21. Kapitel

Während der Fahrt zurück ins Reservat dachte ich an Conrad. Ich hoffte, der Abend würde so unbeschwert weitergehen, wie er angefangen hatte. In meinen Adern kreisten zwei Gläser Rotwein und der Alkohol zerstreute meine Zweifel, aber irgendwo tief in mir meldete sich ein ungutes Gefühl. Es war ein wenig so wie an jenem Tag, an dem ich auf den Ozean hinausgeschwommen war: die herrliche Stimmung, der glatte Meeresspiegel, die trügerische Stille. Nichts hatte auf das Ungeheuer hingedeutet, das unter der Oberfläche lauerte.

Ich hatte das Gefühl, als ob es unter der Oberfläche dieses glatten, amüsanten Abends brodelte, und fürchtete, dass das Ungeheuer irgendwann hervorbrechen und losschlagen würde. Nur wann und wie, davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Heute war mein Geburtstag und niemand aus der Clique war darauf aus, mich zu beschimpfen. Zumindest, so lange Conrad nicht auftauchte und sie mit seiner Überlegenheit provozierte.

Ich gab mir einen Ruck und wischte meine dunklen Ahnungen beiseite. Abgesehen von Mark, der den Van fuhr, hatten alle mächtig getrunken und auf dem Weg vom Parkplatz zum Camp hallte weinseliges Gekicher über den Strand. Laura und Josh hatten jeder die Arme über die Schulter des anderen gelegt und sangen lauthals Sweet little sixteen. Lachend und strauchelnd landeten wir wieder bei unseren Zelten. Ein paar Minuten später brannte das Feuer, und als ob wir alle noch nicht genug gehabt hätten, machte eine neue Flasche Jim Beam die Runde. Josh schien einen unerschöpflichen Vorrat davon in seinem Zelt zu haben.

Ich saß neben ihm. Eigentlich hatte ich das vermeiden wollen, aber es hatte sich so ergeben und ich wollte ihn nicht wieder gegen mich aufbringen, indem ich mich demonstrativ wegsetzte. Er prostete mir mit der Whiskeyflasche zu. »Auf dich, Smilla!«, nuschelte er. »Du bist echt was Besonderes.«

Keine Ahnung, wie er das meinte, zynisch oder ehrlich. Er war betrunken, also versuchte ich, ihn zu ignorieren. Ich war nervös. Inzwischen war es nach zehn und ich fragte mich, wann Conrad auftauchen würde. Immer wieder hob ich den Kopf und lauschte, obwohl ich wusste, dass ich ihn sowieso nicht kommen hören würde. Die anderen waren zu laut und außerdem hatte Mark begonnen, mir auf seiner Mundharmonika ein Ständchen nach dem anderen zu spielen.

Plötzlich begann Josh zu lachen, als hätte er einen guten Witz gehört. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, als hätte er einen Anfall. Tränen kamen und liefen ihm über die Wangen. Ich sah ihn erschrocken an, jederzeit darauf gefasst, dass er wieder anfangen würde, auf mir herumzuhacken und mich zu beleidigen. Doch dann stellte ich erleichtert fest, dass der Alkohol Josh diesmal nicht angriffslustig und ausfällig werden ließ, sondern anhänglich und zahm.

Er legte den Arm um meine Hüfte. Ich versteifte mich unwillkürlich, traute mich aber nicht, seine Hand abzustreifen. Hin und wieder neigte er den Kopf, so als wollte er ihn auf meiner Schulter betten, aber ich konnte jedes Mal ausweichen, ohne dass es ihm oder den anderen auffiel.

Conrad, dachte ich verzweifelt. Wo bist du?

Alec erzählte gerade die Story, wie er als Vierzehnjähriger in einem See in den Everglades mit einem Krokodil geschwommen war, ohne es zu merken, und Janice am Ufer bald gestorben war vor Angst. Ich kannte die Geschichte schon, aber die anderen amüsierten sich köstlich.

Brandee wirkte nervös. Schon beim Italiener war mir aufgefallen, dass sie schlecht aussah, aber nun wurde sie immer unruhiger. Sie rieb sich die Hände, als würde etwas Ekliges an ihren Handflächen kleben, und wenn der Jim Beam zu ihr kam, trank sie jedes Mal einen ordentlichen Schluck. Auf einmal wurde sie albern und kicherte grundlos herum. Ab und zu sah sie auf ihre Uhr. Das kam mir merkwürdig vor, aber da ich selber immer wieder auf die Uhr sah, dachte ich nicht weiter darüber nach.

Irgendwann flüsterte Brandee Alec etwas ins Ohr. Danach stand sie auf und schlug den Weg zur Toilette ein.

Ein paar Minuten später sagte ich leise zu Janice: »Ich muss auch mal für kleine Mädchen.«

Josh hatte seinen Kopf inzwischen auf Lauras Schulter gelegt und ich löste vorsichtig seinen Arm von meiner Hüfte. Ich musste wirklich mal, das war nicht gelogen, aber ich hegte auch die große Hoffnung, dass Conrad irgendwo in der Nähe sein würde und auf eine Gelegenheit wartete, mich allein zu sehen. Vielleicht war ihm klar geworden, dass es keine gute Idee war, zu uns ans Feuer zu kommen, so betrunken, wie alle waren.

Auf dem Weg zu den Toiletten erschrak ich fast zu Tode, als plötzlich ein Wolf vor mir stand.

Rowdy oder Boone, fragte ich mich und spürte, wie ich am ganzen Leib zu zittern begann. Aber ich begriff schnell, dass es Boone sein musste, denn sein wütender Bruder hätte mir längst die Zähne gezeigt.

»Hey Boone«, sagte ich, und leuchtete den Hund mit der Taschenlampe an. »Wo ist Conrad?«

Ich hoffte, er würde jeden Moment aus dem Dunkel hervortreten und mich in seine Arme nehmen. Aber auch als ich ihn leise rief, tauchte er nicht auf. Boone winselte und stromerte in Richtung Parkplatz davon. Ich folgte ihm, in der Hoffnung, dass er mich vielleicht zu Conrad führen würde. Doch als ich auf dem Parkplatz stand, konnte ich den Wolfshund nirgendwo mehr entdecken.

Aus der Richtung, in der die Wohnmobile standen, kam fröhliches Gelächter. Auf der anderen Seite war es still. Unter der Woche waren nur wenige Ferienhütten bewohnt.

Ich lief auf der linken Seite um den Supermarkt herum, um zu den Toiletten zu gelangen, als ich Brandees Stimme hörte. »Mir... schlecht... Scheiße... bezahle dich gut.«

Das kam von der Seite des Supermarktes, wo sich das öffentliche Telefon befand, und ich ging ein Stück näher an die Ecke heran, um besser hören zu können, was Brandee sagte. Mit wem zum Teufel telefonierte sie um diese Zeit?

In einer Dusche brannte Licht und jemand stellte das Wasser an. Jetzt konnte ich Brandee nicht mehr verstehen und musste noch näher herangehen. Als ich nur einen Meter entfernt von der Ecke stand, bemerkte ich, dass sie gar nicht telefonierte. Eine männliche Stimme sagte: »Die Bullen haben meine kleine Plantage entdeckt und alles vernichtet. Aber reg dich ab, ja, ich hab was anderes für dich.«

Milo, schoss es mir durch den Kopf. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Hauswand und hielt den Atem an. Brandee traf sich mit Milo, um Gras zu kaufen.

»Die Psilos hauen mächtig rein«, hörte ich Milo sagen. »Du wirst deinen Spaß haben.«

»Und es kann wirklich nichts passieren?« Brandees Stimme klang jetzt beinahe weinerlich. »Was ist mit Nebenwirkungen?«

»Keine Nebenwirkungen«, sagte Milo. »Die Dinger sind völlig harmlos, glaub mir. Die schicken dich auf einen Megatrip und nach ein paar Stunden merkst du nichts mehr. Gut kauen und mit Wasser runterspülen... schmecken ein bisschen bitter.«

Ich versteckte mich hinter einem Getränkeautomaten. Die Tür zu einer der Duschen war gleich nebenan und stand weit genug offen, sodass ich hineinschlüpfen konnte, falls Brandee und Milo um die Ecke kommen würden.

Danach war es still. Ich wollte Milo auf keinen Fall begegnen und Brandee auch nicht, darum zog ich mich sicherheitshalber in mein Versteck zurück und zog die Tür ein Stück zu. Kurz darauf sah ich durch den Türspalt, wie Brandee in Richtung Strand davonschlich.

Was zum Teufel hatte Milo ihr da verkauft? Ich musste daran denken, was Conrad heute Morgen im »River’s Edge« zu mir gesagt hatte. Dass Milos Art, die Weißen zu bekämpfen, war, ihnen Drogen zu verkaufen, mit denen sie sich dann selbst zugrunde richteten.

Ich mochte Brandee nicht, kein bisschen. Sie war eine arrogante Schnepfe, aber ich machte mir ernsthaft Sorgen um sie, nach dem, was Milo da gerade gesagt hatte. Mit Drogen kannte ich mich nicht aus. Was musste man gut kauen und mit Wasser runterspülen? Psilos war das irgendeine neue synthetische Droge? Ich hatte jedenfalls noch nie davon gehört, aber das sollte nichts heißen.

Ich zog die Tür richtig zu und ging auf die Toilette. Als ich wieder herauskam, lief ich Josh in die Arme.

»He, he, he«, lallte er, »wen haben wir denn da? Das Geburtstagskind.« Als Josh versuchte, mich zu küssen, stieß ich ihn von mir weg. Ein liebestrunkener, sturzbesoffener Josh hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

»Ich mag dich wirklich, Smilla«, nuschelte er, »das musst du doch längst gemerkt haben.« Josh fiel mit dem Rücken gegen die Wand und grinste mich dämlich an. Ein paar zottelige Locken fielen über seine Augen.

Aus der Dusche kam eine Frau mit nassen Haaren und einem Handtuch über der Schulter. »Hi«, grüßte sie uns und ging über den Platz zu den Wohnmobilen.

»Verschwinde, Josh«, sagte ich. »Ich dachte, das hätten wir längst geklärt.«

»Warum stellst du dich so an?« Er schwankte mir entgegen. »Bei deinem Häuptling bist du doch auch nicht zimperlich.«

Ehe er auf mich fallen konnte, schlüpfte ich zurück in die Toilette und schob den Riegel vor. Diese Tür würde ich nicht eher wieder öffnen, bis Josh da draußen verschwunden war, und wenn ich die ganze Nacht auf dem Klodeckel sitzend verbringen musste!

Josh hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Komm raus da, Miss Rühr-mich-nicht-an. Ich habe dir nichts getan.«

Doch, dachte ich wütend. Du gehst mir auf die Nerven. Ich war wirklich bedient von Joshs angeblicher Zuneigung und seiner Art, sie mir zu zeigen.

Er hämmerte noch ein paarmal mit der Faust gegen die Tür, dann hörte ich, wie er sich dagegenlehnte. Ich stand nur ein paar Zentimeter von der Tür entfernt und mir war, als würde ich ihn schluchzen hören. Josh weinte. Das war der Hammer! Ich hoffte, dass es am Alkohol lag und nicht wirklich an mir. Du hast ihm das Herz gebrochen, hatte Janice gesagt.

Ich wagte kaum zu atmen. Josh tat mir leid. Es ist schrecklich, in jemanden verliebt zu sein, der deine Gefühle nicht erwidert. Andererseits: Josh war betrunken und ich hatte mehr als einmal erlebt, wie aggressiv und unberechenbar er in diesem Zustand sein konnte. Ich traute ihm nicht mehr über den Weg.

Deshalb schwieg ich einfach und wartete, bis ich hörte, wie sich seine Schritte auf dem Kies entfernten. Als ich zehn Minuten später die Tür einen Spalt öffnete und vorsichtig hinausspähte, war Josh verschwunden. Erleichtert atmete ich auf.

Ich schlug den überwucherten Pfad zum Strand ein, den ich von Conrad kannte, denn ich hatte keine Lust, dass Josh mir auf dem Weg ins Camp auflauerte. Der Pfad war dunkel und der Strahl meiner kleinen Taschenlampe glitt unstet über den Boden und die Sträucher. Als ich die Treibholzbarriere endlich erreicht hatte, war ich sehr erleichtert. Ich steckte die Taschenlampe ein und kletterte auf einen großen Stamm. Der Dreiviertelmond schien hell und das Donnern der steigenden Flut war ohrenbetäubend laut.

Plötzlich packte mich jemand von hinten an der Schulter. Ich schrie erschrocken auf.

»Hab dich.« Josh. Er musste sich bei den Duschräumen versteckt haben und mir gefolgt sein. Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden, aber er hielt mich fest.

»Das ist nicht witzig, Josh.«

»Smilla«, sagte er, ohne mich loszulassen, »es lief doch prima zwischen uns, bis dieser...«

»Es lief gar nichts, Josh«, unterbrach ich ihn, bevor er etwas Gemeines über Conrad sagen konnte.

»Du hast mich angemacht.« Wir schwankten. »Warum gibst du das nicht zu?«

Meine Signale, dachte ich. Josh hatte von Anfang an meine Signale falsch gedeutet. »Ich war nett zu dir, weil ich dich nett fand. Nicht mehr, nicht weniger. Und nun lass mich los, okay?«

»Smilla...«

Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken und stieß ihm meine Ellenbogen in die Rippen. »Ich bin mit Conrad zusammen, Josh. Warum will das nicht in deinen Kopf?«

Er lachte nur abfällig. »Was willst du mit dem, Smilla? Er ist ein Loser, die sind alle Loser hier. In der richtigen Welt kann er nicht überleben. Mensch, denk doch mal nach. In ein paar Tagen sind wir hier weg, dann siehst du den Typen nie wieder.«

Das werden wir ja noch sehen, dachte ich und versuchte, mich von Josh loszureißen. Dabei rutschte ich auf dem feuchten Stamm aus, und weil Josh sich an mir festklammerte, riss ich ihn mit. Wir fielen in den Sand. Josh lag auf mir, sein ganzes Muskelgewicht auf meinem Körper, sein Gesicht an meinem. Sein Alkoholatem ekelte mich an. Plötzlich drückte er mir seine Lippen auf den Mund und schob seine Zunge zwischen meine Zähne. Ich zog den Kopf zur Seite und stieß Josh von mir. »Lass das, du bist ja völlig betrunken.«

Er fluchte etwas Unverständliches und plötzlich waren seine kalten Hände unter meinem T-Shirt. Ich stieß einen empörten Schrei aus und versuchte, mich unter Josh hervorzuwinden, als sein Kopf plötzlich mit einem Ruck nach hinten gerissen wurde und er mit einem erschrockenen Aufschrei rücklings in den Sand flog.

»Was soll das werden?«, hörte ich eine zornige Stimme aus der Dunkelheit. Conrad. Die Erleichterung, die ich spürte, hielt nur kurz an. Ein kaltes Gefühl durchzuckte mich, ein merkwürdiges Frösteln. Wie lange stand er schon da und was hatte er gehört?

»Wonach sieht’s denn aus, Häuptling?« Josh versuchte ächzend, sich aufzurappeln, was ihm sichtlich Mühe bereitete.

»Sie will dich nicht, du perverses Arschloch«, sagte Conrad. Seine Stimme klang schneidend. »Warum geht das nicht in deinen Schädel?«

Josh kam auf die Beine. Er breitete die Arme aus und grinste boshaft. »Na gut, fick sie noch drei Tage, aber dann ist sie weg. Aus, finito, kapierst du das. Dann ist sie wieder in der richtigen Welt und du kannst sie nicht mehr beeindrucken mit deinem Hokuspokus.«

»Hau bloß ab, Mann«, sagte Conrad kalt. »Verschwinde und komm nie wieder, hörst du, sonst...«

»Was, sonst?«, brüllte Josh. »Willst du mir etwa drohen, du Schlappschwanz?«

Das Wort wirkte wie ein Funke, der eine Explosion auslöste. Conrad holte mit der Faust aus und schlug Josh hart ins Gesicht. Joshs Kopf flog nach hinten und er landete wieder rücklings im Sand.

»Wenn du sie noch einmal anfasst, mach ich dich kalt«, zischte Conrad.

Das alles ging so schnell, dass ich erst begriff, was passiert war, als Josh ernüchtert stammelte: »Ohne Scheiß, ich blute. Der Bastard hat mir die Nase gebrochen.« Er rappelte sich auf und stürzte sich mit wütendem Gebrüll auf Conrad. Einen Augenblick später sah ich nur noch ein Knäuel aus Armen und Beinen im Sand rollen.

»Aufhören!«, schrie ich.

Sie krachten gegen einen Berg Treibholz. Ich hoffte inständig, dass das Knacken von einem Ast kam und nicht von einem Knochen. Die beiden ächzten und knurrten wie Tiere. »Aufhören, aufhören, aufhören«, rief ich wütend und warf mit einer Handvoll Sand nach ihnen.

Obwohl Josh größer und kräftiger war, war es am Ende Conrad, der seinen Widersacher mit dem Gesicht in den Sand drückte, sodass er keine Luft mehr bekam.

»Lass ihn los!«, schrie ich und riss Conrad an der Schulter. »Willst du ihn umbringen?«

Conrad stand auf und sah mich an. Im Licht des Mondes bemerkte ich, dass er im Gesicht blutete. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber er wich vor mir zurück, als wüsste er auf einmal nicht mehr, wer ich war.

Josh hustete und krümmte sich im Sand. Ich kniete mich neben ihn und leuchtete ihm mit meiner kleinen Taschenlampe ins Gesicht. Aus seiner Nase lief Blut und sein Gesicht war voller Sand, mehr schien ihm nicht zu fehlen. Ich fischte ein Papiertaschentuch aus meiner Jeans und gab es ihm, damit er die Blutung stoppen konnte. Sein schickes Leinenhemd war voller Blutflecken.

»Bist du okay?«, fragte ich ihn.

Josh knurrte nur.

»Dem fehlt schon nichts, abgesehen von ein bisschen Hirn«, sagte Conrad abfällig.

»War das wirklich notwendig?«

»Der Typ wollte dir an die Wäsche, verdammt. Und das schon den ganzen Abend!«

Conrad hatte also alles gesehen und gehört. Aber er war nicht zu mir gekommen. »Er ist betrunken.«

»Das ist er doch immer. Er ist ein mieses Arschloch, Smilla. Du hast gehört, was er gesagt hat. Warum verteidigst du ihn auch noch?«

Josh versuchte, sich an mir hochzuziehen. Ich richtete mich auf und half ihm. Als er schwankend stand, sagte ich zu Conrad: »Ich bringe ihn jetzt zurück ins Camp. Alleine schafft er das nicht.« Ich legte Joshs Arm um meine Schulter. Er grinste blöde in Conrads Richtung und stützte sich schwer auf mich. So wankten wir davon.

»Smilla«, hörte ich Conrad sagen, »geh jetzt nicht weg, okay?« Noch lange spürte ich seinen Blick in meinem Rücken.

Als wir das Camp erreichten, schien Josh wieder halbwegs nüchtern zu sein und konnte ohne meine Hilfe laufen. Im Flussdelta hatte er sich das Gesicht gewaschen und sah bis auf eine Schramme auf der rechten Wange ganz manierlich aus.

Wir hatten kein einziges Wort miteinander gewechselt. Ich hatte mir vorgenommen abzuwarten, wie Josh sich verhalten würde, wenn wir im Camp waren. Wenn er den Mund hielt, würde auch ich schweigen. Ich war nicht wild darauf, ihn bloßzustellen. Am liebsten hätte ich das Ganze einfach vergessen.

Schon von Weitem sah ich Brandees vom Feuer beleuchtete Gestalt in der Nacht. Sie tanzte. Sie tanzte einen wilden, aufregenden Tanz und das war der Grund dafür, dass die anderen Josh und mir nur wenig Beachtung schenkten, als wir die Runde am Feuer betraten.

»Du blutest«, sagte Laura, als Josh sich neben sie setzte. »Dein Hemd hat auch was abgekriegt.« Er hatte wieder Nasenbluten und sie organisierte ihm ein Papiertaschentuch.

»Er ist auf einem Treibholzstamm ausgerutscht und hat sich die Nase blutig geschlagen«, sagte ich.

Joshs Blick streifte mich kurz, aber er sagte nichts. Seine Aufmerksamkeit galt Brandee, die sich in den Hüften wiegte wie eine indische Göttin. Nur viel schneller. Fast sah es so aus, als ob sie mehrere Arme hätte. Die Flammen warfen Schatten auf ihr Gesicht mit den schwarz umrandeten Augen, ihre seidigen Haare flogen, wenn sie sich drehte. Manchmal hielt sie die Hände hoch über den Kopf wie eine Ballerina, dann konnte man ihren schimmernden Bauch sehen. Ich hatte sie noch nie so erlebt, so frei. Was immer sie gut kauen sollte, sie hatte es getan. Brandee flog. Fasziniert sah ich ihr zu und fragte mich, wo sie gerade war auf ihrer Reise.

Die anderen schienen nicht so recht zu wissen, was sie von Brandees Vorführung halten sollten, doch eine Zeit lang klatschten sie zu ihrem ekstatischen Tanz. Offenbar hatten alle ziemlich viel getrunken, denn die Whiskeyflasche war fast leer. Brandees Tanz nahm mich gefangen, doch gleichzeitig versuchte mein Blick immer wieder, das Dunkel hinter dem Feuer zu durchdringen. Schon seit ein paar Minuten hatte ich das

merkwürdige Gefühl von Anwesenheit. Als ob jemand uns beobachtete. War das Conrad? Stand er irgendwo verborgen und besah sich das Spektakel? Suchte er meine Nähe oder hatte ich ihn dadurch, dass ich mich um Josh gekümmert hatte, zu sehr verletzt?

Brandee tanzte jetzt wild und ungestüm wie ein Derwisch, die Arme wie Flügel auf dem Rücken verdreht, und ich fürchtete jeden Moment, sie könnte ins Feuer stolpern. Sie war nicht frei, das wurde mir nun klar, sie war getrieben. Brandee wirkte überdreht und verängstigt zugleich. Es schien, als ob sie nicht mehr aufhören könne zu tanzen. Ihre schwarze Schminke begann zu verlaufen, das gab ihr noch zusätzlich ein gespenstisches Aussehen.

Mir wurde angst und bange, weil ich nicht wusste, wie der Tanz enden sollte wie der ganze Abend enden sollte. Doch auf einmal taumelte Brandee wie ein verletzter Vogel und fiel in Alecs Arme. Sie leckte ihm mit der Zunge über das Gesicht und lachte wie eine Irre. Das Ganze war Alec sichtlich unangenehm, aber er wusste nicht, wie er sich Brandee vom Leib halten sollte. Als es ihm schließlich zu bunt wurde, machte er sich unsanft von ihr los und stand auf. »So, Leute«, sagte er gereizt, »mir reicht’s. Ich gehe schlafen.«

Brandees Stimme überschlug sich, als sie ihm hinterherrief: »Hau doch ab, ich brauch dich nicht.« Sie lachte. Es war ein einsames, ein tieftrauriges Lachen.

»Ich gehe auch schlafen«, sagte ich und erhob mich. »Danke für alles.«

Ich putzte Zähne und sah, dass auch Mark und Janice sich in ihr Zelt zurückzogen. Noch einmal lauschte ich in die Nacht, aber da war nichts, ich musste mich wohl getäuscht haben.

Keine Ahnung, wie lange ich noch wach lag. Das Donnern der Brandung schluckte die Stimmen am Feuer. Einmal hörte ich, wie Brandees Lachen in Schluchzen umschlug. Was war bloß los mit ihr? Schon seit zwei oder drei Tagen war sie in dieser eigenartigen Stimmung und die Drogen hatten dafür gesorgt, dass sie völlig abdrehte. Brandee tat mir leid. Dass Alec einfach schlafen ging und sie in diesem Zustand allein ließ, fand ich grausam von ihm. Conrad hatte recht: Die Clique war ein erbärmlicher Haufen.

Nach wie vor war ich wütend auf Josh. Nicht nur wegen seiner verbalen Attacken und der plumpen Versuche, doch noch bei mir zu landen, sondern auch, weil er Conrad und mir den Abend verdorben hatte.

Morgen, dachte ich. Morgen werde ich zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich ihn auch in meiner Welt lieben werde.

Hinter den lodernden Flammen des Feuers sieht die junge Frau aus wie ein Geist. So etwas hat Conrad noch nie gesehen. Ihr wilder Tanz fasziniert ihn und stößt ihn gleichzeitig ab. Er ahnt, was mit ihr los ist.

Conrad sieht Smilla, sieht die Besorgnis in ihren Meeresaugen. Sie sorgt sich um alle, auch um die, die ihr wehgetan haben. Das kann er nicht begreifen, doch gleichzeitig liebt er Smilla dafür.

Ja, er liebt sie. Deshalb ist er hier. Er muss es ihr unbedingt sagen, noch in dieser Nacht. Conrad sieht, dass Smilla unglücklich ist, und das kann er kaum aushalten. Er will sie beschützen, für sie da sein. Er will, dass sie sich sicher fühlt.

Conrad beobachtet, wie der Wikinger schlafen geht. Endlich! Offensichtlich hat er genug von seiner abgedrehten Freundin. Auch Smilla geht. Conrad weiß nicht, wie er mit ihr sprechen kann, ohne aufzufallen. Er will nicht, dass sie Ärger bekommt, denn den hat sie seinetwegen schon genug. Also wartet er.

Schließlich gehen der Supersurfer und seine Blondine schlafen, die Rothaarige folgt wenig später. Nun sitzt die Schwarzhaarige allein mit Josh am Feuer. Sie redet und lacht, gebärdet sich wie eine Irre. Conrad wartet und hofft, dass auch die beiden endlich in ihre Zelte verschwinden, denn er muss mit Smilla sprechen, unbedingt. Die Zeit verstreicht und bestimmt ist sie längst eingeschlafen.

Kurz überlegt Conrad, ob er aufgeben und am nächsten Morgen mit ihr sprechen soll. Aber die Sehnsucht nach Smillas Nähe ist stärker als die Vernunft.

Er versucht, unbemerkt zu ihrem Zelt zu kommen. Doch plötzlich taucht Boone überraschend aus der Dunkelheit auf, der einen Rest Fleisch im Sand schnuppert. Das Mädchen sieht den Wolfshund, ihre Augen weiten sich vor Entsetzen. Ohne ein Wort springt sie auf und stürzt davon, läuft ziellos ins Dunkel.

Josh flucht leise, aber dann setzte er dem Mädchen nach. Conrad wirft noch einen sehnsüchtigen Blick auf Smillas Zelt und läuft den beiden hinterher.

Indigosommer
titlepage.xhtml
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_000.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_001.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_002.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_003.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_004.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_005.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_006.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_007.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_008.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_009.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_010.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_011.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_012.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_013.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_014.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_015.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_016.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_017.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_018.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_019.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_020.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_021.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_022.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_023.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_024.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_025.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_026.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_027.html
3_Babendererde_Indigosommer6335_80025_split_028.html