Willkommen in der Welt des Kindes
Detroit, Mich. (AP) – Großartige Neuigkeiten für Jungs! Ein bekannter Arzt hat das Recht von Jungen verteidigt, sich schmutzig zu machen. Dr. Harvey Flack, Chefredakteur der Zeitschrift Family Doctor, sagt in der Septemberausgabe: »Jungen scheinen instinktiv eine grundlegende dermatologische Wahrheit zu kennen – dass nämlich Schmutz einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der Hautgesundheit leistet. Diese natürliche Schutzschicht sollte durch Waschen nicht zu häufig zerstört werden.«
Des Moines Register, 28. August 1958
Wie gesagt, handelt dieses Buch eigentlich nicht von sehr viel: Es handelt davon, klein zu sein und langsam größer zu werden. Einer der großen Mythen des Lebens ist, dass die Kindheit schnell vergeht. In Wirklichkeit vergeht die Zeit in der Welt des Kindes langsamer – fünfmal langsamer in einem Klassenzimmer an einem heißen Nachmittag, achtmal langsamer auf einer über sieben Kilometer langen Autofahrt (bis zu 86-mal langsamer, wenn man einmal quer durch Nebraska oder Pennsylvania fährt), und während der letzten Woche vor Geburtstagen, Weihnachten und den Sommerferien vergeht die Zeit sogar so langsam, dass sie praktisch gar nicht mehr messbar ist. Die Kindheit dauert Jahrzehnte. Das Erwachsenenleben dagegen, das ist im Handumdrehen vorbei!
Am allerlangsamsten verging für mich die Zeit, wenn ich auf dem großen, rissigen Zahnarztlederstuhl von Dr. D. K. Brewster saß und darauf wartete, dass unser schauriger, totenbleicher Zahnarzt seine Instrumente zusammensuchte und mit der Arbeit begann. Da verging die Zeit überhaupt nicht. Sie hing nur da.
Dr. Brewster war der grauenerregendste Zahnarzt der Vereinigten Staaten. Zum einen war er bestimmt 108 Jahre alt, und seine zittrigen Hände verrieten mehr als eine beginnende Parkinsonerkrankung. Nichts an ihm war vertrauenerweckend. Stets überrascht, wie machtvoll seine eigenen Gerätschaften waren, sagte er immer »Alle Achtung!«, wenn er kurz das eine oder andere kreischende Instrument in Schwung brachte. »Ich wette, mit dem Ding kann man ganz schönen Schaden anrichten!«
Schlimmer war, dass er nicht an Novokain glaubte. Er hielt es für gefährlich und seine Wirkung für nicht erwiesen. Und wenn Dr. Brewster, gedankenversunken vor sich hin summend, durch steinharten Backenzahn bohrte und die breiige Masse zarten Nervs darin fand, dann krachten einem die Zehen vorn durch die Schuhe.
Wir waren offenbar seine einzigen Patienten. Ich fragte mich stets, warum uns mein Vater durch diesen regelmäßigen Alptraum jagte, doch dann hörte ich, wie Dr. Brewster ihm eines Tages zu seinem Mut und seiner Sparsamkeit gratulierte, und verstand es sofort, denn mein Vater war der größte Geizhals des 20. Jahrhunderts. »Sich der Gefahr von Novokain auszusetzen und obendrein Geld dafür auszugeben ist absolut sinnlos, wenn man sich nicht ganz oder teilweise den Unterkiefer entfernen lässt«, sagte Dr. Brewster.
»Ganz meine Meinung«, erwiderte mein Vater. In Wirklichkeit sagte er eher »Gnnnmmmung«, denn er war gerade aus Dr. Brewsters Stuhl aufgestanden und würde mindestens drei Tage lang nur unverständliche Laute hervorbringen. Doch er nickte herzlich.
»Ich wünschte, mehr Menschen dächten so wie Sie, Mr. Bryson«, sagte Dr. Brewster abschließend. »Das macht dann drei Dollar, bitte.«
Samstage und Sonntage waren in der Welt des Kindes die längsten Tage. Je nach Jahreszeit konnte allein der Sonntagmorgen bis zu drei Monaten dauern. Da es in der Mitte Iowas bis weit in die fünfziger Jahre hinein sonntagmorgens kein Fernsehen gab, saß man gemeinhin mit einer Schüssel matschiger Cheerios vor der Glotze und guckte das Testbild, bis WOI-TV irgendwann zwischen fünf vor halb zwölf und zwölf sprotzend zum Leben erwachte – bei WOI nahmen sie es sonntags nicht so genau – und eine Episode von Sky King kam, in der Hauptrolle Kirby Grant mit adrettem Halstüchlein, »Amerikas beliebtester fliegender Cowboy« (und vermutlich der einzige fliegende Cowboy überhaupt). Sky war von Beruf Rancher, verbrachte aber einen Großteil seiner Zeit damit, in seiner geliebten Cessna The Songbird am Himmel Arizonas zu kreuzen und Rinderdiebe und andere Bösewichter drunten auf Erden zu erspähen. Bei diesen Bemühungen half ihm seine grübchenwangige Nichte Penny mit dem wohlgeformten Po, bei der viele von uns eine erste prickelnde Ahnung verspürten, dass wir auf dem Weg zu einer robusten Heterosexualität waren.
Selbst mit sechs Jahren und selbst in einer intellektuell so anspruchslosen Dekade wie den 1950er Jahren musste man nicht übermäßig scharfsinnig sein, um zu sehen, dass ein fliegender Cowboy für eine Actionserie nicht viel hergibt. Sky fing nur Schurken, die am Rande grasbewachsener Landebahnen herumlungerten und gar nicht auf die Idee kamen wegzulaufen, bevor Sky gelandet, sicher ausgerollt, aus dem Cockpit geklettert war, eine amtliche Haltung eingenommen und geschrien hatte: »Okay, Jungs, keine Bewegung!« Und dieser Vorgang dauerte ein, zwei Minuten, denn Kirby Grant, muss man sagen, war nicht mehr in der Blüte seiner Jahre. Die Serie wurde nach einem Jahr abgesetzt, es wurden also nur etwa zwanzig Episoden gedreht, und die waren praktisch alle gleich. Aber sie wurden in meinem ersten Dutzend Lebensjahren und vermutlich noch geraume Zeit danach von WOI unermüdlich (und vermutlich kostengünstig) wiederholt. Für sie sprach wahrscheinlich einzig und allein, dass sie unterhaltsamer als ein Testbild waren.
Die damals schier endlosen Wochenenden waren allerdings sowohl gut als auch notwendig. Denn man hatte immer sehr viel zu tun. Einen ganzen Vormittag konnte man allein schon damit zubringen, die Schnürsenkel an den Turnschuhen zu binden, denn in den Fünfzigern hatten alle Turnschuhe über sieben Dutzend Ösen und drei Meter lange Schnürsenkel. Jeden Morgen, wenn man aus dem Bett sprang, entdeckte man, dass Letztere aus irgendeinem Grunde auf der einen Seite schon wieder einen Meter länger geworden waren als auf der anderen. Wie genau sie das machten, obwohl man die Turnschuhe doch nur über Nacht auf dem Flur gelassen hatte – diese Frage wurde nie beantwortet. Das Phänomen gehörte wie Nonnen und schlechtes Wetter zu den Dingen, mit denen einen das Leben in regelmäßigen Abständen konfrontierte. Man brauchte aber unerschöpfliche Reserven an Geduld und wissenschaftlichem Urteilsvermögen, die Schnürsenkel richtig zurechtzuziehen, denn einerlei, wie sorgfältig man sie in den Löchern hin und her manövrierte, sie kamen immer unterschiedlich lang heraus. Ja, je sorgfältiger man sie zog und schob, desto ungleicher wurden sie. Wenn man sie wundersamerweise doch endlich genau gleich lang hatte, riss der eine Teil, und man fing seufzend noch einmal von vorn an.
Die Produzenten von Turnschuhen versahen die Sohlen auch mit zahllosen Scharten, Kratern, Zickzacklinien, Labyrinthen, Kornkreisen und sonstigen sich durchs Gummi ziehenden geheimnisvollen Zeichen, so dass man, wenn man in einen Haufen frischer Hundescheiße trat (was, kaum war man drei Schritte aus dem Haus, mit Sicherheit passierte), einem zusätzlichen stundenlangen, spannenden Zeitvertreib frönen konnte, indem man die Sohlen, immer wieder würgend, doch eigenartig befriedigt, mit einem Stock sauber kratzte.
Außerdem konnte man an Wochenenden stundenlang Kletten von den Socken zupfen, Korken aus Flaschendeckeln pulen, an Eis am Stiel angefrorenes Einwickelpapier abzuppeln, Oreo-Kekse auseinandernehmen, ohne dass man die eine der beiden Keksscheiben oder die Füllung dazwischen beschädigte, und vollkommen sinnfrei sorgsam Etikette von Gläsern und Flaschen abkratzen.
In einer solchen Welt nahm man Verletzungen und andere körperliche Gebrechen gerne hin. Hatte man sich einen Splitter eingefangen, konnte man einen ganzen Nachmittag lang einen kleinen faszinierten Zuschauerkreis fesseln, indem man ausprobierte, wie weit man eine Nadel unter die Haut schieben konnte – eigentlich, wie man sich selbst operierte. Bei einem Sonnenbrand freute man sich schon auf den Moment, in dem man sich einen Flatschen durchsichtiger Epidermis, mehr oder weniger von der Größe des eigenen Körpers, abreißen konnte. In der Welt des Kindes züchtete man Wundschorf, wie ältere Menschen Orchideen züchteten. Ich kultivierte Krusten an den Knien bis zu vier Jahren; sie waren fünf Zentimeter dick und ich konnte Reißbrettstifte hineindrücken, ohne dass ich es spürte. Nasenbluten wurde natürlich sehr bewundert, und wer Nasenbluten hatte, wurde wie eine Berühmtheit behandelt, so lange das Blut floss.
Weil die Tage so lang waren und so wenig passierte, war man auf die geringe Chance hin, dass etwas Unterhaltsames geschah, bereit, ausgedehnte Zeitspannen aufs Sitzen und Beobachten zu verwenden. Jahrelang ließ ich alles stehen und liegen, wenn mein Vater verkündete, er fahre zum Holzhof, und ich könne mitkommen. Dort saß ich dann immer ganz still auf einem Hocker und hoffte, dass Moe, der Mann, der es mit der großen Kreissäge nach Maß zuschnitt, sich noch einen seiner wenigen verbliebenen Finger absäbelte. Da er sechs oder sieben Finger schon ganz oder teilweise verloren hatte, bestand stets Aussicht auf ein aufregendes Unglück.
Damals waren die Busse in Des Moines Oberleitungsbusse und bezogen ihren Strom aus einem komplizierten Gewirr von Drahtleitungen, mit denen sie durch einen Metallarm verbunden waren. Wenn dieser Arm an den Leitungen entlangglitt, sprühten sie besonders bei feuchtem Wetter wie ein Feuerwerk bei einer mexikanischen Fiesta und demonstrierten anschaulich die mörderische Kraft elektrischen Stroms. Ab und an löste sich der Arm von den Leitungen, und dann musste der Fahrer aussteigen und ihn mit einer langen Stange wieder an seinen Platz bugsieren. Und dieses Ereignis beobachtete ich natürlich immer höchst interessiert, nachdem meine Schwester mir versichert hatte, dass der Mann sehr wohl einen tödlichen Stromschlag dabei erleiden könne.
Lange Zeitspannen am Tage brachte man übrigens damit zu herauszufinden, was passieren würde – was passieren würde, wenn man den Kopf eines Streichholzes zusammendrückte, so lange er noch heiß war, wenn man einen ekeligen Trunk zubereitete und einen Schluck davon trank oder wenn man mit einem Vergrößerungsglas einen glühend heißen Sonnenstrahl auf Onkel Dicks kahle Stelle richtete, während er seinen Mittagsschlaf hielt. (In letzterem Fall passierte, dass man erstaunlich schnell ein tiefes Loch brannte, an dem Dick und ein Team von Fachärzten im Iowa Lutheran Hospital wochenlang herumrätselten.)
Dank solcher Forschungstätigkeiten und dem Übermaß an Zeit, die sie ermöglichte, lernte ich in den ersten zehn Jahren meines Lebens bestimmt mehr als irgendwann später. Zunächst einmal wusste ich alles über unser Haus, was man wissen musste. Ich wusste, was auf den Unterseiten von Tischen geschrieben stand und wie der Blick von Bücher- und Wäscheschränken nach unten war. Ich wusste, was man ganz hinten in allen Schränken fand, unter welchen Betten die meisten Wollmäuse, an welchen Decken die interessantesten Flecken waren, und wo genau das Muster der Tapete sich zu wiederholen begann. Ich wusste, wie man jedes Zimmer durchqueren konnte, ohne den Boden zu berühren, wo mein Vater sein Kleingeld aufbewahrte und wie viel man nehmen konnte, ohne das Risiko einzugehen, dass er es merkte (ein Siebtel der Vierteldollarmünzen, ein Fünftel der Fünf- und Zehncentstücke und so viele Centstücke, wie man tragen konnte). Ich wusste, wie man sich in mehr als 100 Stellungen in einem Sessel ausruhen konnte und in weiteren 75 auf dem Boden dazu. Ich wusste, wie die Welt aussah, wenn man sie durch eine Wackelpeterlinse betrachtete. Ich wusste, wie Dinge schmeckten – feuchte Waschlappen, Bleistiftkappen, Münzen und Knöpfe, fast alles, was aus Plastik und kleiner war als beispielsweise ein Radiowecker, und natürlich Popel aller Art –, habe es aber heutzutage mehr oder weniger vergessen. Ich kannte, egal wo in unserem Haus (und hätte Sie sogleich dort hinführen können), jedes Bild von nackten Frauen, sei es ein Rubens’sches Prachtweib in Meisterwerke der Welt, eine Karikatur von Peter Arno in der letzten Ausgabe des NewYorker oder meines Vaters kleine Privatbibliothek mit Zeitschriften voll nackter Mädels an einer Geheimstelle in seinem Schlafzimmer, die nur er, ich und 111 meiner engsten Freunde kannten.
Ich wusste, wie ich von jedem beliebigen Grundstück in unserer Nachbarschaft zum nächsten kam, einerlei, wie hoch die Zäune oder wie undurchdringlich die Hecken dazwischen waren. Ich wusste, wie sich Linoleum auf nackter Haut anfühlte und wie auf Bodenhöhe alles roch. Ich kannte Schmerz, so wie man ihn kennen lernt, wenn er frisch und interessant ist – zum Beispiel den Schmerz, den ein geröstetes Marshmallow im Mund verursacht, wenn das Innere annähernd Magma-Temperaturen hat. Ich wusste genau, wie Wolken an einem Julinachmittag vorbeitrieben, wie Regen schmeckte, wie sich Marienkäfer putzten und Raupen kräuselten, wie es sich anfühlte, wenn man in einem Busch saß. Ich hatte gelernt, einen echt guten Furz zu goutieren, sei es meiner oder der eines anderen.
Der andere war fast immer Buddy Doberman, der auf der gegenüberliegenden Seite des Durchgangs wohnte, einer geheimnisvollen Gasse, die ganz nachbarschaftlich hinter unseren Häusern verlief. Im ersten Teil meines Lebens war Buddy mein bester Kumpel. Wir waren extrem eng befreundet. Er war das einzige menschliche Wesen, dessen Anus ich je von nahem, ja, überhaupt betrachtet habe, nur um zu sehen, wie einer aussieht (rötlich, gespannt und ein wenig runzlig, erinnere ich mich mit eher besorgniserregender Klarheit). Buddy war gutmütig und hatte wunderschöne Spielsachen, weil seine Eltern großzügig und wohlhabend waren.
Dazu kam seine ausgesprochen liebenswürdige Dummheit. Als er und ich vier waren, schenkte uns sein Großvater ein Paar Piratenschwerter, die er in seiner Werkstatt hergestellt hatte, und wir gingen direktemang in Mrs. Van Pelts preisgekrönte Blumenrabatte, die fast dreißig Meter an besagtem Weg entlangliefen. Mit hektischen Drehbewegungen, mit denen wir das munter zerstörerische Treiben eines Rasentrimmers um mehrere Jahre vorwegnahmen, enthaupteten oder verstümmelten wir binnen Sekunden jede einzelne ihrer geliebten Zinnien. Als ich begriff, welche Ungeheuerlichkeit wir da gerade verübt hatten – Mrs. Van Pelt zeigte diese Blumen bei der landwirtschaftlichen Ausstellung des Bundesstaates Iowa, der State Fair; sie redete mit ihnen; es waren ihre Kinder! –, erzählte ich Buddy, dass ich Ärger zurzeit gar nicht gebrauchen könne, weil mein Vater an einer tödlichen Krankheit leide, von der niemand wisse. Ob es ihm was ausmachen würde, die Schuld auf sich zu nehmen? Nein, machte es nicht. Während er daraufhin um drei Uhr nachmittags in sein Zimmer geschickt wurde und den Rest des Tages als weinerliches Gesicht an einem hohen Fenster erschien, saß ich auf unserer rückwärtigen Veranda, Füße auf dem Geländer, stopfte mich mit frischer Wassermelone voll und hörte ausgewählte tolle Schallplatten auf dem tragbaren Plattenspieler meiner Schwester. Eine wichtige Lektion hatte ich gelernt: Der Versuch zu lügen lohnt sich immer. In den nächsten sechs Jahren gab ich Buddy für alles Schlimme, das ich in meinem Leben verbrach, die Schuld. Ich glaube, zum Schluss hielt er sogar noch den Kopf dafür hin, dass er meinem Onkel Dick das Loch in den Schädel gebrannt hatte. Dabei hatte er den Mann nie gesehen.
Damals wie heute war Des Moines eine ungefährliche, anständige Stadt mit 200 000 Einwohnern. Die Straßen waren lang, gerade, grün und sauber und hatten solide amerikanische Namen: Woodland Avenue, University Avenue, Pleasant Avenue, Grand Avenue. Die meisten Läden hatten ein kleines Rasenstück davor anstelle von Parkplätzen. Öffentliche Gebäude – die Postämter, Schulen, Krankenhäuser – waren immer majestätisch und imposant. Tankstellen sahen oft wie kleine Cottages aus. Diners (oder Raststätten) erinnerten einen an Hütten, wie man sie auf einem Angelausflug findet. Nichts war angelegt worden, um dem Autoverkehr besonders entgegenzukommen. Es war eine grünere, stillere, weniger aufdringliche Welt.
Die Grand Avenue war die Hauptverkehrsader durch die Innenstadt und verband das Zentrum, wo alle arbeiteten und die wichtigen Einkäufe tätigten, mit den Wohngebieten ringsum. Die besten Häuser der Stadt lagen südlich der Grand auf der Westseite Des Moines’, in einem hügeligen, mit herrlichen Bäumen bestandenen Viertel, das bis zum Waterworks Park und zum Raccoon River ging. Man konnte dort stundenlang durch gewundene Straßen gehen und sah nichts als makellose Rasenflächen, alte Bäume, frisch gewaschene Autos und hübsche glückliche Eigenheime. Der amerikanische Traum – so weit man auch blickte. Das war mein Stadtviertel. Es hieß South of Grand.
Der auffallendste Unterschied zwischen damals und heute war, dass es viel mehr Kinder gab. In den fünfziger Jahren lebten in den Vereinigten Staaten 32 Millionen Kinder (bis zu zwölf Jahren) und jedes Jahr plumpsten vier Millionen neue Babys auf die Wickelunterlagen. Kinder in jetzt unvorstellbaren Massen waren allgegenwärtig, doch besonders dann, wenn etwas Interessantes oder Ungewöhnliches passierte. Zu Beginn jeden Sommers, wenn die Mosquitosaison begann, kam ein Angestellter der Stadt in einem offenen Jeep in unser Viertel und fuhr wie ein Verrückter mit einer Nebelmaschine herum, die dichte bunte Wolken Insektizide versprühte – über Grünflächen, in Wäldchen, entlang der Kanalisation, über unbebaute Grundstücke. Wenigstens 11 000 Kinder flitzten freudig fast den ganzen Tag durch die Insektizidschwaden. Widerliches Zeug, es schmeckte grauenhaft, es machte einem die Lungen kalkig, und man war hinterher von einer pulvrigen safrangelben Blässe überzogen, die man auch durch noch so viel Schrubben nicht abbekam. Noch Jahre später spuckte ich jedes Mal, wenn ich in ein weißes Taschentuch hustete, einen kleinen Ring farbiges Pulver aus.
Doch nie kam jemand auf die Idee, uns davon abzuhalten oder auch nur anzudeuten, dass es vielleicht nicht klug sei, durch Insektizidwolken zu flitzen. Womöglich dachte man, ein großzügiges Besprühen mit DDT täte uns gut. So war das damals. Vielleicht aber betrachtete man uns auch nur als ersetzbar, weil es so viele von uns gab.2
Der andere Unterschied zu heute bestand darin, dass die Kinder beinahe die ganze Zeit draußen waren – ich kannte welche, die morgens früh um acht aus der Hintertür geschoben und vor fünf Uhr nachmittags nur dann wieder reingelassen wurden, wenn sie lichterloh brannten oder in Strömen bluteten. Und stets war man damals auf der Suche nach Beschäftigung. Wenn man mit einem Fahrrad an einer Ecke stand – einer x-beliebigen, egal, wo –, tauchten über 100 Kinder auf, von denen man viele noch nie gesehen hatte, und fragten, wo man hinwollte.
»Vielleicht gehe ich zur Trestle«, sagte man dann nachdenklich. Die Trestle war eine Eisenbahnbrücke über den Raccoon River, von der man in den Fluss springen und darin schwimmen konnte, wenn es einen nicht störte, zwischen toten Fischen, alten Autoreifen, Ölfässern, Algenschleim, Schwermetallabwässern und Schmiere unklarer Herkunft herumzupaddeln. Die Trestle war eine von zehn anerkannten Wahrzeichen unseres Stadtbezirks. Die anderen waren: die Woods, der Pond, der River, die Railroad Tracks (gemeinhin nur »die Tracks«), das Vacant Lot – mit anderen Worten, das Wäldchen, der Weiher, der Fluss, die Eisenbahngleise (oder Gleise), die Brachfläche – sowie der Little League Park oder »Baseballplatz«, der Park, Greenwood (unsere Schule) und das New House. Das Neue Haus war jedes im Bau befindliche Haus und deshalb regelmäßig ein anderes.
»Können wir mitkommen?«, fragten die Kinder als Nächstes.
»Ja-a, gut«, antwortete man, wenn sie so groß wie man selbst, oder »Wenn du meinst, du schaffst es«, wenn sie kleiner waren. Kam man bei der Trestle oder beim Vacant Lot oder dem Weiher an, waren schon 600 andere Kinder da. 600 Kinder waren immer und überall da, außer, wo zwei oder mehrere Stadtviertel aneinanderstießen – im Park zum Beispiel –, da ging die Zahl in die Tausende. Ich nahm einmal an einem Eishockeyspiel auf dem See im Greenwood Park teil, bei dem 4000 Kinder mitmachten. Alle droschen wild mit ihren Stöcken um sich, und das Spiel lief schon mindestens eine Dreiviertelstunde, bis jemand merkte, dass wir gar keinen Puck hatten.
Das Leben in der Welt des Kindes war, wo immer man hinging, unbeaufsichtigt, unreglementiert, heftig – manchmal gefährlich –, körperbetont und doch bemerkenswert friedlich. Wenn sich die Kinder stritten, gingen sie nie zu weit, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht Kinder ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Als ich ungefähr sechs war, sah ich einmal, wie ein Kind aus einer ziemlichen Entfernung einen Stein nach einem anderen Kind warf, der Stein vom Kopf des Opfers abprallte (wunderschön, muss ich sagen) und es blutete. Darüber redete man noch jahrelang. Selbst Kinder, die weiter weg wohnten, erfuhren davon. Das Kind, das den Stein geworfen hatte, wurde für ungefähr 10 000 Stunden zur Therapie geschickt.
Wenn wir überhaupt einmal gewalttätig wurden, dann passierte das höchstens aus Versehen. Obwohl: Einem Jungen namens Milton Milton verpassten wir manchmal (na, eigentlich regelmäßig) Kopfnüsse, weil er so einen saudoofen Namen hatte und die ganze Zeit so tat, als habe er einen Motor. Ich wusste nie, ob er eine Eisenbahn oder ein Roboter oder was sonst war, doch er bewegte die Arme beim Gehen immer wie Kolben und gab Pufflaute von sich. Da war doch klar, dass wir ihm Kopfnüsse gaben. Mussten wir. Kopfnüsse kriegen war sozusagen sein Schicksal.
Apropos versehentliches Blutvergießen – da darf ich mich in aller Bescheidenheit rühmen, eines ruhigen Septembernachmittags den im Viertel denkwürdigsten Beitrag dazu geliefert zu haben. Ich war neun Jahre alt und spielte in Leo Collingwoods Hinterhof Fußball. Wie immer nahmen etwa 150 Kinder an dem Spiel teil; wenn man also attackiert wurde und hinfiel, landete man normalerweise in einer marshmallowweichen Masse von Körpern. Hatte man richtig Glück, landete man auf Mary O’Leary und konnte sich, während man wartete, dass die anderen von einem aufstanden, einen Moment lang auf ihr ausruhen. Sie roch nach Vanille – Vanille und frischem Gras – und war weich und sauber und schmerzlich hübsch. Es war immer eine herrliche Sache. Diesmal aber fiel ich neben der Meute hin und schlug mit dem Kopf gegen eine Steinmauer. Ich kann mich erinnern, dass mich vom Oberkopf Richtung Nacken ein scharfer Schmerz durchzuckte.
Als ich mich erhob, starrten mich alle mit einzigartig verzückten Mienen an und machten mir sogar ein bisschen Platz. Lonny Brankovich warf einen Blick auf mich und sank sofort in Ohnmacht. Sein Bruder nahm kein Blatt vor den Mund und sagte zu mir: »Du stirbst.« Ich konnte natürlich nicht sehen, was meine Zuschauer so faszinierte, doch aus späteren Schilderungen entnehme ich, dass es aussah, als hätte ich einen Rasensprenkler oben in meinen Kopf gesteckt, der in beinahe festlicher Weise in alle Richtungen Blut versprühte. Ich langte nach oben und fasste in sprudelnde Nässe. Es fühlte sich an, wie wenn es aus einem Hydranten spritzt, gegen den ein Lastwagen gekracht ist, oder wie wenn man in Oklahoma auf Öl stößt. Es fühlte sich an, als müsse hier Red Adair in Aktion treten.
»Ich glaube, das lass ich besser mal nachschauen«, stellte ich ganz sachlich fest und verließ mit Siebenmeilenstiefeln den Hof. Im Nu war ich zu Hause und spazierte, immer noch üppig spritzend, in die Küche. Dort stand mein Vater mit einer Tasse Kaffee am Fenster und betrachtete verträumt Mrs. Bukowski, unsere junge Nachbarsfrau. Mrs. Bukowski besaß als Erste in Iowa einen Bikini und trug ihn zum Wäscheaufhängen draußen im Garten. Mein Vater erblickte meinen blutüberströmten Kopf, gönnte sich einen Moment der Gewöhnung an den Anblick, ohne zu begreifen, was das sollte, und geriet dann passenderweise sofort in Panik. Er bewegte sich gleich in sechs Richtungen auf einmal und rief mit gequälter Stimme meiner Mutter zu, sie solle sofort kommen und ganz viele Handtücher mitbringen, »alte!«, denn Billy verblute gerade in der Küche.
Danach kann ich mich an nichts Genaues mehr erinnern. Ich weiß noch, dass mein Vater mir sagte, ich solle mich hinsetzen und den Kopf gegen den Küchentisch pressen, während er sich bemühte den Blutstrom zu stillen und gleichzeitig Dr. Alzheimer, unseren Hausarzt, ans Telefon zu kriegen, damit der ihm Anweisungen gab. Meine Mutter, wie stets durch nichts zu erschüttern, suchte systematisch alte Lappen und Stofffetzen zusammen, die man ruhig opfern konnte (oder die schon rot waren), und kümmerte sich um die Kinder, die eines nach dem anderen mit Knochensplittern und Stückchen grauer Masse, die sie sorgfältig von der Steinmauer abgekratzt hatten und für Teile meines Hirns hielten, an der Hintertür auftauchten.
Ich konnte natürlich nicht viel sehen, da ich den Kopf gegen den Tisch presste, doch ich erwischte ein paar Spiegelbilder im Toaster. Mein Vater schien bis zu den Ellenbogen in meiner Schädelhöhle zu stecken und redete gleichzeitig mit Dr. Alzheimer, was nicht gerade tröstlich klang. »Herr im Himmel, Doc«, sagte er. »Sie glauben nicht, wie viel Blut… Wir schwimmen drin.«
Am anderen Ende der Leitung hörte ich Dr. Alzheimers dement gelassene Stimme. »Hm, ich könnte rüberkommen«, sagte er. »Aber ich sehe gerade so ein wahnsinnig gutes Golfturnier. Ben Hogan spielt eine wunderbare Runde. Ist es nicht fantastisch, wie gut er in seinem Alter noch spielt? Also, haben Sie die Blutung gestillt?«
»Ich tue mein Bestes.«
»Gut, gut. Ausgezeichnet – ganz ausgezeichnet. Denn er hat ja wahrscheinlich schon eine ganze Menge Blut verloren. Sagen Sie, atmet der kleine Kerl noch?«
»Ich glaube, schon«, erwiderte mein Vater.
Ich, stets gefällig, nickte heftig.
»Ja, er atmet noch, Doc.«
»Gut, sehr gut. Okay, ich sag Ihnen was. Geben Sie ihm zwei Aspirin und ab und zu einen Schubs, damit er nicht das Bewusstsein verliert. Sie dürfen auf keinen Fall zulassen, dass er ohnmächtig wird, hören Sie, sonst verlieren Sie den kleinen Burschen noch – und dann komme ich nach dem Turnier. Jetzt schauen Sie sich das an – er hat vom Grün aufs Rough geschlagen.« Dann hörte man, wie Dr. Alzheimers Telefon auf die Gabel gelegt wurde, dann die Amtsleitung.
Glücklicherweise bin ich nicht gestorben. Vier Stunden später saß ich im Bett, einen extravaganten Turban um den Kopf und gut ausgeruht nach einem Nickerchen, in das ich während eines der Dreistundenmomente gesunken war, als meine Eltern vergaßen, zu kontrollieren, ob ich schlief. Ich futterte einen Becher Schokoladeneis nach dem anderen und empfing huldvoll Besucher aus der Nachbarschaft, wobei ich denen, die mit Geschenken kamen, Dringlichkeitsstufe eins gab. Dr. Alzheimer kam später als versprochen und roch ein wenig nach Whisky. Die meiste Zeit seiner Visite saß er auf meiner Bettkante und fragte mich, ob ich schon so alt sei, dass ich mich an Bobby Jones erinnerte. Meinen Kopf schaute er sich nicht an. Aber ich glaube, auch Dr. Alzheimers Honorare waren sehr reell.
Außer praktizierenden Ärzten bot Iowa wenig Naturgefahren, doch in einem Jahr (als ich ungefähr sechs war) hatten wir eine Plage mit einem Rieseninsekt namens Zikadenkiller. Zikadenkiller sind nicht zu verwechseln mit Zikaden, an sich schon grauslichen Biestern, kleinen fliegenden Zigarren mit stieren, roten Augen und bizarren Beißzangen, wenn ich mich recht erinnere. Zikadenkiller waren viel schlimmer. Sie kamen nur alle siebzehn Jahre aus dem Boden, deshalb wusste niemand viel über sie, nicht einmal Erwachsene. Es gab eine große Debatte darüber, ob das »Killer« in »Zikadenkiller« bedeutete, dass sie Zikaden killten, oder ob sie Zikaden waren, die killten. Die allgemeine Meinung neigte zu Letzterem.
Zikadenkiller waren ungefähr so groß wie Kolibris, hatten vorn und hinten üble Stacheln und waren einfach furchtbar. Sie lebten in Bauten in der Erde, und wenn man sie da störte, kamen sie mit schrecklichem, dem Loskreischen einer Kettensäge sehr ähnlichem Surren überraschend von unten hochgeflogen. Am meisten fürchtete man sich davor, dass sie einem im Hosenbein hochschossen, sich in den Unterhosen verfingen und dort blindlings um sich schlugen. Die übliche Notfallbehandlung bei Zikadenkillerstichen im Lendenbereich war Kastration, unter Umständen gleich am Straßenrand, und sie stachen einen selten woanders. Man sah eigentlich nie eine, denn sobald sie aus ihrem Bau surrte, sprang man wie von Furien gehetzt davon und drückte sich die kurzen Hosen ein bisschen affig, aber für alle Fälle an die Beine.
Die schlimmste permanente Bedrohung bei uns war der Giftsumach, obwohl ich nie jemanden kennen gelernt habe, keinen Erwachsenen und auch kein Kind, der wirklich wusste, um was es sich da handelte oder wie genau man daran starb. Es war eigentlich nur ein wildes Gerücht. Trotzdem konnte man an jedem bewaldeten Ort stets warnend die Hand heben und ernst verkünden: »Besser, wir gehen nicht weiter. Ich glaube, vor uns ist Giftsumach.«
»Giftsumach?«, fragte dann einer der jüngeren Spielkameraden mit weit aufgerissenen Augen.
»Alle Sumacharten sind giftig, Jimmy«, sagte normalerweise jemand anderer und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Wirklich schlimm?«, fragte Jimmy dann.
»Sagen wir mal so«, antwortete man sehr abgeklärt. »Mickey Cox, ein Freund meines Bruders, kannte einen Typen, der mal in eine Stelle mit Giftsumach gefallen ist. Er kriegte ihn überall auf den Körper und die Ärzte mussten ihm, echt, den ganzen Körper amputieren. Jetzt ist er nur noch ein Kopf auf einem Teller. Sie tragen ihn in einer Hutschachtel herum.«
»Irre!«, sagten dann alle außer Arthur Bergen, der aufreizend intelligent war und sich bei all den Dingen auf dieser Welt auskannte, die unmöglich sein konnten – zufällig immer genau das, was uns besonders faszinierte.
»Ein Kopf kann gar nicht allein in einer Schachtel überleben«, sagte er.
»Na, manchmal nehmen sie ihn ja raus. Damit er Luft schnappen und Fernsehen gucken kann und so.«
»Nein, ich meine, er könnte allein nicht überleben, ohne einen Körper.«
»Na, der hier aber doch.«
»Unmöglich. Wie willst du einen Kopf mit Sauerstoff versorgen, wenn kein Herz mehr da ist?«
»Woher soll ich das wissen? Wer bin ich denn – Dr. Kildare? Ich weiß nur, dass es stimmt.«
»Es kann nicht stimmen, Bryson. Du hast dich verhört – oder du hast es dir nur ausgedacht.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Doch, ganz bestimmt.«
»Also, Arthur, ich schwöre bei Gott, dass es wahr ist.«
An dieser Stelle folgte stets verblüfftes Schweigen.
»Wenn es nicht stimmt, kommst du in die Hölle, weil du gelogen hast«, meldete sich Jimmy zu Wort, völlig unnötigerweise, weil man es ohnehin wusste. Alle Kinder wussten es, automatisch, von Geburt an.
Bei Gott zu schwören war das Nonplusultra. Wenn sich nämlich herausstellte, dass man Unrecht hatte, selbst wenn man gar nichts dazu konnte oder auch nur ein kleines bisschen danebenlag, kam man trotzdem in die Hölle. Das war das Gesetz und Gott drückte bei niemandem ein Auge zu. Gleich, wenn man es sagte, einerlei, in welchem Zusammenhang, kriegte man schon ein ungutes Gefühl, weil es am Ende ja doch sein konnte, dass man nicht hundertprozentig Recht hatte.
»Gut, jedenfalls hat mein Bruder es gesagt«, sagte man und versuchte, sich um die ewige Haftbarkeit herumzumogeln.
»Jetzt kannst du nichts mehr daran ändern«, bemerkte Bergen – der sich, nicht zufällig, später als Anwalt auf Körperverletzung spezialisierte. »Du hast es gesagt.«
Ja, das wusste man selbst nur allzu gut. Und konnte unter diesen Umständen nur mal wieder eines tun: Milton Milton eine Knopfnuss verpassen.
Kaum weniger gefährlich als Giftsumach waren fleischige rote Beeren, die in Klumpen an Sträuchern in den Gärten hinter fast allen Häusern wuchsen. Auch über die wusste keiner so recht Bescheid, da weder Strauch noch Beeren Namen zu haben schienen. Sie hießen überall nur »die roten Beeren« oder »der Strauch mit den roten Beeren«, doch man war einhellig der Meinung, dass sie giftig seien. Wenn man eine Beere auch nur kurz berührt oder in der Hand gehalten hatte und später einen Keks oder ein Butterbrot aß und einem einfiel, dass man sich die Hände nicht gewaschen hatte, dachte man eine Stunde lang ernsthaft, dass man jeden Augenblick tot umfallen werde.
Auch die Mütter machten sich Sorgen wegen der Beeren und riefen ständig aus den Küchenfenstern, man solle sie nicht essen, was vollkommen unnötig war, denn Kinder der fünfziger Jahre aßen nichts wild Wachsendes – ja, sie aßen sowieso nur das, was in Zucker glasiert und von einem berühmten Sportler oder Fernsehstar empfohlen wurde und zu dem es ein Gratisgeschenk gab. Unsere Mütter hätten uns genauso gut erzählen können, wir sollten keine toten Katzen essen, wenn wir welche fänden. Auf die Idee wären wir ja auch nie gekommen.
Interessanterweise waren die Beeren keineswegs giftig. Ich kann das mit einiger Überzeugung behaupten, weil wir Lanny Kowalskis kleinem Bruder Lumpy einmal circa vier Pfund davon zu essen gaben, um zu sehen, ob er starb. Er starb nicht. Es war ein kontrolliertes Experiment, muss ich schnell hinzufügen. Wir fütterten ihn immmer nur mit jeweils einer Beere und warteten eine angemessene Pause, um zu sehen, ob er die Augen verdrehte oder sonst was passierte, bevor wir ihm noch eine gaben. Doch abgesehen davon, dass er die mittleren zwei Pfund wieder erbrach, zeigten sich keine bösen Folgen.
Die einzige echte Gefahr in unserem Leben waren die Butter-Jungs. Die Butters waren eine Familie von großen, inzüchtigen, zahlenmäßig nicht feststellbaren Individuen und hausten eine Hälfte des Jahres in einer Ansammlung von Nissenhütten in den Bottoms, einem Gebiet ewiger waldiger Düsternis an den sumpfigen Ufern des Raccoon River. Fast jedes Frühjahr wurden die Bottoms überschwemmt und dann gingen die Butters alle zurück nach Arkansas oder Alabama oder wo immer sie herkamen.
Wenn sie aber da waren, bedrohten sie uns. Ihre Spezialität war es, jedes Kind zu quälen, das kleiner war als sie selbst. Kurzum: alle Kinder. Die Butters waren schon von Geburt an groß, doch weil sie Jahr um Jahr sitzen blieben, waren sie immer viel, viel größer als alle ihre Klassenkameraden. In der Sechsten waren manche von ihnen schon so groß, dass sie nicht mehr durch die Tür passten. Sie waren auch hässlich und strohdoof. Sie aßen Eichhörnchen.
Am besten war es, wenn man ihnen ein kleines Kind als Opfer vorwerfen konnte. Lumpy Kowalski war dafür ideal, denn er war immun gegen Schmerzen und Furcht und verpetzte einen nie, weil er nicht sprechen konnte, vielleicht aber auch nicht wollte. (Das war nie klar.) Außerdem waren die Butters immer schnell von seinen schmutzigen Hosen angewidert, denn Lumpy schaffte es nie rechtzeitig zum Klo. Sie tatschten ein bisschen an ihm herum und zogen sich dann mit schmerzlich verwirrter Miene zurück.
Am schlimmsten war, wenn man von einem oder mehreren der Butter Boys allein erwischt wurde. Als ich etwa zehn war, wurde ich einmal von Buddy Butters geschnappt, der in meiner Klasse, aber mindestens sieben Jahre älter war als ich. Er zerrte mich unter eine große Kiefer, drückte mich rücklings auf den Boden und sagte mir, so werde er mich nun die ganze Nacht festhalten.
Ich wartete angemessen lange und sagte dann: »Warum machst du das?«
»Weil ich es kann«, antwortete er und gab dann den schleimigen, selbstzufriedenen Rotzschnäuzlaut von sich, der im Universum der Butters als Lachen galt.
»Dann musst du aber auch die ganze Nacht hierbleiben«, bemerkte ich. »Und für dich ist es genauso langweilig.«
»Mir egal«, erwiderte er, stets auf Zack, und schwieg eine ganze Weile, bevor er hinzufügte: »Außerdem kann ich es.« Und dann verwöhnte er mich mit dem Hängende-Spucke-Trick. Derjenige, der oben ist, schiebt langsam einen Spuckeklumpen heraus und lässt ihn, leise zitternd, an einem Faden herunterhängen. Ergibt sich das Opfer, saugt er ihn wieder ein, sonst nicht. Manchmal lässt er ihn aber auch versehentlich fallen. Diesmal war es nicht mal Spucke – zumindest sah es nicht wie menschliche Spucke aus. Eher wie etwas, das ein Rieseninsekt auf seine Vorderbeinchen herauswürgt und mit dem es seine Fühler einschmiert. Es war moosgrün mit kleinen roten Blutstreifen, und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, stachen an den Seiten zwei sehr kleine graue Federn heraus. Es war so groß und glänzend, dass ich mein Spiegelbild darin sehen konnte, das verzerrt war wie in einer Zeichnung von M.C. Escher. Ich wusste, wenn auch nur ein Teil des Klumpens mein Gesicht berührte, würde es heiß zischen und eine entstellende Narbe hinterlassen.
Doch Buddy Butters saugte den Schnodderklumpen wieder ein und stieg von mir herunter. »Na, ich hoffe, dass dir das eine Lehre ist, du kleines Stinktier, Möse, Nutte, Waschlappen«, sagte er.
Zwei Tage später begannen die alles durchdringenden Frühjahrsregenfälle, die die Butters auf ihre Teerpappendächer trieben, von wo sie Mann für Mann in kleinen Booten gerettet wurden. 1000 Kinder standen schadenfroh an der Uferböschung und jubelten.
Was keiner wusste: Die Sturmwolken, die die erfrischenden Regengüsse mitbrachten, waren von dem mächtigen Röntgenblick des bescheidenen Superhelden der Prärie über den Himmel geführt worden, dem kleinen, aber unauffälligen Thunderbolt Kid.