3. Erziehung zur Ehe
Daß gegenwärtig das weibliche Geschlecht geistig im Durchschnitt unter dem männlichen steht, darüber dürfte keine Meinungsverschiedenheit bestehen. Balzac, der durchaus kein Frauenfreund war, behauptet zwar: "Eine Frau, die eine männliche Bildung erhalten, besitzt in der Tat die glänzendsten und fruchtbarsten Eigenschaften zur Begründung ihres eigenen Glückes und des ihres Gatten", und Goethe, der Frauen und Männer seiner Zeit gut kannte, äußert bissig in Wilhelm Meisters Lehrjahren (Bekenntnisse einer schönen Seele): "Man hat die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man für unhöflich hielt, so viel unwissende Männer zu beschämen", aber dadurch wird an der Tatsache, daß im allgemeinen die Frauen geistig hinter den Männern zurückstehen, nichts geändert. Dieser Unterschied muß auch vorhanden sein, weil die Frau nur ist, wozu sie der Mann als ihr Beherrscher gemacht hat. Die Bildung der Frau ist noch mehr als jene des Proletariers von jeher vernachlässigt worden, und was gegenwärtig Besseres geleistet wird, ist unzulänglich. Wir leben in einer Zeit, in der das Bedürfnis nach Ideenaustausch in allen Kreisen wächst, und da stellt sich die vernachlässigte geistige Ausbildung der Frau als ein großer Fehler heraus, der sich an dem Manne rächt.
Bei: dem Manne richtet sich die Ausbildung, das behauptet man wenigstens, obgleich oft der Zweck durch die angewandten Mittel nicht erreicht wird, vielfach auch nicht erreicht werden soll, auf die Entwicklung des Verstandes, die Schärfung des Denkvermögens, die Erweiterung des realen Wissens und die Festigung der Willenskraft, kurz, auf die Ausbildung der Verstandesfunktionen. Hingegen erstreckt sich bei der Frau die Ausbildung der höheren Stände hauptsächlich auf die Vertiefung des Gemüts, auf formale und schöngeistige Bildung, durch die nur ihre Nervenreizbarkeit und Phantasie erhöht wird, wie Musik, Belletristik, Kunst, Poesie. Das ist das Verkehrteste, was geschehen kann. Hier zeigt sich, daß die Mächte, die über das Bildungsmaß der Frau zu bestimmen haben, sich nur leiten lassen von ihren Vorurteilen über das Wesen des weiblichen Charakters und die beschränkte Lebensstellung der Frau. Das Gemütsleben und die Phantasie der Frau darf nicht noch mehr entwickelt werden, was ihre Anlage zur Nervosität nur steigert, sondern es soll, so gut wie bei dem Manne, auch bei ihr die Verstandestätigkeit entwickelt und sie mit den Erscheinungen des praktischen Lebens vertraut gemacht werden. Für beide Geschlechter wäre es von größtem Vorteil, besäße die Frau an Stelle überschüssigen Gemüts, das oft recht ungemütlich wird, eine gute Portion geschärften Verstandes und exakter Denkfähigkeit, an Stelle nervöser Überreiztheit und verschüchterten Wesens Charakterfestigkeit und physischen Mut, statt des schöngeistigen Wissens, soweit sie solches überhaupt besitzt, Kenntnis von Welt und Menschen und natürlichen Kräften.
Im allgemeinen ist bisher das Gemüts- und Seelenleben der Frau ins Maßlose genährt, hingegen ihre Verstandesentwicklung gehemmt, schwer vernachlässigt und unterdrückt worden. Sie leidet infolgedessen buchstäblich an Hypertrophie des Gemüts- und Geisteslebens und ist darum meist jedem Aberglauben und Wunderschwindel zugänglich, ein überdankbarer Boden für religiöse und sonstige Scharlatanerien, ein gefügiges Werkzeug für jede Reaktion. Die bornierte Männerwelt beklagt das häufig, weil sie darunter leidet, aber sie ändert es nicht, weil sie noch selbst in der großen Mehrheit bis über die Ohren in Vorurteilen steckt.
Dadurch, daß die Frauen fast allgemein wie geschildert sind, sehen sie die Welt anders an als die Männer, und damit ist abermals eine starke Quelle von Differenzen zwischen beiden Geschlechtern geschaffen.
Die Beteiligung am öffentlichen Leben ist heute für jeden Mann eine seiner wesentlichsten Pflichten; daß viele Männer das noch nicht begreifen, ändert an der Sache nichts. Aber der Kreis derjenigen wird immer größer, die erkennen, daß die öffentlichen Institutionen im innigsten Zusammenhang stehen mit den privaten Beziehungen des einzelnen, das Wohl und Wehe der Person und Familie weit mehr vom Zustand der öffentlichen Einrichtungen, als von persönlichen Eigenschaften und Handlungen abhängen. Man erkennt, daß die höchste Kraftanstrengung des einzelnen gegen Mängel, die in dem Zustand der Dinge liegen und seine Lage bestimmen, machtlos ist. Andererseits erfordert der Kampf um die Existenz weit höhere Anstrengungen als früher. Es werden heute fast allgemein Anforderungen an den Mann gestellt, die seine Zeit und Kräfte in immer höherem Maße in Anspruch nehmen. Aber die unwissende, indifferente Frau steht ihm verständnislos gegenüber. Man kann sogar sagen, daß die geistige Differenzierung zwischen Mann und Frau heute größer ist als früher, als die Verhältnisse noch kleine und enge waren und dem Verständnis der Frau näher lagen. Ferner nimmt gegenwärtig die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten eine große Zahl Männer in einem früher nicht gekannten Maße in Anspruch, was ihren Gesichtskreis erweitert, sie aber auch dem häuslichen Kreise mehr und mehr entfremdet. Die Frau fühlt sich dadurch zurückgesetzt, und eine neue Quelle zu Differenzen ist geöffnet. Nur selten versteht der Mann, sich mit der Frau zu verständigen und die Frau zu überzeugen. In der Regel hat der Mann die Ansicht, daß, was er wolle, die Frau nichts angehe, sie verstehe es nicht. Er nimmt sich nicht die Mähe, sie aufzuklären. "Das verstehst du nicht", ist die stereotype Antwort, sobald die Frau klagt, daß er sie hintansetze. Das Nichtverständnis der Frauen wird durch den Unverstand der meisten Männer nur gefördert. Ein günstigeres Verhältnis bildet sich zwischen Mann und Frau im Proletariat heraus, insofern beide erkennen, daß sie an dem gleichen Strange ziehen und es für ihre menschenwürdige Zukunft nur ein Mittel gibt: die gründliche gesellschaftliche Umgestaltung, die alle zu freien Menschen macht. In dem Maße, wie diese Erkenntnis sich auch unter den Frauen des Proletariats immer mehr verbreitet, idealisiert sich, trotz Not und Elend, ihr Eheleben. Beide Teile haben jetzt ein gemeinsames Ziel, nach dem sie streben, und eine unversiegbare Quelle der Anregung durch den Meinungsaustausch, zu dem ihr gemeinsamer Kampf sie führt. Die Zahl der Proletarierfrauen, die zu dieser Erkenntnis kommt, wird mit jedem Jahre größer. Hier entwickelt sich eine Bewegung, die von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft der Menschheit ist.
In anderen Ehen machen sich die Bildungs- und Anschauungsdifferenzen, die im Anfang der Ehe, wenn die Leidenschaft noch vorherrscht, leicht übersehen werden, in reiferen Jahren immer fühlbarer. Je mehr aber die geschlechtliche Leidenschaft erlischt, um so mehr sollte sie durch geistige Übereinstimmung ersetzt werden. Aber davon abgesehen, ob der Mann einen Begriff von staatsbürgerlichen Pflichten hat und sie erfüllt, er tritt schon durch seine berufliche Stellung und den beständigen Verkehr mit der Außenwelt in fortgesetzte Berührung mit den verschiedensten Elementen und Anschauungen bei den verschiedensten Gelegenheiten und kommt dadurch in eine geistige Atmosphäre, die seinen Gesichtskreis erweitert. Er befindet sich meist, im Gegensatz zur Frau, in einer Art geistiger Mauserung, wohingegen der letzteren durch die häusliche Tätigkeit, die sie von früh bis spät in Anspruch nimmt, die Zeit zur Ausbildung geraubt wird und sie so geistig versauert und verkümmert.
Diese häusliche Misere, in der die Mehrzahl der Ehefrauen in der Gegenwart lebt, schildert durchaus richtig der bürgerlich denkende Gerhard v. Amyntor in "Randglossen zum Buche des Lebens" . Dort heißt es in dem Kapitel "Tödliche Mückenstiche" unter anderem:
"Nicht die erschütternden Ereignisse, die für keinen ausbleiben und hier den Tod des Gatten, dort den moralischen Untergang eines geliebten Kindes bringen, hier in langer schwerer Krankheit, dort in dem Scheitern eines warm gehegten Planes bestehen, untergraben ihre (der Hausfrau) Frische und Kraft, sondern die kleinen, täglich wiederkehrenden, Mark und Knochen auffressenden Sorgen.... Wie viele Millionen braver Hausmütterchen verkochen und verscheuern ihren Lebensmut, ihre Rosenwangen und Schelmengrübchen im Dienste der häuslichen Sorgen, bis sie runzlige, vertrocknete, gebrochene Mumien geworden sind. Die ewig neue Frage: ›Was soll heute gekocht werden‹, die immer wiederkehrende Notwendigkeit des Fegens und Klopfens und Bürstens und Abstäubens ist der stetig fallende Tropfen, der langsam, aber sicher, Geist und Körper verzehrt. Der Kochherd ist der Ort, wo die traurigsten Bilanzen zwischen Einnahme und Ausgabe gezogen, die deprimierendsten Betrachtungen über die steigende Verteuerung der Lebensmittel und die immer schwieriger werdende Beschaffung der nötigen Geldmittel angestellt werden. Auf dem flammenden Altar, wo der Suppentopf brodelt, wird Jugend und Unbefangenheit, Schönheit und frohe Laune geopfert, und wer erkennt in der alten, kummergebeugten, triefäugigen Köchin die einst blühende, übermütige, züchtigkokette Braut in dem Schmucke ihrer Myrtenkrone? – Schon den Alten war der Herd heilig, und neben ihm stellten sie ihre Laren und Schutzgötter auf –, lasset auch uns den Herd heilig halten, auf dem die pflichttreue deutsche Bürgerfrau einen langsamen Opfertod stirbt, um das Haus behaglich, den Tisch gedeckt und die Familie gesund zu erhalten."
Das ist der Trost, den die bürgerliche Welt der an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge elend zugrunde gehenden Frau bietet.
Jene Frauen, die durch ihre sozialen Verhältnisse in freierer Stellung sich befinden, besitzen in der Regel eine einseitige und oberflächliche Erziehung, die in Verbindung mit ererbten weiblichen Charaktereigenschaften sich nachdrücklich geltend macht. Meist haben sie nur Sinn für reine Äußerlichkeiten, sie bekümmern sich nur um Tand und Putz und suchen in der Befriedigung eines verdorbenen Geschmacks und in der Frönung üppig wuchernder Leidenschaften ihren Lebenszweck. Für die Kinder und ihre Erziehung haben sie kaum Interesse; diese verursachen ihnen zu viel Mühe und Langeweile, und sie überlassen sie deshalb den Ammen und Dienstboten und überantworten sie später der Pension. Allenfalls betrachten sie als Aufgabe, die Töchter zu Zierpuppen und die Söhne für die jeunesse dorée (goldene Jugend) heranzubilden, aus der sich das Gigerltum rekrutiert, jene verächtliche Klasse von Männern, die man so ziemlich mit dem Zuhältertum auf eine Stufe stellen darf. Diese jeunesse dorée stellt auch ein Hauptkontingent zur Verführung der Töchter des arbeitenden Volkes, sie betrachtet Nichtstun und Verschwendung als Beruf.
Aus den geschilderten Zuständen haben sich mancherlei Charaktereigenschaften der Frau gebildet, die sich von Generation zu Generation immer vollkommener entwickelten. Die Männerwelt hält sich mit Vorliebe darüber auf, sie vergißt aber, daß sie selbst die Ursache ist und durch ihr Verhalten denselben Vorschub leistet. Zu diesen vielfach getadelten weiblichen Eigenschaften gehören die gefürchtete Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung, über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltungen zu führen, die Gedankenrichtung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der daraus folgende Hang für alle Modetorheiten; ferner leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen, die Neigung zur Unwahrheit und die Verstellungskunst.
Diese Eigenschaften machen sich bei dem weiblichen Geschlecht allgemein, nur im Grade verschieden, schon im jugendlichen Alter bemerkbar. Es sind Eigenschaften, die unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse entstanden und durch Vererbung, Beispiel und Erziehung weiterentwickelt werden. Ein unvernünftig Erzogener kann andere nicht vernünftig erziehen.
Um über Entstehungsursachen und Entwicklung der Eigenschaften bei den Geschlechtern und bei ganzen Völkern sich klarzuwerden, muß man nach derselben Methode verfahren, die die moderne Naturwissenschaft anwendet, um die Entstehung und Entwicklung der Lebewesen und ihrer Charaktereigenschaften festzustellen. Es sind die materiellen Lebensbedingungen, die jedem Lebewesen in hohem Grade seine Charaktereigenschaften aufprägen; es wird genötigt, sich den vorhandenen Lebensbedingungen anzupassen, die schließlich zur Natur desselben werden.
Der Mensch macht keine Ausnahme von dem, was in der Natur für alle Lebewesen gilt ; der Mensch steht nicht außerhalb der Naturgesetze, er ist, physiologisch betrachtet, das höchst entwickelte Tierwesen. Das will man allerdings nicht gelten lassen. Die Alten hatten schon vor Jahrtausenden, obgleich sie die moderne Naturwissenschaft nicht kannten, in vielen menschlichen Dingen vernünftigere Anschauungen als die Modernen, und die Hauptsache ist, sie wandten ihre auf Erfahrungen begründeten Anschauungen praktisch an. Man preist mit Bewunderung die Schönheit und Kraft der Männer und Frauen Griechenlands, übersieht aber, daß es nicht das glückliche Klima und die bezaubernde Natur des Landes an dem buchtenreichen Meere war, das auf Wesen und Entwicklung der Bevölkerung so günstig einwirkte, sondern daß es die mit Konsequenz von Staats wegen durchgeführten Körperausbildungs- und Erziehungsmaximen waren, darauf berechnet, Schönheit, Kraft und Gewandtheit mit Schärfe und Elastizität des Geistes zu verbinden. Allerdings wurde auch damals schon das Weib im Vergleich zum Mann in geistiger Beziehung vernachlässigt, aber nicht in bezug auf körperliche Entwicklung . In Sparta, das am weitesten ging in der körperlichen Ausbildung beider Geschlechter, wandelten Knaben und Mädchen bis ins mannbare Alter nackt und übten sich gemeinsam in körperlichen Exerzitien, in Spielen und Ringkämpfen. Die nackte Schaustellung des menschlichen Körpers und die natürliche Behandlung des Natürlichen hatte die Wirkung, daß sinnliche Überreizungen, die vorzugsweise durch die Trennung des Verkehrs der beiden Geschlechter von Jugend auf künstlich erzeugt werden, nicht entstanden. Der Körper des einen Geschlechtes war dem anderen kein Geheimnis. Da konnte kein Spiel mit Zweideutigkeiten aufkommen. Natur war Natur. Ein Geschlecht freute sich an den Schönheiten des anderen.
Und zu einem ungezwungenen, natürlichen Verkehr der Geschlechter muß die Menschheit zurückkehren, sie muß die jetzt herrschenden ungesunden spiritualistischen Anschauungen über den Menschen von sich werfen und Erziehungsmethoden schaffen, die eine physische und geistige Regeneration herbeiführen.
Bei uns herrschen, insbesondere über weibliche Erziehung, noch sehr rückständige Begriffe. Daß auch die Frau Kraft, Mut und Entschlossenheit haben soll, wird als ketzerisch, als "unweiblich" angesehen, obgleich niemand wird leugnen können, daß durch solche Eigenschaften sie sich vor vielen Unbilden und Unannehmlichkeiten schützen könnte.
Dahingegen wird ihre körperliche Entwicklung, genau wie ihre geistige, möglichst gehemmt, wobei auch die Unvernunft der Kleidung eine wesentliche Rolle spielt. Diese hemmt sie nicht nur in unverantwortlicher Weise in ihrer physischen Entwicklung, sie richtet sie oft direkt zugrunde, und doch wagen selbst die wenigsten Ärzte, dagegen einzuschreiten. Die Furcht, der Patientin zu mißfallen, veranlaßt sie zu schweigen, oder sie schmeicheln sogar ihren Verrücktheiten. Die moderne Kleidung hindert in hohem Grade die Frau an dem freien Gebrauch ihrer Kräfte, sie schädigt ihre körperliche Ausbildung und erweckt in ihr das Gefühl der Ohnmacht und der Schwäche. Auch ist diese Kleidung eine Gefahr für die Gesundheit ihrer Umgebung, denn die Frau ist in der Wohnung und auf der Straße eine wandelnde Stauberzeugerin. Die strenge Scheidung der Geschlechter in der Schule und im geselligen Verkehr, die ganz den spiritualistischen Anschauungen entspricht, die das Christentum uns tief eingepflanzt hat, hemmt ebenfalls die Entwicklung der Frau.
Die Frau, die nicht zur Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten gelangt, im engsten Ideenkreis befangen gehalten wird und fast nur in Verkehr mit Angehörigen ihres Geschlechts kommt, kann sich unmöglich über das Alltägliche und Gewöhnliche erheben. Ihr geistiger Gesichtskreis dreht sich nur um die Vorgänge in ihrer nächsten Umgebung, um verwandtschaftliche Beziehungen und was damit zusammenhängt. Die breitspurige Unterhaltung um die größten Nichtigkeiten, die Neigung zur Klatschsucht wird dadurch mit aller Macht gefördert, denn die in ihr lebenden geistigen Eigenschaften drängen nach Betätigung und Übung. Und der hierdurch oft in Unannehmlichkeiten verwickelte, zur Verzweiflung getriebene Mann verwünscht dann Eigenschaften, die er, das "Haupt der Schöpfung", hauptsächlich auf dem Gewissen hat.
Es soll nicht verkannt werden, daß neuerdings vielfach Ansätze zu vernünftigerer Lebensauffassung Platz greifen, aber es sind nur Anfänge und sie berühren nur kleine Schichten der Gesellschaft.
4. Das Elend des heutigen Ehelebens
Durch unsere sozialen und geschlechtlichen Beziehungen ist die Frau mit allen Fasern ihrer Existenz auf die Ehe hingewiesen, ganz natürlich bilden Ehe und Heiratsangelegenheiten einen wesentlichen Teil ihrer Unterhaltung und Aspiration. Auch ist für die physisch schwächere, durch Sitten und Gesetze dem Manne unterworfene Frau die Hauptwaffe gegen ihn die Zunge, und selbstverständlich benutzt sie dieselbe. Ähnlich verhält es sich mit der heftig getadelten Putz- und Gefallsucht, die ihre abschreckende Höhe den immer exzentrischer werdenden Modetorheiten erreicht und oft Väter und Ehemänner in die größten Nöten und Verlegenheiten bringt. Die Erklärung hierfür liegt nahe. Die Frau ist für den Mann in erster Linie Genußobjekt; ökonomisch und gesellschaftlich unfrei, muß sie ihre Versorgung in der Ehe erblicken, sie hängt also vom Manne ab und wird ein Stück Eigentum von ihm. Ihre Lage wird noch ungünstiger dadurch, daß in der Regel die Zahl der Frauen größer ist als die der Männer – ein Kapitel, das noch näher besprochen werden wird. Durch dieses Mißverhältnis steigt die Konkurrenz der Frauen unter sich, die noch verstärkt wird, weil aus den verschiedensten Gründen eine Anzahl Männer nicht heiratet. Die Frau ist so genötigt, durch möglichst günstige Darstellung ihrer äußeren Erscheinung mit ihren Geschlechtsgenossinnen in den Wettbewerb um den Mann einzutreten.
Man beachte nun die lange Dauer dieser Mißverhältnisse durch viele Generationen, und man wird sich nicht mehr wundern, daß diese Erscheinungen bei dauernd wirkenden gleichen Ursachen ihre heutige extreme Gestalt angenommen haben. Dazu kommt, daß vielleicht in keinem Zeitalter der Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer so heftig war als im gegenwärtigen, teils aus schon angeführten, teils aus noch zu erörternden Ursachen. Auch weisen sowohl die immer größeren Schwierigkeiten, eine auskömmliche Existenz zu erlangen, als auch die steigenden gesellschaftlichen Anforderungen die Frau mehr als je zuvor auf die Ehe als "Versorgungsanstalt" hin.
Die Männer lassen sich diesen Zustand gerne gefallen, denn sie ziehen die Vorteile daraus. Es sagt ihrem Stolz, ihrer Eitelkeit und ihrem Interesse zu, die Rolle des Herrn zu spielen, und in dieser Herrscherrolle sind sie, wie alle Herrschenden, schwer Vernunftgründen zugänglich. Um so mehr liegt es im Interesse der Frauen, sich für Herstellung von Zuständen zu erwärmen, die sie aus dieser entwürdigenden Stellung befreien. Die Frauen dürfen so wenig auf die Hilfe der Männer warten, wie die Arbeiter auf die Hilfe der Bourgeoisie warteten.
Erwägt man ferner, welche Charaktereigenschaften der Kampf um die bevorzugte Stellung auch auf anderen Gebieten, zum Beispiel auf dem industriellen, zur Entfaltung bringt, sobald die Unternehmer sich gegenüberstehen; mit welch niederträchtigen, selbst schurkenhaften Mitteln gekämpft wird; wie Haß, Neid und Verleumdungssucht geweckt werden, so hat man die Erklärung für die Tatsache, daß sich in dem Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer ähnliche Charaktereigenschaften zeigen. Daher kommt es, daß sich Frauen durchschnittlich weniger miteinander vertragen als Männer, daß sogar die besten Freundinnen leicht in Streit geraten, handelt es sich um das Ansehen bei einem Manne, um die einnehmendere Persönlichkeit usw. Daher auch die Wahrnehmung, daß wo immer Frauen sich begegnen, und seien sie sich wildfremd, sie sich in der Regel wie zwei Feinde ansehen. Mit einem einzigen Blick haben sie gegenseitig entdeckt, wo die andere eine unpassende Farbe anwandte oder eine Schleife unrichtig anbrachte oder ein ähnliches Kardinalvergehen beging. In den Blicken, mit denen beide sich begegnen, liegt unwillkürlich das Urteil zu lesen, das die eine über die andere fällt. Es ist, als wollte jede zu der anderen sagen: "Ich verstehe es doch besser als du, mich zu putzen und die Blicke auf mich zu lenken."
Andererseits ist die Frau von Natur impulsiver als der Mann, sie reflektiert weniger als dieser, sie ist selbstloser, naiver, daher ist sie von größerer Leidenschaftlichkeit beherrscht, die sich in der wahrhaft heroischen Aufopferung, mit der sie für ihr Kind eintritt oder für Angehörige sorgt und sie in Krankheitsfällen pflegt, im schönsten Lichte zeigt. In der Furie dagegen findet diese Leidenschaftlichkeit ihren häßlichsten Ausdruck. Aber die guten wie die schlimmen Seiten werden in erster Linie durch die soziale Stellung beeinflußt, begünstigt, gehemmt oder umgewandelt. Derselbe Trieb, der unter ungünstigen Verhältnissen als ein Fehler sich darstellt, wird unter günstigen eine Quelle des Glücks für die Person und für andere. Fourier hat das Verdienst, den Nachweis glänzend geführt zu haben, wie ein und dieselben Triebe des Menschen unter verschiedenen Verhältnissen ganz entgegengesetzte Resultate erzeugen .
Neben den Einwirkungen einer verkehrten geistigen Erziehung laufen nicht minder wichtige Einwirkungen von verkehrter oder mangelnder physischer Erziehung, in Rücksicht auf den Naturzweck. Alle Ärzte stimmen darin überein, daß die Vorbildung der Frau für ihren Beruf als Mutter und Kindererzieherin fast alles zu wünschen übrig läßt. "Man übt den Soldaten in der Führung seiner Waffe und den Handwerker in der Handhabung seiner Werkzeuge, jedes Amt erfordert seine Studien; selbst der Mönch hat sein Noviziat. Nur die Frau wird für ihre ernsten Mutterpflichten nicht erzogen" . Neun Zehntel der Jungfrauen, die zu heiraten Gelegenheit bekommen, treten mit fast vollkommener Unwissenheit über die Mutterschaft und ihre Pflichten in die Ehe. Die unverantwortliche Scheu selbst der Mütter, mit der erwachsenen Tochter über die so wichtigen geschlechtlichen Funktionen zu sprechen, läßt sie über ihre Pflichten gegen sich und ihren Gatten in der schwärzesten Unwissenheit. Mit dem Eintritt in die Ehe betritt die Frau in der Regel ein ihr vollkommen fremdes Gebiet; sie hat sich davon ein Phantasiegemälde entworfen, meist aus Romanen der nicht empfehlenswertesten Art, das zu der Wirklichkeit sehr wenig paßt . Die mangelnden Wirtschaftskenntnisse, die, wie noch die Dinge liegen, für die Ehe notwendig sind, wenn auch viele früher als selbstverständlich angesehene Tätigkeiten der Frau abgenommen wurden, geben ebenfalls manchen Anlaß zu Differenzen. Die einen verstehen von der Wirtschaft nichts, weil sie sich zu gut dafür halten, sich darum zu bekümmern, und meinen, das sei Sache der Dienstboten; die anderen, aus den breiten Massen, verhindert der Kampf um die Existenz, sich für den Beruf als Wirtschafterinnen auszubilden, sie müssen von früh bis spät in die Werkstatt oder Fabrik. Es zeigt sich immer mehr, daß die Einzelwirtschaft durch die Entwicklung der Verhältnisse ihren Boden verliert und nur durch unsinnige Opfer an Geld und Zeit aufrechterhalten wird.
Eine andere Ursache, die für nicht wenige Männer den Ehezweck aufhebt, liegt in der physischen Entwicklung vieler Frauen. Unsere Nahrungs-, Wohn-, Arbeits- und Unterhaltungsweise, kurz die ganze Lebensweise wirkt vielfach mehr zerstörend als fördernd auf uns ein. Mit Fug und Recht kann man von einem nervösen Zeitalter sprechen; aber die Nervosität geht Hand in Hand mit physischer Degeneration. Anämie (Blutarmut) und Nervosität sind namentlich bei dem weiblichen Geschlecht in ganz enormem Maße verbreitet. Diese werden immer mehr zu einer gesellschaftlichen Kalamität, die, falls sie noch einige Generationen währte, ohne daß es gelingt, unsere gesellschaftliche Organisation auf normalere Entwicklungsbedingungen zu stellen, unser Geschlecht dem Verderben entgegenführte .
Der weibliche Organismus bedarf in Rücksicht auf den Geschlechtszweck ganz besonderer Pflege, namentlich gute Ernährung und in besonderen Perioden auch auskömmliche Schonung. Beides ist für die sehr große Mehrzahl des weiblichen Geschlechts nicht vorhanden und unter den heutigen Verhältnissen auch kaum zu schaffen. Auch hat sich die Frau so an die Bedürfnislosigkeit gewöhnt, daß zum Beispiel zahllose Frauen es für eine eheliche Pflicht halten, die guten Bissen dem Manne vorzusetzen und sich selbst mit dürftiger Nahrung zu begnügen. Ebenso werden häufig die Knaben in der Ernährung vor den Mädchen bevorzugt. Der Glaube ist allgemein verbreitet, daß sich die Frau nicht nur mit weniger, sondern auch mit schlechterer Nahrung begnügen könne als der Mann. Daher das traurige Bild, das insbesondere unsere weibliche Jugend dem Sachverständigen bietet . Ein großer Teil unserer jungen Frauen ist körperlich schwach, blutarm, extrem nervös. Die Folgen sind Menstruationsbeschwerden, Krankheiten der Organe, die mit dem Geschlechtszweck in Verbindung stehen, die sich oft bis zur Unfähigkeit oder Lebensgefährlichkeit, Kinder zu gebären oder zu säugen, steigern. "Wenn diese Degeneration unserer Frauen noch weiterhin in derselben Weise wie bisher fortschreiten sollte, so dürfte der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo es zweifelhaft werden könnte, ob die Kulturmenschen noch länger zu den Säugetieren zu zählen seien oder nicht" . Statt einer gesunden und heiteren Gefährtin, einer fähigen Mutter, einer ihren häuslichen Obliegenheiten nachkommenden Gattin hat der Mann eine kranke, nervöse Frau, bei welcher der Arzt nicht aus dem Hause kommt, die keinen Luftzug und nicht das geringste Geräusch vertragen kann. Wir wollen uns über diesen Gegenstand nicht weiter verbreiten, jedes kann sich das Bild weiter ausmalen; im eigenen Familien- und Bekanntenkreise gibt es Beispiele in Fülle.
Erfahrene Ärzte versichern, die größere Hälfte der Ehefrauen, namentlich in den Städten, befinde sich in mehr oder weniger anormalen Zuständen. Nach dem Grade der Übel und dem Charakter der Eheleute müssen solche Verbindungen unglückliche sein, und sie geben in der öffentlichen Meinung dem Manne das Recht, sich außereheliche Freiheiten zu erlauben, deren Kenntnis die unglücklichste Stimmung bei der Frau erzeugen müssen. Auch sind manchmal die sehr verschiedenen geschlechtlichen Anforderungen des einen oder anderen Teils Veranlassung zu tiefgehenden Differenzen, ohne daß die so wünschbare Trennung möglich wäre.
Hierbei darf nicht verschwiegen werden, daß ein erheblicher Teil der Männer der schuldige Teil ist an den schweren physischen Leiden, von welchen ihre Frauen in der Ehe betroffen werden. Ein erheblicher Teil der Männerwelt leidet infolge von Ausschweifungen an chronischen Geschlechtskrankheiten, die oft, weil sie ihnen keine großen Unbequemlichkeiten verursachen, auf die leichte Achsel genommen werden. Aber im geschlechtlichen Verkehr mit der Frau erzeugen sie bei dieser sehr unangenehme und verhängnisvoll wirkende Unterleibskrankheiten, die alsbald nach der Eheschließung sich einstellen und häufig bis zur Unfähigkeit zu empfangen oder Kinder zu gebären sich steigern. Gewöhnlich hat die unglückliche Frau keine Ahnung von der wahren Ursache ihrer Krankheit, die ihr Gemüt bedrückt, ihr das Leben verbittert und den Zweck der Ehe zerstört, und sie macht sich und empfängt Vorwürfe über einen Zustand, den der andere Teil verschuldete. Manches blühende Weib verfällt nach kaum geschlossener Ehe chronischem Siechtum, für das weder sie noch die Angehörigen eine Erklärung haben, denn der Arzt muß schweigen.
Wie neuere Untersuchungen ergeben haben, ist dieser Umstand – daß infolge von Gonorrhöe die Samenflüssigkeit des Mannes keine Samenzellen mehr enthält und daher der Mann zeitlebens unfähig ist, Kinder zu zeugen – eine verhältnismäßig häufige Ursache ehelicher Unfruchtbarkeit, im Gegensatz zu der alten bequemen Tradition der Herren der Schöpfung, welche immer bereit sind, die Schuld an dem mangelnden Kindersegen auf die Frau abzuwälzen .
Man sieht, es sind eine große Menge Ursachen wirksam, die in der überwiegenden Zahl der Fälle das heutige Eheleben nicht zu dem werden lassen, was es sein soll. Es ist also immerhin eine Anweisung von zweifelhaftem Wert, wenn selbst Gelehrte die Emanzipationsbestrebungen der Frau damit abgetan glauben, daß sie dieselbe auf die Ehe verweisen, die durch unsere sozialen Zustände immer mehr zu einem Zerrbild wird und immer weniger ihrem wahren Zweck entspricht.
Elftes Kapitel - Die Chancen der Ehe
1. Das Zahlenverhältnis der Geschlechter
Der Rat an die Frau, in der Ehe, als ihrem eigentlichen Beruf, ihr Heil zu suchen, ein Rat, dem von der Mehrzahl der Männer gedankenlos applaudiert wird, klingt aber wie der bitterste Hohn, wenn Ratgeber wie Beifallklatscher das Gegenteil tun. Schopenhauer, der Philosoph, hat für die Frau und ihre Stellung nur das Verständnis des Spießbürgers. Er sagt: "Das Weib ist nicht zu großen Arbeiten berufen. Sein Charakteristikon ist nicht das Tun, sondern das Leiden. Es bezahlt die Lebensschuld durch die Wehen der Geburt, Sorge für das Kind, Unterwürfigkeit unter den Mann. Die heftigsten Äußerungen der Lebenskraft und Empfindung sind ihm versagt. Sein Leben soll stiller und unbedeutsamer sein als das des Mannes. Zur Pflegerin und Erzieherin der Kindheit ist das Weib berufen, weil es selbst kindisch, zeitlebens ein großes Kind bleibt, eine Art Mittelstufe zwischen Kind und Mann, welcher der eigentliche Mensch ist.... Zur Häuslichkeit und Unterwürfigkeit sollen die Mädchen erzogen werden.... Die Weiber sind die gründlichsten und unheilbarsten Philister."
Im Geiste Schopenhauers ist auch das Werk vom Lombroso und Ferrero gehalten: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte . Wir haben kein wissenschaftliches Werk von solchem Umfang kennengelernt – es umfaßt 590 Seiten –, das über das darin abgehandelte Thema ein so wenig beweiskräftiges Material enthält. Das statistische Material, aus dem die kühnsten Schlüsse gezogen werden, ist meist sehr dürftig. Oft genügt den Verfassern ein Dutzend Fälle, um die schwerwiegendsten Konsequenzen daraus zu ziehen. Das Material, das als das brauchbarste in dem Werk gelten kann, ist charakteristischerweise von einer Frau – Frau Dr. Tarnowskaja – beschafft worden. Der Einfluß der sozialen Verhältnisse, der kulturellen Entwicklung wird fast gänzlich beiseite gelassen, alles wird vom einseitig physiologisch-psychologischen Standpunkt beurteilt und werden eine große Zahl ethnographischer Mitteilungen von den verschiedensten Völkerschaften in die Beweisführung verwebt, ohne daß man die Natur dieser Mitteilungen tiefer untersuchte. Nach den Verfassern ist, ganz wie bei Schopenhauer, das Weib ein großes Kind, eine Lügnerin par excellence, urteilsschwach, in der Liebe wankelmütig, keiner eigentlich heroischen Tat fähig. Die Inferiorität des Weibes gegenüber dem Mann sei durch eine große Zahl körperlicher Unterscheidungen und Eigenschaften erwiesen. "Die Liebe des Weibes ist im Grunde nichts als sekundärer Charakter der Mutterschaft; all die Gefühle der Zuneigung, welche die Frau an den Mann fesseln, entstehen nicht aus sexuellen Impulsen, sondern aus den durch Anpassung erworbenen Instinkten der Unterwerfung und Hingabe" . Wie diese "Instinkte" erworben wurden und sich anpaßten, unterlassen die Verfasser zu untersuchen; sie würden alsdann die soziale Stellung der Frau im Laufe der Jahrtausende zu untersuchen gehabt haben, welche sie zu dem gemacht hat, was sie ist. Die Verfasser schildern zwar die Sklaverei- und Abhängigkeitszustände der Frau unter den verschiedensten Völkern und Kulturperioden, aber als Darwinianer, die Scheuklappen an den Augen haben, leiten sie das alles aus physiologischen und nicht aus gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen ab, welche die physiologische und psychologische Entwicklung der Frau aufs allerstärkste beeinflussen.
Die Verfasser kommen auch auf die Eitelkeit der Frau zu sprechen und stellen die Ansicht auf, bei Völkern niedrigerer Kulturstufe seien die Männer das eitle Geschlecht, das sehe man zum Beispiel noch heute auf den Neuen Hebriden, auf Madagaskar, bei den Orinokovölkern, auf vielen Inseln des polynesischen Archipels und bei einer Anzahl afrikanischer und Südseevölker. Dagegen seien bei Völkern höherer Kulturstufe die Frauen das eitle Geschlecht. Aber warum und woher? Die Antwort liegt sehr nahe. Bei den Völkern auf niedrigerer Kulturstufe herrschen mutterrechtliche Zustände, oder dieselben sind noch nicht lange überwunden. Die Rolle, die bei solchen die Frau spielt, überhebt diese der Notwendigkeit, sich um den Mann zu bewerben, der Mann wirbt um sie, und zu diesem Zwecke schmückt er sich, er wird eitel. Bei den Völkern auf höherer Kulturstufe, und namentlich bei allen Kulturvölkern, wirbt mit wenig Ausnahmen nicht der Mann um die Frau, sondern die Frau um den Mann, wenn es auch selten vorkommt, daß die Frau die Initiative ergreift und sich dem Mann anbietet. Das verbietet ihr der sogenannte Anstand; tatsächlich aber geschieht das Anbieten durch die Art ihres Auftretens, durch die Kleiderpracht, den Luxus, den sie entfaltet, die Art, wie sie sich schmückt und gesellschaftlich präsentiert und kokettiert. Ihre Überzahl und die soziale Notwendigkeit, die Ehe als Versorgungsanstalt zu betrachten oder als eine Institution, durch die allein sie ihren Geschlechtstrieb befriedigen kann und gesellschaftlich etwas gilt, zwingt dieses Verhalten ihr auf. Es sind also auch hier wieder rein ökonomische und soziale Ursachen, die eine Eigenschaft, bald bei dem Mann, bald bei der Frau hervorrufen, die man als gänzlich unabhängig von sozialen und ökonomischen Ursachen anzusehen gewohnt ist. Daraus darf man weiter schließen, daß, sobald die Gesellschaft in soziale Zustände kommt, unter denen jede Abhängigkeit des einen Geschlechtes vom anderen aufhört und beide gleich frei sind, die Eitelkeit und die Modetorheiten ebenso verschwinden werden, wie viele andere Untugenden, die wir heute für unausrottbar halten, weil angeblich sie den Menschen angeboren sind.
Was speziell Schopenhauer betrifft, so beurteilt er als Philosoph die Frau ebenso einseitig, wie die meisten unserer Anthropologen und Mediziner, die in ihr nur das Geschlechtswesen, nie das Gesellschaftswesen sehen. Schopenhauer war auch nie verheiratet, er hat also für sein Teil nicht dazu beigetragen, daß eine Frau mehr die von ihm denselben zugeschriebene Lebensschuld erfüllte. Und hier kommen wir zu der anderen Seite der Medaille, die keineswegs die schönere ist.
Viele Frauen heiraten nicht, weil sie nicht heiraten können, das weiß jeder. Die Sitte verbietet der Frau, sich anzubieten; sie muß sich freien, das heißt wählen lassen, sie selbst darf nicht freien. Findet sich kein Freier, so tritt sie zu der großen Armee jener Armen, die ihren Lebenszweck verfehlten und bei dem Mangel eines sicheren materiellen Bodens meist der Not und dem Elend verfallen und oft genug auch dem Spotte preisgegeben sind. Wodurch entsteht aber das Mißverhältnis der Geschlechter? Viele sind rasch mit der Antwort zur Hand: es werden zu viel Mädchen geboren. Die das behaupten, sind falsch unterrichtet, wie sich zeigen wird. Andere schließen aus der Tatsache, daß, wenn die Frauen in der Mehrzahl der Kulturstaaten zahlreicher sind als die Männer, wohl oder übel Polygamie (Vielweiberei) zugelassen werden müsse. Die Polygamie widerspricht aber nicht nur unseren Sitten, sie ist auch für die Frau eine Herabwürdigung, was allerdings Schopenhauer bei seiner Geringschätzung und Verachtung der Frau nicht abhält, zu erklären: "Für das weibliche Geschlecht im ganzen ist Polygamie eine Wohltat."
Viele Männer heiraten nicht, weil sie der Ansicht sind, eine Frau und die etwa nachfolgenden Kinder nicht standesgemäß erhalten zu können. Zwei Frauen zu erhalten ist aber nur einer kleinen Minderheit möglich, und unter dieser sind viele, die zwei und mehr Frauen besitzen, eine legitime und eine oder mehrere illegitim. Diese durch Reichtum Privilegierten lassen sich durch nichts abhalten, zu tun, was sie gelüstet.
Auch im Orient, in dem die Polygamie nach Sitte und Gesetz seit Jahrtausenden besteht, besitzen vergleichsweise wenige Männer mehr als eine Frau. Man spricht von dem entsittlichenden Einfluß des türkischen Haremlebens. Aber man übersieht, daß dieses nur einem winzigen Bruchteil der Männer, und zwar in der herrschenden Klasse, möglich ist, während die Masse der Männer in Einehe lebt. In der Stadt Algier waren Ende der sechziger Jahre unter 18.282 Ehen nicht weniger als 17.319 mit nur einer Frau, in 888 Ehen waren zwei Frauen und nur in 75 mehr als zwei Frauen. Konstantinopel, die Hauptstadt des türkischen Reiches, dürfte kein wesentlich anderes Resultat aufweisen. Unter der Landbevölkerung im Orient ist das Verhältnis zugunsten der Einehe noch auffälliger. Im Orient kommen wie bei uns auch die materiellen Verhältnisse in Betracht, welche die meisten Männer zur Beschränkung auf eine Frau nötigen . Wären aber diese für alle Männer gleich günstig, die Polygamie wäre dennoch nicht durchführbar, weil es an Frauen fehlte. Die unter normalen Verhältnissen fast gleiche Kopfzahl der beiden Geschlechter weist überall auf die Einehe hin.
Wir lassen zum Beweis hierfür die Zusammenstellung folgen, welche Bücher in einem Aufsatz im "Allgemeinen Statistischen Archiv" veröffentlichte .
Das Resultat dieser Zusammenstellung durfte für viele ein überraschendes sein. Mit Ausnahme von Europa, in dem durchschnittlich auf 1.000 männliche 1.024 weibliche Einwohner kommen, ist in allen übrigen Erdteilen das Gegenteil Tatsache. Nimmt man auch an, daß in den fremden Weltteilen, auch dort, wo Zählungen stattfanden, dieselben in bezug auf das weibliche Geschlecht besonders mangelhaft ausgefallen sind – das ist zum Beispiel anzunehmen von allen Ländern mit mohammedanischer Bevölkerung, in denen die Zahl der weiblichen Einwohner niedriger angegeben sein dürfte, als sie in Wirklichkeit ist –, so steht doch fest, daß, abgesehen von einzelnen europäischen Ländern, nirgends die Kopfzahl des weiblichen Geschlechts die des männlichen erheblich übertrifft.
Inzwischen hat das Kaiserliche Statistische Amt in Berlin in seiner Bearbeitung der Volkszählungsergebnisse von 1900 eine neue Zusammenstellung für europäische und außereuropäische Staaten gegeben, welche sich auf 838 Millionen Menschen erstreckt. "Berücksichtigt man hierzu weiter das darunter nicht begriffene Ergebnis der Volkszählung in Italien, Bosnien und Herzegowina, Costarica, Argentinien, Transvaal, Oranjestaat, Cypern, Formosa und Pescadores, so steigt der Betrag der gezählten Erdbevölkerung auf 882 Millionen mit einem Gesamtdurchschnittsverhältnis von 991 weiblichen Personen auf 1.000 männliche.... Für die gezählte Erdbevölkerung wird man hiernach eine nahezu ganz gleiche Vertretung beider Geschlechter – wahrscheinlich mit einem ganz minimalen Männerüberschuß – annehmen dürfen" .
Anders liegen die Verhältnisse in Europa, das uns vorzugsweise interessiert. Hier ist mit Ausnahme der südosteuropäischen Länder Bosnien und Herzegowina, Serbien, Bulgarien, Rumänien und Griechenland überall die weibliche Bevölkerung stärker vertreten als die männliche. Von den Großstaaten ist dieses im Verhältnis am günstigsten in Ungarn und Italien: auf 1.000 männliche kommen 1.009 bzw. 1.010 weibliche Einwohner; nächstdem in Belgien, in dem auf 1.000 männliche 1.013 weibliche Einwohner fallen. Dagegen weisen Portugal (1.093) und Norwegen (1.082) das ungünstigste Verhältnis auf. Diesen zunächst steht Großbritannien mit Irland: auf 1.000 männliche 1.063 weibliche Einwohner. Frankreich, Deutschland, Österreich und Rußland liegen in der Mitte, es kommen auf 1.000 männliche 1.033 bzw. 1.032, 1.035 und 1.029 weibliche Einwohner .
In Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten das Verhältnis zwischen der weiblichen und männlichen Bevölkerung mit jeder Volkszählung günstiger gestaltet. Am 1. Dezember 1885 war die weibliche Bevölkerung um 988.376 Köpfe zahlreicher als die männliche, bei der Volkszählung am 1. Dezember 1890 betrug dieser Überschuß noch 966.806 Köpfe, 1895 957.401, 1900 892.684 und er war bei der Volkszählung am 1. Dezember 1905 auf 871.916 Köpfe gesunken (1.092 weibliche auf 1.000 männliche Einwohner). Eine Hauptursache dieser Abnahme der Differenz bildet die starke Verminderung der Auswanderung, bei der ganz überwiegend das männliche Geschlecht beteiligt ist. Das zeigt sich deutlich an dem Verhältnis der Geschlechter in der nordamerikanischen Union, nach welcher der Hauptstrom der Auswanderer geht, die einen fast ebenso großen Mangel an Frauen hat, wie Deutschland darin Überschuß besitzt (auf 1.000 Männer kamen im Jahre 1900 nur 953 weibliche Personen). Die Auswanderung aus Deutschland sank von 220.902 Köpfen im Jahre 1881 auf 22.073 im Jahre 1901 und auf 19.883 im Jahre 1908.
Die starke Auswanderung der Männer im Vergleich zu der der Frauen verursacht also in erster Linie die Differenz zwischen der Kopfzahl der beiden Geschlechter. So hat sich Italien, das noch anfangs der vierziger Jahre ein Land mit Männerüberschuß war, infolge der außerordentlich starken Auswanderung in ein Land mit Frauenüberschuß verwandelt.
Ferner verunglücken weit mehr Männer als Frauen in der Landwirtschaft, im Gewerbe, in der Industrie und im Verkehr, auch sind vorübergehend weit mehr Männer als Frauen im Ausland abwesend – Kaufleute, Seeleute, Marinemannschaften usw.
Eine andere Erscheinung, die statistisch feststeht und erheblich ins Gewicht fällt, ist, daß die Frauen durchschnittlich älter werden als die Männer und es deshalb in den höheren Lebensaltern mehr Frauen als Männer gibt. Nach der Volkszählung von 1900 stellen sich die Altersverhältnisse der beiden Geschlechter folgendermaßen:
Diese Tabelle zeigt, daß bis zum 21. Lebensjahr die Zahl der Knaben die der Mädchen übersteigt .
In erster Linie ist dieser Knabenüberschuß in dem Verhältnis der Geburten begründet. Überall werden mehr Knaben als Mädchen geboren; so wurden zum Beispiel im Deutschen Reich geboren:
Im Jahre 1872 auf
100 Mädchen 106,2 Knaben
Im Jahre 1884 auf 100 Mädchen 106,2 Knaben
Im Jahre 1900 auf 100 Mädchen 106,0 Knaben
Im Jahre 1905 auf 100 Mädchen 106,3 Knaben
Im Jahre 1907 auf 100 Mädchen 106,3 Knaben
Aber das männliche Geschlecht stirbt früher als das weibliche, und zwar schon im Kindesalter, in dem mehr Knaben als Mädchen sterben. So zeigt die Tabelle, daß vom 21. Lebensjahr an das weibliche Geschlecht an Zahl das männliche übertrifft.
Es starben von je 100 männlichen beziehungsweise weiblichen Einwohnern der mittleren Bevölkerung:
In den Jahren Männlich Weiblich
1872 – 1875 29,5 26,3
1876 – 1880 27,8 24,5
1881 – 1885 27,3 24,2
1886 – 1890 25,8 23,1
1891 – 1895 24,6 22,1
1896 – 1900 22,6 20,0
1901 – 1905 21,0 18,8
Die Tabelle auf S. 169 zeigt weiter, daß im eigentlich eheschließenden Alter zwischen 21 und 50 Jahren das weibliche Geschlecht das männliche um 257.248 (im Jahre 1890 um 422.519) Köpfe überragt und im Alter von 50 bis 70 und mehr Jahren sogar um 699.279 (im Jahre 1890 um 566.400) Köpfe. Wie in England, so in Deutschland wächst mit jedem Jahr die Zahl der Greisinnen.
Ein sehr starkes Mißverhältnis der Geschlechter, das von Jahr zu Jahr wächst, stellt sich ferner unter den verwitweten und geschiedenen Personen heraus.
Bei der Volkszählung von 1890 und 1900 betrug die Zahl der Verwitweten:
1890 1900
Männer 774.967 809.238
Frauen 2.157.870 2.352.921
Mehr Frauen 1.382.903 1.543.683
Von diesen Verwitweten standen im Alter von
1890 1900
Männer Frauen Männer Frauen
40 bis 60 Jahren 222.286 842.920 225.191 900.357
60 und mehr 506.319 1.158.712 537.116 1.299.905
Die Zahl der Geschiedenen betrug 1890 25.271 Männer und 49.601 Frauen, 1900 31.279 Männer und 60.738 Frauen.
Davon standen im Alter von
1890 1900
Männer Frauen Männer Frauen
40 bis 60 Jahren 13.825 24.842 16.976 30.385
60 und mehr 4.917 7.244 5.713 8.452
Diese Zahlen belehren uns weiter, daß in erster Linie die verwitweten und geschiedenen Frauen von einer Wiederverheiratung ausgeschlossen sind, und zwar auch im heiratsfähigsten Alter, denn im Alter von 15 bis 40 Jahren gab es verwitwete Männer im Jahre 1890 46.362, 1900 46.931, verwitwete Frauen im Jahre 1890 156.235, 1900 152.659, geschiedene Männer im Jahre 1890 6.519, 1900 8.590, geschiedene Frauen im Jahre 1890 17.515, 1900 21.901. Hier ist zahlenmäßig der Beweis erbracht für den Nachteil, der geschiedenen Ehefrauen aus der Ehescheidung erwächst. Unter den Ledigen gab es 1900 im Alter von
Männer Frauen
15 bis 40 Jahren 6.700.352 5.824.464
40 bis 60 Jahren 426.388 503.406
60 und mehr Jahren 141.416 252.134
Es ist also unter den Ledigen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren das männliche Geschlecht um 875.888 Köpfe stärker als das weibliche, was für das letztere sehr günstig zu sein scheint. Aber die Männer im Alter von 15 bis 21 Jahren können mit wenig Ausnahmen nicht heiraten, das waren 3.175.453 gegen 3.064.567 Frauen. Ebenso ist von den Männern im Alter von 21 bis 25 Jahren ein großer Teil außerstande, eine Familie zu gründen – wir verweisen nur auf die Militärpersonen, Studierenden usw. –, wohingegen die Frauen in diesem Alter sämtlich heiratsfähig sind. Nehmen wir ferner an, daß eine große Anzahl Männer aus den verschiedensten Ursachen überhaupt nicht heiratet – allein die Zahl der ledigen Männer über 40 Jahre betrug 567.804, wozu noch die verwitweten und geschiedenen kommen, denen 812.181 ledige Frauen gegenüberstanden, denen ebenfalls noch die verwitweten und geschiedenen mit über 2 Millionen Köpfen hinzuzurechnen sind –, so ergibt sich, daß in bezug auf Eheschließung die Lage des weiblichen Geschlechts eine sehr ungünstige ist. Eine große Zahl Frauen ist also unter den heutigen Zuständen gezwungen, auf die legitime Befriedigung des Geschlechtstriebs zu verzichten, wohingegen die Männerwelt in der Prostitution Befriedigung desselben sucht und findet. Die Lage der Frauen würde eine ganz andere, sobald durch Umgestaltung unserer sozialen Zustände die Hindernisse beseitigt würden, die gegenwärtig viele hunderttausend Männer verhindern, eine Ehe zu gründen.
Wie bemerkt, führt eine erhebliche Verschiebung der Zahl der Geschlechter die überseeische Auswanderung herbei. Auch die Militärpflicht treibt viele junge Männer, und zwar die kräftigsten, ins Ausland. Im Jahre 1900 waren nach der dem Reichstag offiziell vorgelegten Übersicht über das Ergebnis des Heeresergänzungsgeschäftes 135.168 Mann wegen unerlaubter Auswanderung verurteilt, und 13.055 waren aus dem gleichen Grunde noch in Untersuchung. Die Zahlen umfassen die Jahrgänge bis zum 45. Lebensjahr. Der Verlust, der aus dieser unerlaubten Auswanderung an Männern Deutschland erwächst, ist bedeutend. Besonders stark ist die Auswanderung in den Jahren nach großen Kriegen, das zeigte sich nach 1866 und in den Jahren 1871 bis 1874.
Große Verluste an Männerleben haben wir ferner durch Unfälle. Die Zahl der in Preußen mit tödlichem Ausgang verunglückten Personen betrug in den Jahren 1883 bis 1905 nicht weniger als 297.983 Personen (davon im Jahre 1905 11.792 männliche und 2.922 weibliche Verunglückte). Im Laufe der Jahre 1886 bis 1907 betrug die Zahl der getöteten Personen in versicherungspflichtigen Betrieben in Industrie, Landwirtschaft, Staats- und Kommunalverwaltung 150.719, darunter ein Bruchteil Frauen. Ein anderer erheblicher Teil der in diesen Betrieben beschäftigten Personen sind infolge von Unfällen dauernd Krüppel und unfähig, eine Familie zu gründen (von 1886 bis 1907 40.744), andere sterben frühzeitig und lassen ihre Familie in Not und Elend zurück. Größere Verluste an Männerleben sind auch mit der Seeschiffahrt verbunden. In der Periode von 1882 bis Anfang 1907 gingen 2.848 Seeschiffe in Verlust und verloren dabei 4.913 Personen der Besatzung – mit wenigen Ausnahmen männliche Personen – und 1.275 Passagiere das Leben.
Die Gesellschaft wird, wenn erst volle Wertschätzung des Menschenlebens Platz gegriffen hat – was in einer sozialistischen Gesellschaft im höchsten Maße der Fall sein wird –, die weitaus größte Zahl der Unfälle verhüten können, insbesondere auch im Seeverkehr. In unzähligen Fällen fallen durch die übel angebrachte Sparsamkeit der Unternehmerklasse Menschenleben oder Gliedmaßen zum Opfer, in vielen anderen Fällen ist Hast und Übermüdung in der Arbeit die Ursache. Menschenfleiß ist billig; geht ein Arbeiter zugrunde, so sind andere vorhanden, die an seine Stelle treten.
Namentlich wird auf dem Gebiet der Seeschiffahrt vielfach unverantwortlich gewirtschaftet. Durch die Enthüllungen Plimsolls im englischen Parlament Mitte der siebziger Jahre ist die Tatsache allgemein bekannt geworden, daß aus verbrecherischer Gewinnsucht zahlreiche Schiffseigentümer seeuntüchtige Schiffe hoch versichern und sie samt ihrer Bemannung dem geringsten Seeunfall gewissenlos preisgeben, um die hohen Versicherungsprämien zu erhalten. Es sind dies die sogenannten Sargschiffe, die auch in Deutschland nicht unbekannt sind. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht die Seeämter in die Lage kommen, über eine größere Zahl von Seeschiffsunfällen ihr Urteil abzugeben, dahin lautend, daß zu hohes Alter, oder Überladung, oder mangelhafter Zustand, oder ungenügende Ausrüstung des Schiffes, oder mehrere dieser Ursachen zusammen die Verunglückung verschuldeten. Bei einem großen Teil der verunglückten Schiffe kann überhaupt nicht die Ursache ihres Unterganges festgestellt werden, weil sie mitten auf der See verunglücken und kein Überlebender übrigbleibt, der Auskunft über die Ursache des Unterganges geben könnte. Es wird gerade auf diesem Gebiet aufs schwerste gesündigt. Die Schutzmaßregeln an den Küsten zur Rettung Schiffbrüchiger sind ebenfalls noch sehr mangelhaft und unzulänglich, weil die Einrichtung derselben fast ausschließlich auf die Privatwohltätigkeit angewiesen ist. Ganz trostlos sieht es mit der Rettung Schiffbrüchiger an den fernen fremden Küsten aus. Ein Gemeinwesen, das die gleiche Förderung aller zu seiner höchsten Aufgabe macht, wird dafür Sorge tragen, daß alle diese Unglücksfälle zu den größten Seltenheiten gehören. Aber das herrschende wirtschaftliche Raubsystem, das mit Menschen wie mit Zahlen rechnet, um möglichst großen Gewinn herauszuschlagen, vernichtet nicht selten ein Menschenleben, wenn dabei ein Taler Profit herausspringt.
2. Ehehemmnisse und Ehehindernisse. Der Frauenüberschuß
Es gibt aber noch andere Momente, welche Eheschließungen erschweren oder unmöglich machen. Eine erhebliche Zahl von Männern wird durch den Staat an der Eheschließung gehindert. Man verdreht die Augen über das Zölibat, das der katholischen Geistlichkeit auferlegt ist, aber man hat kein Wort des Tadels über die weit größere Zahl der Soldaten, die dazu verurteilt sind. Die Offiziere bedürfen zur Ehe nicht allein des Konsenses ihrer Vorgesetzten, sie sind auch in der freien Wahl der Frau eingeschränkt, indem vorgeschrieben ist, daß dieselbe ein gewisses Vermögen besitzen muß. So erhielt zum Beispiel 1889 das österreichische Offizierkorps eine gesellschaftliche "Aufbesserung". Seitdem ist der Offizier als Heiratskandidat im Preise gestiegen. Der Hauptmann, wenn er über dreißig ist, stieg um volle 8.000 Gulden, während der Hauptmann unter dreißig schwer zu haben ist, und keinesfalls unter 30.000 Gulden Mitgift. Der Offizier, der heiraten wollte, hatte bis dahin, wenn die Dreißig überschritten waren, ein gemeinsames Vermögen von 12.000 Gulden oder 600 Gulden Nebeneinkommen nachzuweisen, und selbst bei diesem geringen Nebeneinkommen sah man bisweilen durch die Finger und gewährte Erleichterungen. Die neuen Heiratsvorschriften sind strenger. Der Hauptmann unter dreißig muß nunmehr 30.000 Gulden, über dreißig 20.000 Gulden, der Stabsoffizier bis zum Obersten 16.000 Gulden Kaution sicherstellen, jedoch darf nur der vierte Teil der Truppenoffiziere verheiratet sein, und von der Braut fordert man makelloses Vorleben und standesgemäße Lebensstellung. Dies gilt für Truppenoffiziere und Militärärzte. Für andere Militärbeamte mit Offiziersrang sind die neuen Heiratsvorschriften milder, für Generalstabsoffiziere aber noch strenger. Der dem Generalstab zugeteilte Offizier darf künftig gar nicht heiraten, der wirkliche Generalstabshauptmann unter dreißig Jahren bedarf einer Kaution von 36.000, später von 24.000 Gulden. In Deutschland sind seit 1902 in der Hauptsache folgende Bestimmungen in Kraft: Die Erlaubnis zur Verheiratung eines Offiziers oder Sanitätsoffiziers mit geringerem Gehalt als demjenigen eines Hauptmanns (Rittmeisters) erster Gehaltsklasse darf nur dann nachgesucht werden, wenn zuvor der Nachweis geführt ist, daß der Offizier oder Sanitätsoffizier ein außerdienstliches Einkommen hat, das mindestens betragen muß: bei einem Hauptmann (Rittmeister) zweiter Gehaltsklasse und bei einem Distriktsoffizier der Landgendarmerie mit einem Gehalt von 4.500 Mark jährlich 1.500 Mark, bei einem Distriktsoffizier der Landgendarmerie mit einem Gehalt von 3.300 Mark jährlich 2.100 Mark, bei einem Oberleutnant und Leutnant einschließlich Oberjäger und Feldjäger des reitenden Feldjägerkorps jährlich 2.500 Mark. Auch das Unteroffizierkorps ist in bezug auf Eheschließungen hemmenden Bestimmungen unterworfen, und bedarf der Unteroffizier zur Eheschließung der Genehmigung seiner höheren Vorgesetzten. Das sind drastische Beweise für die materialistische Auffassung, die der Staat von der Ehe hat.
Im allgemeinen erachtet die öffentliche Meinung, daß Männer unter 24 oder 25 Jahren nicht heiraten sollten, und zwar in Rücksicht auf die in der Regel erst in diesem Alter zu erwerbende bürgerliche Selbständigkeit. Nur bei Personen, die in der angenehmen Lage sind, sich nicht erst eine unabhängige Stellung erobern zu müssen, zum Beispiel bei Personen fürstlichen Standes, findet man es in Ordnung, daß eventuell der Mann mit dem 18. oder 19., die Jungfrau mit dem 15. oder 16. Lebensjahr heiratet. Der Fürst wird auch mit dem 18. Lebensjahr mündig und damit für fähig gehalten, das zahlreichste Volk zu regieren. Gewöhnliche Sterbliche erlangen ihre Mündigkeit erst mit dem 21. Lebensjahr.
Diese Verschiedenheit in den Ansichten über das Alter, in dem eine Eheschließung wünschbar ist, zeigt, daß hierfür nur soziale Rücksichten maßgebend sind, mit dem Menschen als Geschlechtswesen haben dieselben nichts zu tun. Aber der Naturtrieb bindet sich nicht an bestimmte soziale Zustände und die daraus hervorgegangenen Ansichten. Sobald der Mensch seine Reife erlangt hat, macht sich der Geschlechtstrieb mit ganzer Heftigkeit geltend.
Der Eintritt der Geschlechtsreife bei dem weiblichen Geschlecht ist nach dem Individuum, dem Klima und der Lebensweise verschieden. In der heißen Zone tritt sie schon im Alter von neun bis zehn Jahren ein, und man trifft dort Frauen, die bereits in diesem Alter den ersten Sprößling auf den Armen tragen, aber sie sind auch mit dem 25. bis 30. Lebensjahr verblüht . In der gemäßigten Zone ist die Regel das 14. bis 16. Lebensjahr, in manchen Fällen noch später; auch ist der Eintritt der Geschlechtsreife bei Mädchen auf dem Lande und in der Stadt verschieden. Bei gesunden, robusten Landmädchen, die kräftig arbeiten, tritt durchschnittlich die Menstruation später ein als bei unseren schlecht genährten, verweichlichten, nervenüberreizten, ätherischen Stadtfräuleins. Dort entwickelt sich die Geschlechtsreife in der Regel normal, hier ist die normale Entwicklung Ausnahme, es treten allerlei Erkrankungserscheinungen auf, die nicht selten den Arzt zur Verzweiflung treiben. Wie oft sind Ärzte genötigt zu erklären, das gründlichste Mittel zur Heilung sei die Heirat. Aber wie dieses Mittel zur Anwendung bringen? Unüberwindliche Hindernisse stellen sich der Ausführung dieses Vorschlags entgegen.
Alles das zeigt, wo die Änderung gesucht werden muß. Einmal handelt es sich um eine total veränderte Erziehung, die den physischen wie den geistigen Menschen berücksichtigt, weiter darum, eine gänzlich veränderte Lebens- und Arbeitsweise zu schaffen. Beides für alle zu schaffen ist aber nur möglich in gänzlich veränderten sozialen Zuständen.
Unsere sozialen Verhältnisse haben einen tiefen Widerspruch zwischen dem Menschen als Geschlechts- und als Gesellschaftswesen erzeugt. Dieser Widerspruch ist in keinem Zeitalter so bemerkbar geworden wie in dem gegenwärtigen, und er erzeugt eine Menge Übel und Krankheiten, die vorzugsweise das weibliche Geschlecht treffen. Einmal hängt in weit höherem Grade als bei dem Manne sein Organismus mit seiner geschlechtlichen Bestimmung zusammen und wird davon beeinflußt – zum Beispiel regelmäßige Wiederkehr der Perioden –, dann ergeben sich für das Weib die meisten Hemmungen, die es verhindern, seinen stärksten Naturtrieb in natürlicher Weise zu befriedigen. Dieser Widerspruch zwischen Naturbedürfnis und Gesellschaftszwang führt zur Unnatur, zu geheimen Lastern und Ausschweifungen, die jeden nicht starken Organismus untergraben.
Der widernatürlichen Befriedigung wird vielfach in schamloser Weise Vorschub geleistet. Man preist mehr oder weniger versteckt gewisse Fabrikate an, die meist in dem Annoncenteil der in die Familie dringenden Zeitungen und Unterhaltungsblätter empfohlen werden. Diese Anpreisungen sind vorzugsweise auf den besser situierten Teil der Gesellschaft berechnet, denn die Preise der Fabrikate sind so hoch, daß ein gering Bemittelter sie kaum erschwingen kann. Hand in Hand mit diesen Ankündigungen geht die auf beide Geschlechter berechnete Anpreisung obszöner Bilder (namentlich ganzer Serien Photographien), von Poesien und prosaischen Werken ähnlichen Gehaltes, deren Titel schon auf die geschlechtliche Erregung berechnet sind und die Verfolgung der Polizei und Staatsanwälte herausfordern. Aber diese haben zuviel mit der "Kultur, Ehe und Familie" zerstörenden Sozialdemokratie zu tun, um diesem Treiben volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Teil unserer Romanliteratur arbeitet in derselben Richtung. Da müßte es wundernehmen, wenn die geschlechtlichen Ausschweifungen, auch noch künstlich erregt, sich nicht zu einer sozialen Krankheit steigerten.
Das träge, üppige Leben vieler Frauen in den bemittelten Klassen, die Nervenstimulanz durch die raffiniertesten Mittel, die Überfütterung mit einer bestimmten Art von Kunstgenuß, der in gewissen Genres treibhausartig gepflegt wird, und von dem an Gemütshypertrophie und nervöser Überreizung leidenden Teil des weiblichen Geschlechts oft als vornehmstes Unterhaltungs- und Bildungsmittel betrachtet wird, steigert die geschlechtlichen Erregungen und fährt notwendig zu Exzessen. Bei den Armen sind es gewisse anstrengende Beschäftigungsweisen, namentlich sitzender Natur, die Blutansammlungen in den Unterleibsorganen begünstigen und geschlechtliche Erregungen befördern. Eine der gefährlichsten Beschäftigungen in dieser Richtung ist die gegenwärtig sehr verbreitete an der Nähmaschine. Diese wirkt so zerstörend, daß bei zehn- bis zwölfstündiger täglicher Arbeit binnen wenig Jahren der kräftigste Organismus zerrüttet ist. Übermäßige geschlechtliche Erregungen fördert auch das lange Arbeiten in Arbeitsräumen mit dauernd hoher Temperatur, zum Beispiel in Zuckersiedereien, Bleichereien, Zeugdruckereien, Nachtarbeit bei Gaslicht in überfüllten Arbeitsräumen, besonders bei gemeinsamer Arbeit beider Geschlechter.
Das ist abermals eine Reihe von Erscheinungen, die die Unvernunft und Ungesundheit unserer heutigen Zustände scharf beleuchten. Aber diese tief in unseren sozialen Zuständen wurzelnden Übel lassen sich weder durch Moralpredigten noch durch Palliativmittel, mit welchen soziale und religiöse Quacksalber und Quacksalberinnen bei der Hand sind, beseitigen. Die Axt muß an die Wurzel des Übels gelegt werden. Es handelt sich darum, soziale Zustände zu schaffen, die naturgemäße Erziehung, gesunde Lebens- und Beschäftigungsweisen und jedem normale Befriedigung natürlicher und gesunder Triebe ermöglichen.
Für den Mann bestehen eine Menge Rücksichten nicht, die für die Frau bestehen. Kraft seiner Herrschaftsstellung liegt auf seiner Seite, soweit nicht soziale Schranken ihn hindern, die freie Liebeswahl. Der Charakter der Ehe als Versorgungsanstalt, die weibliche Überzahl, die Sitte verhindern die Frau, ihren Willen kundzutun, und zwingen sie, abzuwarten, ob sie gesucht wird. In der Regel greift sie bereitwillig zu, sobald sich die Gelegenheit bietet, einen Mann zu finden, der sie vor der gesellschaftlichen Ächtung und Vernachlässigung rettet, die dem armen Wesen "alte Jungfer" zuteil wird. Oft sieht sie mit Geringschätzung auf diejenigen ihrer Mitschwestern herab, die sich im Gefühl ihrer Menschenwürde nicht an den ersten besten zu ehelicher Prostitution verkaufen und es vorziehen, allein den dornenreichen Weg durchs Leben zu wandern.
Andererseits ist der Mann, der die Befriedigung seines Liebesbedürfnisses in der Ehe erreichen will, meist an soziale Schranken gebunden. Er muß sich die Frage stellen: Kannst du eine Frau und etwa folgende Kinder so ernähren, daß drückende Sorgen dir fern bleiben? Je idealer seine Absichten für die Ehe sind, je mehr er entschlossen ist, nur aus Neigung eine Frau zu ehelichen, um so ernster muß er sich die erwähnte Frage stellen. Für viele ist unter den heutigen Erwerbs- und Eigentumsverhältnissen ihre Bejahung ein Ding der Unmöglichkeit, sie ziehen vor, unverheiratet zu bleiben. Anderen, die weniger gewissenhaft sind, drängen sich andere Bedenken auf. Tausende von Männern kommen erst verhältnismäßig spät zu einer selbständigen, ihren Ansprüchen angemessenen Stellung, aber sie können "standesgemäß" eine Frau nur ernähren, wenn diese größeres Vermögen besitzt. Allerdings haben viele junge Männer von einem sogenannten standesgemäßen Leben übertriebene Begriffe, aber sie müssen sich auch, infolge falscher Erziehung und sozialer Gewohnheiten einer großen Zahl Frauen, von dieser Seite auf Ansprüche gefaßt machen, die über ihre Kräfte gehen. Die guten, in ihren Ansprüchen bescheidenen Frauen lernen sie häufig nicht kennen, diese halten sich zurück und sind dort nicht zu finden, wo man sich gewöhnt hat, die Frau zu suchen. Und die ihnen begegnen, sind nicht selten solche, die mehr durch äußere Erscheinung, durch den Schein den Mann zu gewinnen suchen und ihn über ihre persönliche Eigenschaften und ihre materielle Stellung täuschen. Lockmittel aller Art werden aber um so eifriger angewandt, je mehr diese Damen in das Alter kommen, in dem, um zu heiraten, Eile not tut. Gelingt es einer solchen, einen Mann zu erobern, dann ist sie so an Repräsentation, Tand, Flitter und kostspielige Vergnügungen gewöhnt, daß sie das auch in der Ehe nicht vermissen will. Hier öffnet sich für die Männer ein Abgrund, so daß viele vorziehen, die Blume, die am Rande desselben blüht und nur mit Gefahr des Halsbruchs gepflückt werden kann, stehen zu lassen. Sie gehen allein ihren Weg und suchen sich Unterhaltung und Genuß unter Wahrung ihrer Freiheit. Täuschung und Betrug sind Praktiken, die im Verkehr der bürgerlichen Gesellschaft überall im Schwange sind. Kein Wunder, daß sie auch bei Eheschließungen in Anwendung kommen, und falls sie gelingen, beide Teile in schwere Mitleidenschaft ziehen.
Die Statistik zeigt, daß die sozial bessergestellten und gebildeten Klassen durchschnittlich in einem höheren Alter eine Ehe zu schließen pflegen als die unteren. So betrug das durchschnittliche Heiratsalter in Kopenhagen 1878 bis 1882 (nach Westergaard) für freie Berufe, Fabrikanten, Großhändler und Bankiers 32,2 Jahre; für Handwerker und Kleinhändler 31,2; für Handelskommis und Angestellte 29,7; für Kellner und Dienstboten 28; für Fabrikarbeiter, Matrosen und Taglöhner 27,5. In Preußen betrug 1881 bis 1886 das durchschnittliche Heiratsalter beim männlichen Geschlecht für Bergbau 27,6; Fabrikarbeiter 27,7; Metallarbeiter 28; Industrie der Steine 28,2; Baugewerbe 28,6; Holzindustrie 28,7; Maschinenfabrikation 29; Erziehung, Unterricht 29,1; Landwirtschaft 29,6; Verkehrsgewerbe 30; Handel 30,9; Gesundheitspflege, Kirche, Beamte 31,8 bis 33,4. In England betrug von 1840 bis 1871, nach Ansell, das Heiratsalter der Bessersituierten und Gebildeten durchschnittlich 29,95 Jahre, seitdem hat es sich aber für diese Klassen erhöht. Für die verschiedenen Berufe war in den Jahren 1880 bis 1885 das durchschnittliche Heiratsalter bei den
Jahre
Bergwerksarbeitern 23,56
Textilarbeitern 23,88
Bekleidungsgewerben 24,42
Handwerkern 24,85
Taglöhnern 25,06
Handlungsgehilfen 25,75
Kaufleuten 26,17
Pächtern 28,73
Freien Berufen und Rentiers 30,72
Diese Zahlen beweisen wieder schlagend, wie die soziale Lage die Eheschließungen beeinflußt. Wenn in den meisten europäischen Staaten das durchschnittliche Heiratsalter in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts etwas gesunken ist, so ist es wiederum eine Folge der starken Industrialisierung der Gesellschaft. So im Deutschen Reiche, Österreich und Schweden, wo die Zunahme der Jungheiraten mit der bedeutenden Vermehrung der industriellen Arbeiterschaft im Zusammenhang steht. Dagegen ist das Heiratsalter in den alten industriellen Ländern, in Frankreich und England, höher geworden. Eine Ausnahme bildet Rußland, wo die Erhöhung des Heiratsalters eine Folge der Verdrängung des Gemeindebesitzes ist.
Die Zahl der Männer, die aus den verschiedensten Gründen der Ehe ferngehalten werden, nimmt stetig zu. Und zwar sind es die sogenannten höheren Stände und Berufe, in welchen öfter die Männer nicht heiraten, einmal weil die Ansprüche zu große sind, dann weil gerade die Männer dieser Kreise außerhalb der Ehe Genuß und Unterhaltung finden. Andererseits sind für die Frauen die Verhältnisse an Orten besonders ungünstig, an welchen viele Pensionäre mit Familien sich aufhalten und wenig junge Männer. Dort steigt die Zahl der Frauen, die nicht heiraten können, auf 20 bis 30 und mehr von hundert. Der Ausfall an Ehestandskandidaten trifft überhaupt jene weiblichen Schichten am stärksten, die infolge ihrer sozialen Stellung höhere Ansprüche machen, aber dem auf Vermögen sehenden Manne kein solches bieten können. Dies trifft namentlich die weiblichen Glieder der zahlreichen Familien, die von Gehalt existieren, sozial als respektabel gelten, aber unbemittelt sind. Das Leben der weiblichen Wesen dieser Schicht ist verhältnismäßig das traurigste ihrer Leidensgenossinnen. Aus diesen Schichten rekrutiert sich auch vorzugsweise die bedenkliche Konkurrenz, die den Arbeiterinnen in der Stickerei, Wäschenäherei, Blumenmacherei, Putzmacherei, Handschuh- und Strohhutnäherei, kurz in all den Arbeitszweigen gemacht wird, deren Erzeugnisse der Unternehmer mit Vorliebe in der Wohnung der Arbeiterin herstellen läßt. Diese Damen arbeiten für die niedrigsten Löhne, weil in vielen Fällen es sich für sie nicht darum handelt, den ganzen Lebensunterhalt zu gewinnen, sondern nur um einen Zuschuß zu demselben, um Gewinnung der Ausgabe für Garderobe und Luxuszwecke. Der Unternehmer benutzt mit Vorliebe die Konkurrenzarbeit dieser Damen, um der armen Proletarierin den Lohn zu drücken und ihr den letzten Blutstropfen auszupressen, sie wird zur Anspannung ihrer Kräfte bis zur Erschöpfung gezwungen. Auch viele Beamtenfrauen, deren Männer schlecht bezahlt sind und ihnen nicht die "standesgemäße" Lebensweise ermöglichen können, benutzen ihre freie Zeit zu dieser Schmutzkonkurrenz, die so drückend auf weiten Schichten weiblicher Proletarier lastet.
Die von den bürgerlichen Frauenvereinen entfaltete Tätigkeit zur Hebung der weiblichen Arbeit und für Zulassung der Frauen zu höheren Berufen ist hauptsächlich darauf gerichtet, Frauen aus den höheren Schichten eine bessere Lebensstellung zu schaffen. Um das mit mehr Aussicht auf Erfolg erreichen zu können, lieben sie es, sich unter das Protektorat hoher und höchster Damen zu stellen. Die bürgerlichen Frauen ahmen hier nur das Beispiel der bürgerlichen Männerwelt nach, die ebenfalls solche Protektorate liebt und sich für Bestrebungen ereifert, die nur Erfolge im kleinen, nie im großen haben können. Man verrichtet Sisyphusarbeit und täuscht sich und andere über die Notwendigkeit grundumwandelnder Reformen. Auch unterdrückt man von jener Seite alle Zweifel an der Vernünftigkeit der Grundlagen unserer Staats- und Gesellschaftsorganisation. Die konservative Natur dieser Bestrebungen verhindert, daß solche Vereine von sogenannten destruktiven Tendenzen erfaßt werden. Als auf dem Berliner Frauentag im Frühjahr 1894 von einer Minorität der Gedanke ausgesprochen wurde, die bürgerlichen Frauen sollten mit den proletarischen, das heißt den sozialdemokratischen, Hand in Hand gehen, erhob sich bei der Majorität ein Sturm der Entrüstung. Es wird aber den bürgerlichen Frauen nicht gelingen, sich an dem eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Wie groß die Zahl der Frauen ist, die durch die angeführten Umstände auf eheliches Leben verzichten müssen, läßt sich nicht genau feststellen.
Der Frauenüberschuß, den Deutschland besitzt, verteilt sich sowohl auf die einzelnen Länder und Bezirke wie nach den Altersklassen sehr ungleich. Nach der Volkszählung von 1900 (Statistik des Deutschen Reiches. 150. Band, S. 92) kamen beispielsweise
Im eigentlich heiratsfähigen Alter von 15 bis 40 Jahren beträgt also der Frauenüberschuß im gesamten Deutschen Reiche 8 auf 1.000 Männer, und da innerhalb dieser Altersklassen 11.100.673 männliche Einwohner auf 11.187.779 weibliche Einwohner fallen, ergibt sich ein Überschuß von 87.106 Frauen. Und es ist leicht begreiflich, denn unter denjenigen 11.146.833 deutschen Frauen, welche 1900 im gebärfähigen Alter (18 bis 45 Jahren) standen, befanden sich nur 6.432.772 (57,71 Prozent) verheiratet, 283.629 (2,54 Prozent) verwitwet, 31.176 (0,28 Prozent) geschieden und 4.399.286 (39,47 Prozent) ledig.
In denselben vier Altersklassen stellt sich (nach der Statistik des Deutschen Reiches, 150. Band, S. 9 1) das Verhältnis der Geschlechter in anderen Ländern folgendermaßen:
Wir sehen, in fast allen Ländern mit gleicher oder ähnlicher ökonomischer Struktur bestehen ähnliche Zustände in bezug auf die Verteilung der Geschlechter nach Altersklassen. Es hat also in diesen allen ein erheblicher Teil der Frauen – abgesehen von den sonstigen schon erwähnten Gründen – keine Aussicht, in die Ehe zu treten. So waren in England im Jahre 1901 von 1.000 Frauen über 15 Jahre verheiratet 496,4; in Schottland 442,8; in Irland 370,9; in Schweden 468,2; in Norwegen 469,9.
Was sagen dazu diejenigen, die das Bestreben der Frauen nach unabhängiger, gleichberechtigter Lebensstellung abweisen, indem sie dieselben auf die Ehe und die Häuslichkeit verweisen? Am bösen Willen der Frau liegt es nicht, wenn so viele nicht heiraten.
Was geschieht aber mit diesen Opfern unserer sozialen Zustände? Die Rache der beleidigten und verletzten Natur drückt sich in den eigentümlichen Gesichts- und Charakterzügen aus, durch die sich sogenannte alte Jungfern wie alte asketische Junggesellen in allen Ländern und unter allen Klimaten von anderen Menschen unterscheiden, und legt Zeugnis ab von dem mächtigen und verderblichen Einfluß unterdrückter Naturtriebe. Die sogenannte Nymphomanie bei Frauen wie zahlreiche Arten der Hysterie entspringen in den meisten Fällen dieser Quelle. Zu hysterischen Anfällen fährt ferner das Unbefriedigtsein in der Ehe, das oft auch Unfruchtbarkeit verschuldet.
Das ist in den Hauptzügen unser heutiges Eheleben und seine Wirkungen. Das Resultat ist: Die heutige Ehe ist eine Einrichtung, die mit dem bestehenden sozialen Zustand aufs engste verknüpft ist und mit ihm steht und fällt. Aber diese Ehe ist in der Auflösung und im Verfall begriffen; genau wie die bürgerliche Gesellschaft selbst. Denn was stellten wir über die bürgerliche Ehe fest?
- Es sinkt relativ die Zahl der Geburten, obgleich die Bevölkerung im ganzen wächst, was dafür spricht, daß die Lebenslage der Familie sich verschlechtert.
- Es steigt die Zahl der Ehescheidungsanträge, und zwar erheblich stärker, als die Bevölkerung sich vermehrt, und in der Mehrzahl der Fälle sind es die Frauen, welche die Anträge stellen, obgleich sie wirtschaftlich und gesellschaftlich am meisten unter der Scheidung leiden. Das spricht dafür, daß die ungünstig wirkenden Faktoren in der Zunahme begriffen sind, die Ehe sich also auflöst und zerfällt.
- Es sinkt relativ die Zahl der Eheschließungen, obgleich die Bevölkerung wächst, was beweist, daß die Ehe in den Augen vieler ihren sozialen und moralischen Zwecken nicht mehr entspricht und als wertlos oder bedenklich angesehen wird.
- Es besteht in fast allen Kulturstaaten ein Mißverhältnis in der Zahl der Geschlechter, und zwar zuungunsten des weiblichen Geschlechts, das nicht durch die Geburten erzeugt wird – denn es werden durchschnittlich mehr Knaben als Mädchen geboren –, sondern ungünstig wirkenden sozialen und politischen Ursachen geschuldet ist, die im Staats- und Gesellschaftszustand liegen.
Da alle diese unnatürlichen, vorzugsweise der Frau schädlichen Zustände im Wesen der bürgerlichen Gesellschaft begründet sind und mit der Dauer ihres Bestandes sich steigern, so erweist sich dieselbe als unfähig, diese Übel zu heben und die Frau zu befreien. Es ist also hierzu eine andere gesellschaftliche Ordnung nötig.
Zwölftes Kapitel - Die Prostitution eine notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt
1. Prostitution und Gesellschaft
Die Ehe stellt die eine Seite des Geschlechtslebens der bürgerlichen Welt dar, die Prostitution die andere. Die Ehe ist der Avers, die Prostitution der Revers der Medaille. Findet die Männerwelt in der Ehe keine Befriedigung, so sucht sie dieselbe in der Regel bei der Prostitution. Und wer von der Männerwelt aus irgendeinem Grunde auf die Ehe verzichtet, sucht ebenfalls in der Regel Befriedigung bei der Prostitution. Für die freiwillig oder gezwungen in Ehelosigkeit lebenden Männer, wie für jene, denen die Ehe das Erwartete nicht bietet, liegen also die Verhältnisse für Befriedigung des Geschlechtstriebs ungleich günstiger als für die Frauen.
Die Männerwelt hat stets die Benutzung der Prostitution als ein ihr von "Rechts wegen" zukommendes Privilegium betrachtet. Um so härter und strenger wacht und urteilt sie, wenn eine Frau, die keine Prostituierte ist, einen "Fehltritt" begeht. Daß die Frau die gleichen Triebe hat wie der Mann, ja, daß diese in gewissen Zeiten ihres Lebens sich heftiger als sonst geltend machen, beirrt sie nicht. Kraft seiner Herrschaftsstellung zwingt sie der Mann, ihre heftigsten Triebe gewaltsam zu unterdrücken und macht von ihrer Keuschheit ihr gesellschaftliches Ansehen und die Eheschließung abhängig. Durch nichts kann drastischer, aber auch in empörenderer Weise die Abhängigkeit der Frau von dem Manne dargetan werden, als durch diese grundverschiedene Auffassung und Beurteilung der Befriedigung desselben Naturtriebs.
Die Verhältnisse liegen für den Mann besonders günstig. Die Natur hat die Folgen des Zeugungsaktes der Frau zugewiesen, der Mann hat außer dem Genuß weder Mühe noch Verantwortung. Diese vorteilhafte Stellung gegenüber der Frau hat jene Zügellosigkeit in den geschlechtlichen Anforderungen befördert, durch die sich ein großer Teil der Männerwelt auszeichnet. Da aber viele Ursachen vorhanden sind, welche die legitime Befriedigung des Geschlechtstriebs verhindern oder ungenügend erreichen lassen, ist die Folge Befriedigung desselben in der Wildnis.
Die Prostitution wird also zu einer notwendigen sozialen Institution für die bürgerliche Gesellschaft, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche, Unternehmerschaft.
Das ist nicht übertrieben, es soll bewiesen werden.
Es wurde dargelegt, wie die alte Welt die Prostitution ansah und für notwendig hielt, ja sie staatlich organisierte, und zwar sowohl in Griechenland als in Rom. Welche Ansichten darüber im christlichen Mittelalter bestanden, ist ebenfalls vorgeführt worden. Sogar der heilige Augustin, der nach Paulus als die bedeutendste Stütze des Christentums gelten muß und die Askese eifrig predigte, konnte sich nicht enthalten, auszurufen: "Unterdrückt die öffentlichen Dirnen, und die Gewalt der Leidenschaften wird alles über den Haufen werfen." Und der heilige Thomas Aquin, der bis jetzt als die größte Autorität auf dem Gebiet der Theologie gilt, hat es noch drastischer ausgesprochen: "Die Prostitution in den Städten gleicht der Kloake im Palast; schafft die Kloake ab, und der Palast wird ein unreiner und stinkender Ort werden." Das Provinzialkonzil zu Mailand im Jahre 1665 sprach sich im gleichen Sinne aus.
Hören wir, was die Modernen sagen.
Dr. F. S. Hügel sagt: "Die fortschreitende Zivilisation wird die Prostitution allmählich in gefälligere Formen hüllen, aber nur mit dem Untergang der Welt wird sie vom Erdball vertilgt werden können" . Das ist eine kühne Behauptung, aber wer nicht über die bürgerliche Form der Gesellschaft hinausdenken kann, nicht anerkennt, daß sich die Gesellschaft umwandeln wird, um zu gesunden und natürlichen Zuständen zu kommen, muß Dr. Hügel zustimmen.
Ähnlich äußert sich der berühmte Hygieniker M. Rubner, Professor an der Berliner Universität und Direktor des Hygienischen Instituts: "Die Prostitution beim Weibe hat zu allen Zeiten und bei allen Völkern der Erde bestanden, sie ist etwas Unzerstörbares, weil sie dem Geschlechtsverkehr dient, aus der Natur des Menschen sich ableitet und weil der Trieb zur Prostitution in vielen Fällen sozusagen auf angeborene Fehler mancher Frauen zurückzuführen ist. Gerade wie in einer Bevölkerung das Genie und der Blödsinn, das Riesen- und Zwergwachstum und andere Abweichungen von dem allgemeinen Mittel, dem gewöhnlichen, vertreten zu sein pflegen, ebenso treten durch das Spiel der Geburt auch jene Abnormitäten zutage, welche zur Prostitution führen müssen" .
Keinem der Genannten kommt der Gedanke, daß durch eine andere gesellschaftliche Ordnung die Ursachen für die Prostitution verschwinden könnten, keiner versucht, die Ursachen derselben zu untersuchen. Wohl dämmert diesem und jenem, der sich mit dieser Frage beschäftigt, daß die traurigen sozialen Zustände, unter denen zahlreiche Frauen leiden, die Hauptursache sein möchten, warum so viele ihren Leib verkaufen, aber dieser Gedanke ringt sich nicht zu der Konsequenz durch, daß alsdann notwendig sei, andere soziale Zustände zu schaffen. Zu den wenigen, die erkennen, daß die Hauptursache der Prostitution die wirtschaftlichen Verhältnisse sind, gehört Th. Bade : "Die Ursachen der bodenlosen moralischen Versunkenheit, aus der das prostituierte Mädchen hervorgeht, liegen in den dermaligen sozialen Zuständen.... Es ist namentlich die bürgerliche Auflösung der Mittelklassen und ihrer Existenz, insbesondere des Handwerkerstandes, der heute nur noch zu einem kleinen Bruchteil eine selbständige, gewerbsmäßige Arbeit betreibt." Bade schließt seine Betrachtungen damit, daß er sagt: "Die Not der materiellen Existenz, welche die Familien der Mittelklasse teils schon aufgerieben hat, teils noch aufreiben wird, führt auch zur moralischen Zerrüttung der Familie und im besonderen zu der des weiblichen Geschlechts" .
Aber die Prostitution ist nicht nur eine von der Natur geschaffene Institution, die, wie sich R. Schmölder ausdrückt, "nach menschlichem Ermessen ein steter Begleiter der Menschheit bleiben wird" Sie ist auch eine soziale Institution, ohne welche die bürgerliche Gesellschaft undenkbar wäre.
Der Leipziger Polizeiarzt Dr. J. Kühn sagt: "Die Prostitution ist nicht bloß ein zu duldendes, sondern ein notwendiges Übel, denn sie schützt die Weiber vor Untreue (die nur die Männer zu begehen ein Recht haben. D. Verf.) und die Tugend (natürlich die weibliche, die Männer bedürfen derselben nicht. D. Verf.) vor Angriffen (sic!) und somit vor dem Falle" . Diese Worte charakterisieren in der unverhülltesten Form den krassen Egoismus der Männerwelt. Kühn nimmt den korrekten Standpunkt eines Polizeiarztes ein, der die Aufgabe hat, durch Überwachung der Prostitution die Männerwelt vor unangenehmen Krankheiten zu retten. Man denkt nur an den Mann, dem das zölibatäre Leben ein Greuel und eine Marter ist; aber die Millionen zölibatärer Frauen haben sich zu bescheiden. Was bei den Männern Recht ist, ist bei den Frauen Unrecht, Unmoralität und Verbrechen.
Ein anderer interessanter Herr ist Dr. Fock, der die Prostitution als "ein notwendiges Korrelat unserer zivilisierten Einrichtungen" betrachtet . Er fürchtet Überproduktion an Menschen, wenn nach Erlangung der Zeugungsfähigkeit alle heirateten, und darum hält er für wichtig, die Prostitution staatlich zu "regulieren". Er findet es gerechtfertigt, daß der Staat die Prostitution regelt und überwacht und die Sorge für Lieferung syphilisfreier Dirnen an die Männer übernimmt. Er erklärt sich für schärfste Überwachung aller Frauenzimmer, denen ein liederlicher Lebenswandel nachgewiesen wird. Auch dann, wenn die Damen mit "liederlichem Lebenswandel" den vornehmen Klassen angehören? Es ist das alte Lied. Dr. Fock verlangt auch die Besteuerung der Prostituierten und die Konzentration der Prostituierten in bestimmten Straßen. Mit anderen Worten, der christliche Staat soll sich aus der Prostitution eine Geldeinnahme schaffen, indem er zum Besten der Männerwelt die Prostitution staatlich organisiert und schützt. Wie sagte Kaiser Vespasian in einem ähnlichen Falle? Non olet! (Es riecht nicht.) Einen eigenartigen Standpunkt nimmt ein Dr. Heinrich Severus ein, der sich ebenfalls für die gesetzliche Anerkennung der Prostitution erklärt. Er sieht eben in dieser eine sehr nützliche Einrichtung, weil sie eine notwendige Begleiterscheinung der Ehe sei, ohne welche die Freiheit der Entschließung zur Ehe verkümmert würde. Die Prostitution ist ihm zufolge eine Art Sicherheitsventil für die bürgerliche Gesellschaft. Er behauptet: "Ein großer Teil der Not, deren Vorhandensein heute so mißliche soziale Zustände schafft, ist darauf zurückzuführen, daß Ehen unüberlegt, ohne Prüfung der Frage, woher der nötige Lebensunterhalt beschafft werden soll, geschlossen worden sind. Der Staat hat ein Interesse daran, daß derartige Ehen nicht zustande kommen, denn die daraus hervorgehenden Kinder, für deren Unterhalt von den Eltern nicht genügend gesorgt werden kann, die aber als eheliche auch nicht ins Findelhaus gehören, bedrohen die Sicherheit der Gesellschaft." Die Prostitution verhüte aber, daß "unter dem Zwange des Naturgesetzes Ehen geschlossen werden, die zu einer Vermehrung des Volkes um Elemente führen, deren aus Not unterbliebene Erziehung und aus einer freudlosen Jugend entspringende staatsfeindliche Gesinnung sie zu Gegnern der Gesellschaft macht". Damit wäre also in der staatlich regulierten Prostitution sogar ein Heil- und Schutzmittel gegen die Sozialdemokratie gefunden, eine Ansicht, die wenigstens Originalität beanspruchen kann.
Also! es bleibt dabei: Die Prostitution ist eine notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche und Unternehmerschaft!
2. Die Prostitution und der Staat
Im Deutschen Reiche ist die Prostitution nicht wie in Frankreich staatlich organisiert und überwacht, sondern nur geduldet. Die offiziellen öffentlichen Häuser sind von Gesetzes wegen verboten und die Kuppelei wird mit schwerer Strafe bedroht. Das verhinderte aber bisher nicht, daß in einer großen Anzahl deutscher Städte, unter anderem in Mainz, Magdeburg, Altona, Kiel, Nürnberg, Worms, Freiburg i. Br., Leipzig, Regensburg, Hamburg, Augsburg, Würzburg usw., nach wie vor öffentliche Häuser bestehen, welche die Polizei duldet . Ein kaum faßbarer Zustand, dessen Widerspruch mit dem Gesetz unseren Staatenlenkern wohl bekannt ist. Das deutsche Strafgesetz bedroht auch die Gewährung von Wohnung an eine Prostituierte mit Strafe. Andererseits aber sieht sich die Polizei gezwungen, Tausende von Frauen als Prostituierte zu dulden und sie in ihrem Gewerbe zu schützen, sobald sich dieselben in die Polizeiregister als Prostituierte eintragen lassen und sich den für die Prostituierten vorgeschriebenen Regeln – zum Beispiel der periodisch wiederkehrenden Untersuchung durch einen Arzt usw. – unterwerfen. Konzessioniert aber der Staat Prostituierte und unterstützt er damit die Ausübung ihres Gewerbes, so müssen sie auch eine Wohnung haben; ja, es liegt sogar im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Ordnung, daß sie eine solche besitzen, in der sie ihr Gewerbe ausüben können. Welche Widersprüche! Auf der einen Seite erkennt der Staat offiziell an: die Prostitution ist notwendig, auf der anderen verfolgt und bestraft er die Prostituierten und die Kuppelei. Außerdem bestätigt diese Haltung des Staates, daß die Prostitution für die moderne Gesellschaft eine Sphinx ist, deren Rätsel sie nicht lösen kann. Die herrschende Religion und Moral verurteilen die Prostitution, die Gesetze bestrafen ihre Begünstigung, und doch duldet und schützt sie der Staat. Mit anderen Worten, unsere mit ihrer Sittlichkeit, ihrer Religiosität, ihrer Zivilisation und Kultur sich brüstende Gesellschaft muß dulden, daß Sittenlosigkeit und Korruption wie schleichendes Gift ihren Körper durchwühlen. Aber noch eins geht aus diesem Zustand hervor. Der christliche Staat gibt zu, daß die Ehe ungenügend ist und der Mann ein Recht hat, die illegitim Befriedigung des Geschlechtstriebs zu beanspruchen. Bei demselben Staat zählt die Frau nur insofern, als sie sich den illegitimen männlichen Begierden hingeben will, das heißt Prostituierte wird. Auch trifft die von den staatlichen Organen ausgeübte Überwachung und Kontrolle der eingeschriebenen Prostituierten nicht auch den Mann, der die Prostituierte sucht, was, wenn die polizeiärztliche Kontrolle einen Sinn und halbwegs Erfolg haben sollte, selbstverständlich wäre – davon abgesehen, daß die Gerechtigkeit die gleiche Anwendung des Gesetzes auf beide Geschlechter erfordert.
Dieser Schutz des Mannes vor der Frau durch den Staat stellt die Natur der Verhältnisse auf den Kopf. Es sieht aus, als seien die Männer das schwächere und die Frauen das stärkere Geschlecht, als sei die Frau die Verführerin und der arme, schwache Mann der Verführte. Die Verführungsmythe zwischen Adam und Eva im Paradies wirkt in unseren Anschauungen und Gesetzen fort und gibt dem Christentum recht: "Die Frau ist die große Verführerin, das Gefäß der Sünde." Die Männerwelt sollte sich dieser traurigen und unwürdigen Rolle schämen. Aber sie gefällt sich in dieser Rolle des "Schwachen" und "Verführten", denn je mehr sie geschützt wird, um so mehr kann sie sündigen.
Wo Männer in Masse zusammenkommen, scheinen sie ohne Prostituierte sich nicht vergnügen zu können. Das zeigten unter anderem die Vorgänge auf dem deutschen Schützenfest in Berlin im Sommer 1890, Vorgänge, die 2.300 Frauen veranlaßten, sich also in einer Petition an den Oberbürgermeister der deutschen Reichshauptstadt auszulassen: "Gestatten Ew. Hochwohlgeboren allergütigst, daß wir über das diesjährige, bei Pankow vom 6. bis 13. Juli abgehaltene deutsche Bundesschießen dasjenige erwähnen, was durch die Presse und andere Mitteilungen über jenes Fest in die Provinzen gedrungen ist. Die Berichte, welche wir darüber mit tiefster Entrüstung und mit Abscheu vernommen haben, führten unter anderem die Schaustellungen jenes Festes also auf: ›Erster deutscher Herold, größtes Chantant der Welt.‹ ›Hundert Damen und vierzig Herren.‹ Daneben kleinere Tingeltangel und Schießbuden, aus denen überaus zudringliche Frauenzimmer der Männerwelt sich anwarfen. Ferner ›Freikonzert‹, dessen luftigst gekleidete Kellnerinnen frech und ungehindert den Gymnasiasten wie den Familienvater, den Jüngling wie den Mann verführerisch lächelnd zur ›Schützenruh‹ einluden.... Allein die kaum bekleidete ›Dame‹, welche zum Besuch der Bude ›Die Geheimnisse Hamburgs oder eine Nacht in St. Pauli‹ einlud, hätte doch wohl füglich von Polizei wegen beseitigt werden können. Und dann das Entsetzliche, was einfache Bürger und Bürgerinnen der Provinz von der so viel gerühmten Reichshauptstadt kaum zu fassen vermögen, die verlautende Kunde: Daß die Festleitung es zugelassen haben soll, anstatt der sich anbietenden Kellner ›junge Frauenzimmer‹ in großer Zahl als Schenkmädchen ohne Bezahlung anzustellen.... Wir deutschen Frauen haben als Gattinnen, Mütter und als Schwestern unsere Ehemänner, Kinder, Töchter und Brüder in tausendfacher Veranlassung zum Dienst des Vaterlandes nach Berlin zu schicken, und so bitten wir Ew. Hochwohlgeboren in aller Untertänigkeit und in zuversichtlichem Vertrauen, bei dem großen, schwerwiegenden Einfluß, welchen Sie als oberster Beamter der Reichshauptstadt in Händen haben, über jene unwürdigen Vorgänge derartige Untersuchungen anordnen zu wollen und sonstige Ew. Hochwohlgeboren zweckdienlich erscheinende Verordnungen zu treffen, welche eine Wiederkehr jener Orgien, namentlich auch auf dem bevorstehenden Sedanfeste, keinesfalls befürchten lassen. ..." (!!!)
Bei allen großen, auch sogenannten nationalen Festen, bei denen Männer in größerer Zahl zusammenkommen, wiederholt sich ähnliches .
Die deutschen Regierungen machten wiederholt den Versuch, aus dem Widerspruch herauszukommen, in dem sich in bezug auf die Prostitution die Praxis der Staatsgewalt mit der Strafgesetzgebung befindet. Sie brachten Gesetzentwürfe ein, die unter anderem die Polizei bevollmächtigten, den Prostituierten bestimmte Wohnplätze anzuweisen. Man gab zu, daß die Prostitution nicht unterdrückt werden könne und es deshalb am praktischsten sei, sie an bestimmten Orten zu dulden und zu kontrollieren. Ein solches Gesetz würde – darüber war alle Welt einig – die Bordelle wieder ins Leben gerufen haben, die in den vierziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts offiziell in Preußen aufgehoben wurden. Diese Gesetzesversuche verursachten große Erregung und eine Menge Proteste, in welchen Verwahrung dagegen eingelegt wurde, daß der Staat sich zum Beschützer der Prostitution aufwerfe und damit den Glauben hervorrufe, die Benutzung der Prostitution sei nicht wider die Moral und sie sei ein staatlich gebilligtes Gewerbe. Diese Gesetzentwürfe, die im Plenum und in der Kommission des Reichstags den heftigsten Widerspruch fanden, blieben bisher unerledigt. Aber daß solche vorgelegt werden konnten, zeigt die Verlegenheit, in der man sich befindet.
Die staatliche Regulierung und Kontrolle der Prostitution erzeugt nicht nur den Glauben bei der Männerwelt, der Staat begünstige die Prostitution, sondern die staatliche Kontrolle schütze sie auch vor Erkrankung, und dieser Glaube befördert die Benutzung der Prostitution und den Leichtsinn der Männer. Die Bordelle vermindern nicht die Geschlechtskrankheiten, sie fördern sie, die Männer werden leichtsinniger und unachtsamer. Welche Auffassung der staatliche Schutz der Bordelle hervorruft, dafür spricht, daß sich die auf Grund der Prostitutionsakte in England eingeschriebenen Prostituierten scherzhaft die Frauen der Königin nannten, weil sie durch ein von der Königin verkündetes Gesetz privilegiert worden waren.
Die Erfahrung hat gelehrt, daß weder die Errichtung polizeilich kontrollierter Prostitutionsanstalten (Toleranzhäuser, Bordelle), noch auch die polizeilich angeordnete ärztliche Untersuchung Sicherheit vor Ansteckung gibt.
So schrieb der Geheime Medizinalrat Dr. Albert Eulenburg im Jahre 1898 auf eine Anfrage an das Wiener Frauenkomitee zur Bekämpfung der Kasernierung der Prostitution: "In der Frage der polizeilichen Überwachung der Prostituierten stehe ich – ohne natürlich die praktischen Schwierigkeiten sofortiger Durchführung zu verkennen – prinzipiell voll und ganz auf dem Standpunkt Ihrer Petition und betrachte die in den meisten Ländern seither übliche Praxis als ungerecht, unwürdig und überdies ganz ungeeignet, den angeführten Zweck mit einiger Sicherheit zu erreichen."
Am 20. Juli 1892 sprach sich die Berliner Medizinische Gesellschaft dahin aus, daß die Wiedereinführung von Bordellen weder vom hygienischen noch vom moralischen Standpunkt zu empfehlen sei.
Die Natur dieser Krankheiten ist vielfach derart, daß sie nicht leicht und nicht sofort sich erkennen läßt, und sollte einige Sicherheit vorhanden sein, so müßte eine mehrmalige tägliche Untersuchung eintreten. Diese ist aber bei der Zahl der in Frage kommenden Frauen und in Rücksicht auf die Kosten unmöglich. Wo dreißig bis vierzig Prostituierte in einer Stunde "abgefertigt" werden müssen, ist die Untersuchung kaum mehr als eine bloße Farce, und ebenso ist die Zahl von ein oder zwei Untersuchungen in der Woche gänzlich unzulänglich. So sagt Dr. Blaschko : "Die Annahme, daß die Kontrolle der Prostituierten einen Schutz gegen Ansteckung gewährt, ist ein leider sehr verbreiteter und verhängnisvoller Irrtum. Man kann vielmehr sagen, daß jeder, der mit einer Prostituierten oder mit einem leichtsinnigen Mädchen verkehrt, sich jedesmal in eine große Gefahr begibt."
Der Erfolg dieser Maßregeln scheitert aber auch daran, daß die Männer, die den Krankheitsstoff von einer Frau auf die andere übertragen, von jeder Belästigung befreit bleiben. Eine Prostituierte, die eben untersucht und gesund befunden wurde, wird in derselben Stunde von einem geschlechtskranken Mann angesteckt und überträgt den Ansteckungsstoff bis zum nächsten Kontrolltag, oder bis sie selbst die Krankheit gewahr wird, auf eine Reihe anderer Besucher. Die Kontrolle ist nicht bloß illusorisch, es kommt hinzu, daß diese auf Kommando erfolgenden Untersuchungen durch männliche Ärzte, statt durch weibliche, das Schamgefühl aufs tiefste verletzen und zu seiner gänzlichen Vernichtung beitragen. Das wird von einer großen Zahl Ärzte, die mit dieser Kontrolle zu tun haben, bestätigt . Das gesteht sogar der offizielle Verwaltungsbericht des Berliner Polizeipräsidiums ein, in dem es heißt: "Es mag auch zugegeben werden, daß die Einschreibung die von ihr Betroffenen moralisch noch tiefer sinken läßt" . Die Prostituierten bieten auch alles auf, sich dieser Kontrolle zu entziehen. Eine weitere Folge dieser polizeilichen Maßregeln ist, daß den Prostituierten außerordentlich erschwert, ja unmöglich gemacht wird, wieder zu einem anständigen Erwerb zurückzukehren. Eine der polizeilichen Kontrolle verfallene Frau ist für die Gesellschaft verloren; sie geht meist in wenig Jahren elend zugrunde. Zutreffend und erschöpfend sprach sich der fünfte Kongreß zur Bekämpfung der Unsittlichkeit wider die polizeiliche Regelung der Prostitution zu Genf aus, indem er erklärte: "Die obligatorische ärztliche Untersuchung der Prostituierten ist eine um so grausamere Strafe für die Frau, als sie die ihr gewaltsam unterworfenen Unglücklichen vollends in das Verderben reißt, indem sie den Rest von Schamgefühl zerstört, der noch bei den Verworfensten vorhanden sein kann. Der Staat, der die Prostitution polizeilich regeln will, vergißt, daß er beiden Geschlechtern gleichen Schutz schuldet, er verdirbt moralisch und entwürdigt die Frau. Jedes System offizieller Regelung der Prostitution hat Polizeiwillkür zur Folge, sowie Verletzung gerichtlicher Garantien, die jedem Individuum, selbst dem größten Verbrecher, gegen willkürliche Verhaftung und Einsperrung zugesichert sind. Da diese Rechtsverletzung nur zum Nachteil der Frau geschieht, so folgt daraus eine widernatürliche Ungleichheit zwischen ihr und dem Manne. Die Frau wird zum bloßen Mittel herabgewürdigt und nicht mehr als Person behandelt. Sie steht außerhalb des Gesetzes."
Wie wenig die polizeiärztliche Kontrolle nützt, dafür liefert England ein schlagendes Beispiel. Vor Beginn der gesetzlichen Reglementierung im Jahre 1867 betrugen die Fälle von geschlechtlichen Infektionskrankheiten beim Militär laut Armeebericht 91 pro 1.000. Im Jahre 1886, also nach neunzehnjährigem Bestand der Reglementierung, 110 pro 1.000, aber im Jahre 1892, sechs Jahre nach Aufhebung der Reglementierung, nur 79 pro 1.000. In der Zivilbevölkerung betrugen in den Jahren 1879 bis 1882 – also während der Reglementierung – die Fälle von Syphilis 10 pro 1.000, in den Jahren 1885 bis 1889, also nach Aufhebung derselben, 8,1 pro 1.000.
Auf die der Untersuchung unterworfenen Prostituierten wirkte aber das Gesetz ganz anders als auf die Truppen: 1866 kamen auf je 1.000 Prostituierte 121 Erkrankungen, 1868, als das Gesetz zwei Jahre bestanden hatte, 202, sie sanken dann allmählich, sie überschritten aber 1874 immer noch um 16 Fälle die Zahl von 1866. Auch die Todesfälle bei den Prostituierten vermehrten sich unter der Herrschaft des Gesetzes erschreckend. 1865 betrugen diese auf 1.000 Prostituierte 9,8 dagegen im Jahre 1874 23. Als gegen Ende der sechziger Jahre die englische Regierung den Versuch machte, die Untersuchungsakte auf alle englischen Städte auszudehnen, erhob sich ein Sturm der Entrüstung in der englischen Frauenwelt. Sie betrachteten das Gesetz als eine Beleidigung für das ganze Geschlecht. Die Habeaskorpusakte, jenes Grundgesetz, hieß es, das den englischen Bürger vor den Übergriffen der Polizei schütze, solle für die Frauen aufgehoben sein; es solle jedem rohen, rachsüchtigen oder von anderen niederen Motiven getriebenen Polizeibeamten gestattet sein, die ehrbarste Frau anzugreifen, wenn er gegen sie den Verdacht habe, eine Prostituierte zu sein, wohingegen die Zügellosigkeit der Männer unbehelligt bleibe, ja durch das Gesetz geschützt und genährt würde.
Obgleich dieses Eintreten der englischen Frauen, unter der Führung der Josephine Butler, für den Auswurf ihres Geschlechts sie Mißdeutungen und herabwürdigenden Bemerkungen beschränkter Männer aussetzte, lehnten sie sich mit großer Energie gegen die Einführung desselben auf. In Zeitungsartikeln und Broschüren wurde das "Für" und "Wider" erörtert und seine Ausdehnung verhindert, dem 1886 die Aufhebung folgte .
Die deutsche Polizei besitzt eine ähnliche Gewalt, und häufige in die Öffentlichkeit gedrungene Fälle aus Berlin, Leipzig, Köln, Hannover und vielen anderen Orten beweisen, daß Mißbrauch oder "Mißverständnisse" leicht sind bei Ausübung dieser Gewalt, aber man vernimmt bei uns wenig von einer energischen Opposition gegen solche Befugnisse . Sogar im kleinbürgerlichen Norwegen wurden 1884 die Bordelle verboten und 1888 in der Hauptstadt Christiania die zwangsweise Eintragung der Prostituierten und die damit verbundene Untersuchung aufgehoben. Im Januar 1893 wurde die gleiche Verordnung für das ganze Land erlassen. Sehr richtig sagt Frau Guillaume-Schack mit Bezug auf die "Schutzmaßregeln" des Staates für die Männer: "Wozu lehren wir unsere Söhne Tugend und Sitte achten, wenn der Staat die Unsittlichkeit als ein notwendiges Übel erklärt? Wenn er dem jungen Manne, ehe er überhaupt noch zu geistiger Reife gelangt ist, die Frau von der Obrigkeit zur Ware gestempelt als ein Spielzeug seiner Leidenschaft zuführt?"
Mag ein geschlechtlich kranker Mann in seiner Zügellosigkeit noch so viele dieser armen Wesen anstecken, die meist aus bitterer Not oder durch Verführung dieses schmachvolle Handwerk treiben, der räudige Mann bleibt unbehelligt, aber wehe der kranken Prostituierten, die sich nicht sofort ärztlicher Behandlung unterworfen hat. Die Garnisons- und Universitätsstädte, Seestädte usw. mit ihrer Anhäufung kräftiger, gesunder Männer sind die Hauptherde der Prostitution und ihrer gefährlichen Krankheiten, die von hier in die entferntesten Winkel des Landes getragen werden und überall Verderben verbreiten. Wie moralisch qualifiziert ein großer Teil unserer Studierenden ist, darüber äußert sich das "Korrespondenzblatt zur Bekämpfung der öffentlichen Sittenlosigkeit" also: "Im weitaus größten Teile der Studentenschaft sind heute die Anschauungen über sittliche Dinge erschreckend niedrig, ja geradezu verlumpt." Und aus diesen Kreisen, die sich mit ihrem Deutschtum und "deutscher Sitte" brüsten, rekrutieren sich unsere Verwaltungsbeamten, unsere Staatsanwälte und Richter.
Wie schlimm die Zustände speziell unter der Studentenschaft geworden sein müssen, geht daraus hervor, daß im Herbst 1901 eine größere Anzahl Professoren und Ärzte, darunter die ersten Namen des Faches, sich in einem Aufruf an die deutsche Studentenschaft wandten, indem sie nachdrücklich auf die traurigen Folgen geschlechtlicher Ausschweifungen aufmerksam machten und auch vor dem Übermaß des Alkoholgenusses warnten, der in so vielen Fällen stimulierend auf geschlechtliche Ausschweifungen wirkt. Man begreift endlich, daß es mit dem Vertuschen nicht mehr geht, sondern daß man die Dinge beim rechten Namen nennen muß, um einigermaßen unabsehbarem Unheil zu steuern. Auch in anderen Klassen darf man sich diese Mahnungen zu Herzen nehmen.
"Du sollst für die Sünde heimgesucht werden an deinen Nachkommen bis ins dritte und vierte Glied." Dieser Ausspruch der Bibel trifft den ausschweifenden geschlechtskranken Menschen in vollstem Sinne des Wortes, leider auch die unschuldige Ehefrau. "Die Schlaganfälle jugendlicher Männer und auch Frauen, Formen von Rückenmarksschwindsucht und Gehirnerweichung, Nervenleiden verschiedener Art, Sehstörungen, Knochenfraß und Darmentzündung, Sterilität und Siechtum beruhen vielfach auf nichts anderem, als veralteter, verkannter, aus naheliegenden Gründen mit Stillschweigen übergangener Syphilis.... Wie die Sache jetzt liegt, so führen Ignoranz und Leichtsinn dazu, aus blühenden Töchtern des Landes sieche, lebenswelke Geschöpfe zu machen, die unter der Last ihrer chronischen Beckenentzündungen für die vor- und außerehelichen Extravaganzen ihrer Gatten büßen müssen" . Und Dr. A. Blaschko sagt u. a.: "Epidemien wie Cholera und Pocken, Diphtheritis und Typhus, deren vorhandene Wirkung in ihrer Plötzlichkeit sich einem jeden unmittelbar aufdrängt, sind, obwohl sie an Bösartigkeit der Syphilis kaum gleich, an Verbreitung sich mit ihr entfernt nicht vergleichen lassen, der Schrecken der Bevölkerung.... Der Syphilis hingegen steht die Gesellschaft mit, man möchte sagen erschreckender Gleichgültigkeit gegenüber" . Die Schuld liegt daran, daß es für "unanständig" gehalten wird, über solche Dinge öffentlich zu sprechen. Hat doch nicht einmal der deutsche Reichstag sich entschließen können, im Gesetz dafür zu sorgen, daß Geschlechtskranke gleich anderen Kranken durch die Krankenkassen behandelt werden müssen .
Das syphilitische Gift ist in seiner Wirkung das zäheste und am schwersten ausrottbare aller Gifte. Viele Jahre, nachdem eine Krankheit überstanden ist und der Genesene jede Spur vernichtet wähnt, zeigen sich häufig die Folgen bei der Frau in der Ehe oder bei den Neugeborenen, und ein Heer von Krankheiten bei Ehefrauen und Kindern verdankt ehemännlichen, beziehungsweise elterlichen Geschlechtskrankheiten seinen Ursprung. In einer Petition, die der Verein Jugendschutz im Herbst 1899 an den Reichstag richtete, wird angegeben, daß in Deutschland zirka 30.000 Kinder infolge von Ansteckung durch Gonorrhöe (Tripper) von Geburt erblindet seien und daß bei 50 Prozent der kinderlosen Ehefrauen dieselbe Ursache ihre Unfruchtbarkeit verschuldete . Tatsächlich ist es erschreckend, wie groß die Zahl der kinderlosen Ehen ist, und dieselben nehmen zu. Auch schwachsinnige oder blödsinnige Kinder haben häufig ihr Gebrechen derselben Ursache zuzuschreiben, und was für Unheil durch ein winziges Tröpfchen syphilitischen Blutes bei der Pockenimpfung angerichtet werden kann, dafür gibt es krasse Beispiele.
Die große Zahl der an Geschlechtskrankheiten Leidenden hat wiederholt Anregungen veranlaßt, ein Reichsgesetz zu erlassen, das speziell die Behandlung Geschlechtskranker vorschreibt. Bis jetzt hat man sich zu einem solchen Schritte noch nicht entschließen können, wahrscheinlich aus Furcht vor der Größe der dann zutage tretenden Übel. In den fachmännischen Kreisen ist man allgemein zu der Überzeugung gekommen, daß der früher als harmlos angesehene Tripper mit die gefährlichste Krankheitserscheinung ist. Scheinbar geheilt wirkt derselbe im menschlichen Körper fort, so daß, wie Dr. Blaschko in einem Vortrag in Berlin am 20. Februar 1898 mitteilte, bei den sittenpolizeilichen Untersuchungen in Berlin nur ein Viertel bis höchstens ein Drittel der tripperkranken Prostituierten als solche erkannt werden. Tatsächlich ist aber der weitaus überwiegende Teil der Prostituierten tripperkrank, was also bei der Kontrolle nur bei einem kleinen Bruchteil festgestellt wird. Und da von diesem letzteren wiederum nur ein kleiner Teil geheilt wird, so befindet sich die Gesellschaft hier einem Übel gegenüber, für das sie vorläufig kein Heilmittel hat, das aber namentlich den weiblichen Teil der Bevölkerung mit schweren Gefahren bedroht.