auf. Einige der Männer, die im Begriff waren, die fünf Gefallenen zu bergen, versuchten Sharpe abzufangen, doch er wich nach links aus und verschwand zwischen einigen Büschen. Der Rest der Leichten Kompanie nahm brüllend und johlend die Verfolgung auf, doch Sharpe hatte einen großen Vorsprung und hetzte im Zickzack durch die Büsche, wo er eines von Syud Sevajees Pferden angepflockt hatte. Er zog den Pflock aus dem Boden, schwang sich in den Sattel und trieb das Pferd mit den Hacken an. Jemand schrie eine Beleidigung hinter ihm her, doch er war jetzt vom Lager fort und es gab keine berittenen Posten, die ihn hätten verfolgen können.
Eine halbe Stunde später kehrte Sharpe zurück, trabte mit einem Trupp eingeborener Reiter, der von einem Erkundungsritt zurückkam. Er sonderte sich von ihnen ab und schwang sich bei seinem Zelt, wo Ahmed auf ihn wartete, aus dem Sattel. Während Sharpe und Garrard das Ablenkungsmanöver gemacht hatten, war der Junge auf Diebestour gewesen. Er grinste breit, als Sharpe sich in das heiße Zelt duckte. »Ich habe alles«, sagte er stolz.
Mit alles meinte er Captain Morris’ roten Rock, seine Offiziersschärpe und die Scheide mit dem Säbel. »Du bist ein guter Junge«, sagte Sharpe. Er brauchte einen roten Rock, denn Colonel Stevenson hatte Befehle erteilt, dass jeder, der mit den Angreifern nach Gawilgarh ging, in Uniform sein musste, damit er nicht mit dem Feind verwechselt werden konnte. Syud Sevajees Männer, die Beny Singh zur Strecke bringen wollten, waren mit abgetragenen Sepoy-Röcken ausgestattet, einige davon noch mit dem Blut ihrer Vorbesitzer befleckt. Keiner dieser Uniformröcke hatte Sharpe gepasst. Auch Morris’ Rock saß ein bisschen eng, aber jetzt hatte er wenigstens eine Uniform. »Gab es Probleme?«, fragte Sharpe Ahmed.
»Niemand hat mich gesehen«, erwiderte der Junge stolz. Sein Englisch besserte sich mit jedem Tag, obwohl Sharpe befürchtete, dass es nicht das Englisch des Königs war. Ahmed grinste wieder, als Sharpe ihm eine Münze gab, die er fix in der Tasche verschwinden ließ.
Sharpe faltete den Rock, legte ihn über den Arm und verließ gebückt das Zelt. Er hielt Ausschau nach Clare und sah sie hundert Yards entfernt. Sie unterhielt sich mit einem großen Soldaten mit blauer Hose und Stiefeln mit Sporen. Clare war in die Unterhaltung vertieft, und Sharpe empfand eine sonderbare Eifersucht, als er sich näherte, doch dann wandte sich der Soldat um und furchte die Stirn bei Sharpes heruntergekommenem Äußeren. Dann erkannte er ihn und grinste. »Mister Sharpe.«
»Eli Lockhart«, sagte Sharpe. »Was, zum Teufel, macht die Kavallerie hier?« Er wies mit dem Daumen zur Festung, vor der weißer Rauch wallte, weil die Verteidiger die britischen Batterien beschossen. »Dies ist ein Job für wahre Soldaten.«
»Unser Colonel hat den General überzeugt, dass Mister Dodd die Flucht ergreifen könnte. Er nimmt an, dass ihn ein Dutzend Kavalleristen einholen kann.«
»Dodd wird nicht flüchten«, sagte Sharpe. »Er wird kein Pferd aus der Festung rausbekommen.«
»Also werden wir mit Ihnen reingehen«, sagte Lockhart. »Wir haben noch eine Rechnung mit Mister Dodd offen, erinnern Sie sich?«
Clare war scheu und alarmiert, und Sharpe nahm an, dass sie Sergeant Lockhart nicht wissen lassen wollte, dass sie die Nacht mit Ensign Sharpe verbracht hatte. »Ich habe Mrs. Wall gesucht«, erklärte er Lockhart. »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten, Ma’am?«
In Clares Blick war Dankbarkeit. »Selbstverständlich, Mister Sharpe.«
»Es geht um diesen Rock.« Er hob den Arm mit Morris’ Uniformrock an. »Er hat rote Aufschläge und Umschläge, und ich brauche weiße.« Er nahm sein Kopftuch ab. »Ich habe mich gefragt, ob Sie dieses Tuch brauchen können. Ich weiß, dass es ein bisschen schmutzig ist, aber ich nehme an, meine Nähkunst reicht nicht, um Umschläge, Manschetten und Kragen zu nähen.«
»Du könntest dieses Captains-Abzeichen abtrennen, wenn du schon dabei bist«, schlug Lockhart Clare vor. »Ich kann mir denken, Mister Sharpe will nicht, dass der wahre Besitzer den Rock wiedererkennt.«
»Das wäre mir lieber«, gab Sharpe zu.
Clare nahm den Rock und bedachte Sharpe mit einem weiteren dankbaren Blick. Dann eilte sie zu Sevajees Zelten. Lockhart schaute ihr nach. »Ich könnte mich stundenlang mit ihr unterhalten«, bekannte er erstaunt. »Das ist wirklich eine ganz besondere Frau.«
»Ist sie das? Ist mir gar nicht aufgefallen«, log Sharpe.
»Sie sagte, Sie wären nett zu ihr gewesen«, sagte Lockhart.
»Nun, ich habe versucht, ihr zu helfen. Sie wissen, wie das ist.« Sharpe fühlte sich verlegen.
»Der verdammte Torrance hat sich umgebracht, und sie weiß nicht, wohin. Und Sie haben sie gefunden, wie? Die meisten Offiziere hätten versucht, die Situation der Frau auszunutzen«, sagte Lockhart.
»Ich bin ja kein richtiger Offizier, wie?«, erwiderte Sharpe. Er hatte gesehen, wie Clare den großen Kavalleristen angesehen hatte und wie Lockhart sie angestarrt hatte, und er hielt es für das Beste, sich da herauszuhalten.
»Ich hatte eine Frau«, sagte Lockhart, »und sie starb auf der Reise hierher. Sie war eine gute kleine Frau.«
»Es tut mir leid, dass Sie sie verloren haben«, sagte Sharpe.
»Und Mrs. Wall hat ihren Mann verloren«, fuhr Lockhart fort.
Witwe lernt Witwer kennen, dachte Sharpe, wenn das kein Wink des Schicksals ist.
»Es muss eine Fügung des Schicksals sein«, sagte Lockhart staunend.
»Was werden Sie also jetzt ihretwegen unternehmen?«, fragte Sharpe.
»Sie sagt, sie hat jetzt kein richtiges Heim mehr«, sagte Lockhart, »abgesehen von dem Zelt, das Sie ihr geliehen haben, und mein Colonel hat nichts dagegen, wenn ich heirate.«
»Haben Sie sie gefragt?«
»Mehr oder weniger.« Lockharts Gesicht rötete sich.
»Und sie hat ja gesagt?«
»Mehr oder weniger«, wiederholte Lockhart und errötete noch mehr.
»Teufel, das ging aber schnell«, sagte Sharpe bewundernd.
»Richtige Soldaten zögern nicht«, meinte Lockhart. Dann runzelte er die Stirn. »Ich hörte ein Gerücht, dass Sie vom Feind geschnappt worden sind?«
»Bin entkommen«, erwiderte Sharpe vage. »Die Scheißkerle haben nicht aufgepasst.« Er drehte sich um und beobachtete, wie eine fehlgeleitete Rakete von der Festung aufstieg, eine Rauchspur hinterließ und schließlich harmlos auf die Erde stürzte. »Nehmen Sie wirklich am Angriff teil?«, fragte er Lockhart.
»Nicht in der ersten Reihe«, sagte Lockhart. »Ich bin doch kein Blödmann. Aber Colonel Huddlestone sagt, wir können reingehen und nach Dodd suchen. So warten wir ab, bis ihr Jungs die harte Arbeit erledigt habt, und folgen euch dann.«
»Ich werde nach Ihnen Ausschau halten.«
»Und wir werden ein Auge auf Sie haben«, versprach Lockhart. »Aber in der Zwischenzeit werde ich nachsehen, ob Clare eine eingefädelte Nadel braucht.«
»Tun Sie das«, sagte Sharpe. Er schaute dem Kavalleristen hinterher und sah zugleich, dass Ahmed mit dem wenigen Gepäck seines Ensigns aus Clares Zelt vertrieben wurde. Der Junge sah empört aus, aber Sharpe nahm an, dass ihr Auszug aus dem Zelt nicht lange dauern würde, denn Clare würde sicherlich noch vor dem Abend in das Quartier des Kavalleristen ziehen. Ding dong, die Hochzeitsglocken läuten, dachte er. Er nahm den Beutel mit den Juwelen von Ahmed entgegen und beobachtete dann, während seine Uniform abgeändert wurde, wie der Beschuss der Belagerungsgeschütze der Festungsmauer zusetzte.
Der junge Reiter, der vor dem Tor von Gawilgarhs innerem Fort sein Pferd gezügelt hatte, war groß, arrogant und selbstsicher. Er trug ein weißes Seidengewand, das um die Taille mit einem roten Lederriemen gegürtet war, an dem eine mit Edelsteinen besetzte Scheide mit einem tulwar hing. Der Reiter bat nicht, dass das Tor geöffnet wurde, er verlangte es. Es gab eigentlich keinen Grund, seine Forderung abzuweisen, denn ständig überquerten Männer die Schlucht zwischen den beiden Festungen, und Dodds Kobras waren daran gewöhnt, jeden Tag die Tore ein Dutzend Mal zu öffnen und wieder zu schließen, aber da war etwas am Verhalten des jungen Mannes, das Gopal ärgerte. So ließ er Colonel Dodd holen.
Dodd traf einen Augenblick später mit einem englischen Sergeant an der Seite ein, in dessen Gesicht es dauernd krampfhaft zuckte. Der Reiter beschwerte sich bei Dodd über Gopal, verlangte seine Bestrafung, doch Dodd spuckte nur aus und wandte sich dann an Hakeswill. »Warum will ein Mann durch dieses Tor reiten?«
»Weiß ich nicht, Sir«, sagte Hakeswill. Der Sergeant trug jetzt einen weißen Uniformrock mit einer schwarzen Schärpe, die ein Rangabzeichen war, doch es war nicht ganz klar, welcher Rang das war.
»Draußen kann er nirgendwo sein Pferd bewegen«, sagte Dodd. »Es sei denn, er will durch das äußere Fort ins englische Lager reiten. Frag ihn, was er vorhat, Gopal.«
Der junge Mann verweigerte Gopal eine Antwort. Dodd zuckte mit den Schultern, zog seine Pistole und richtete sie auf den Kopf des Reiters. Der junge Mann erbleichte und schrie etwas zu Gopal.
»Er sagt, Sahib, dass er auf einem Botenritt für den Killadar ist«, übersetzte Gopal für Dodd.
»Welcher Botenritt?«, fragte Dodd. Der junge Mann wollte offenkundig nicht antworten, doch Dodds grimmige Miene und die auf ihn zielende Pistole sorgten dafür, dass er ein versiegeltes Päckchen aus dem Beutel nahm, der an seinem Gurt hing. Er zeigte Dodd das Siegel des Killadars, aber Dodd war nicht beeindruckt von dem roten Wachs, das eine Schlange zeigte, die sich um eine Messerklinge wand. »An wen ist es adressiert?«, fragte er und forderte den jungen Mann mit einer Geste auf, das Päckchen umzudrehen.
Der Reiter gehorchte, und Dodd sah, dass das Päckchen an den befehlshabenden Offizier des britischen Lagers adressiert war. Es musste von jemandem geschrieben worden sein, der kein Englisch konnte, denn es war abscheulich fehlerhaft, doch die Worte waren unmissverständlich. Dodd trat vor und packte das Pferd am Zaumzeug.
»Hol ihn aus dem Sattel, Gopal«, befahl Dodd. »Bring ihn in die Arrestzelle und lass von einem Mann Manu Bappu holen.«
Der junge Mann wollte für einen Moment Widerstand leisten, schaffte es sogar, seinen tulwar halb aus der kostbaren Scheide zu ziehen, doch ein Dutzend von Dodds Männern überwältigte ihn leicht. Dodd wandte sich ab, forderte Hakeswill mit einer Geste auf, ihm zu folgen, und stieg die Stufen zum Wehrgang hinauf. »Es ist offenkundig, was der Killadar tut«, grollte Dodd. »Er versucht, Frieden zu schließen.«
»Ich dachte, hier könnten wir nicht besiegt werden, Sir«, sagte Hakeswill alarmiert.
»Das können wir auch nicht«, sagte Dodd, »aber Beny Singh ist ein Feigling. Er denkt, das Leben sollte nichts anderes als Frauen, Musik und Spiele sein.«
Was für Obadiah Hakeswill ebenfalls herrlich klang, doch er sagte nichts. Er hatte sich Dodd als betrübter Soldat vorgestellt, der sich ungerecht behandelt fühlte und den Krieg gegen die Marathen für unfair hielt. »Wir haben hier nichts zu suchen, Sir«, hatte er gesagt, »nicht in einem heidnischen Land. Es gehört den Indern, nicht wahr? Und hier hat ein Rotrock nichts verloren.«
Dodd hatte nichts davon geglaubt. Er argwöhnte, dass Hakeswill desertiert war, weil er Problemen entgehen wollte. Das konnte er dem Sergeant kaum verdenken, denn er hatte sich ebenso verhalten, und Dodd interessierte sich nicht für Hakeswills Motive. Für ihn zählte nur, dass der Sergeant zum Kämpfen bereit war. Und Dodd glaubte, dass seine Männer besser kämpften, wenn europäische Männer ihnen Befehle gaben. »Es ist eine Beständigkeit bei den Engländern, Sergeant«, hatte er gesagt, »die den Einheimischen die Grundlage gibt.«
»Was gibt sie ihnen, Sir?«, hatte Hakeswill gefragt.
Bei der Begriffsstutzigkeit des Sergeants hatte Dodd die Stirn gerunzelt. »Sie sind kein Schotte, oder?«
»Himmel, nein, Sir! Ich bin weder ein verdammter Schotte noch ein Waliser. Ich bin Engländer, Sir, durch und durch, Sir.« In seinem Gesicht zuckte es. »Engländer bin ich, Sir, und stolz darauf.«
So hatte Dodd Hakeswill einen weißen Uniformrock und eine schwarze Schärpe und das Kommando über eine Kompanie seiner Kobras gegeben. »Kämpfen Sie hier gut für mich, Sergeant«, sagte er, als sie auf den Wehrgang gelangten, »und ich werde Sie zum Offizier machen.«
»Ich werde kämpfen, Sir, kämpfen wie ein Dämon.«
Und Dodd glaubte ihm, denn wenn Hakeswill nicht kämpfte, dann riskierte er, von den Briten gefangen genommen zu werden, und Gott allein wusste, was ihm dann blühte. Dodd konnte sich nicht vorstellen, dass es den Briten gelang, in das innere Fort vorzustoßen. Er rechnete damit, dass sie das äußere Fort einnahmen, denn dort war eine Annäherung möglich, und ihre Geschütze schlugen bereits die Breschen, aber sie würden ein weitaus größeres Problem haben, das innere Fort einzunehmen. Er schilderte dieses Problem jetzt Hakeswill. »Es gibt nur einen Weg rein, Sergeant, und zwar durch dieses Tor. Sie können nicht die Mauern stürmen, denn der Hang der Schlucht ist zu steil. Sehen Sie?«
Hakeswill blickte nach links und sah, dass die Mauer des inneren Forts auf einem fast senkrechten Felshang erbaut war. Kein Mensch konnte ihn erklettern und hoffen, die Mauer zu erstürmen, auch wenn es in dieser Mauer Breschen gab. Und das bedeutete, dass Dodd recht hatte und die Angreifer versuchen mussten, die vier Tore zu überwinden, durch die sie ins innere Fort gelangen konnten, und diese Tore wurden von Dodds Kobras verteidigt.
»Und meine Männer sind noch nie besiegt worden, Sergeant«, sagte Dodd. »Sie haben gesehen, wie andere Männer geschlagen wurden, doch sie haben sich selbst nie schlagen lassen. Und hier wird der Feind uns schlagen müssen. Müssen! Aber das kann er nicht. Das ist unmöglich!«
Er verfiel in Schweigen und stützte die zu Fäusten geballten Hände auf die Brustwehr. Die Geschütze donnerten ständig, doch das einzige Anzeichen auf die Bombardierung war der Rauch, der wie Nebel über der fernen Seite des äußeren Forts hing. Manu Bappu, der dort befehligte, eilte jetzt auf das innere Fort zu, und Dodd sah den Prinzen den steilen Pfad zu den Toren hoch steigen. Die Angeln quietschten, als dieTore, eines nach dem anderen, geöffnet wurden, um Bappu und seine Adjutanten einzulassen.
Dodd lächelte, als das letzte Tor aufgeriegelt wurde. »Gehen wir und machen wir böses Blut«, sagte er und wandte sich wieder zur Treppe.
Manu Bappu hatte bereits den Brief geöffnet, den Gopal ihm gegeben hatte. Er blickte auf, als sich Dodd näherte. »Lesen Sie das«, sagte er und hielt dem Colonel das Papier hin.
»Er will kapitulieren?«, fragte Dodd und nahm den Brief.
»Lesen Sie einfach«, sagte Bappu grimmig.
Der Brief war unbeholfen geschrieben, jedoch verständlich. Beny Singh, als Festungskommandant von Gawilgarh Vertreter des Radschas von Berar, bot den Briten an, die Festung zu der einzigen Bedingung zu übergeben, dass die gesamte Garnison und ihre Angehörigen verschont wurden. Keiner sollte verletzt, niemand gefangen genommen werden. Die Briten konnten alle Waffen in der Festung konfiszieren, doch sie mussten Gawilgarhs Einwohnern erlauben, sie mit so viel persönlichem Besitz zu verlassen, wie sie zu Fuß oder Pferde forttragen konnten.
»Natürlich werden die Briten das akzeptieren!«, sagte Manu Bappu. »Sie wollen nicht in den Breschen sterben!«
»Hat Beny Singh die Befugnis, dies zu versenden?«, fragte Dodd.
Bappu zuckte mit den Schultern. »Er ist der Killadar.«
»Sie sind der General der Armee und der Bruder des Radschas.«
Bappu starrte zwischen den hohen Wällen des Eingangs zum Himmel empor. »Man kann das bei meinem Bruder nie wissen«, sagte er. »Vielleicht will er kapitulieren? Davon hat er mir aber nichts gesagt. Vielleicht, wenn wir verlieren, kann er mir die Schuld geben und sagen, dass er immer eingewilligt hätte.«
»Aber Sie werden nicht einwilligen?«
»Wir können hier siegen!«, sagte Bappu heftig. Dann wandte er sich zum Palast, als Gopal das Nahen des Killadars ankündigte.
Beny Singh musste vom Palast aus beobachtet haben, was mit seinem Boten geschehen war, denn jetzt eilte er heran, und hinter ihm kamen seine Frauen, Konkubinen und Töchter. Bappu ging auf sie zu, gefolgt von Dodd und einem Dutzend seiner weiß berockten Soldaten. Der Killadar musste angenommen haben, dass der Anblick der Frauen das Herz Bappus erweichen würde, doch das Gesicht des Prinzen verhärtete sich.
»Wenn Sie kapitulieren wollen«, rief er Beny Singh zu, »dann reden Sie erst mit mir!«
»Ich habe hier die Befugnis«, erwiderte Beny Singh mit piepsender Stimme. Er hielt den kleinen Schoßhund in den Armen, dessen Zunge heraushing, als er in der Hitze hechelte.
»Sie haben nichts«, entgegnete Bappu. Die Frauen, hübsch in ihrer Seide und Baumwolle, drängten sich zusammen, als sich die beiden Männer neben der Schlangengrube trafen.
»Die Briten schlagen ihre Breschen«, protestierte Beny Singh, »und morgen oder übermorgen werden sie durchkommen! Wir werden alle getötet!« Er heulte fast. »Meine Töchter werden ihr Spielzeug und meine Frauen ihre Dienerinnen sein.« Die Frauen erschauerten.
»Die Briten werden in den Breschen sterben«, entgegnete Bappu.
»Sie können nicht aufgehalten werden!«, beharrte Beny Singh. »Sie sind djinns.«
Bappu schob Beny Singh plötzlich zurück gegen die Felsengrube, in der die Schlangen gehalten wurden. Der Killadar schrie auf, als er stolperte und rückwärts fiel, doch Bappu hielt Beny Singhs gelbes Seidengewand fest. Er packte so hart zu, dass der Killadar nicht fallen konnte. Hakeswill schob sich an den Rand der Grube und sah die Affenknochen. Dann sah er etwas über den schattigen Boden der Grube gleiten und trat schnell zurück.
Beny Singh wimmerte. »Ich bin der Killadar! Ich versuche, Leben zu retten!«
»Sie sollen ein Soldat sein«, sagte Bappu mit seiner zischenden Stimme, »und Ihre Aufgabe ist es, die Feinde meines Bruders zu töten.« Die Frauen schrien, befürchteten, dass ihr Mann in die Schlangengrube fiel, doch Manu Bappu hielt ihn eisern am Seidengewand fest. »Und wenn die Briten in den Breschen sterben und ihre Überlebenden südlich durch die Ebene gejagt und geplündert werden, wer wird dann die Lorbeeren für den Sieg einheimsen? Der Kommandant der Festung, der Killadar. Und Sie wollen diesen Ruhm wegwerfen?«
»Sie sind djinns«, sagte Beny Singh, und er schaute zur Seite zu Obadiah Hakeswill, in dessen Gesicht es zuckte, und schrie: »Sie sind djinns!« -
»Sie sind Menschen, so schwach wie andere Menschen«, sagte Bappu. Er hielt mit der freien Hand das Halsband des Hündchens fest. Beny Singh wimmerte in seinem Griff, hütete sich aber, Widerstand zu leisten. Das Schoßhündchen zerrte am Halsband. Manu Bappu hielt es hoch. »Wenn Sie noch einmal versuchen, die Festung aufzugeben, dann wird dies Ihr Schicksal sein.« Er ließ den Schoßhund fallen. Er kläffte, als er in die Grube stürzte, und jaulte Mitleid erregend, als er auf dem felsigen Boden aufprallte. Es folgte ein Zischen, ein Schlagen von Pfoten, ein letztes Aufjaulen. Dann herrschte Stille. Beny Sing schrie entsetzt auf, voller Mitleid mit seinem Hund. Dann stammelte er, dass er seinen Frauen eher Gift zu trinken geben würde, als zu riskieren, Opfer der schrecklichen Belagerer zu werden.
Manu Bappu schüttelte den unglücklichen Killadar. »Verstehen Sie mich?«, fragte er.
»Ich verstehe«, ächzte Beny Singh.
Manu Bappu zog den Killadar vom Rand der Grube in Sicherheit. »Sie gehen in den Palast, Beny Singh«, befahl er, »und Sie werden dort bleiben und keine weiteren Botschaften an den Feind schicken.« Er schob den Killadar von sich und wandte ihm den Rücken zu. »Colonel Dodd!«
»Sahib?«
»Ein Dutzend Ihrer Männer wird dafür sorgen, dass der Killadar keine Botschaften an die Engländer schickt. Wenn er es versucht, können Sie den Boten töten.«
Dodd lächelte. »Selbstverständlich, Sahib.«
Bappu kehrte zurück zum belagerten äußeren Fort, während sich der Festungskommandant zum Palast oberhalb des mit grünem Schaum bedeckten Sees davonstahl. Dodd teilte ein Dutzend Männer zur Bewachung des Eingangs vom Palast ein, dann kehrte er zum Wehrgang zurück. Hakeswill folgte ihm dorthin. »Warum hat der Killadar solche Angst, Sir? Weiß er etwas, von dem wir noch keine Ahnung haben?«
»Er ist ein Feigling, Sergeant.«
Aber Beny Singhs Angst hatte Hakeswill angesteckt. Er stellte sich einen rachsüchtigen Sharpe vor, der von den Toten zurückgekehrt war, um ihn in der gefallenen Festung aufzuspüren und zu massakrieren. »Die Bastarde können hier nicht rein, oder?«, fragte er besorgt.
Dodd erkannte Hakeswills Furcht, die gleiche, die er selbst empfand, die Furcht vor der Schmach, von den Briten gefangen genommen und dann von einem gnadenlosen Gericht verurteilt zu werden. Er lächelte. »Sie werden vermutlich das äußere Fort einnehmen, Sergeant, weil sie sehr gut sind und weil unsere alten Kameraden tatsächlich wie djinns kämpfen, aber sie können nicht die Schlucht überqueren. Selbst nicht, wenn alle finsteren Mächte ihnen helfen, selbst nicht, wenn sie uns ein Jahr lang belagern und all diese Mauern zertrümmern und die Tore zerstören und den Palast zusammenschießen, denn sie müssen trotzdem die Schlucht überwinden, und das ist unmöglich. Das können sie niemals schaffen.«
Und wer in Gawilgarh die Macht hat, dachte Dodd, der herrscht in Indien.
Und binnen einer Woche würde er hier Radscha sein.
Gawilgarhs Mauern waren brüchig, wie Stokes vermutet hatte. Es dauerte nicht mal einen ganzen Tag, um die erste Bresche zu schlagen. Am frühen Nachmittag hatte die Mauer noch gestanden, obwohl eine Höhle in den staubigen Trümmern, auf die Stokes die Geschütze gerichtet hatte, entstanden war, und dann war die ganze Mauer urplötzlich zusammengebrochen. Ihre Trümmer schlitterten in einer Rauchwolke den kurzen Hang hinab. Langsam senkte sich der Staub und gab den Blick auf eine steile Rampe aus durcheinander gewürfelten Steinen frei, die in den Zwischenraum zwischen den beiden Mauern führte. Ein kleiner Stumpf der hinteren Mauer existierte noch, doch in einer Stunde Arbeit konnten diese Reste beseitigt werden.
Die Kanoniere änderten ihr Ziel, begannen mit den beiden Breschen in der höheren inneren Mauer, während die Batterien, die auf die Schießscharten gefeuert hatten, um die feindlichen Geschütze auszuschalten, jetzt in die erste Bresche zu schießen begannen, um die Verteidiger davon abzuhalten, Hindernisse auf der Rampe zu errichten. Die feindlichen Geschütze – diejenigen, die noch existierten – verdoppelten ihre Bemühungen, die britischen Batterien unbrauchbar zu machen, doch ihre Geschosse bohrten sich in die Schanzkörbe oder flogen darüber hinweg. Das schwere Geschütz, das schon ein Blutbad angerichtete hatte, feuerte noch dreimal, doch seine Kugeln krachten nutzlos gegen die Felsen. Danach gaben die Marathen-Kanoniere auf, unerklärlich für Stokes.
Am nächsten Tag wurden zwei Breschen in die innere Wand der Mauer geschlagen, und jetzt konzentrierten sich die großen Geschütze darauf, alle drei Lücken zu vergrößern. Die Geschosse der Achtzehnpfünder schlugen in die bröckelnden Steine und durchstießen die Füllung der Mauer, um die Rampen zu vergrößern. Am Abend waren die Breschen offensichtlich groß genug, und jetzt richteten die Kanoniere ihre Geschütze auf die verbliebenen Kanonen des Feindes. Eine Besatzung nach der anderen wurde ausgeschaltet oder die Schießscharten wurden zerschmettert. Ein ständiger Rauchschleier hing über der felsigen Landenge, dicht und stechend und jedes Mal aufwallend, wenn ein Schuss hindurch peitschte. Die Zwölfpfünder feuerten in die Breschen, während die Haubitzen weitere Geschosse über die Mauer jagten.
Die britischen Geschütze feuerten bis tief in die Abenddämmerung, und von Minute zu Minute wurde die feindliche Antwort schwächer. Erst als die schwarze Nacht hereinbrach, stellten die Belagerer das Feuer ein, weil ihre Geschütze heiß waren, doch selbst dann gab es keine Atempause für den Feind. Des Nachts konnten die Verteidiger die Breschen in Todesfallen verwandeln. Sie würden die steinernen Rampen verminen oder breite Schützengräben auf den Gipfeln der Breschen ausheben, oder neue Wälle hinter den Breschen anlegen. Doch die Briten ließen ein schweres Geschütz während der Dunkelheit feuern. Sie luden die Achtzehnpfünder mit Kartätschen und bestrichen das Gebiet der Breschen dreimal pro Stunde mit Musketenkugeln, um jeden Marathen davon abzuhalten, sein Leben auf den Schutthängen zu riskieren.
Nur wenige schliefen in dieser Nacht gut. Das Krachen des Geschützes wirkte unnatürlich laut, und selbst im britischen Lager konnten die Männer hören, wenn die Musketenkugeln gegen Gawilgarhs zertrümmerte Mauer prallten. Die Soldaten wussten, dass sie am Morgen zu dieser Mauer gehen und sich ihren Weg durch die Trümmer kämpfen mussten. Und was würde sie erwarten? Sie argwöhnten, dass der Feind oberhalb der Breschen Geschütze in Stellung gebracht hatte, um auf die Rampe zu feuern. Sie erwarteten Blut und Schmerz und Tod.
»Ich bin noch nie in einer Bresche gewesen«, sagte Garrard zu Sharpe. Die beiden Männer hatten sich bei Syud Sevajees Zelt getroffen, und Sharpe hatte seinem alten Freund eine Flasche Arrak gegeben.
»Ich auch nicht«, sagte Sharpe.
»Es soll schlimm sein.«
»Ja, das sagt man«, pflichtete Sharpe ihm bei. Es war vermutlich die schlimmste Tortur, die ein Soldat erleben kann.
Garrard trank Arrak, wischte sich über die Lippen und gab die Flasche Sharpe zurück. Er bewunderte Sharpes Uniformrock im Licht des kleinen Lagerfeuers. »Schönes Stück Tuch, Mister Sharpe.«
Clare Wall hatte dem Rock neue Manschetten verpasst. Sharpe hatte sein Bestes getan, um ihn ein wenig verkrumpelt und leicht staubig wirken zu lassen, doch er sah immer noch teuer aus. »Ah, nur ein alter Rock, Tom.«
»Komisch, nicht wahr? Mister Morris vermisst einen Rock.«
»Tatsächlich?«, fragte Sharpe. »Da hätte er mehr aufpassen sollen.« Er gab Garrard die Flasche und erhob sich. »Ich muss was erledigen, Tom.« Er streckte ihm die Hand hin. »Bis morgen.«
»Ich werde nach dir Ausschau halten, Dick.«
Sharpe führte Ahmed durch das Lager. Einige Männer sangen an ihren Feuern, andere schärften wie besessen Bajonette, die bereits rasiermesserscharf waren. Ein Kavallerist hatte einen Schleifstein aufgestellt, und viele Ordonnanzen brachten Degen und Säbel, um sie zu schärfen. Funken flogen in die Dunkelheit. Die Pioniere erledigten ihre letzte Arbeit, fertigten Leitern aus Bambus an, der aus der Ebene herauf transportiert worden war.
Major Stokes beaufsichtigte die Arbeiten, und seine Augen weiteten sich vor Freude, als er Sharpe durch den Feuerschein nahen sah. »Richard! Sind Sie das? Mann, das ist er tatsächlich! Das ist ein Ding! Und ich dachte, Sie wären beim Feind im Verlies eingesperrt! Sind Sie entkommen?«
Sharpe schüttelte Stokes die Hand. »Ich bin nie nach Gawilgarh gebracht worden. Ich wurde von einigen Reitern gefangen genommen«, log er, »aber die wussten anscheinend nicht, was sie mit mir anfangen sollten, und so ließen sie mich laufen.«
»Das freut mich sehr!«
Sharpe blickte zu den Leitern. »Wusste gar nicht, dass wir morgen mit Leitern stürmen.«
»Ist auch keine Eskalade geplant«, sagte Stokes, »aber man weiß nie, welche Hindernisse überwunden werden müssen, um in eine Festung einzudringen. Da ist es nur vernünftig, Leitern mitzunehmen.« Er schaute zu Ahmed, der jetzt einen Rock der Sepoys trug, den Syud Sevajee ihm gegeben hatte. Der Junge trug den roten Rock mit Stolz, obwohl es ein armseliges, fadenscheiniges und blutbeflecktes Ding war. »Ich muss schon sagen, du siehst wie ein richtiger Soldat aus.« Stokes sah den Jungen bewundernd an. Ahmed schlug die Hacken zusammen und stand still. Dann schulterte er seine Muskete und machte eine zackige Kehrtwendung. Major Stokes applaudierte. »Gut gemacht, Junge.« Dann blickte er Sharpe an. »Ich befürchte, Ihnen ist all die Aufregung entgangen, Sharpe.«
»Aufregung?«
»Ihr Captain Torrance ist gestorben. Anscheinend Selbstmord. Schreckliches Ende. Mir tut es für seinen Vater leid. Er ist ein Geistlicher. Armer, armer Mann. Möchten Sie mit mir einen Tee trinken, Sharpe? Oder brauchen Sie Schlaf?«
»Ich trinke gern einen Tee mit Ihnen, Sir.«
»Dann gehen wir zu meinem Zelt«, sagte Stokes und ging voran. »Ich habe übrigens noch Ihren Tornister. Den können Sie mitnehmen.«
»Ich würde ihn lieber noch einen Tag bei Ihnen lassen«, sagte Sharpe. »Morgen werde ich beschäftigt sein.«
»Beschäftigt?«, fragte Stokes.
»Ich gehe mit Kennys Einheit in die Festung, Sir.«
»Lieber Gott!« Stokes blieb stehen und runzelte die Stirn. »Ich habe keinen Zweifel, dass wir durch die Breschen kommen, denn es sind gute. Ein bisschen steil vielleicht, aber wir sollten durchkommen. Und Gott allein weiß, was jenseits davon wartet. Ich befürchte, dass es im inneren Fort größere Hindernisse sein können, als jeder von uns erwartet.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht optimistisch, Sharpe, das bin ich wirklich nicht.«
Sharpe hielt Stokes’ Mangel an Zuversicht für ein böses Omen für den Angriff. »Ich muss in die Festung, Sir, daran lässt sich nichts ändern. Aber ich habe mich gefragt, ob Sie ein Auge auf Ahmed halten können.« Er ergriff den Jungen an der Schulter und zog ihn vor sich. »Der kleine Kerl wird darauf bestehen, mich zu begleiten«, sagte Sharpe, »aber wenn Sie auf ihn aufpassen, könnte er überleben.«
»Er kann mein Assistent sein«, sagte Stokes glücklich. »Aber, Richard, kann ich Sie nicht zu der gleichen Aufgabe überreden? Haben Sie den Befehl, Kenny zu begleiten?«
»Nein, Sir, ich habe keinen Befehl, aber ich muss in die Festung. Es ist eine persönliche Sache.«
»Es wird blutig werden«, warnte Stokes. Er ging weiter zu seinem Zelt und rief nach seinem Diener.
Sharpe schob Ahmed auf Stokes’ Zelt zu. »Du bleibst hier, Ahmed, hast du mich verstanden?«
»Ich komme mit dir«, widersetzte sich Ahmed.
»Du bleibst verdammt hier.« Sharpe zerrte an Ahmeds rotem Rock. »Du bist jetzt ein Soldat. Das bedeutet, dass du Befehle ausführen musst, verstanden? Du gehorchst. Und ich befehle dir, hier zu bleiben.«
Der Junge blickte finster drein, doch er schien den Befehl hinzunehmen, und Stokes zeigte ihm, wo er schlafen konnte. Danach unterhielten sich die beiden Männer, das heißt, Sharpe hörte Stokes zu, der begeistert schilderte, dass er feinen Quarz entdeckt hatte, als das Gegenfeuer des Feindes die Felsen aufgerissen hatte. Schließlich begann der Major zu gähnen. Sharpe trank seinen Tee aus und wünschte Stokes eine gute Nacht. Er vergewisserte sich, dass Ahmed eingeschlafen war, und ging in die Nacht hinaus.
Er fand noch keinen Schlaf. Er wünschte, Clare wäre nicht zu Eli Lockhart gegangen, obwohl er sich für den Kavalleristen freute, dass sie ihn erhört hatte. Durch ihre Abwesenheit fühlte er sich sehr einsam. Er ging zum Rand der Felsen und starrte zur Festung hinüber. Ein paar Lichter zeigten sich in Gawilgarh, und alle zwanzig Minuten wurde die felsige Landenge vom gewaltigen Mündungsblitz des Belagerungsgeschützes erhellt. Die Kugel krachte gegen die Mauer, doch dann war es wieder still bis auf den fernen Gesang im Lager, das Summen von Insekten und das Säuseln des Windes an den Felsen.
Einmal, als wieder das Donnern des großen Geschützes die Stille zerriss, sah Sharpe verschwommen die drei Breschen in den beiden Mauern. Und warum will ich unbedingt in diese Todesfalle gehen?, fragte er sich. Ist es Rachsucht? Nur um Hakeswill und Dodd zu finden? Er könnte abwarten, bis die Angreifer ihre Arbeit erledigt hatten, und dann unbehindert in die Festung schlendern, doch diesen einfachen Weg würde er nicht wählen. Er würde sich mit Kennys Männern seinen Weg in die Festung Gawilgarh erkämpfen, und der Grund war Stolz. Er wollte nicht als Offizier versagen. Das 74. hatte ihn abgewiesen, und die Schützen kannten ihn noch nicht. So musste Sharpe einen guten Ruf nach England mitnehmen, wenn er eine Chance auf Erfolg haben wollte.
Also musste er morgen kämpfen. Oder sonst musste er sein Offizierspatent verkaufen und die Armee verlassen. Daran hatte er schon gedacht, doch er wollte die Uniform behalten. Es gefiel ihm bei der Armee, er fand, dass er seinen Job bei der Armee, die Feinde des Königs zu bekämpfen, gut machte. Morgen würde er es wieder tun und somit demonstrieren, dass er die rote Schärpe und den Säbel verdiente.
Am Morgen, wenn die Trommeln schlugen und die feindlichen Geschütze donnerten, würde Sharpe in die Festung Gawilgarh gehen.