6
Im Zug, der sie nach Southampton bringen sollte, rief Minella sich erneut ins Bewußtsein zurück, daß vor ihr das aufregendste Abenteuer ihres Lebens lag.
Seit der Graf ihr das Angebot gemacht hatte, ihn nach Kairo zu begleiten, hatte sie wie in einem Traum gelebt, und alles, was um sie herum geschah, war ihr unwirklich vorgekommen.
Mrs. Harlow war völlig verändert gewesen, liebenswürdig und hilfsbereit. Dabei hatte sie Minella und die anderen Mädchen seit ihrer Ankunft nichts als Verachtung spüren lassen.
Als sie mit der Kleidung in Minellas Zimmer erschien, war sie die Freundlichkeit in Person gewesen.
„Seine Lordschaft teilte mir mit, daß er Sie zu seiner Mutter mitnehmen will, Miß“, sagte sie. „Es wird Ihnen bei Mylady ganz sicher gefallen. Wir haben sie alle geliebt, als sie noch hier war.“
„Sie vermissen sie sicher sehr, seit sie in Südfrankreich lebt“, sagte Minella.
„Ungemein“, erwiderte Mrs. Harlow. „Sie sollen nun Lady Sybils Garderobe übernehmen. Rose und die anderen Mädchen werden sie gleich bringen.“
„Hoffentlich hat sie nichts dagegen, daß ich mir ihre Sachen ausleihe“, sagte Minella besorgt.
„Sie wäre bestimmt entzückt, Miß! Außerdem stehen Ihnen diese Sachen viel besser als die aufgedonnerten Roben, die Sie bisher getragen haben.“ Ein mißbilligender Blick streifte das Kleid, das Minella gerade ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt hatte.
„Es war sehr nett von Ihnen, Miß, die kleine Elspeth letzte Nacht in Ihrem Bett schlafen zu lassen. Rose brauchte so nötig Schlaf. Ich konnte es gar nicht glauben, als sie mir heute morgen erzählte, wie hilfsbereit Sie waren.“
„Es hat mir Spaß gemacht“, erwiderte Minella, „und wir haben beide prächtig geschlafen.“
Ihr entging nicht, daß Mrs. Harlow sie prüfend ansah, aber sie machte sich keine Gedanken darüber und ließ es dabei bewenden, sich die Sympathien dieser Frau erworben zu haben.
Die Schwester des Grafen war mit dem neuen Gouverneur von Madras verheiratet, erfuhr sie, und hatte sich fast die gesamte Garderobe in den teuersten Läden der Bond Street gekauft.
Sie entsprach genau dem Geschmack ihrer Mutter, stellte Minella fest. Die zarten Pastelltöne standen ihr ausgezeichnet.
„Offenbar“, sagte sie zurückhaltend, „hat Lady Sybil die gleiche Haarfarbe wie ich.“
„Sie ist nicht ganz so hellbond, Miß“, erwiderte Mrs. Harlow, „aber sie hat die gleiche zarte, weiße Haut. Ihre Kleidung ist sehr geschmackvoll und modisch, wie es sich für eine Lady geziemt, wenn Sie verstehen, was ich meine!“
Nur mühsam unterdrückte Minella ein Kichern, denn sie wußte genau, worauf die biedere Haushälterin anspielte.
Natürlich wäre es ein Fehler gewesen, es auszusprechen. Statt dessen erfreute sie sich an den eleganten Kleidern, die Rose in große, teure Reisekoffer verstaute.
Wenige Minuten später trug Minella ein bildschönes Reisekostüm aus zartblauer Seide und dazu ein mit Satin eingefaßtes Cape im gleichen Farbton.
„Auf dem Wasser kann es kühl sein“, erklärte Mrs. Harlow energisch, „deshalb habe ich Ihnen auch einige warme Mäntel und eine Pelzjacke einpacken lassen, die Ihnen sicher nützlich sein werden.“
Am liebsten hätte Minella erklärt, daß sie nicht so viele Sachen brauche, doch dann überlegte sie sich, daß sie darauf bedacht sein mußte, den Grafen nicht zu blamieren und ihrer Rolle an seiner Seite gerecht zu werden.
„Ein Glück, daß Sie Ihre Frisur nicht zu ändern brauchen“, stellte Mrs. Harlow fest. „Wir haben sie alle von Anfang an bewundert, weil sie so natürlich wirkt. Diese aufgeplusterten Löckchenfrisuren haben mir nie gefallen, mögen sie zehnmal bei den feinen Herrschaften und den Schauspielerinnen in Mode sein.“
„Auf der Bühne wirken sie aber sehr hübsch“, wandte Minella ein.
„Und da sollten sie auch bleiben“, behielt Mrs. Harlow das letzte Wort.
Als Minella sich unten von Connie, Gertie und Nellie verabschiedete, mußte sie sich anzügliche Bemerkungen anhören.
„Du hast wahrhaftig nicht lange gebraucht, um die dicksten Rosinen aus dem Kuchen zu picken“, sagte Nellie beim Abschiedskuß.
Minella, die das auf ihre Reise nach Südfrankreich bezog, erwiderte: „Das Mittelmeer wollte ich schon immer gern einmal sehen.“
„Hoffentlich bist du zumindest davon nicht enttäuscht“, sagte Gertie spöttisch.
„Wir wünschen dir alle viel Glück, liebste Minella“, betonte Connie, „und ich bin sicher, daß die Gräfin mit dir sehr zufrieden sein wird. Seine Lordschaft erzählte mir, daß sie jemanden zum Vorlesen braucht, und du hast eine so wohlklingende Stimme. Mein Vater hat das auch immer gesagt.“
„Ich werde mich bemühen, die schwierigen Wörter, die wir nie richtig schreiben konnten, wenigstens korrekt auszusprechen“, versprach Minella lachend.
Die anderen Gäste fuhren dann in den beiden Broughams davon. Sie winkte ihnen nach, bis sie von der Auffahrt verschwunden waren.
„Wir müssen uns jetzt beeilen“, drängte der Graf, der neben ihr stand. „In einer Viertelstunde fährt unsere Kutsche vor.“
Minella stieß einen erschrockenen Schrei aus und rannte dann, so schnell sie konnte, die Treppe hinauf.
In ihrem Schlafzimmer gab es jedoch nichts mehr für sie zu tun. Mrs. Harlow und Rose hatten bereits alles gepackt, und die drei großen Reisekoffer warteten nur noch darauf, von den Dienern nach unten gebracht zu werden.
Minellas Handgepäck bestand aus zwei Hutschachteln und einer Handtasche. Ein Paar Handschuhe lag für sie bereit, die bestimmt mehr gekostet hatten, als sie in einer Woche für ihren Unterhalt ausgeben konnte.
Zum Glück konnte sie auch Lady Sybils Schuhe tragen, obwohl sie, ähnlich den Reitstiefeln, ein wenig zu groß waren.
Schließlich setzte sie noch ein schickes Federhütchen auf, legte das zum Reisekostüm passende Cape um, nahm die Handtasche und verabschiedete sich von Mrs. Harlow und dann von Rose.
„Geben Sie Elspeth einen Kuß von mir“, trug sie ihr auf. „Ich werde versuchen, ihr eine französische Puppe zu besorgen, die ihr bestimmt gefallen wird.“
„Das ist sehr lieb von Ihnen, Miß“, sagte Rose. „Ich bete darum, daß Sie die Stelle bei Mylady bekommen.“
Damit löste sie bei Minella so etwas wie Gewissensbisse aus, denn Rose würde für etwas beten, das sie gar nicht anstrebte. Doch wenn sie an die schwierige Aufgabe dachte, die ihr als Gemahlin des Grafen bevorstand, konnte sie alle guten Wünsche und Gebete gebrauchen, die sie begleiteten.
„Danke, Rose, und beten Sie bitte auch darum, daß ich keine allzu schlimmen Fehler mache.“
Der Graf wartete in der Halle auf sie, und sein Blick verriet, daß er mit ihrem Äußeren zufrieden war, obwohl er es nicht sagte.
Sie fuhren bis zu der speziell für die Schloßbewohner eingerichteten Haltestation der Eisenbahn. Ein Diener erwartete sie dort, der, wie Minella dem Gespräch des Grafen mit ihm entnahm, gerade aus London angekommen war, um seine Dienste als Kammerdiener anzutreten.
Langsam kam der Zug nach Southampton angeschnauft. Sie nahmen in einem eigens für den Grafen reservierten Coup6 der Ersten Klasse Platz, während der Kammerdiener ein Abteil der Zweiten Klasse bezog.
Das Gepäck wurde im Abteil des Zugbegleiters verstaut, der hob die Signalflagge, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Minella, die dem Grafen gegenüber Platz genommen hatte, sagte mit glänzenden Augen: „Für mich ist das alles schrecklich aufregend.“
Ihre Begeisterung entlockte ihm ein Lächeln. „Auf jeden Fall wird es interessant“, sagte er. „Sicher sehen Sie der Begegnung mit General Kitchener mit Spannung entgegen.“
„Ich habe in der Zeitung über seine Siege gelesen“, erwiderte Minella. „Er soll zwar ein brillanter General sein, als Mensch aber ein wenig merkwürdig und reserviert.“
„Das ist er“, bestätigte der Graf. „Allerdings berichtete man mir, er habe in Karthoum einen Gedenkgottesdienst für General Gordon abgehalten und dabei Tränen vergossen.“
Erstaunt sah Minella ihn an.
„Man kann sich kaum vorstellen, daß ein harter Mann wie er auch weinen kann.“
„Ich versichere Ihnen, daß selbst harte Männer so etwas tun, wenn sie erschüttert oder tiefbewegt sind.“
Minella seufzte ein wenig. „Vermutlich weiß ich herzlich wenig über Männer“, stellte sie fest, „weil ich bisher nicht viele kennengelernt habe.“
Sie dachte sich nichts dabei, als sie das sagte. Erst als sie den spöttischen Seitenblick des Grafen bemerkte, erinnerte sie sich daran, daß sie angeblich mit einer Theatertruppe unterwegs gewesen war.
„Sie haben mir so wenig über sich erzählt“, bemerkte er trocken und schien wieder einmal Gedanken gelesen zu haben. „Ich kenne nicht einmal den Titel des Stücks, in dem Sie in Birmingham mitgewirkt haben.“
Ihr wurde in diesem Augenblick klar, daß sie ihre Lüge nicht länger würde beibehalten können. Außerdem würde sie sich sicher so oft verplappern, daß der Graf mißtrauisch werden mußte.
„Da ich jetzt die Rolle Ihrer Frau übernommen habe“, sagte sie nach einigem Zögern, „halte ich es für besser, alles, was ich vorher gespielt habe, zu vergessen, um mich ausschließlich meiner gegenwärtigen Aufgabe widmen zu können.“
„Ein lobenswerter Vorsatz!“ Er sagte das so spöttisch, daß sie sicher war, mit ihrem Ausweichmanöver bei ihm kein Glück zu haben.
Im weiteren Verlauf ihrer Reise unterhielten sie sich jedoch über die verschiedensten Dinge, die alle nichts mit dem Theater zu tun hatten. Sie sprachen über die Pferde des Grafen, seine Pflichten bei Hofe und die Reisen ins Ausland, die er in diplomatischer Mission hatte unternehmen müssen und für die Minella sich ungemein interessierte.
So wie sie einst ihren Vater bestürmt hatte, ihr zu erzählen, welche Orte er aufgesucht und besichtigt hatte, so überredete sie jetzt den Grafen, von sich zu erzählen.
Er war erst vor kurzem aus Madras zurückgekehrt, wo er seine Schwester besucht hatte. Er beschrieb ihr die Tempel, schilderte ihr die dort herrschende Hitze und sprach von der bedeutenden Position seines Schwagers in Indien, der unmittelbar dem Vizekönig unterstand.
„Indien würde ich gern einmal besuchen“, schwärmte Minella. „Ich habe mich ziemlich gründlich mit dem Hinduismus und dem Buddhismus befaßt und finde diese Religionen faszinierend. Trotzdem werden sie einem viel nähergebracht, wenn man ihre Tempel besuchen und mit den Leuten reden kann.“
„Wirklich ungewöhnlich, daß Sie sich für so etwas interessieren“, stellte der Graf fest.
„Wieso?“ fragte sie ihn. „In England gibt es nur Christen, aber überall in der Welt gibt es andere Religionen, die die Gläubigen zu besseren und edleren Menschen machen wollen, und das ist wichtiger als alle Dogmen.“
Solche Gespräche hatte sie oft mit ihrer Mutter geführt, die an diesen Themen sehr interessiert gewesen war. Da sie aus dem Fenster sah, während sie sprach, entging ihr der ungläubige Ausdruck in den Augen des Grafen.
Der Zug war eines dieser neueren Modelle, die mit einem Gang versehen waren. Als es Zeit zum Lunch war, brachte der Kammerdiener ihnen einen Picknickkorb, den sie vom Schloß mitgenommen hatten.
Der Graf nutzte die Gelegenheit, den Mann vorzustellen. „Du hast Hayes wohl noch nicht kennengelernt. Er ist erst einige Monate bei mir.“
Minella lächelte den Kammerdiener, der sich vor ihr verbeugte, freundlich an.
„Da Mylady keine Kammerzofe dabei hat, Hayes, hoffe ich, daß Sie ihr genauso umsichtig dienen werden wie mir.“
„Es wird mir eine Ehre sein, Euer Lordschaft“, erwiderte Hayes.
Er stellte einen Tisch auf und servierte ihnen einen köstlichen kalten Imbiß. Sie nippte dem Grafen zuliebe sogar an ihrem Champagnerglas, obwohl sie Limonade bevorzugte.
Als sie wieder allein im Abteil waren, sagte Minella mit leiser Verwunderung: „Ich glaube, Hayes hält mich tatsächlich für Ihre Frau.“
„So habe ich es geplant“, erwiderte der Graf. „Da er keine Gelegenheit hatte, mit jemandem vom Schloß zu sprechen, muß er glauben, was ich ihm einrede.“
Minella fühlte sich ziemlich müde und erschöpft, als sie sich an Bord des Schlachtschiffes begaben, das im Hafen auf sie wartete.
Sie wurden vom Kapitän begrüßt und den Schiffsoffizieren vorgestellt.
„Da ich sofort in See stechen möchte, Mylord“, sagte der Kapitän, „wollen Sie und Mylady sich sicher in Ihre Kabine zurückziehen.“
„Danke, Käpt’n“, erwiderte der Graf. „Wir sind in der Tat rechtschaffen müde und freuen uns auf eine ruhige Nacht, bevor wir das unruhige Gewässer der Bucht von Biskaya erreichen.“
Der Kapitän lachte. „In den letzten Tagen war das Meer ruhig, und wir hoffen, daß es sich weiter von seiner besten Seite zeigt.“
Auf dem Weg nach unten fuhr er fort: „Hoffentlich finden Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit an, Mylord. Ich habe Ihnen meine Kabine zur Verfügung gestellt. Unser Schiff ist ziemlich überfüllt. Wir haben Offiziere und Mannschaften an Bord, die bei Omdurman Gefallene ersetzen sollen, außerdem zusätzliche Truppen, die vermuten lassen, daß General Kitchener einen weiteren Feldzug plant.“
„Hoffentlich nicht!“ rief Minella aus, doch die beiden Männer sprachen mit soviel Begeisterung über die triumphalen Siege des Generals, daß sie ihren Einwurf offenbar gar nicht mitbekommen hatten.
Sie begaben sich zum Achterschiff, wo sich die Kapitänskabine befand. Ein Baderaum schloß sich an, den Minella als angenehmen Luxus empfand.
Der Salon auf der anderen Seite der Schlafkabine war mit einem langen Tisch und drei im Boden verschraubten Sesseln ausgestattet, damit sie bei Schwankungen des Schiffes nicht hin und her rutschten.
Während sie den Schiffsoffizieren vorgestellt worden waren, hatte man bereits ihr Gepäck nach unten gebracht. Der Kammerdiener des Grafen war beim Auspacken des Koffers, der nach Mrs. Harlows Angaben Minellas Nachtzeug enthielt.
„Wenn Sie etwas brauchen, Mylord“, sagte der Kapitän, „soll Ihr Kammerdiener sich an einen der Stewards wenden, der Ihren Wunsch sofort erfüllen wird.“
„Ich danke Ihnen vielmals, Käpt’n“, erwiderte der Graf, „aber sicher haben wir alles, was wir brauchen. Und nochmals verbindlichen Dank für Ihr Entgegenkommen, uns Ihre Unterkunft zur Verfügung zu stellen.“
„Es ist mir ein Vergnügen“, versicherte der Kapitän und bedachte Minella mit einem bewundernden Blick.
Als sie allein waren, lief Minella aufgeregt ans Bullauge, um aufs Meer zu schauen.
„Ich wünschte, wir könnten das Auslaufen des Schiffes von der Kommandobrücke aus beobachten!“ rief sie aus.
„Morgen werden sie uns das sicher gestatten“, erwiderte der Graf, „aber heute abend wären wir ihnen sicher nur im Weg.“
„Genauso habe ich mir ein Kriegsschiff vorgestellt“, fuhr Minella schwärmerisch fort. „Papa hat mir erzählt, daß die Kapitänskajüten immer sehr luxuriös ausgestattet sind mit Holztäfelungen, Vorhängen an den Bullaugen und Bildern an der Wand.“
Es waren sicher keine Kunstwerke, die Bilder von Schlachtschiffen, die da hingen, aber Minella machte es Spaß, sie zu betrachten.
Es klopfte, und ein Steward trat mit einer Weinflasche im Weinkühler und einer Kanne Kaffee auf dem Tablett ein.
„Das ist sehr aufmerksam“, bemerkte Minella, als der Mann das Tablett auf dem Tisch abstellte, „aber ich sollte wohl so spät keinen Kaffee mehr trinken, sonst kann ich nicht schlafen.“
„Das dürfte kaum möglich sein“, bemerkte der Graf. „Die letzten beiden Nächte im Schloß haben bewiesen, daß Sie einen gesunden Schlaf haben.“
Minella lachte ein wenig verlegen. „Sie müssen mich für sehr unhöflich gehalten haben, weil ich so früh schlafen ging, aber da ich ein Frühaufsteher bin, werde ich nach zehn Uhr abends immer müde. Es ist bei mir zur Gewohnheit geworden, mit den Hühnern schlafen zu gehen, wie Connie es ausdrücken würde.“
Wieder wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Wenn sie mit einer Theatergruppe unterwegs gewesen sein wollte, mußte sie länger aufgeblieben sein als bis zehn Uhr.
Sie fürchtete, daß ihm das auch aufgefallen war, aber er äußerte sich nicht dazu, sondern schenkte ihr nur ein Glas Wein ein, während er sich für eine Tasse Kaffee entschied.
Während sie schweigend tranken, trat der Kammerdiener ein und meldete: „Ich habe alles vorbereitet, Mylord. Wenn Sie noch etwas wünschen, schicken Sie bitte jemanden zu mir.“
„Das werde ich tun, Hayes“, versprach der Graf. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Mylord! Gute Nacht, Mylady!“
Der Kammerdiener verließ die Kabine, und Minella begab sich nach nebenan, um Hut und Cape abzulegen. Sie sah sich suchend nach einem Schrank um und erstarrte mitten in der Bewegung.
Einen Augenblick lang traute sie ihren Augen nicht, dann machte sie kehrt und lief in den Salon zurück.
„Da … da ist ein Versehen unterlaufen“, sagte sie stockend.
Der Graf stellte sein Weinglas aufs Tablett. „Ein Versehen?“ wiederholte er gedehnt.
„Wo … wo ist Ihr Schlafraum?“
Einen Augenblick trat Stille ein, dann sagte der Graf unwillig. „Ich finde, Minella, es wird Zeit, damit aufzuhören, mir die unberührte Jungfrau vorzuspielen!“
„Ich … ich verstehe nicht …“
„Es war eine glänzende Darbietung, und wie ich Ihnen bereits sagte, wäre jeder, der nicht soviel Erfahrung auf diesem Gebiet hat wie ich, darauf hereingefallen.“
„Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen?“
„Dann will ich deutlicher werden“, sagte der Graf. „Ich finde Sie sehr reizvoll und sehe nicht ein, weshalb wir unsere Schiffsreise nach Kairo nicht tatsächlich wie Mann und Frau verbringen sollten.“
Fassungslos, mit übergroßen Augen starrte Minella ihn an und hielt den Atem an. „Meinen Sie etwa …?“ Ihre Stimme versagte.
„Ich meine“, fuhr er fort, „daß ich mich nach unserer Rückkehr nach England um Sie kümmern werde. Ich richte Ihnen ein Haus in St. John’s Wood oder – wenn Ihnen das lieber ist – in Chelsea ein, stelle Ihnen eine Kutsche zur Verfügung und glaube, wir könnten sehr glücklich miteinander sein.“
Minella glaubte noch immer, sich verhört zu haben.
„Heißt das etwa, Sie wollen mich zu Ihrer … Mätresse machen?“
Sie hatte einiges über die Mätressen von Karl II. und den französischen Königen gelesen und wußte, daß sie etwas darstellten, das bis zum heutigen Tag für unschicklich galt und wovon eine Lady keine Notiz nehmen durfte.
Der Graf lächelte belustigt. „Ich möchte, daß Sie bei mir bleiben, Minella“, erklärte er ihr, „und mir erlauben, Sie zu lieben. Wenn Sie tatsächlich eine Rolle in der Revue haben wollen, sorge ich dafür, daß Sie eine bekommen, die gut bezahlt wird.“
Minella entgegnete entrüstet: „Ich kann so etwas nicht tun. Auf gar keinen Fall!“
„Warum denn nicht?“ fragte der Graf leicht gereizt. „Finden Sie mich so abstoßend?“
„Nein … nein, das nicht, aber ich habe mich nur als Schauspielerin ausgegeben, weil Connie es wollte und damit … damit es eine gerade Zahl war.“
„Und weil Connie genau wußte, daß ich mich zu Ihnen hingezogen fühlen würde“, bemerkte der Graf zynisch. „Und ihre Rechnung ist aufgegangen. Ich begehre dich, Minella, und du solltest dich nicht zieren und das genießen, wozu man uns zusammengeführt hat!“
Während er sprach, machte er einen Schritt auf sie zu. Minella wehrte sich verzweifelt gegen seine Unterstellungen.
„Nein, nein, so hat es Connie nicht gemeint!“
„Sie hat es ganz bestimmt so gemeint!“ sagte er hart. „Schließlich lebt sie ja, wie du weißt, mit Connington zusammen und hatte schon eine stattliche Anzahl anderer Liebhaber wie etwa Charlie, bevor er sich Nellie zuwandte, und Roy Heywood.“
Einen Augenblick lang war Minella wie erstarrt, dann schrie sie ihn wütend an: „Wie können Sie es wagen, so etwas Scheußliches und Gemeines über Connie zu sagen! Sie ist ein liebes Mädchen. Ihr Vater ist Pfarrer, und obwohl Papa ihr mal geholfen hat, wie er jedem gern half, hätte er sie niemals … beleidigt. Niemals!“
Ihr Aufschrei hallte von den Wänden der Kabine wider.
Dann wandte sie sich mit zornblitzenden Augen dem Grafen zu und erschrak gleichzeitig, weil ihr erst in diesem Augenblick bewußt wurde, daß sie sich verraten hatte. Sie war so schockiert und empört über seine Unterstellungen, daß ihr Tränen in die Augen schossen und über die Wangen rollten.
Sie wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht.
„Willst du damit sagen“, fragte der Graf mit völlig veränderter, vor Erregung heiserer Stimme, „daß du Roy Heywoods Tochter bist?“
Vor Schluchzen brachte Minella kein Wort hervor, und er trat ganz dicht neben sie.
„Nicht weinen, Minella“, sagte er weich. „Ich möchte, daß du mir endlich die volle Wahrheit sagst!“
„Wie können Sie nur so … gemeine Dinge über Connie und Papa sagen!“ stieß sie hervor.
Statt einer Antwort nahm er sie in die Arme. Erst wollte sie sich dagegen wehren, doch dann fühlte sie sich so geborgen, daß sie das Gesicht an seine Schulter preßte und still vor sich hin weinte.
„Connie ist anständig! Ich weiß das!“ murmelte sie, als müsse sie sich selbst überzeugen. „Sie hat Papa schon als ganz kleines Mädchen verehrt, damals, als wir zusammen Unterricht hatten und sie bei uns zu Besuch kam.“
„Bitte, reg dich nicht mehr auf“, sagte der Graf. „Ich glaube dir natürlich, daß du die Wahrheit sagst.“
Sie hob den Kopf und sah ihn mit tränenfeuchten Augen an.
„Sie … glauben mir wirklich?“
Er sah sie merkwürdig an, und sein Gesichtsausdruck verriet, wie bewegt er war.
Sie wurde sich plötzlich seiner gefährlichen Nähe gewußt und wollte sich seiner Umarmung entziehen, doch er hielt sie fest.
„Du müßtest eigentlich wissen“, sagte er mit völlig veränderter Stimme, die sie nicht wiedererkannte, „daß du mich unsäglich gequält hast, weil ich mich in dich verliebt habe.“
„Sie … lieben mich?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich liebe dich!“ wiederholte der Graf, dann zog er sie fester an sich und suchte ihre Lippen.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Minella daran, daß sie sich sträuben müßte, doch sein Mund hielt sie fest, und sie wußte, daß sie sich danach gesehnt hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Es gehörte zu dem Wunder, der Verzauberung, die das Schloß ihr gebracht hatte, dem Traum, der Wirklichkeit geworden war.
Der Kuß des Grafen war erst sanft und beinahe zart, doch als sein Mund ihre weichen, unschuldigen Lippen spürte, wurde er fordernder, besitzergreifender.
Sie hatte das Gefühl, als hielte er ihr Herz gefangen und wollte es nie mehr freilassen.
Ihr war, als habe sie ein Sonnenstrahl berührt und sie beide in ein goldenes Licht getaucht, das sie blendete, weil es Teil ihrer Seele war und Gottes Gnade widerspiegelte.
Es war schöner und erregender, als sie es sich jemals erträumt hatte, und wenn sie in diesem Augenblick hätte sterben müssen, so hätte sie zumindest für den Zauber dieses Augenblicks das vollendete Glück kennengelernt.
Er öffnete für sie die Pforte zum Paradies, das Liebende sich auf Erden geschaffen hatten, in dem auch ihr Vater und ihre Mutter sich befunden hatten.
Erst als er den Kopf hob, hauchte sie mit verzückter Stimme, daß er es kaum hören konnte: „Ich liebe dich … ich liebe dich auch! Doch das erkannte ich erst, als du mich geküßt hast!“
„Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe“, murmelte der Graf in ihr Haar, „als ich dich das erste Mal sah, als du mir im Salon vorgestellt wurdest, durchzuckte mich die Erkenntnis, noch nie in meinem bewegten Leben einem so vollkommenen, einzigartigen Wesen begegnet zu sein.“
„Liebst du mich … wirklich?“
„Mehr als ich es mit Worten zu sagen vermag.“
Wieder küßte er sie, leidenschaftlich, heftig, als fürchte er, sie wieder zu verlieren.
Sie erschrak nicht vor seinem Ungestüm, sondern wußte, daß er der Mann ihrer Träume war, weil er soviel Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, der Mann, den sie sich herbeigesehnt hatte.
Irgendwann später wurde ihnen bewußt, daß die Motoren den Boden unter ihren Füßen erzittern ließen und das Schiff den Hafen verließ, um dem Meer zuzustreben.
Die Arme noch immer fest um sie geschlungen, ließ der Graf sich in einem der Sessel nieder und zog sie neben sich.
Sie fanden gerade Platz in dem breiten Sessel, und der Graf drückte sie so fest an sich, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Lange Zeit sah er sie an und sagte dann: „Wie konntest du nur so etwas Abscheuliches und vor allem Gefährliches tun, dich für eine Schauspielerin auszugeben?“
„Ich war zu Connie gereist, um sie um Hilfe zu bitten bei meiner Suche nach einer Stelle“, sagte sie.
Da er sie verständnislos ansah, fuhr sie fort: „Du weißt doch, daß Papa tot ist?“
„Man hat es mir im Klub erzählt. In der Zeitung stand allerdings nichts.“
„Es war sicher ein Fehler von mir, keine Traueranzeige in der Times, oder der Morning Post erscheinen zu lassen“, sagte Minella leise, „aber … aber mir fehlte das Geld dazu.“
„Du hättest kein Geld?“
„Papa hat sehr viele Schulden hinterlassen, und einige stehen immer noch offen.“
„Warum bist du ausgerechnet zu Connie gegangen?“
„Connie wußte nicht, daß Papa tot war“, erklärte Minella. „Sie hat ihm einmal einen Brief geschrieben, worin sie sich für seine Hilfe bedankte und ihm versicherte, daß sie ihm eines Tages seine Güte zu vergelten hoffe.“
Ihr entging sein Augenausdruck, der plötzliches Verstehen verriet. „Die einzige andere Möglichkeit“, fuhr sie fort, „war für mich, bei meiner Tante, Lady Banton, in Bath zu leben, aber sie ist sehr alt und unleidig. Ich wäre todunglücklich geworden.“
„Deshalb bist du einfach so nach London gereist?“ fragte er, noch immer ziemlich fassungslos.
„Am Freitag kam ich hier an“, berichtete Minella, „und hatte Connie gerade meine Sorgen anvertraut, als Nellie und Gertie hinzukamen und ihr mitteilten, daß Katy wegen Krankheit verhindert sei, an deiner Party teilzunehmen.“
„So war das also!“
„Die beiden schlugen vor, ich solle Katys Platz einnehmen.“
„Eine verrückte Idee!“ rief der Graf aus.
„Warum?“ fragte Minella. „Connie schärfte mir ein, auf jeden Fall meine Herkunft zu verschweigen, da es sich für eine Lady nicht gehöre, Umgang mit Revuemädchen zu pflegen. In meiner Phantasie glich dein Schloß den Palästen, die Papa oft besucht und mir ausführlich geschildert hatte, und so schien mein sehnlichster Wunsch, etwas so Prunkvolles auch einmal aus nächster Nähe bewundern zu können, in Erfüllung zu gehen.“
„Dein Vater war bei mir ein gerngesehener Gast“, bestätigte der Graf, „der netteste und amüsanteste, den ich je hatte.“
„Danke“, erwiderte Minella bewegt. „Verstehst du, daß ich immer das Gefühl habe, er stünde hinter mir und passe auf mich auf? Ich glaube auch fest daran, daß er mich zu dir geführt hat.“
Das klang so mädchenhaft schüchtern, daß er sie an sich zog und auf die Stirn küßte.
„Ganz sicher hätte er uns seinen Segen gegeben“, sagte er überzeugt. „Andererseits hätte deine Mutter bestimmt mißbilligt, daß du dich auf ein fragwürdiges Abenteuer einläßt.“
Minella lachte zustimmend. „Wie recht du hast! Dein Vorschlag, dich nach Kairo zu begleiten und interessante Menschen kennenzulernen, war jedoch zu verlockend, als daß ich hätte widerstehen können.“
Ihr fiel wieder ein, was diese Aussprache eigentlich ausgelöst hatte, und sie fügte mit dünner Stimme hinzu: „Ich liebe dich, aber ich weiß genau, daß Mama entsetzt wäre, wenn ich deinem … deinem Verlangen nachkäme.“
„Mit Recht“, entgegnete der Graf. „Mich bewegt eine Frage, die ich dir stellen möchte, mein Liebling.“
Mit dem Finger hob er ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen.
„Willst du mich heiraten, sobald ich von meiner Frau geschieden bin?“
Das Strahlen ihrer Augen, das sich über ihr ganzes Gesicht auszubreiten schien, verriet ihm mehr als Worte.
„Bist du ganz sicher“, begann sie zögernd, „daß du mich tatsächlich zur Frau willst und nicht zur … zu dem, was du vorgeschlagen hast?“
„Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß ich dich mit einem solchen Ansinnen beleidigt habe“, sagte er ernst. „Wie du jetzt weißt, war es bei mir Liebe auf den ersten Blick, die sich mit jeder Minute unseres Zusammenseins verstärkte. Doch hielt ich es für unmöglich, mein Liebling, eine Schauspielerin zu heiraten, außerdem kannst du dir sicher vorstellen, daß ich panische Angst davor hatte, einen zweiten Mißgriff zu begehen.“
„Wäre eine Heirat mit mir ein Mißgriff?“
Der Graf lächelte. „Ich habe gegen meine Liebe zu dir angekämpft“, fuhr er fort, „gegen meinen Instinkt, der mir bedeutete, daß du rein und unschuldig seist und nicht das, was du zu sein vorgabst.“
„Und jetzt?“
„Jetzt weiß ich, daß du die Frau bist, nach der ich mein Leben lang gesucht habe, um immer wieder verletzt, verraten und enttäuscht zu werden.“ Seine Stimme klang plötzlich hart, und sein düsterer Augenausdruck erschreckte Minella.
„Bitte, zweifle nicht an meiner Aufrichtigkeit“, bat sie ihn, „ich schwöre, daß ich dich niemals täuschen oder verletzen werde. Ich habe vielmehr den Wunsch, dich zu beschützen.“
Seine Lippen waren ihr ganz nahe, als er lächelnd bemerkte: „Ich dachte, das wäre eigentlich meine Aufgabe!“
„Vielleicht will jeder den Menschen, den er liebt, vor allen Widrigkeiten des Lebens schützen und verhindern, daß er körperlich oder seelisch verletzt wird.“
„Mein Gott, wie sehr ich dich liebe!“
Dann küßte er sie wieder, leidenschaftlich und mit verzehrender Glut, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und nur noch spürte, wie beglückend die strahlende Kraft war, die sie miteinander verband.
Sie waren einander schon so nahe, daß selbst das Sakrament der Ehe keine Steigerung mehr bringen konnte.
Lange Zeit später stellte der Graf zärtlich fest: „Du bist sicher müde, mein Liebling, und möchtest zu Bett gehen.“
Sie blickte fragend zu ihm auf, und er fuhr fort: „Du weißt, daß ich nichts tun würde, was dich kränken könnte, und wenn es mir noch so schwerfällt. Wir müssen warten, bis ich frei bin und wir heiraten können, um uns zu lieben, wie ich es mir ersehne.“
Minella seufzte vor Glück und lehnte den Kopf an seine Schulter, während er seinen Überlegungen Ausdruck verlieh:
„Es wäre sehr peinlich, den Kapitän um eine zweite Kabine bitten zu müssen, zumal er bereits erwähnte, daß das Schiff vollbesetzt ist. Ich kann bequem hier in den Sesseln schlafen und morgens vor Hayes’ Erscheinen in die Schlafkabine kommen.“
Minella blickte abschätzend auf die beiden Sessel, die man nicht aneinanderrücken konnte, damit Platz für seine langen Beine war, und sagte dann zögernd: „Ich hätte einen Vorschlag, der dich möglicherweise aber schockieren wird.“
„Nichts, was du sagst, mein Liebling, könnte mich schockieren“, versicherte er ihr lächelnd. „Ich lausche!“
„Papa hat mir einmal von einer eigenartigen Sitte in Schweden erzählt, die sie ‚Kuscheln’ nennen. Wenn es sehr kalt ist, dürfen sich verlobte Paare nebeneinander ins Bett legen, miteinander sprechen, aber sich auf keinen Fall … berühren.“
„Schlägst du etwa vor, wir sollen das nachmachen?“
„Wenn ich unter die Bettdecke krieche“, sagte Minella stockend, „und du dich auf die Decke legst und mit einem Federbett zudeckst oder einigen Wolldecken, die dich wärmen …“ Sie unterbrach sich errötend. „Vielleicht“, fuhr sie befangen fort, „hältst du meinen Vorschlag für unschicklich … aber ich möchte, daß du bequem schläfst.“
„Ich bete dich an“, sagte der Graf inbrünstig, „und ich liebe dich um so mehr, weil du soviel Sinn fürs Praktische hast und dir Sorgen um mein Wohlergehen machst.“
Sie blickte so ängstlich und forschend in sein Gesicht, weil sie fürchtete, er werde ihren Vorschlag doch insgeheim mißbilligen, daß er sie wieder und wieder küssen mußte, bis die Gefühle, die seine heißen Küsse in ihr weckten, all ihre Bedenken auslöschten.
Dann zog er sie aus dem Sessel hoch. „Geh jetzt“, bat er sie, „sonst verbringen wir noch die ganze Nacht damit, uns zu küssen. Ich möchte, daß du morgen hinreißend schön und begehrenswert aussiehst und jeder Mann an Bord mich um dich beneidet.“
„Ich war noch nie in der Gesellschaft von so vielen Männern“, sagte sie, während sie zur Tür gingen. Der Graf blieb stehen und legte die Arme um sie.
„Ich warne dich“, sagte er, „ich werde schrecklich eifersüchtig sein. Wenn du einem anderen Mann auch nur einen Blick gönnst, werde ich nicht erlauben, daß du bis Kairo noch einmal die Kabine verläßt. Und zu Hause werde ich dich im Schloß in einem Verlies einsperren, bis wir verheiratet sind.“
Minella lachte selig. „Du wirst keinen Anlaß zur Eifersucht haben“, erwiderte sie überzeugt. „Ich dachte immer, es gäbe auf der ganzen Welt keinen so attraktiven Mann wie Papa; seit ich dir begegnet bin, weiß ich, daß du noch wundervoller bist als er und sehr … aufregend.“ Zögernd brachte sie das letzte Wort hervor und errötete dabei. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem reizenden Gesicht.
Energisch nahm er sie bei der Hand und führte sie in die Schlafkabine. Das Bett, so stellte er mit einem Blick fest, war breit genug für zwei, ohne daß sie sich gegenseitig behindern würden.
Tatsächlich gab es ein Federbett, wie Minella vermutet hatte, außerdem hatte Hayes, stets darauf bedacht, es seinem Herrn so behaglich wie möglich zu machen, zwei weiße Wolldecken extra auf einer der Einbaukommoden bereitgelegt.
Minella entdeckte sie ebenfalls und lachte zufrieden. „Ich hatte also recht mit meiner Annahme“, stellte sie fest.
„Ich werde es heute nacht sehr bequem haben“, bestätigte der Graf und gab ihr noch einen Kuß, bevor er sein Nachtzeug aufnahm und damit im Salon verschwand.
„Ruf mich, wenn du fertig bist“, sagte er. „Soll ich das Kleid aufhaken?“
„Ich … ich komme schon zurecht“, erwiderte Minella.
Sie sah ihm nach, wie er im Nebenzimmer verschwand. „Bist du wirklich nicht schockiert über meinen Vorschlag?“ vergewisserte sie sich. „Ich könnte doch im Sessel schlafen. Ich bin viel kleiner als du und hätte genügend Platz.“
Der Graf streckte die Arme nach ihr aus, und sie lief zu ihm. „Diese Nacht werden wir deinen Plan ausprobieren“, entschied er und drückte sie an sich. „Wenn du es morgen nacht anders haben möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen. Im übrigen, mein Liebling, solltest du mir vertrauen.“
„Natürlich tue ich das“, erwiderte Minella. Es klang erstaunt, und er spürte, daß sie eigentlich gar nicht verstand, was er meinte.
Im Salon angekommen, umspielte ein glückliches Lächeln seinen Mund. Weder in den Gesellschaftskreisen, in denen er sich gewöhnlich bewegte, noch unter den Revuemädchen, mit denen er sich bisher vergnügt hatte, würde er ein so reines und unschuldiges Wesen finden wie Minella, die dazu noch gescheit und vielseitig interessiert war.
Alles, was sie bisher von sich gegeben hatte, war für ihn neu und amüsant gewesen, und er hatte nicht begreifen können, was ein so intelligentes und gebildetes Mädchen beim Tingeltangel zu suchen hatte.
Die Mädchen vom Revuetheater wie Gertie und Nellie waren hübsch und verführerisch, hatten aber einem Mann mit geistigen Ansprüchen wenig zu bieten. Noch nie hatte er mit einer Frau, ganz gleich aus welchen Kreisen sie stammte, so angeregt über anspruchsvolle Themen sprechen können wie mit Minella.
Er trat ans Bullauge und blickte auf die in der Ferne entschwindende Küste. Sein ganzes Leben würde durch dieses einzigartige Mädchen bereichert werden. Sie war noch so jung und verfugte doch über einen geschliffenen Intellekt, wie er ihn selbst bei reiferen Frauen selten angetroffen hatte.
Sie bezauberte ihn aber auch mit ihrer zarten Schönheit und ihrer Anmut, doch er fand sie nicht nur körperlich begehrenswert, sondern auch von ihrem Wesen her, das Reinheit des Geistes widerspiegelte und seiner Idealvorstellung von einer Frau entsprach, die er bisher für unerreichbar gehalten hatte.
„Ich liebe sie!“ gestand er sich ein, und er sehnte sich danach, sie zu seiner Frau machen zu dürfen.
Gerade hatte er seinen seidenen Morgenrock übergezogen, als sie ihm zurief, daß sie fertig sei. Bis auf die Lampe auf dem Nachttisch hatte sie alle Lichter gelöscht. Wie in der vergangenen Nacht, als er sie mit der kleinen Elspeth im Arm schlafend vorgefunden hatte, trug sie das Haar offen; es kringelte sich anmutig über ihren Schultern.
Niemals durfte sie erfahren, welche Absicht ihn in jener Nacht in ihr Schlaf gemach geführt hatte. In ihrer Arglosigkeit hatte sie nicht im entferntesten an so etwas gedacht.
Insgeheim hatte er schon da geahnt, daß er sie nicht besitzen durfte, ohne daß sie seine Frau war und ihr eigenes Kind an die Brust drücken konnte.
Er trat ans Bett und stellte dabei fest, daß Minella befangen war, daß sie ängstlich vermied, ihm in die Augen zu sehen und bei seinem Erscheinen errötend die Lider gesenkt hatte.
„Ich habe ein Keilkissen in die Mitte gelegt“, sagte sie stockend, „wie sie es in Schweden auch machen. Das ist vielleicht angenehmer für dich.“
Ein Lächeln zuckte um seine Lippen, aber er sagte nichts, sondern setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand.
„Du weißt, wie sehr ich dich liebe, und eines Tages werde ich dich ganz besitzen dürfen. Das wird für uns beide die Vollendung sein, etwas Heiliges, an das wir uns ein Leben lang erinnern werden.“
Er sagte das in feierlichem Ernst und spürte, wie sich der Druck ihrer Finger verstärkte.
„Ich … ich fürchte“, sagte sie, „ich bin sehr unerfahren auf diesem Gebiet, denn Mama hat mich nie aufgeklärt, aber wenn es so berauschend ist wie deine Küsse es sind, dann muß es die herrlichste Gabe sein, die der liebe Gott uns geschenkt hat.“
„So ist es“, sagte der Graf, „und nun gute Nacht, mein Liebling. Träum schön von mir.“
„Es wird einfach unmöglich sein, es nicht zu tun“, erwiderte sie mit glücklichem Lachen.
Er küßte ihre Hand, ging dann um das Bett herum und nahm die Lampe mit. Als er sich auf die Decken legte, spürte er das Keilkissen, das Minella in die Mitte geschoben hatte. Er deckte sich mit dem Federbett und einer zusätzlichen Wolldecke zu.
„Ist es auch warm genug für dich?“ fragte Minella besorgt.
Der Graf, der den Morgenrock nicht abgelegt hatte, erwiderte: „Mach dir um mich keine Sorgen. Bei der Armee haben wir oft auf dem Fußboden geschlafen, was ich morgen auch tun werde, falls du meine Gegenwart in deinem Bett lästig findest.“
„Es ist schön, dich bei mir zu haben“, sagte Minella. „Ich fühle mich in deiner Nähe so sicher und kein bißchen nervös. Und ich habe auch keine Angst mehr, irgend etwas falsch zu machen, was dich erzürnen könnte.“
„Dir könnte ich nie böse sein“, entgegnete der Graf.
„Nellie sagte, du seist ihr manchmal direkt unheimlich, und ähnlich habe ich auch empfunden, als ich dich das erste Mal sah.“
„Und jetzt?“ fragte der Graf, der das Licht gelöscht hatte.
„Ich finde dich einfach wundervoll! Ich werde Gott dafür danken, daß du mir deine Liebe geschenkt hast.“
„Dann solltest du sofort einschlafen“, sagte der Graf leise. „Gute Nacht, mein Liebling.“
„Gute Nacht“, sagte Minella verträumt. Sie begann zu beten, schlief darüber aber vor Müdigkeit ein.
Der Graf lag noch lange neben ihr wach und lauschte ihren leisen Atemzügen.
Obwohl er sich dessen nicht würdig fühlte, glaubte er, durch Gottes Gnade ein Geschenk des Himmels empfangen zu haben.