3. Kapitel:

Das kosmische Tor

 

Sie betraten das Innere der Orakelhöhle, und der Weise Liisho, dessen wahres Alter so schwer zu schätzen war, rieb sich die Hände und zitterte wie Espenlaub.

Rajin bemerkte den Metallring um seine linke Fußfessel, und wechselte einen Blick mit Bratlor, dem der etwa handbreite Ring ebenfalls aufgefallen war. Daran, dass es sich um den Fußring eines Gefangenen handelte, bestand kaum ein Zweifel, auch wenn das Metall sehr fremdartig wirkte, ebenso wie die eigenartigen Schriftzeichen, die darin eingraviert waren.

Rajin fasste sich schließlich ein Herz und fragte: „Hast du in den Kerkern Katagis schmachten müssen?“

Liisho runzelte die Stirn, dann sagte er unwirsch: „Halten wir uns nicht mit irgendwelchen Fragen auf, deren Beantwortung getrost noch warten kann.“

„Ich finde, ich habe ein Recht darauf, endlich die ganze Wahrheit zu erfahren“, beharrte Rajin.

„Du hast vielleicht ein gewisses Recht darauf, alle Fragen beantwortet zu bekommen, die etwas mit dir und deiner Bestimmung zu tun haben", entgegnete Liisho, "aber ich sehe keine Veranlassung, dir gegenüber jede Einzelheit meines Lebens auszubreiten.“

Rajin ließ nicht locker. „Und wie soll ich dir da vertrauen?“

„Du hast gar keine Wahl, Rajin! Wie bisher auch schon nicht. Aber sei unbesorgt. Alles, was du wissen musst, wirst du auch erfahren. Zur rechten Zeit. Denn ich habe ein sehr dringendes Interesse daran, dass du deine Mission auch erfüllst.“

„Die wohl darin besteht, als Erbe meines Vaters den Thron Drachenias zu besteigen“, schloss Rajin.

Liisho nickte. „So ist es.“

„Auf den Gedanken, dass es mir vielleicht völlig gleichgültig sein könnte, wer auf dem drachenischen Thron sitzt, bist du wohl nicht gekommen.“

„Ich habe es nicht einmal in Erwägung gezogen", gestand Liisho, "denn ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass es dir keineswegs gleichgültig ist, ob ein furchtbares Unglück über die Welt kommt. Schließlich bin ich seit deiner Geburt in Gedanken bei dir und habe dich zumindest zum Teil erziehen können – wenn ich jetzt auch mit Entsetzen feststellen muss, dass der Einfluss dieser seemannischen Barbaren offenbar doch größer war, als ich gedacht habe. Aber jetzt will ich erst mal, dass es wärmer wird.“ Er deutete auf die umgestürzte Säule, auf der sich das Juwel befunden hatte. „Helft mir und stellt die Säule wieder auf!“

„Sie ist zerbrochen“, erklärte Rajin nüchtern.

„Wollt Ihr zwei lange Reden schwingen, während ich in der Zwischenzeit erfriere? Stellt sie schon wieder auf! Ich würde es ja selbst tun, wenn mir vor lauter Kälte die Arme nicht so steif geworden wären, dass ich mich kaum noch zu bewegen vermag!“

Also hoben Rajin und Bratlor die umgestürzte Säule auf und stellten sie wieder auf den abgebrochenen Stumpf. Rajin war von der Leichtigkeit des Materials überrascht. Er hatte geglaubt, die Säule bestünde aus einem marmorähnlichen Stein. Aber offensichtlich sah sie nur so aus und war in Wahrheit aus einem Material mit ganz anderen Eigenschaften.

Als die Säule wieder aufrecht stand, wuchs sie mit dem Stumpf zusammen. Die Bruchstücke verschmolzen miteinander, und im nächsten Moment war nichts mehr davon zu sehen, dass das Riesenfaultier sie mit der rohen Gewalt seines Gewichts zerbrochen hatte.

Liisho aber bückte sich nach dem Juwel und nahm es in beide Hände. Er legte es auf der Säule ab und berührte es an ganz bestimmten Punkten. Woran er diese zu erkennen vermochte, war für Rajin ein Rätsel, denn für ihn sah die Oberfläche des Juwels zunächst überall gleich aus.

Das Juwel leuchtete auf einmal mit einer Intensität auf, die in den Augen schmerzte. Zeichen erschienen auf der Oberfläche, und Liisho berührte einige von ihnen.

Daraufhin nahmen die Wände der Höhle eine feuerrote Färbung an. „Es wird jetzt etwas wärmer werden“, versprach Liisho. „Wir werden warten müssen, bis in der nächsten Nacht der Meermond sein Licht durch die Öffnung in der Höhlendecke schickt.“

„Warten?“, fragte Rajin stirnrunzelnd. „Es wäre gut, wenn du uns in deine Pläne einweihen würdest.“

„Wenn mir etwas wärmer geworden ist. Davon abgesehen habe ich Hunger und nicht die Absicht, den ganzen nächsten Tag hungrig zu verbringen.“ Er deutete auf den Kadaver des Riesenfaultiers. „Der Bursche da mag uralt sein, aber ich nehme an, dass sein Fleisch trotzdem genießbar ist.“ Er bedachte Rajin und Bratlor – und vor allem ihre Waffen – mit einem abschätzigen Blick und seufzte dann hörbar. „Ich nehme an, dass es eines richtigen Schwertes bedarf, um …“ Er sprach nicht weiter. Stattdessen zog er das schmale, leicht gebogene drachenische Schwert, das er an der Seite trug, und hieb dem Riesenfaultier damit eine seiner Pranken ab. Dann spießte er sie mit der Waffe auf. Blut tropfte herab. „Na, das sieht doch bestens aus! Was glaubt ihr, wovon ich mich schon ernähren musste, seit ich gezwungenermaßen in meinem Exil in Qô lebe.“

„Dein Exil?“, fragte Rajin.

„Falls ihr zwei nicht völlig blind seid, konntet ihr einen Blick auf Qô erhaschen, als das kosmische Tor geöffnet war.“

„Ich verstehe“, murmelte Rajin, obwohl er in Wahrheit das Gefühl hatte, gar nichts zu verstehen. Aber das Bild von der an einer fremden Küste gelegenen Ruinenstadt war ihm noch sehr gegenwärtig. Zu eindrucksvoll war es gewesen, durch das kosmische Tor zu schauen.

„Qô – das ist eine verfallende Stadt, in der keine Menschenseele mehr lebt", erklärte Liisho. "Nur meine Wenigkeit gab es dort und einen Haufen seltsamer Kreaturen, angefangen von wilden Drachen, die den Pferchen der kaiserlichen Drachenhüter entkommen sind, bis hin zu Laufdrachen und allerlei Schattengeschöpfen, über die ich aber besser nicht allzu viel erzähle, weil dich sonst vermutlich sofort der Mut verlassen würde, mir dorthin zu folgen. Und dorthin werden wir uns begeben, sobald das Tor wieder passierbar ist und ich meinen Drachen auf diese Seite des Tors zu bringen vermag, damit er uns auf seinen Rücken nimmt.“

„Wo liegt Qô?“, fragte Bratlor. „Ich bin zwar schon in Drachenia gewesen, aber von diesem Ort habe ich noch nie etwas gehört.“

„Qô liegt auf einer Insel in den Weiten des östlichen Ozeans, am anderen Ende der Welt“, sagte Liisho. „Es war einst der Name einer blühenden Stadt. Die Insel, auf der ihre Ruinen stehen, heißt ebenfalls Qô, wird aber häufig auch die ›Insel der Vergessenen Schatten‹ genannt. Eine Bezeichnung, die durchaus zutreffend ist, wenn ich an all die Nachtkreaturen denke, die dort hausen. Den Legenden nach ist Qô der einzige Ort, an dem der Namenlose Gott keine Macht besitzt. Aber wer weiß, ob man diesen Legenden trauen darf. Jedenfalls gibt es kein besseres Exil als die Insel der Vergessenen Schatten. Nicht einmal Katagi zieht in Erwägung, ich könnte mich dort versteckt halten, wegen der reißenden Bestien, die dort leben. Aber … na ja, das ist ein anderes Thema.“

Liisho schien im Moment nicht weiter darüber reden zu wollen. Stattdessen wirkte er plötzlich sehr unruhig.

Der Weise blickte sich suchend auf dem Höhlenboden um, die Augen zu Schlitzen verengt. Rajin versuchte zu erkennen, was er dort suchte, konnte aber auf dem Höhlenboden nichts entdecken, was irgendwie bemerkenswert gewesen wäre.

„Was suchst du?“, fragte Rajin.

„Ein Ceraphardon“, murmelte Liisho, und bevor Rajin nachfragen konnte, erklärte er: „Da ist ein Zeichen aus der Alten Schrift, die einst von den Erbauern der Tore benutzt wurde."

Rajin zuckte mit den Schultern. „Ich sehe nichts“, bekannte er.

„Oh, ich werde es dir noch beibringen, diese Dinge zu sehen. Allerdings gebe ich zu, dass auch ich zuerst nichts gesehen und lange gebraucht habe, um diese Zeichen zu erkennen.“

„Das einzige Zeichen, das ich auf dem Boden dieser Höhle gesehen habe, war ein Fünfeck. Auf dem liegt jetzt das Riesenfaultier!“

Liisho schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein, dass ist kein Ceraphardon.“

Schließlich hatte der Weise gefunden, wonach er suchte. Er schüttelte die Pranke des Riesenfaultiers von seiner Schwertspitze, sodass sie an einer ganz bestimmten Stelle am Boden zu liegen kam. Augenblicklich bildete sich dort ein Kreis aus blassrotem Feuer. Flammen, die sicher mit gewöhnlichem Feuer nicht allzu viel gemein hatten und irgendwie durch den Zauber der Orakelhöhle zum Lodern gebracht wurden.

Inzwischen war es in der Höhle deutlich wärmer geworden. Liisho schien sich tatsächlich darauf einzurichten, bis zum erneuten Lichteinfall des Meermondes bleiben zu müssen. Liisho deutete auf den Boden neben dem Zauberfeuer. „Setzt euch – oder habt ihr vor, die ganze Zeit über zu stehen? Ich zumindest werde mir das in meinem fortgeschrittenen Alter nicht zumuten.“

Bevor Liisho sich aber niederließ, bückte er sich zunächst und betastete den Boden. Er schien ihm warm genug, denn der Weise nickte zufrieden und setzte sich in eine Art Lotussitz. Mit derart verschränkten Beinen zu sitzen erschien Rajin jedoch kaum bequemer als zu stehen.

Was dies anging, schien Liisho seine ganz eigenen und sehr persönlichen Vorstellungen zu pflegen. Er stocherte mit der Spitze seines Schwerts in das Fleisch der Riesenfaultierpranke. Seinen Drachenstab hatte er zuvor gegen die Höhlenwand gelehnt. Als Liisho Rajins interessierten Blick bemerkte, meinte er nur: „Auch den Umgang damit wirst du bald schon erlernen, Rajin. Es ist nicht so schwer, zumal in dir das Blut Barajans fließt - Magierblut!“

Bratlor und Rajin setzten sich zu ihm. Der Boden war überraschend warm.

„In den Träumen, die du mir gesandt hast, habe ich es dutzendfach gesehen, wie Drachenreiter-Samurai diese riesigen Monstren beherrschen …“

„Ja, ich weiß. Aber es gibt Dinge, die man erst selbst tun muss, um sie zu erlernen. Wie gesagt, die Erziehung, die ich dir angedeihen lassen konnte, war sehr unvollständig und beschränkte sich im Grunde nur auf ein paar unerlässliche Grundkenntnisse.“

Rajin betastete - noch etwas ungläubig - den warmen Boden. „Du scheinst die Magie dieser Höhle sehr gut zu kennen …“

„Den Zauber, Rajin. Magie ist das, was die Magier treiben, und damit hat das hier nichts zu tun. Das ist Zauberei – älter als selbst die Drachen, denn die Tore gab es logischerweise schon, bevor die Drachen die Welt betraten.“

„Wer hat sie errichtet?"

„Das weiß ich nicht, Rajin", gestand Liisho. "Uralte Götter, deren Namen heute niemand mehr kennt. Sie scheinen schon Vergangenheit gewesen zu sein, als die Drachen die Tore passierten, um sich in dieser Welt niederzulassen und sie nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Vielleicht waren es auch die Drachen, die die Erinnerung an die uralten Götter vernichteten, um die Legende zu verbreiten, sie wären die ersten Bewohner dieser Welt gewesen. Genau genommen müsste man sagen: Von allen Geschöpfen, die heute noch die Welt bevölkern, waren sie die ersten. Aber ohne die Tore hätten sie nie ihre Pranken auf diese Welt setzen können. Das haben die Drachen mit den Vorfahren der Magier, Menschen, Laufdrachen, Seemammuts und allen anderen Geschöpfen, die im Licht der fünf Monde wandeln, gemein: Sie kamen von anderen Welten, um hier eine neue Heimat zu finden.“

„Und diese geheimnisvolle Stadt Qô, von der du sprachst – sie liegt nicht in einer anderen Welt, oder? Jedenfalls hatte ich das so verstanden …“

Liisho nahm das Schwert und drehte mit der Spitze die inzwischen schon ziemlich verbrutzelte Pranke des Riesenfaultiers um. „Nein, Rajin. Qô liegt auf unserer Welt, wenn auch so weit im Ozean, dass die Insel tatsächlich jenseits eines kosmischen Tores existieren könnte. Vielleicht ist sie zumindest im übertragenen Sinn sogar Teil einer anderen Welt, aber das ist eher eine philosophische Sichtweise der Dinge.“

„Wie sieht es in jenen anderen Welten aus, aus denen unsere Vorfahren stammen?“, hakte Rajin nach. „Wenn du den Zauber der Tore entschlüsselt hast, dann bist du doch gewiss dort gewesen.“

Aber Liisho schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe den Zauber der Tore nur zum Teil entschlüsselt, und so war es mir bis jetzt lediglich möglich, mit ihnen innerhalb unserer Welt zu reisen. Es gibt fünf von ihnen. Eines spannt sich von einem schwarzen Felsen, der der Küste von Qô vorgelagert ist, bis zu einer Grotte in der Nähe der alten Stadt; dort gibt es einen Raum, der ganz ähnlich aussieht wie diese Höhle. Offenbar war in der Zeit der Alten Torgötter – also vor Beginn des Ersten Äons und der Herrschaft der Drachen – der Wasserstand sehr viel niedriger, sodass sich das Tor von Qô nicht übers Wasser, sondern über eine Landzunge spannte.“

„Oder die Alten Götter, von denen du sprichst, waren Seefahrer und durchfuhren die Tore mit ihren Schiffen“, warf Bratlor ein. Der Sternenseher hatte lange geschwiegen und sich still neben Rajin gesetzt. Dass er bei Liisho nicht die größte Wertschätzung genoss, war ihm nicht verborgen geblieben, und so hatte er sich zunächst zurückgehalten.

Der Weise wandte den Kopf und betrachtete ihn abschätzend. Dann zeigte sich auf seinem Gesicht die Ahnung eines Lächelns. Irgendetwas an der Bemerkung des Sternensehers schien ihn zu amüsieren. „Ja, das ist durchaus möglich“, meinte er. „Genauso, wie es möglich ist, dass einst die ganze Welt unter Wasser stand und die Alten Götter schwimmende Wesen waren, die keine Schiffe brauchten. Niemand kennt ihre Gestalt. Niemand weiß, woher sie stammten und wohin sie gingen. In meinen jüngeren Jahren habe ich eine gewisse Zeit damit verschwendet, die Legenden zu sammeln, die man sich unter den Völkern über jene Epochen erzählt, bevor sie die Tore passierten. Aber es sind eben nur Legenden – Geschichten, die mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun haben. Das einzige Wesen, das alt genug ist, sich an eine Welt jenseits der Tore zu erinnern, dürfte der Urdrache Yyuum sein, und wie es scheint, wird er schon bald erwachen. Aber ich glaube kaum, dass er uns Auskunft darüber geben wird, wie die Welten jenseits der kosmischen Tore beschaffen sind.“ Der Tonfall Liishos hatte sich bei den letzten Worten verändert. „Nicht einmal mir, der ich schließlich einen direkten Nachfahren des Urdrachen reite, auch wenn der es in Größe und Geisteskraft natürlich nicht im Entferntesten mit Yyuum aufzunehmen vermag …“

„Yyuum?“, fragte Bratlor. „Ich habe in der Bibliothek der Sternenseherschule von Seeborg viel über ihn gelesen, aber ich hatte nie den Eindruck, dass dieses Wesen mehr ist als ein Ungeheuer, über das Geschichten erzählt werden, die den Tod einiger Helden verklären sollen.“

„Oh, da irrst du dich, seemannischer Narr. Da irrst du dich gewaltig. Yyuum existiert wirklich. Ich weiß es - denn ich war dort, in den Höhen des mitteldrachenischen Gebirges, das sich wie der Rücken eines Drachen von Nordost nach Süden über die Grenze nach Tajima zieht, wo er an das Dach der Welt anstößt. Yyuum existiert wirklich, er liegt unter diesem Gebirge begraben. Aber schon seit einigen Generationen erzittert dort immer wieder die Erde, sodass außer einem Volk von Bergaffen sich kaum noch eine Kreatur traut, diese Gegend zu betreten. Wie sich inzwischen schon bis zu den drachenischen Untertanen herumgesprochen hat, besitzt der Usurpator Katagi nur noch zwei der drei Drachenringe, mit denen die Drachen Drachenias geknechtet und dazu gebracht werden, den Drachen-Samurai zu gehorchen. Einen dieser Ringe hat Yyuum durch den Diebstahl eines Affen, der von ihm geistig beeinflusst worden sein muss, in seinen Besitz gebracht.“

Liisho wandte sich an Rajin. „Das Alles lässt nichts Gutes erwarten. Über die Pläne des Urdrachen kann man nur spekulieren, und noch scheint der Prozess seines Erwachens nicht abgeschlossen zu sein. Wenn das geschehen ist, wird der mitteldrachenische Bergrücken auseinanderbersten und sich ein Ungeheuer erheben, wie es die Welt seit dem Ersten Äon nicht mehr gesehen hat – wobei zu bedenken ist, dass Drachen ihr ganzes Leben lang wachsen und natürlich auch der Urdrache Yyuum während seines langen Schlafes nicht damit aufgehört hat. Er dürfte seine frühere Größe inzwischen noch weit in den Schatten stellen. Eine Bewegung von ihm löst ein Erdbeben aus, Länder, die er betritt, würden absinken und teilweise mit Wasser überflutet werden, und wenn er im Ozean badet, würde das eine Flutwelle auslösen, die innerhalb eines Tages einmal um die ganze Welt rasen würde. Die Bevölkerungen ganzer Reiche wären auf der Flucht vor ihm. Doch das Alles wäre nicht einmal das Schlimmste an der Sache …“

Liisho sprach mit einem solchen Ernst, dass Rajin mit Schaudern erkannte, wie nahe der Weise diese Gefahren bereits wähnte. Er wandte sich Rajin zu und bedachte ihn mit einem Blick, der so eindringlich war, dass Rajin das Gefühl hatte, Eiswasser würde ihm über den Rücken rieseln. „Das Schlimmste ist, Rajin, dass Yyuum die Herrschaft über die gesamte Drachenheit einfordern wird. Der Diebstahl des Rings war nur der Anfang, und wäre es nicht ein gar so einfältiges Geschöpf wie dieser Affe gewesen, das er mit dem Diebstahl beauftragt hätte – wer weiß, vielleicht befänden sich dann jetzt bereits alle drei Ringe im Besitz des Urdrachen. Was glaubst du wohl, was geschieht, wenn die Drachen allerorts gegen ihre Herren rebellieren? Wenn sie ihre Reiter mit ihrem Feuer versengen, anstatt den Dracheniern zu gehorchen? Wenn sie sich nicht mehr mit der Fütterung mit Stockseemammut zufrieden geben, sondern das Fleisch von Menschen oder Magiern begehren? Seit Generationen schon wird es schwieriger, Drachen zu zähmen und sie unter dem Willen ihrer Reiter zu halten. Ich habe mehreren Kaisern von Drakor gedient und kann es beurteilen. Diese Geschöpfe spüren, dass da in den Bergen Mittel-Drachenias etwas vor sich geht, das die Welt verändern und die Verhältnisse vollkommen umkehren kann. Katagi, der narrenhafte Usurpator, in dessen Adern so wenig vom Magierblut Barajans fließt, dass man genauso gut irgendeinen Bauerntölpel auf den Thron hätte setzen können, will sich die vier anderen Reiche untertan machen. Er schließt die eine oder andere Koalition, doch hat er den Verrat an seinen Verbündeten in Gedanken schon vollzogen. Dieser kommende Krieg wird Unzähligen das Leben kosten – aber das wird nichts sein gegen das, was uns alle erwartet, wenn sich der Urdrache erhebt.“

Liisho legte Rajin eine Hand auf die Schulter. „Du bist Rajin Ko Barajan, der rechtmäßige Thronfolger Drachenias und damit legitimer Drachenkaiser. Und nur jemand, in dessen Adern das Blut Barajans fließt, hätte die Macht, die Herrschaft über die Drachen zu erhalten. Du siehst, es geht um das Schicksal der Welt – und nicht nur darum, ob der versprengte Spross eines Kaiserhauses lieber zur Seemammutjagd ausfährt oder vom Drachenthron aus Drachenia regiert!“

Rajin schüttelte leicht den Kopf. „Ich bin ein Unwissender“, sagte er mit leiser Stimme. „Jemand, der nur wie eine Spielfigur beim Drachenreiter-Schach eingesetzt wird, das du mir in meinen Träumen gezeigt hast. Wie soll ich wissen, was die Wahrheit ist? Kann ich beurteilen, was das Beste für die Welt oder auch nur für Drachenia ist, da ich doch nicht einmal weiß, was für mich selbst das Beste ist?“

„Ich verstehe, dass du verwirrt bist, Rajin“, sagte Liisho, und er klang auf einmal versöhnlich und mitfühlend. „Und mir ist bewusst, dass du viel lernen und auch über dich hinauswachsen musst, um deine Bestimmung zu erfüllen. Aber du kannst ihr nicht ausweichen und einfach dein bisheriges Leben fortsetzen. Schon deshalb nicht, weil deine Feinde dir schon dicht auf den Fersen sind. Sie werden dich jagen und töten. Fünf Prinzen rettete ich aus dem brennenden Palast von Drakor, in dem die Schergen des Usurpators eingedrungen waren. Und du bist der einzige, den sie noch nicht zur Strecke gebracht haben. Sollten sie das schaffen, ist alles verloren. Nicht nur für dich, nicht nur für Drachenia oder das Haus Barajan – sondern für alle Menschen. Gewiss würden die Magier noch einmal versuchen, die Herrschaft über die Drachen zurückzuerlangen, die sie im Zweiten Äon schon einmal ausgeübt haben. Aber ich bezweifle, dass sie in der Lage wären, die entfesselten Urgewalten unter ihre Kontrolle zu bringen. Seit Barajans Bann haben sie sich den Drachen entfremdet, und es lebt schon seit mehreren Äonen kein Magier mehr, der sich darauf verstehen würde, sie zu lenken oder auch nur beeinflussen. Nein, wenn du scheiterst, Rajin, dann beginnt die Geschichte von vorn. Die Welt wird wieder eine Welt der Drachen sein, und alle anderen Geschöpfe werden sich vor ihnen fürchten müssen. Keines der fünf Reiche würde dies überstehen, und selbst die feuerspeienden Wände von Pendabar böten keinen Schutz, hinter dem man sich verkriechen könnte.“

Liisho nahm die Pranke des Riesenfaultiers aus dem Zauberfeuer, indem er sie wieder auf seine Schwertspitze spießte. Das gebratene Fleisch war so schwer, dass sich die drachenische Klinge leicht bog. Liisho roch daran und verzog das Gesicht. „Ich gebe zu, dass ich in meiner Zeit als Berater des Kaisers schon besser gespeist habe, aber ich denke, dass es einigermaßen genießbar ist. Ich bin nur dankbar, dass mir eine gnädige Natur auch im fortgeschrittenen Alter die Zähne nicht hat ausfallen lassen. Sagt mir, wie groß die Teile sein sollen, die ihr beiden begehrt. Und dann sprechen wir über die Dinge, die als Nächstes zu tun sind!“

Aber sowohl Rajin als auch Bratlor hatten keinerlei Appetit.

 

 

 

Einen ganzen Tag mussten sie nach Liishos Angaben noch in Fjendurs kalter Senke verbringen, ehe sich das kosmische Tor wieder öffnen ließ. Solange, bis der Meermond wieder aufging und sein Licht erneut durch die Öffnung in der Höhlendecke fiel. Was dieser Lichteinfall genau bewirkte, behielt Liisho allerdings für sich.

Bratlor fragte ihn zwar danach, aber Liisho antwortete nur sehr ausweichend. Er traute Bratlor offenbar noch immer nicht und hatte nur mehr oder weniger akzeptiert, dass Rajin den Sternseher als Gefährten betrachtete. Und was Rajin selbst betraf, so schien Liisho der Meinung zu sein, dass er noch nicht reif sei für das Wissen über die kosmischen Tore.

Schlaf fanden sie nur wenig, obwohl es in der Orakelhöhle nun angenehm warm war. Liisho beschäftigte sich immer wieder mit dem Juwel auf der Säule und ließ darauf die geheimnisvollen Zeichen erscheinen, indem er das Juwel mit den Händen berührte. Dann schüttelte er jedes Mal den Kopf und legte die Stirn in Falten, manchmal murmelte er auch etwas Unverständliches vor sich hin, was ganz bestimmt nicht dem Wortschatz der drachenischen Sprache entsprang.

Auf einmal kniff Liisho die Augen zu, so als würde er sich sehr auf etwas konzentrieren. „Sie sind auf dem Weg hierher", sagte er auf einmal. "Sie kommen, Rajin - um dich zu töten!“ Er schlug die Augen wieder auf, starrte Rajin an. „Ich spüre, dass sich viele Drachen nähern. Die Kälte dämpft ihre Geisteskräfte, und dennoch kann ich sie genau ausmachen!“

„Aber du denkst, dass sich das Tor öffnet, bevor sie hier sind?“, vergewisserte sich Rajin.

Aber da war sich Liisho offenbar längst nicht mehr so sicher, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. „Ich brauche das Licht des Meermonds, und der schickt seinen Schein erst wieder kommende Nacht durch die Öffnung in der Höhlendecke - da beißt keine Riesenschneeratte ein Tau ab.“ Die letzten Worte hatte er in einem sehr akzentschweren Seemannisch hervorgebracht, dennoch hatten ihn sowohl Rajin als auch Bratlor verstanden. „So sagt ihr doch hier auf Winterland, oder?“, fragte der Weise, als die beiden ihn verwundert anstarrten.

„So hat man vielleicht zu Zeiten von Wulfgar Eishaar geredet“, widersprach Bratlor. „Aber selbst die Uralten sprechen nicht mehr so.“

Liisho zuckte mit den Schultern. „Mag sein, dass ich die seemannische Sprache nicht perfekt beherrsche. Um ehrlich zu sein, ich war nicht mehr hier, seit ich Rajin in der Nähe von Winterborg aussetzte.“ Dann wandte er sich direkt an Rajin. „Du sollst wissen, dass ich dich nicht einfach so deinem Schicksal überlassen habe. Ich habe die Winterborger einer eingehenden Prüfung unterzogen, habe mich unter sie gemischt, um genau zu erfahren, zu welchen Leuten ich dich gebe. Ich wollte sicher sein, dass du es gut hast und in Liebe aufgezogen wirst.“

Rajin schaute ihn an und fühlte auf einmal einen Kloß im Hals, sodass er nicht in der Lage war, sofort zu antworten. Alles, was mit seiner Herkunft und den Umständen seiner Aussetzung zu tun hatte, verursachte ein seltsames Unbehagen in ihm. Was Liisho ihm darüber in den Traumgeschichten mitgeteilt hatte, die ihn all die Jahre über heimgesucht hatten, war recht nebulös gewesen. Das meiste davon war wie ein Strudel von wirren Erinnerungen, die bereits in Auflösung begriffen waren.

„Du willst dich unter die Winterborger gemischt haben?“, fragte jedoch Bratlor, und sein Tonfall war nicht ohne Schärfe. „In jenen Jahren war ich nicht in Winterborg, sondern auf Reisen. Aber wenn damals ein Drachenier nach Winterborg gekommen wäre, so hätte man mir das noch Jahre später zweifellos erzählt. Und die Legendensänger des Kapitänsrats hätten darüber auf jeden Fall Lieder gedichtet. Was glaubst du, wie oft sich Fremde nach Winterland verirren? Schon das Eintreffen eines Schiffs aus Storgard, Witborg oder Borghorst ist ein Ereignis. Dass unsere Männer mit ihren Schiffen an ferne Küsten gelangen, kommt da schon häufiger vor – aber umgekehrt? Selbst das Heiligtum des Fjendur und diese Orakelhöhle sind außerhalb Winterlands kaum bekannt. Fjendur gilt im Rest des Seereichs nicht als ein Gott, der Njordir ebenbürtig ist!“

Liisho nickte wissen. „Die Menschen dort wissen nun mal nicht, wie machtvoll und unerbittlich die Kälte sein kann“, erwiderte er. „Der Mensch neigt dazu, zu verehren, was er fürchtet. Aber wie auch immer - du bezichtigst mich der Lüge, aber das sei dir verziehen, weil du nur aus Besorgnis um Rajin so sprichst.“

„Dessen kannst du sicher sein! Den Legendensängern mag es gestattet sein, die Taten der alten Helden auszuschmücken – aber dir nicht! Du bist Rajin die Wahrheit schuldig!“

„Ich habe die Wahrheit gesprochen. Ich mischte mich tatsächlich unter die Einwohner Winterborgs. Menschen sehen zu lassen, was sie sehen wollen, ist eine der einfacheren Spielarten der Zauberei; dafür braucht man kein Magierblut in den Adern zu haben. Ich habe die Gabe, in der Menge nicht aufzufallen.“

„Und deinen Drachen? Ich nehme doch an, dass du auf seinem Rücken gereist bist?“

„Es war Nacht, und er war nicht mehr als ein Schatten.“

„Die Nächte sind zumeist klar über Winterborg. Und wie stark die Monde in diesem Teil des Seereichs leuchten, ist dir wohl auch nicht verborgen geblieben.“ Der Sternenseher wandte sich Rajin zu. „Denkst du nicht, du wüsstest darüber Bescheid, hätte man in der Nacht, da man dich fand, einen Drachen gesehen?“

„Wie du schon erwähntest", sagte Liisho, und diesmal klang er schon recht ungemütlich, "du warst damals nicht in Winterborg, und auch wenn man dich an der Sternenseherschule alles Mögliche an zauberischem Halbwissen gelehrt haben mag – ich bezweifle, dass du wirklich zu beurteilen vermagst, was geschah!“

„Es ist weder Halbwissen noch Zaubererei, was man mich dort lehrte, sondern wahres Wissen!", entgegnete Bratlor heftig. "Man lehrte mich, der Logik des klaren Gedankens und dem Verstand zu vertrauen und mich nicht durch Vertreter des allgegenwärtigen Aberglaubens in die Irre führen zu lassen!“

„Ach – und einen solchen siehst du in mir?“

„Das muss sich noch erweisen. Aber ich bin nicht bereit, Lügen zu akzeptieren, selbst wenn du sie aus Rücksicht auf Bjonns – Rajins! – Gemüt erzählen magst", sagte Bratlor und fuhr dann fort: "Die Wahrheit ist doch die, dass du Rajin seinem Schicksal überlassen hast. Er war einer von fünf Prinzen, das hast du selbst gesagt. Einer wird schon überleben, hast du dir gedacht, und es war dir völlig gleichgültig, welcher von ihnen das sein würde und was den anderen widerfährt.“ Bratlor erhob sich. Er atmete tief durch, er war offenbar ziemlich erregt. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand deutete er auf den Weisen, doch seine nächsten Worte waren wieder an Rajin gerichtet. „Dieser Zauberer dort benutzt Menschen wie Spielfiguren im Drachenreiter-Schach, das ich in den Hafentavernen von Jandrakor kennenlernte. Bei diesem Spiel geht es darum, unwichtige Figuren für den Sieg zu opfern, den Gegner aber glauben zu machen, sie wären ungemein wichtig für die eigene Strategie und die nächsten Spielzüge. Sei auf der Hut, Bjonn. Ich fürchte, dass dieser angebliche Weise genau dies auch mit dir vorhat!“

Mit diesen Worten verließ Bratlor Sternenseher die Höhle. Er wollte wohl einfach nicht mehr zusammen mit Liisho, den er für einen Lügner hielt, an einem Ort sein.

Rajin sah ihm unschlüssig nach.

„Draußen in der Kälte wird sich sein Gemüt schnell abkühlen", gab sich Liisho überzeugt. "Dann wird er wieder zur Vernunft kommen.“

„Hat er recht?“, wollte Rajin wissen, und der Tonfall, in dem er die Frage stellte, schien den Weisen zu überraschen.

„Du kennst mich!", entgegnete Liisho hart. "Du kennst mich, seit deine Seele erwachte! Ich war in allen wichtigen Augenblicken deines Lebens bei dir! Glaubst du wirklich, ich könnte dir irgendetwas Schlechtes wollen oder dein Schicksal wäre mir gleichgültig gewesen?“

„Du brauchst mich.“

„Die Bewohner Drachenias brauchen dich! Die Menschen aller fünf Reiche brauchen dich! Die ganze Welt braucht dich! Reicht das nicht, um sich bedeutend genug zu fühlen? Ich verfolge keine eigenen Interessen, Rajin. Ich diene nur dem Gleichgewicht und der Ordnung der Welt – einer Ordnung, die ich zwar trotz all meiner Studien gerade einmal in Ansätzen zu verstehen glaube, von der ich aber weiß, wie sehr sie durch die Kräfte des Chaos bedroht ist. Und nun will ich dir sagen, wie es in jener Nacht wirklich war. Und wenn du willst, kann ich es dir auch zeigen."

"Du willst es mir zeigen?", fragte Rajin überrascht.

"Indem ich dir einen Traum sende“, erklärte Liisho.

„Wer garantiert mir, dass der Traum wahr ist?", fragte Rajin misstrauisch. "Nein, das hätte keinen Sinn. Du selbst hast gesagt, dass es keine leichtere Zauberei gäbe, als Menschen sehen zu lassen, was sie sehen wollen.“

„Da hast du recht, Rajin", stimmte Liisho ihm zu. "Davor gibt es keinen Schutz, nie und für niemanden. Nicht für mich und nicht für die Götter – und auch nicht für deinen Freund Bratlor, der seiner Vernunft und der Logik der Gedanken vertraut, die sich in Wahrheit doch genauso täuschen lassen wie der einfältigste Bauer in seinem Aberglaube.“

„Dann erzähl mir von jener Nacht", erklärte sich Rajin einverstanden. "Ich werde entscheiden, was ich dir glaube.“

Liisho atmete auf. Er nickte leicht. „Das ist klug, Rajin. Vertrau auf dich selbst. Bisher konnte ich dir einflüstern, was richtig ist, aber das geht jetzt nicht mehr. Du musst deine eigene innere Stimme finden und ihr lauschen. Und ich kann nur hoffen, dass sie dich in die richtige Richtung führt. Dein Gefährte Bratlor glaubt, dass hier ein Spiel im Gang ist, bei dem Figuren verschoben werden wie beim Drachenreiter-Schach. Das ist wahr! Allerdings solltest du erkennen, dass du keine dieser Figuren bist, Rajin. Du bist der Spieler!“

Liisho lehnte sich mit dem Rücken gegen die Höhlenwand, dann erzählte er Rajin von jener Nacht, in der er sich mit seinem Drachen Ayyaam dem Ort Winterborg genähert hatte: „Die Nächte über Winterland mögen oft klar und kalt sein. Aber diese war grau und wolkenverhangen. Nur hin und wieder schimmerte das besonders intensive Licht des grünen Jademondes durch die Wolken. Ayyaam war nicht mal ein Schatten für jenen, der in dieser Nacht hoch zum Himmel geblickt hätte.

Ich hatte zuvor die Stadt ausgekundschaftet, Rajin. Den Ort – aber auch die Menschen. Ich wusste, dass es dir im Hause von Wulfgar Wulfgarssohn gut gehen würde. Aber mir war natürlich auch klar, dass dein Auffinden so unspektakulär wie möglich geschehen musste. Ein Kind mit Mandelaugen im Seereich war schon außergewöhnlich genug, und in der Tat hat es ja alle möglichen Spekulationen darüber gegeben, ob du nicht ein Fluchbringer wärst. Aber wenn jemand Ayyaam gesehen hätte, wärst du wahrscheinlich sofort ins Meer geworfen worden.

Ayyaam war von dem Flug über das kalte Land ziemlich erlahmt und konnte sich kam noch bewegen. Ich ging mit ihm jenseits der Berge runter, die sich nordwestlich von Winterborg befinden. Die letzten Meilen legte ich zu Fuß zurück. Ein Schneesturm wehte über das Land; es war eine Nacht, in der man den ärgsten Feind nicht vor die Tür jagen würde. Mit einem Zauber sandte ich Wulfgar Wulfgarssohn einen Traum, der ihn erwachen und dich finden ließ.

Du magst diese Geschichte nun glauben oder nicht – es war mir nie gleichgültig, was mit dir geschieht. Schon deshalb nicht, weil ich mich deinem Vater sehr verbunden fühlte. Kaiser Kojan war ein großer Herrscher. Einer, dem ich es zugetraut hätte, auch dem erwachenden Urdrachen Yyuum zu begegnen und das Gleichgewicht der fünf Reiche aufrechtzuerhalten. Er hatte es nicht verdient, so grausam dahingemetzelt zu werden. Und dasselbe gilt natürlich für deine Mutter, die Kaiserin, von der immer noch in den Straßen Drakors nur Gutes erzählt wird.“

Rajin sah Liisho eine Weile prüfend an. „Ich muss dir vertrauen können, Liisho. Nur darum ist es wichtig, ob in jener Nacht die Monde schienen oder nicht. Nur darum sind all diese Einzelheiten von Bedeutung.“

„Soweit ich weiß, betreibt man im Seereich eine sehr ausführliche Wetteraufzeichnung, weil man dem fragwürdigen Glauben anhängt, aus dem vergangenen Wetter das zukünftige vorhersagen zu können. Vielleicht wirst du Gelegenheit finden, in diesen Aufzeichnungen nachzuprüfen, ob man in jener Nacht die Monde sehen konnte und ich die Wahrheit spreche. Das Datum deiner Auffindung ist ja bekannt.“

„Von diesen Wetteraufzeichnungen hat mir Bratlor erzählt“, sagte Rajin. „Nicht nur die Sternenseher betreiben das, auch manche Häfen beschäftigen Wetteraufzeichner. In Borghorst oder Witborg findet man ihre Niederschriften - aber nicht in Winterborg.“ Rajin lächelte verhalten. „Der Kapitänsrat war immer mit großer Mehrheit der Auffassung, dass es wichtiger sei, das Geld für genügend Legendensänger gegen die Langeweile der endlosen Winter auszugeben und für neue Kesselhäuser, als einen Wetteraufzeichner anzustellen. Schließlich ist das Wetter in der Gegend sehr beständig, nämlich immer gleich schlecht. Und außerdem sollte man in der Seefahrt lieber auf Njordir vertrauen statt auf die Vorhersagen von Wetteraufzeichnern. Einige glaubten sogar, dass unser Meeresgott so etwas als Akt des Misstrauens gegen seine Schutzmacht ansehen und sich rächen würde. Dies sei der wahre Grund, weshalb zum Beispiel Witborg so oft von Stürmen und Fluten heimgesucht wurde.“

„Du bist unter einfältigen Narren groß geworden, wie mir scheint", sagte Liisho verschmitzt lächelnd, "aber dennoch wohlgeraten.“

Rajin erhob sich. „Ich werde mal nach Bratlor sehen.“ Mit diesen wandte er sich dem Höhlenausgang zu.

„Lass dich von seinem Misstrauen nicht vergiften!“, rief der Weise Liisho ihm nach. „Was er die ›Logik des Gedankens‹ nennt, ist in Wahrheit nur ein anders Wort für Irrtum!“

4. Kapitel:

Kampf in der Kälte

 

Rajin trat ins Freie. Jenseits des Bergrings, der Fjendurs kalte Senke umgab, schob sich die Morgensonne als glühende Kugel empor.

Aber diese Glut blieb kraftlos. Hier, in dieser Senke war auch am Tage die Macht Fjendurs größer als die der Sonne.

In einiger Entfernung sah er Bratlor auf den schwarzen Felsen zumarschieren. Der Sternenseher ging mit energischen Schritten voran.

Rajin rief seinen Namen. Bratlor drehte sich herum und winkte ihm zu, ging aber weiter. Rajin folgte ihm und setzte zu einem Dauerlauf an. Sein Atem gefror dabei zu kleinen Wolken.

Beim schwarzen Felsen wartete der Sternenseher auf ihn.

„Wie ich sehe, hast du die Gesellschaft dieses eingebildeten Alten auch nicht mehr ertragen“ sagte er.

„Er war geistig immer bei mir! Mein Leben lang“

„Wie du das ertragen konntest, ist mir ein Rätsel.“

„Liisho scheint es wirklich darum zu gehen, die Welt vor dem Verderben zu bewahren. Nur der rechtmäßige Herrscher aus der Linie Barajans kann die Drachen unter Kontrolle halten und verhindern, dass sie die Herrschaft über die Welt wieder übernehmen. Es geht Liisho nicht nur um das Schicksal Drachenias, nicht einmal nur um die Existenz der Fünf Reiche, sondern um das Schicksal aller Wesen, die außer den Drachen noch unter den fünf Monden wandeln.“

Bratlor atmete tief durch. „Er scheint dich ja ziemlich überzeugt zu haben. Aber ich gebe dir den Rat, ihm nicht zu sehr zu trauen.“

„Im Augenblick haben wir kaum eine Wahl.“

„Du meinst, wir haben keine Wahl als abzuwarten, dass sich das kosmische Tor erneut öffnet und Liishos Drache uns auf seinen Rücken steigen lässt, sodass wir zu dieser Ruinenstadt auf der Insel der Vergessenen Schatten entschweben?“

„Besser, als unseren Verfolgern in die Hände zu fallen, ist es allemal“, hielt Rajin dagegen.

Bratlor nickte leicht. „Trotzdem würde ich ihm nicht zu sehr vertrauen … Und was den Drachen und das kosmische Tor betrifft, haben wir auch noch eine andere Möglichkeit.“

„Wovon redest du?“

„Ich dachte, ich schaue mal nach unseren Riesenschneeratten. Irgendwo hinter dem schwarzen Felsen werden sie sein. Auch wenn selbst die Kraft eines Drachen kaum ausreichen dürfte, sie in die Nähe der Orakelhöhle zu zwingen, sie könnten uns vielleicht trotzdem helfen, von hier fortzukommen, falls sich die Zauberkunst von Meister Liisho als doch nicht so wirkungsvoll erweist.“

„Wenn du nach den Tieren sehen möchtest, nur zu“, sagte Rajin. „Bis zum erneuten Aufgang des Meermondes bleibt uns auf jeden Fall genügend Zeit.“

Sie umrundeten den schwarzen Felsen, erst dann machte es überhaupt Sinn, die Riesenschneeratten mit dem Pfiff einer Knochenflöte zu rufen.

Als sie um den Felsen herumtraten, lag die gesamte Südwesthälfte von Fjendurs kalter Senke vor ihnen. Aber die Riesenschneeratten waren nicht mehr dort, wo sie hätten sein sollen. Die Pflöcke, an denen die Reittiere festgebunden worden waren, bevor man zur Orakelhöhle ging, waren offenbar aus dem Boden gerissen worden; jedenfalls fehlten sie.

Dafür lagerte mitten in der Senke ein Rudel Eiswölfe. Ein besonders riesenhaftes Tier mit zotteligem grauem Fell und Reißzähnen, etwa so lang wie die Kurzschwerter, die gern von den Kapitänen des südlichen Seereichs als zusätzliche Waffe getragen wurden, zerfetzte gerade einen Kadaver. Es musste sich um eine der Riesenschneeratten handeln, doch nur noch das Sattelzeug wies darauf hin; es lag blutgetränkt einige Schritt entfernt auf dem gefrorenen Boden und war völlig zerrissen. Wahrscheinlich hatten sich einige der Eiswölfe darum gebalgt, bis sie schließlich begriffen hatten, dass es sich um nichts Fressbares handelte.

Während der graue Rieseneiswolf, der selbst für seine Art gewaltig wirkte, in aller Ruhe seine Mahlzeit fortsetzte, umlagerten ihn die anderen Mitglieder seines Rudels. Wolken aus gefrorenem Atem umwehten sie. Sie hechelten gierig, wagten aber kaum mehr als ein dumpfes Knurren, um anzudeuten, dass auch sie noch etwas von der Beute wollten.

Ungefähr hundert Schritt entfernt in Richtung des südwestlichen Teils des Bergringes, der Fjendurs kalte Senke umschloss, lag noch das, was – anscheinend - von der zweiten Riesenschneeratte übrig geblieben war: ein zerrissenes Fell und blutige Knochen. Ein paar halb ausgewachsene Jungtiere nagten daran herum. Die Älteren wussten offenbar, dass es sich mehr lohnte, darauf zu warten, dass der Rudelführer sein Mahl beendete – denn so groß der Appetit eines Eiswolfs auch sein mochten, so war ein Einzelner von ihnen auf keinen Fall dazu in der Lage, eine ganze Riesenschneeratte zu vertilgen. Und wenn man davon ausging, dass der graue Rudelführer auch schon von der ersten Beute seinen Teil abbekommen hatte, musste er eigentlich bald satt sein.

„Bei den Göttern! Das hat uns gerade noch gefehlt!“, murmelte Bratlor. „Die ganze Zeit über sind sie uns gefolgt …“

„Offenbar ist die Beute im restlichen Winterland für sie so knapp geworden, dass sie sich jetzt sogar in Fjendurs kalte Senke hineintrauen.“

Einer der gierig auf seine Gelegenheit wartenden Eiswölfe kam dem grauhaarigen Rudelführer offenbar zu nahe, denn dieser sprang auf, machte einen Satz nach vorn und ließ sein Maul zuschnappen. Der vorwitzige Eiswolf zuckte zurück, aber der graue Riesenwolf erwischte ihn noch an einem der Vorderläufe. Das Blut spritzte, und der Gebissene heulte auf. Winselnd leckte er sich die von den Zähnen seines Rudeloberhaupts aufgerissene Pfote und zog sich zurück.

Der große Graue wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu. Die Langsamkeit, die er dabei an den Tag legte, schien eine Demonstration seiner Überlegenheit zu sein. Er schlug seine Fänge in das Fleisch des Kadavers und riss ein mächtiges Stück heraus.

„Wir können nur hoffen, dass die Bestien uns noch nicht bemerkt haben“, flüsterte Bratlor. Er nahm vorsorglich seinen Bogen vom Rücken und zog einen Pfeil aus dem Köcher.

Rajin bereute sehr, seinen eigenen Bogen nicht bei sich zu haben. Schon als er zu Fuß zur Orakelhöhle aufgebrochen war, hatte er Köcher und Bogen am Sattel seiner Riesenschneeratte zurückgelassen. Sie lagen wahrscheinlich irgendwo verstreut auf dem hartgefrorenen Boden der kalten Senke, zerfetzt wie das Sattelzeug.

Möge einer dieser Monstren die Bogensehne zwischen den Zähnen stecken geblieben sein, um es in alle Ewigkeit im Hals zu kitzeln, dachte Rajin grimmig und griff zu seinem Schwert.

„Auf Fjendurs Hilfe können wir wohl kaum hoffen, nachdem wir für den Tod seines Orakels verantwortlich sind“, knurrte er grimmig.

„Meinst du das Riesenfaultier?“, fragte Bratlor erstaunt. „Ich nehme an, dass sich das einfach nur dort für die letzten Jahrhunderte eingenistet und es genossen hat, ab und zu mit Opfergaben gefüttert zu werden.“

„Dann war die ganze Sache mit dem Orakel nur Aberglaube?“

„Das halte ich für möglich. Aber jetzt sollten wir erst mal sehen, dass wir nicht zur Beute dieser eisgrauen Jäger werden“, zischte der Sternenseher. „Keine plötzliche Bewegung, bitte! Wenn wir auf einmal davonlaufen, macht sie das nur auf uns aufmerksam.“

Vorsichtig schlichen die beiden Männer zurück in Richtung des schwarzen Felsens. Er warf einen tiefen Schatten, und diese Zone der Dunkelheit würde sie vielleicht für die weißgrauen Raubtiere vorerst unsichtbar machen.

Doch es war zu spät. Eine der Kreaturen warf den Kopf herum.

Der Eiswolf hatte Bratlor und Rajin zweifellos bemerkt. Mit weit ausholenden Sätzen jagte das Untier auf die beiden zu. Die Schulterhöhe des Riesenwolfs entsprach der Größe eines besonders kräftig gebauten Seemannen. Speichel troff von den Lefzen und gefror sofort am Boden. Das dumpfe Knurren wurde lauter und verriet die ungestillte Gier.

Für den Eiswolf schien dies eine willkommene Gelegenheit, leichte Beute reißen zu können, von der er den Großteil hinunterschlingen konnte, noch ehe sein Rudeloberhaupt Gelegenheit bekam, Anspruch darauf zu erheben.

Mit geöffnetem Maul stürmte der Eiswolf heran.

Bratlor spannte den Bogen, und Rajin umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen. Falls Bratlor das Tier verfehlte, blieb nur noch die Möglichkeit, dem Monstrum die Klinge in den Leib zu stoßen, wobei es gut sein konnte, dass der massige Leib des Eiswolfes ihn – Rajin - dabei erdrückte.

Bratlor schoss seinen Pfeil ab und traf das linke Auge der Wolfskreatur. Brüllend strauchelte das Monstrum, überschlug sich und versuchte wieder aufzustehen. Blut rann über die weit geöffnete Schnauze.

Rajin spürte eine geistige Berührung – ähnlich der, wie er sie bei seinem Zusammentreffen mit dem roten Drachen gefühlt hatte.

Nur stärker.

Im ersten Augenblick dachte er, das diese Kraft von dem Wolf ausging, aber als dann der zweite Pfeil den Eiswolf traf und sich durch dessen Kehle bohrte, erkannte Rajin, dass dies ein Irrtum sein musste. Der Eiswolf brüllte noch einmal auf, dann sank sein Kopf zur Seite. Spätestens da hätte auch die geistige Kraft verlöschen müssen, deren Anwesenheit Rajin spürte. Aber dem war nicht so.

„Lauf, Rajin!“, rief Bratlor mit Blick auf das restliche Eiswolfrudel. Inzwischen waren etliche der Bestien auf Rajin und Bratlor aufmerksam geworden. Manche schienen noch abzuwarten, ob es sich vielleicht doch eher lohnte, sich über die gerissene Riesenschneeratte herzumachen, sobald der Leitwolf seine Aufmerksamkeit der neuen Beute zuwandte.

Der setzte die Vorderläufe auf den Kadaver der Beute, sodass er noch größer wirkte und die Lage noch besser zu überschauen vermochte. Sein Blick war auf das Geschehen am schwarzen Felsen gerichtet.

Drei der Riesenwölfe hatten sich entschieden. Sie näherten sich in drohender geduckter Haltung dem schwarzen Felsen. Einige weitere folgten ihnen.

Bratlor trat vorsichtig zu dem toten Eiswolf und zog ihm den Pfeil aus dem Auge. Dann warf er Rajin wieder einen gehetzten Blick über die Schulter zu. „Los, verschwinde schon! Mit etwas Glück gelingt es mir, die Meute lange genug aufzuhalten, dass du zur Orakelhöhle gelangen kannst! Meister Liisho soll sich irgendein Zauberkunststück ausdenken, um mich noch zu retten!“ Und leiser fügte er hinzu: „Davon werde ich dann wohl nicht mehr viel mitbekommen …“

Aber Rajin wirkte wie erstarrt. Er rührte sich nicht, sondern starrte zum Horizont.

„Sie kommen …“, murmelte er.

„Natürlich! Und deswegen …“

„Die Drachen! Eine ganze Armada!“, rief Rajin. „Ich spüre sie so deutlich, als wären sie bereits über die Berge!“ Er deutete mit dem Schwert zum Horizont und blinzelte. Hoben sich dort nicht bereits winzige schwarze Punkte gegen die glutrote Sonnenscheibe ab?

Das mussten sie sein. Liisho hatte recht gehabt. Die Feinde waren ihm viel dichter auf den Fersen, als er bisher geglaubt hatte. Und noch etwas anders beunruhigte ihn. Was bedeutete das Auftauchen der herannahenden Drachen-Armada für die Bewohner Winterborgs, wo sie zweifellos zuerst nach ihm gesucht hatten.

Rajin atmete tief die kalte Luft ein. Er spürte aus der Masse der sich nähernden geflügelten Bestien eine Drachenseele heraus, die ihm auf seltsame Weise vertraut vorkam. Nur für einen kurzen Moment berührte sie ihn geistig, dann wurde sie wieder eins mit den Kräften all jener Drachen, die sich der Senke Fjendurs näherten.

Es ist der Schwarz-Gelbe!, erkannte Rajin.

Er zweifelte nicht einen einzigen Augenblick daran, dass ihn das Monstrum umgekehrt ebenfalls erkannt hatte …

 

 

Ein drohendes Knurren ließ Rajin zusammenfahren.

Die Eiswölfe hatten sich bis auf wenige Dutzend Schritt genähert. Doch nun zögerten sie. Offenbar wirkte der Tod ihres Artgenossen wie eine Warnung auf sie, sodass sie sich noch zurückhielten und einen Angriff scheuten.

Bratlor hatte einen der Pfeile, die er aus dem Kadaver gezogen hatte, wieder auf die Sehne gelegt. Schließlich musste er sparsam damit sein. Das Eiswolfblut hatte die Spitze und gut ein Drittel des Schafts rot gefärbt.

Wieder warf der Sterneseher seinem jungen Freund Rajin einen Blick über die Schulter zu. „Du Narr, warum bist du nicht gelaufen?“, fragte er grimmig. „Dann hättest wenigstens du dich retten können – und falls dieser spitzbärtige Drachenmeister nicht doch nur ein fantasierender Narr ist, wäre dies für das Schicksal der gesamten Welt doch nur von Vorteil!“

Der Zynismus in seinen letzten Worten war nicht zu überhören. Mit seiner grimmigen Ironie brachte er zum Ausdruck, wie wenig er den Worten des Weisen Liishos traute.

„Ich werde dich nicht hier allein deinem Schicksal überlassen!“, entgegnete Rajin.

„Jetzt ist es jedenfalls zu spät, um fortzulaufen“, stellte Bratlor fest.

Einer der Eiswölfe wagte sich etwas weiter vor, während die anderen zunächst einfach abwarteten, was geschah. Das Tier knurrte und fletschte die Zähne. Bratlor und Rajin konnten den aasigen Atem, der aus dem Schlund der Bestie drang, selbst aus der Entfernung riechen.

Rajin hielt den Griff seines Schwerts mit beiden Händen und wich gemeinsam mit Bratlor ein Stück weiter zurück auf den schwarzen Felsen zu.

Kaum ein Dutzend Schritte lagen noch zwischen ihnen und dem gewaltigen, aus dem Eis ragenden Monolithen, der in Wahrheit Teil eines kosmischen Tores war.

Dann schnellte der Eiswolf plötzlich vor, erreichte seinen toten Artgenossen, hielt an, legte die Pranken auf den Kadaver und schnüffelte daran.

Aus den mannigfachen Erzählungen, die von den Legendensängern über die Eiswölfe verbreitet wurden, wusste Rajin, dass sie sich bisweilen auch gegenseitig fraßen und dass es kaum je vorgekommen war, dass sie den Kadaver einem der ihren einer anderen Kreatur überlassen hätten.

Auch dieser Eiswolf schlug seine Fangzähne in den Leib seines von Bratlor hingestreckten Artgenossen. Er riss ein großes Stück Fleisch heraus und würgte es schmatzend herunter.

Ein paar der anderen Wölfe waren sofort da und folgten seinem Beispiel. Die übrigen jedoch erkannten schnell, dass für sie im Moment keine Möglichkeit bestand, an das Aas heranzukommen, und so wandten sie sich sofort wieder Rajin und Bratlor zu, die sich vorsichtig immer weiter zurückzogen, bis sie den senkrecht aufragenden schwarzen Monolithen im Rücken hatten.

Drei Eiswölfe machten sich am Kadaver zu schaffen, ein vierter wurde mit einer Beißattacke davongejagt, während die anderen Bratlor und Rajin erneut einkreisten, diesmal in einem Halbkreis, denn die beiden Menschen hatten ja den schwarzen Felsen im Rücken. Knurrend und zähnefletschend kamen die grauen Bestien bis auf wenige Schritte heran.

„Du hast doch den roten Drachen mit deinen inneren Kräften besiegt“, keuchte Bratlor. „Kannst du etwas Ähnliches nicht auch mit diesen Viechern hier anstellen?“

„Ich wüsste nicht wie“, gestand Rajin.

„Es reicht ja schon, wenn du sie vertreibst!“

„Aber ich spüre nichts.“

„Heißt das, sie haben keine Seelen?“

„Die mögen sie haben, nur kann ich sie nicht erkennen …“

Der erste Eiswolf griff an. Bratlor blieb nichts anderes übrig, als seinen Pfeil abzuschießen – in der Gewissheit, dass er nicht schnell genug einen weiteren Pfeil auf die Sehne bringen konnte und sie verloren waren, wenn die anderen Bestien im nächsten Moment angriffen.

Das Geschoss jagte in das weit aufgerissene Maul des Wolfes. Ein Meisterschuss, denn die Pfeilspitze drang durch den Gaumen des Tiers in dessen Hirn und tötete es sofort. Die Wucht, mit der sein ebenso massiger wie muskulöser Körper gesprungen war, schleuderte den Wolf gegen den Felsen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als die bereits tote Kreatur mit dem Kopf gegen den Stein prallte.

Kurz vorher sprangen Bratlor und Rajin auseinander, um dem Körper des Eiswolfs auszuweichen, der sie sonst unter sich begraben hätte.

Ein weiterer Eiswolf stürzte sich bereits auf Rajin. Dieser ließ das Schwert durch die Luft wirbeln und schlug mit der Kraft purer Verzweiflung nach seinem Gegner, traf dessen Hals, und der Wolf zuckte zurück, während Blut aus seiner aufgeschnittenen Kehle sprudelte. Dann brach der Eiswolf zusammen. Ein halb röchelnder, halb gurgelnder Laut war das Letzte, was zwischen den mörderischen Fangzähnen hervordrang.

Die Wucht des eigenen Schlags ließ Rajin taumeln. Er strauchelte zu Boden, rollte sich um die eigene Achse, die Hände um den Griff seines Anderthalbhänders geklammert.

Doch der nächste Angreifer war bereits über ihm. Rajin sah nur noch gefletschte Zähne in einem gierigen Rachen und zwei Pranken, deren Hieb ausgereicht hätte, um selbst den härtesten Seemannenkrieger sofort zu töten. Aasiger Wolfsatem streifte ihn.

Rajin riss die Waffe hoch und richtete die Schwertspitze gegen den Gegner, während gleichzeitig einer von Bratlors Pfeilen durch die Luft sirrte und den Angreifer traf. Der Pfeil bohrte sich knapp unterhalb des Halsansatzes in den Körper des Monstrums, was aber keineswegs ausreichte, um es zu töten.

Blut spritzte hervor. Der Eiswolf brüllte wütend auf, und Rajin nutzte den Moment, da die Bestie von dem Pfeiltreffer abgelenkt war, um wieder auf die Beine zu kommen. Mit beiden Händen fasste er das Schwert und stieß die Klinge tief in den Wolfsleib hinein.

Er riss den bluttriefenden Feuerheimer Stahl wieder hervor, stieß erneut zu, und dann schlug er wie in einem Zustand blutiger Raserei mit dem Schwert um sich.

Das Knurren der Eiswölfe war zu einem ohrenbetäubenden Chor angeschwollen. Doch dieser Lärm wurde von etwas übertönt, das mächtiger und durchdringender war als alles andere.

Es war der dröhnende Schrei eines Drachen.

 

5. Kapitel:

Von Drachen und Göttern

 

Der dunkle Schatten riesiger Drachenschwingen hob sich gegen das rote Sonnenlicht ab. Die Drachenarmada schwebte über den Gebirgsring, der die kalte Senke Fjendurs umschloss. Dutzende von Kampfdrachen bildeten die Vorhut. Ihnen folgten die Gondelträger.

Der ganzen Armada voraus flog der schwarz-gelbe Drache, dem Rajin schon in Winterborg begegnet war und der es vorgezogen hatte zu flüchten, anstatt gegen ihn zu kämpfen. Er flog vor dem Drachenpulk her, ließ seine Flugbahn mal nach rechts und mal nach links schwenken und stieß einen dröhnenden Ruf nach dem anderen aus.

Ein Triumphgeheul!, dachte Rajin, der die Drachenarmada beobachtete. Triumph darüber, dass er mich gefunden hat. Wer auch immer ihn dazu abrichtete, er wird jetzt ebenfalls triumphieren!

Die Eiswölfe, die sich gerade noch angeschickt hatten, Rajin und Bratlor anzugreifen, blickten winselnd zum Himmel empor und zogen sich dann ängstlich zurück.

Der Schwarz-Gelbe näherte sich auf einer kreisenden Flugbahn. Er war der Armada weit vorausgeeilt, kehrte dann ein stückweit zurück, nur um anschließend noch weiter vorzupreschen.

Flammen züngelten aus seinem Maul hervor. Rajin fühlte erneut die geistige Berührung mit der inneren Kraft dieser Kreatur. Sie übte einen unangenehmen Druck auf ihn aus.

Nein, du wirst mich nicht in Furcht versetzen, denn in dir ist mindestens so viel Furcht vor mir, wie ich vor dir haben sollte!, dachte Rajin grimmig, während er seine innere Kraft zu sammeln versuchte.

Die Eiswölfe hatten sich mittlerweile um ihren Leitwolf geschart. Der große Graue knurrte nur sehr verhalten, so als wollte er seinem Rudel beweisen, wie mutig er war.

Der Schwarz-Gelbe kam im Tiefflug näher und strebte geradewegs auf Rajin und Bratlor zu. Als er tief über die Eiswölfe hinwegstrich, pressten sich die riesenhaften Bestien dicht an den gefrorenen Boden, und selbst der graue Leitwolf stieß nun winselnde Laute aus.

Der Schwarz-Gelbe blies einen Flammenstrahl aus dem Maul und sengte damit im Flug über die Eiswölfe hinweg. Einige der Vierbeiner wurden davon erfasst, manche davon zu Haufen aus Asche und verkohlten Knochen verbrannt, andere stoben mit brennendem Fell davon, lebenden Fackeln gleich.

Dann hatte der Schwarz-Gelbe Rajin und Bratlor erreicht. Er riss das Maul weit auf, sog Luft in sich hinein und würde im nächsten Moment einen neuerlichen Feuerstrahl hinaus in die Kälte blasen. Rajin sammelte alles, was an innerer Kraft in ihm vorhanden war, um sie zu bündeln, so wie er es beim roten Drachen geschafft hatte.

Jetzt!, dachte er. Ein Gedanke wie ein Pfeil. Die gebündelte innere Kraft war wie eine der Explosionen, die die Herren Feuerheims mit ihrer einzigartigen Kunst der Feuerbeherrschung auszulösen vermochten. Rajin hatte diese Explosionen nie selbst mit eigenen Augen gesehen, aber Liisho hatte sie ihm in Gedanken gezeigt, und wenn das, was der Weise ihm hinsichtlich dessen in die Seele gepflanzt hatte, nicht lediglich ein wirres Konglomerat aus beeindruckenden Trugbildern war, so waren diese Ausbrüche purer Feuerkraft ein gutes Bild für das, was Rajin mit seiner inneren Kraft zu tun beabsichtigte. Ein Bild, das ihm half, jene Kräfte, die er in sich gesammelt hatte, auf einen Punkt zu richten.

Der Drache wandte wie unter Zwang den Kopf auf seinem langen Hals zur Seite. Der Feuerstrahl schoss aus dem Maul, züngelte aber in eine andere Richtung als beabsichtigt; er sengte über den schwarzen Felsen, auf dessen Oberfläche sich jedoch keinerlei Spuren des Feuers zeigten. Gleichzeitig vollführte der Drache mit seinen Schwingen unruhige, flatternde Bewegungen, mit denen er sich in der Luft zu halten versuchte, nachdem ihn der Seitwärtsschwenk seines Kopfes offenbar aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Bratlor schoss einen Pfeil ab, der die Lederhaut an einer der Schwingen des Drachen aufriss, sie durchstieß und der Kreatur dann in die Brust drang.

Blitzschnell folgte ein zweiter Pfeil, der sich in den Hals des Ungeheuers bohrte. Der Drache stieß dröhnende, ohrenbetäubende Laute aus und fiel zu Boden.

Wie eine gewaltige Peitsche schnellte der mit Stacheln bewehrte Schwanz ziellos durch die Luft und schlug gegen den schwarzen Felsen; der verwundete Drache wand sich und brüllte wie von Sinnen. Ein weiterer von Bratlors Pfeilen bohrte sich seitlich in den Kopf des Ungetüms.

Da erst erschlaffte die Kreatur. Ein letzter stoßartiger und feuriger Atemzug ließ das Bodeneis auf einer Länge von drei Schritten schmelzen. Eine morastige Brühe bildete sich, allerdings nur für Augenblicke, dann gefror der Boden gleich wieder.

Rajin blickte zu der nachfolgenden Drachen-Armada.

„Der Schwarz-Gelbe hat mich erkannt!“, stieß er hervor. „Und wer immer ihn kontrollierte und mit ihm in Verbindung stand – er weiß jetzt, dass ich hier bin!“

„Ja“, rief Bratlor erregt, „und deshalb bleibt uns nichts anders übrig, als zu rennen und dabei zu den Göttern zu beten, dass wir die Orakelhöhle eher erreichen, als der Feuerstrahl eines Kriegsdrachen uns verbrennt!“

Rajin zögerte noch. Er sah die Eiswölfe in heilloser Flucht davonhecheln - und zwischen ihnen auf einmal die nur als Umriss erkennbare, durchscheinende Gestalt eines Vermummten, der in die entgegengesetzte Richtung lief. Im nächsten Moment war die Erscheinung verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschluckt.

„Fjendur …“, murmelte Rajin. Als Vermummter, die Kapuze seines Mantels weit über den mit Tüchern und Bandagen umwickelten Kopf gezogen – so wurde der Gott der Kälte auf unzähligen Wandgemälden dargestellt, die mit gefärbtem brennendem Tran aufgetragen wurden. Und so beschrieben ihn auch die uralten Lieder der Legendensänger. Diese Senke war Fjendurs Reich, und vielleicht fühlte sich der Gott des Eises inzwischen doch in seiner Ruhe gestört.

„Komm endlich!“, hörte Rajin seinen älteren Freund Bratlor rufen, und da wirbelte er herum und nahm die Beine in die Hand. Sie umrundeten den schwarzen Felsen, und mit jedem kaltem Atemzug, den Rajin in sich hineinsog, glaubte er, innerlich zu erfrieren. So als ob die kalte Macht Fjendurs ihn völlig durchdrang.

„Denk nicht darüber nach, ob wir entkommen können, sondern lauf einfach!“, keuchte Bratlor. „Verkriechen können wir uns doch nirgendwo!“

Rajins Blick folgte der langen Reihe von Steinen, die den Weg zwischen dem schwarzen Felsen und dem Eingang der Orakelhöhle markierte – und gleichzeitig auch den Verlauf des kosmischen Tores, wenn es sich öffnete.

Und wieder sah Rajin für den Bruchteil eines Augenaufschlags den Vermummten, eingehüllt in einen Kapuzenmantel und den Kopf mit Tüchern und Bandagen umwinkelt. Eine durchscheinende Gestalt – viel größer als ein Mensch. So hoch wie der Mast eines mittleren seemannischen Schiffes, mit dem man schon auf die Seemammutjagd gehen konnte, ragte die Gestalt in den bläulich schimmernden Himmel. Doch noch ehe Rajin sie richtig erkannt hatte, war sie auch schon wieder verschwunden.

Der Eindruck eines Augenblicks, von dem man nicht sagen konnte, ob er sich tatsächlich ereignet hatte oder nur Einbildung gewesen war.

„Was ist los, Rajin?“, schrie Bratlor seinen Gefährten an, weil dieser mit einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht stehen geblieben war.

„Hast du ihn nicht gesehen?“, fragte Rajin fassungslos.

„Wen?“

„Den Vermummten …“ Rajin streckte den Arm aus. „Er war dort!“

„Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber ich sage dir, was da schon sehr bald hinter dem schwarzen Felsen auftauchen wird: Eine Horde feuerspeiender Drachen und ihre nicht weniger blutrünstigen Reiter!“

Dann stockte auch Bratlor, denn auf einmal leuchtete das Juwel über dem Eingang zur Orakelhöhle grell auf. Gleichzeitig wurden plötzlich die Steine, die jene Linie zwischen Orakelhöhle und schwarzem Felsen bildeten, jeweils von einem bläulich schimmernden Lichtflor umgeben, dessen Leuchtkraft für einige Augenblicke stetig zunahm.

Doch dann verloschen die Lichter allesamt, von einem Moment zum anderen. Wie Seemammut-Tranfunzeln, die der Sturm ausgeblasen hatte.

„Das muss dein Freund, dieser Liisho sein!“, keuchte Bratlor. „Ich wette, er unternimmt gerade in der Höhle irgendwelche Experimente, um das Tor vielleicht auch ohne das Licht des Meermonds zu öffnen. Ich hoffe nur, dass er weiß, was er tut!“

Rajin und Bratlor wirbelten wieder herum, liefen weiter, und als sie auf halbem Weg zwischen dem schwarzen Felsen und dem Eingang zur Orakelhöhle waren, donnerte das Brüllen der Drachen in die Senke und wurde als Echo zwischen den Hängen hin und her geworfen.

Das erste dieser Ungeheuer flog in einer gewundenen Linie um den schwarzen Felsen herum. Es war ein gewöhnlicher Kampfdrache, nur unwesentlich größer als der Schwarz-Gelbe.

Dort, wo der Drachenreiter-Samurai in seinem Sattel saß, hatte man ihm nach drachenischer Art die Rückenstacheln auf einer Länge von zwei bis drei Schritt abgesägt.

Der Samurai trug eine drachenische Klinge am Gürtel, die – wie Rajin aus seinen Träumen wusste – eher ein Symbol seines Standes war. Normalerweise kam ein Drachenreiter-Samurai kaum dazu, sie jemals einzusetzen, denn seine mächtigste Waffe war der Drache selbst. In der Rechten hielt er den Drachenstab, den er zwischen die Rückenschuppen stieß, um bestimmte, sehr empfindsame Punkte zu berühren. Ein Werkzeug, um die innere Kraft des Drachenreiter-Samurai zu bündeln und zu lenken - so hatte Meister Liisho in seinen Traumbotschaften hinsichtlich der Wirkungsweise dieses Stabes erzählt. Aber jeder Drachenstab und die Kunst eines jeden Drachenreiter-Samurai wären wirkungslos gewesen, würden die drei Drachenringe Barajans, die das ererbte Eigentum des Drachenkaisers waren, nicht den Bann aufrechterhalten.

Rajin hatte den diesbezüglichen Ausführungen Liishos früher nie eine besondere Bedeutung beigemessen, denn er hatte sie mit nichts in Verbindung bringen können, was in seinem Leben eine Rolle spielte. Wie fern waren einem Jungen, der unbedingt mit den Seemammutjägern auf das Meer hinausfahren wollte, all diese Eindrücke und Traumbilder erschienen.

Aber auf einmal waren diese anfangs gleichermaßen rätselhaften wie unnütz erscheinenden Dinge von Bedeutung. All das Wissen, das der Weise Liisho in ihn gepflanzt hatte, tauchte aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervor, wo Rajin es für Jahre begraben hatte.

Er sah dem Drachen entgegen. Sein Blick begegnete dem der ihn anstierenden Drachenaugen, die so voller Hass, voller Wut und von unterdrückter Kraft waren. Einer Kraft, die stark genug gewesen war, die Welt im Ersten Äon völlig umzugestalten, wie es in den Legenden hieß - sie aufzureißen und das glühende Feuergestein aus ihrem Inneren fließen zu lassen, das nur der Ozean hatte löschen können, sodass sich Land und Meere neu bildeten.

Schaudern erfasste Rajin bei dem Gedanken an das, was Liisho ihm von der Macht des Urdrachen berichtet hatte, dass sich die gesamte Drachenheit womöglich erheben und sich die Zeit des Ersten Äons wiederholen konnte. Eine Zeit des Chaos und der Vernichtung würde anbrechen. Eine Zeit, die wohl kein Mensch überleben würde, es sei denn, es gelang ihm, durch eines der kosmischen Tore in eine andere Welt zu entschwinden.

Glutrote Flammen schossen aus dem weit aufgerissenen Maul des Drachen; gleichzeitig schien das gesamte Untier förmlich zu dampfen. Der dröhnende, den Erdboden erzittern lassende Laut, der aus der Tiefe seiner Drachenkehle drang, schien ein einziges Aufbegehren gegen die kalte Umgebung zu sein, in der sich kein Drache wohl zu fühlen vermochte. Die Legendensänger der Seemannen erzählten in ihren Liedern davon, dass die Drachen Fjendur als ihren Feind betrachteten, dass eisiger Wind sie lähmte und sie mit ihrem Feueratem dagegen anbliesen, wenn es sie widrigerweise doch einmal in die kalten Gestade verschlug.

Kampfstark waren sie dennoch. Unüberwindlich für Normalsterbliche – zumindest wenn sie in so großer Zahl auftauchten, wie Rajin sie am Horizont gesehen hatte.

Er versuchte, seine innere Kraft auf den Geist des Drachen zu richten. War es ihm nicht bereits zwei Mal gelungen, den Willen eines Drachen wenn schon nicht zu brechen, so doch derart zu beeinflussen, dass sich dadurch die Gelegenheit ergeben hatte, ihn zu vernichten?

Aber dies war der erste gezähmte Drache, dem er begegnete, und Rajin hatte keine Ahnung, ob es ihm auch gelingen konnte, eine Kreatur zu manipulieren, die bereits unter einem sehr beherrschenden Einfluss stand – dem ihres Reiters.

Der Drache raste im zielgerichteten Sinkflug auf die beiden Gefährten zu.

Bratlor spannte den Bogen. Sein Pfeil pfiff durch die eiskalte Luft. Einen zweiten schickte er hinterher – und beide trafen ihr Ziel. Der erste nagelte dem Drachenreiter-Samurai mitten in die Stirn, der zweite traf ihn in die Brust.

Der Drachenstab entglitt seiner Rechten, der Samurai rutschte aus dem Sattel, und sein Körper schlug mit einem dumpfen Laut auf den hartgefrorenen Boden, während sich der Drache in der Luft wand und dabei mit den Flügeln und dem stachelbewehrten Schwanz um sich schlug. Der mörderische Flammenstoß, mit dem eigentlich die beiden Gefährten hatten versengt werden sollen, ging ins Leere. Die Hitze konnte Rajin noch so deutlich spüren, als hätte er sich nahe an das Feuer eines der Kesselhäuser von Winterborg begeben, in denen das Seemammutfleisch herausgekocht wurde.

Der Drache flog tief über sie hinweg, während sich Rajin und Bratlor zu Boden warfen. Der Schwanz peitschte dicht neben sie in das Eis und hinterließ eine knöcheltiefe Spur.

Rajin blickte auf. Das Gebrüll weiterer Kriegsdrachen war zu hören, die gerade den Felsen umrundeten oder über ihn hinwegflogen.

In einer Entfernung von zwanzig, dreißig Schritt sah Rajin den Drachenreiter-Samurai, den Bratlors Pfeile niedergestreckt hatten, in seltsam verrenkter Haltung am Boden liegen. Rajin schnellte hoch, ließ aber seinen Anderthalbhänder liegen; die schwere Waffe hätte ihn nur behindert. Er rannte los, während sich der reiterlose Drache zunächst in Richtung Orakelhöhle entfernte und dort wild mit den Flügeln schlug. Es gelang ihm, seinen Flug zu beruhigen, wieder Kontrolle über sich selbst zu erlangen, dann zog er einen Bogen und kehrte zurück.

Rajin hatte unterdessen die Leiche des Drachenreiter-Samurai erreicht. Er riss das verhältnismäßig leichte, etwas gebogene drachenische Schwert samt der dazugehörigen Lederscheide an sich und steckte es hinter seinen eigenen Gürtel. Dann griff er nach dem rohrförmigen, armlangen Drachenstab.

Dieses Exemplar war weitaus kunstvoller gefertigt als jenes, das er im Besitz von Meister Liisho gesehen hatte. Kolonnen von drachenischen Schriftzeichen waren in das Metall eingraviert – ein Metall, das sich trotz der eisigen Kälte, die in der Senke Fjendurs herrschte, angenehm warm anfühlte. So als würde eine Kraft darin wohnen, die es aufheizte. Nichts anderes als die Geisteskraft eines Drachenreiter-Samurai konnte dies bewirken, wusste Rajin, vielleicht unterstützt durch die zahlreichen Zaubersprüche, die auf der Außenseite des Stabes eingraviert waren. Liisho hatte Rajin in seinen Traumbegegnungen zwar die Kunst der drachenischen Schrift gelehrt, aber Rajin hatte dennoch Schwierigkeiten, die Sprüche fließend zu lesen, was an der Verwendung von teilweise sehr verschnörkelten und von der Standardform des jeweiligen Zeichens abweichenden Ligaturen lag.

Rajin blickte nur kurz in Richtung des schwarzen Felsens und wandte sich dann dem reiterlosen Drachen zu. Dieser schwebte in seine Richtung, unschlüssig, unentschlossen und längst nicht von dem gleichen unbändigen Tötungswillen erfüllt wie sein wilder schwarz-gelber Artgenosse.

Eine Hand legte Rajin instinktiv um den Griff des Schwertes, doch ihm war klar, dass ihm diese Waffe nur wenig helfen würde. Weder gegen das einzelne herrenlose Ungetüm noch gegen die heranrückenden Drachenreiter.

Der Stab war es, auf den es ankam.

Nein, dachte Rajin, nicht der Stab! Er selbst war es, auf dessen Kräfte er vertrauen musste. Kräfte, die der Stab zu bündeln vermochte …

Rajin richtete den Stab auf den reiterlosen Drachen.

Alles, was an Wissen in dich hineingepflanzt wurde, musst du nun einsetzen. Wenn es je einen Sinn gehabt haben soll, was Liisho tat, als er dich als Säugling aus dem brennenden Palast von Drakor rettete, dann musst du jetzt anwenden, was man dich gelehrt hat …

Rajin murmelte Worte vor sich hin. Worte in alt-drachenischer Sprache. Sie waren plötzlich in ihm und sprudelten wie von selbst über seine Lippen. Formeln mit Zaubermacht, so glaubten vielleicht die Bauern und Fischer des drachenischen Altlandes. Aber in Wahrheit halfen sie dem Drachenreiter nur, seine innere Kraft zu sammeln und den Willen des Drachen zu bezwingen.

Der reiterlose Drache brüllte wütend, so als wollte er dagegen protestieren, diesen Fremden als seinen neuen Herrn zu akzeptieren. Aber zweifellos spürte er dessen innere Kraft – so wie Rajin den mächtigen Drachengeist spürte –, geknebelt durch die unsichtbaren Bande, die seit den Tagen Barajans die Drachen versklavten und deren Symbol die drei Drachenringe waren. Das laute Brüllen des Drachen wurde zu einem dumpfen Knurren. Anstatt eines Feuerstrahls quoll nur weißer Dampf aus seinem Maul.

Diene mir!

Ein unterdrücktes Gurgeln erscholl, so als wollte der Drache etwas herauswürgen und war doch gezwungen, es herunterzuschlucken. Er landete unmittelbar vor Rajin und senkte den Kopf.

Ich habe keine Furcht vor dir – umgekehrt aber solltest du mich fürchten, Drache! Denn ich bin dein Herr und Kaiser! Der Nachfolger Barajans! Der Sohn von Kojan und Minjanée, dem Kaiserpaar, dessen Meuchlern du dientest – du und dein Drachenreiter-Samurai, den das Schicksal bereits gestraft hat!

Ein Laut, der an das Winseln der fliehenden Eiswölfe erinnerte, drang zwischen den Zähnen des fast geschlossenen Drachenmauls hervor.

„Dein Name, Drache!“, forderte Rajin.

Ein Gedanke antwortete ihm.

Shiiyyoom …

„So gehorche, Shiiyyoom!“

Rajin rannte auf den mächtigen Koloss zu. Jeden noch so kleinen Anflug von Furcht musste er unterdrücken, denn er ahnte, dass der Drache dies sofort zu erkennen vermochte. Über das linke Vorderbein stieg er auf den Rücken des Drachen. An den Seiten waren die Schuppen zu handgroßen Hornplatten verhärtet. Die Lücken dazwischen waren wie Fugen in einem sehr groben Mauerwerk und so tief, dass man beim hinaufklettern hervorragend darin Halt fand. Rajin war überrascht, wie leicht ihm diese Bewegungsabläufe fielen, die er nie zuvor in seinem Leben tatsächlich ausgeführt hatte.

Augenblicke später saß er im Sattel eines Drachenreiter-Samurai.

Er winkte Bratlor zu. „Los, komm schon!“, rief er und versuchte dabei den Lärm der sich nähernden Drachen zu übertönen.

Bratlor nahm Rajins Anderthalbhänder vom Boden auf, steckte sich die Waffe hinter den Gürtel und rannte auf den Drachen zu. Um die Hände frei zu haben, verstaute er den Bogen im Köcher und kletterte dann auf den Drachenrücken. Shiiyyoom wurde unruhig, aber Rajin berührte mit dem Drachenstab des gefallenen Samurai eine ganz bestimmte Stelle im Schuppenmuster des Giganten. Meine Willenskraft fließe durch diesen Stab, und es sei dir nicht geraten, dich dagegen aufzulehnen!

Dieser Gedanke schoss Rajin durch den Kopf, während Bratlor zu ihm hinaufkletterte und sich hinter ihn in den Sattel setzte.

„Ich hoffe nur, du gebietest auch wirklich über dieses Monstrum – sonst wird das ein ziemlich unruhiger Ritt!“, raunte ihm der Sternenseher von hinten ins Ohr. Er zog Rajins Anderthalbhänder hervor und steckte ihn in die Lederscheide, die der junge Mann - ebenso wie Bratlor selbst – auf dem Rücken gegürtet trug. Dann griff Bratlor zum Bogen und legte einen Pfeil ein, denn schon umschwirrten mehrere Kriegsdrachen den noch immer am Boden kauernden Shiiyyoom.

Rajin murmelte eine der Drachenreiter-Formeln in alt-drachenischer Sprache, um seine innere Kraft zu sammeln. Ich muss dem Wissen, das in mich gepflanzt wurde, vertrauen! Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Er drückte den Drachenreiter-Stab weiterhin zwischen die hornigen Schuppen, und Drache Shiiyyoom hob die Flügel und stieß sich mit den Beinen vom Boden ab. Rajin spürte den Geist des Drachen auf ähnliche Weise, wie es bei dem Schwarz-Gelben der Fall gewesen war – oder bei dem roten Drachen, den er in Winterborg besiegt hatte. Nur, dass er jetzt stark genug war, um den Drachen zu beherrschen. Ob der Unterschied nun darin begründet lag, dass er einen Drachenstab und die alt-drachenischen Formeln zur inneren Sammlung benutzte, oder in der Tatsache, dass es sich um einen gezähmten und keinen wilden Drachen handelte, vermochte Rajin nicht zu beurteilen. Er würde den Weisen Liisho danach fragen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab.

Der Drachen erhob sich, und es war deutlich, dass die ihn umkreisenden Kriegsdrachen keinerlei Scheu haben würden, ihresgleichen anzugreifen, auch wenn es sie zweifellos im ersten Moment verwirrte, dass Shiiyyoom von einem Feind geritten wurde.

Ein Feuerstrahl züngelte aus einem der Drachenmäuler. Shiiyyoom wich zur Seite, und so erreichten die Flammen weder ihn noch Rajin und Bratlor. Außerdem dämpfte die feuchte Kälte in Fjendurs Senke zweifellos auch die Kraft der Drachenfeuer. Shiiyyoom brüllte auf – und Bratlor schoss einen Pfeil ab, mit dem er einen der Drachenreiter-Samurai aus dem Sattel holte. Fast gleichzeitig betätigte einer der kaiserlichen Drachenreiter seine Armbrust, die so konstruiert war, dass man damit einhändig schießen konnte, ohne den Drachenstab loslassen zu müssen.

Der Bolzen ging dicht über Rajins Kopf hinweg. Ein Nachladen während des Gefechts war natürlich nicht möglich. In dieser Hinsicht war Bratlor im Vorteil, der wieder einen Pfeil einlegte und zuerst den Armbrustschützen und mit dem nächsten Schuss dessen Drachen traf.

Vorwärts!, gab Rajins seinen durch den Drachenstab verstärkten Gedankenbefehl an Shiiyyoom. Vorwärts …!

Der Drache gehorchte, doch Rajin spürte durchaus den Widerwillen der gewaltigen Kreatur. Aber sie tat letztlich, was er von ihr verlangte. Shiiyyoom schnellte nach vorn und brach aus dem Ring der Angreifer aus. Bratlor sandte den Angreifern Pfeil um Pfeil, bis nur noch zwei davon in seinem Köcher waren.

Mit den Flügeln wild um sich schlagend und den stacheligen Schwanz auf- und niederpeitschend, strebte Shiiyyoom auf den Eingang der Orakelhöhle zu.

Während Rajin ganz darauf konzentriert war, den Kriegsdrachen unter seinem Einfluss zu halten und dabei den Drachenstab mit beiden Händen umklammerte, warf Bratlor Sternenseher einen Blick zurück. Den vorletzten Pfeil hatte er inzwischen auf die Sehne seines Bogens gelegt, aber noch nicht abgeschossen.

Einige der angreifenden Monstren waren orientierungslos, weil sie ihren Reiter verloren hatten. Aber auch die anderen Kriegsdrachen schienen sich langsamer zu bewegen, und ihre Reiter hatten mehr und mehr Schwierigkeiten, sie voranzutreiben. Eine seltsame Lähmung breitete sich unter den geflügelten Bestien aus und raubte ihnen auf einmal die Kraft.

Inzwischen hatten die ersten Gondelträger-Drachen den schwarzen Felsen hinter sich gelassen. Hinter den Schießscharten warteten Dutzende von Armbrustschützen auf ihren Schießbefehl. Gegen die tief dröhnenden Laute dieser gigantischen Riesen wirkten die durchdringenden Schreie der einfachen Reitdrachen schon fast wie leises Gesäusel.

Doch noch etwas anders fiel Bratlor auf: Überall im nordwestlichen Teil der Senke stieg Nebel vom Boden empor. In dichten weißen Schwaden waberten sie daher und wirkten dabei wie ein einziges vielarmiges, amorphes Ungeheuer, dessen sich ständig verändernde Auswüchse in die Höhe griffen.

Nach den Drachen …

„Sieh nur!“, rief Bratlor.

Zunächst hatte es Rajin seiner eigenen Stärke zugeschrieben, Shiiyyoom nun vollkommen unter seiner geistigen Kontrolle zu haben. Nun aber wurde ihm schlagartig klar, dass auch Shiiyyoom immer schwächer wurde. Der Schlag seiner Flügel wurde langsamer, die Kraft seines Geistes spürte Rajin förmlich dahinschwinden – und genauso schien es auch den Drachen der Kriegsarmada zu ergehen.

Der Nebel wallte weiter in die Höhe, auf eine Weise, die allem widersprach, was Rajin und Bratlor als Seemannen über die Bildung von Wolken wussten. Ein säulenartiges Gebilde entstand zwischen dem Eingang der Orakelhöhle und dem schwarzen Felsen – und diese Säule war fast so hoch wie der schwarze Felsen selbst.

Einen Augenblick später zeichneten sich innerhalb der Nebelsäule Konturen ab, und Rajin erkannte darin – den Vermummten!

Fjendur …!

Die Erscheinung verschwamm wieder, vermischte sich mit den Nebelschwaden, die die Wolkensäule bildeten.

Lange ist es her, dass eine so große Anzahl Drachen es wagte, diesen Ort aufzusuchen und den kalten Schlummer eines Gottes zu stören …

Elendes Echsengezücht!

Rücksichtslose Erdaufreißer und Weltveränderer des Ersten Äons!

Ah, dass ihr den Fluch der Kälte vergessen konntet, der euch einst die Grenzen eurer blindwütigen Macht zeigte! Muss sich denn alles wiederholen?

Ein Strom von Gedanken traf Rajin mit erdrückender, einschüchternder Macht.

„Was war das?“, fragte Bratlor, der so bleich wie das graue Eis der kalten Senke geworden war. Auch ihn hatte der Gedankenstrom berührt, der offenbar sehr intensiv gewesen war. Und noch stärker schienen die Drachen ihn wahrgenommen zu haben, denn sie brüllten nahezu alle im selben Moment auf. Ein ohrenbetäubender Chor dumpfer Stimmen, in dem Bratlors letzte Worte untergingen. Wie ein misstönender, dissonanter Chor verdammter Drachenseelen klang es, und Rajin glaubte im ersten Augenblick, in Zukunft nie wieder etwas hören zu können. Risse bildeten sich im hartgefrorenen Boden der Senke. Sie mäanderten als sichtbare Spuren der Drachenschreie über den Untergrund und verzweigten sich in feinste Verästelungen. Stöhnende Geräusche entstanden dabei, die Rajin an die Laute erinnerten, die beim Auseinanderbrechen des Frühjahrs-Eises in der Bucht von Winterborg entstanden, wenn sich die einzelnen Platten gegeneinander verschoben und aneinanderrieben.

Nie mehr sollte das Drachengezücht diesen Ort heimsuchen, denn dies ist mein Reich - das Reich dessen, der aus eurer Rücksichtslosigkeit entstand, der aus dem Hass dieser Erde wuchs, die ihr noch immer die Drachenerde nennt, obwohl sie in Wahrheit ursprünglich niemandem außer sich selbst und ihren fünf Monden gehörte!

Nun lernt meinen Zorn kennen!

Shiiyyoom sank zu Boden. Die Landung war hart und ganz sicher so nicht beabsichtigt. Der Drache rutschte kraftlos über den aufgesprungen eisigen Untergrund. Keine zwanzig Schritt vom Eingang der Orakelhöhle entfernt blieb er liegen. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen senkte sich der Kopf auf den Boden. Eine erschreckend schwache Flamme, die kaum die Länge eines menschlichen Arms erreichte, züngelte aus seinem Maul. Die Augen waren auf einmal blutunterlaufen, so als wären Dutzende kleiner Adern in ihnen geplatzt.

Rajin und Bratlor hatten sich mit Mühe im Sattel halten können. „Los, runter hier!“, rief der Sternenseher, der im selben Moment bereits aufgesprungen war; dann balancierte er über die Schulterblätter des Drachen und machte sich daran, nach unten zu klettern.

„Shiiyyoom!“, rief Rajin, aber er ahnte, dass der Drachen seine Befehle nicht mehr ausführen konnte; vielleicht verstand er sie nicht einmal mehr. Ein gurgelnder Laut entrang sich dem Ungetüm. Ein Laut, der mehr von einem Todesröcheln als von einem Aufbegehren hatte. Schäumender, zähflüssiger Drachenspeichel quoll aus seinem Maul.

Rajin folgte dem Beispiel Bratlors und kletterte am Körper des Kriegsdrachen hinab. Den Drachenstab behielt er aber bei sich. Er hatte ihn hinter seinen Gürtel geklemmt, um die Hände beim Klettern frei zu haben.

Als er den Boden erreichte, sah er, dass Liisho - durch das Getöse alarmiert – vor den Höhleneingang getreten war. Er zögerte nur kurz, dann eilte er, den eigenen Drachenstab in der Rechten, auf Rajin und Bratlor zu. „Ihr Narren!“, rief er und packte Rajin an der Schulter.

Der aber blickte wie gebannt zurück. Die gesamte kalte Senke Fjendurs war bis zum Schwarzen Felsen von dichtem, grauweißem Nebel erfüllt. Man konnte kaum noch eine Drachenlänge weit sehen. Schon Shiiyyooms Schwanzstacheln waren nur noch schemenhafte Umrisse.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Liisho besorgt.

„Ja“, murmelte Rajin.

Liisho ließ ihn los und trat auf Shiiyyoom zu. Vor dessen Haupt blieb er stehen, setzte dem Ungetüm den Drachenstab auf den Halsansatz und trieb dem Drachen den Stab zwischen die Schuppen. Gleichzeitig kniff der Weise die Augen zu, als würde er sich sehr stark konzentrieren. Der Drache ließ sich das ohne irgendeine Reaktion gefallen. Dampfender Atem drang aus seinem Maul.

Liisho öffnete die Augen wieder. „Der Geist dieses Drachen ist dermaßen erlahmt, dass er kaum noch zu spüren ist.“

„Da ist eine Macht, die die Drachen schwächt“, sagte Rajin. „Fjendur …“

„Ja …“ Liisho nickte. „Vielleicht ist das auch der Grund, dass mein eigenes Reittier so davor zurückscheute, das Tor zu passieren. Ich dachte, es liege daran, dass ich die Kunst, kosmische Tore zu öffnen, bisher nur unvollkommen beherrsche. Aber es könnte natürlich sein, dass der gute alte Ayyaam mit seinen sehr feinen Sinnen die Anwesenheit dieses Wesens deutlich spürte. Schließlich ist er ja ein direkter Nachfahre des Urdrachen.“

„Dieses … Wesens?“, fragte Rajin. „Du redest von einem Gott!“

Liisho schüttelte langsam und gedankenschwer den Kopf. Er schien Rajins Worte gar nicht vernommen zu haben, war ganz in seine eigenen Überlegungen versunken. „Wie ist das möglich? Ich bin schließlich nicht zum ersten Mal hier, und nie hat die Anwesenheit meines Drachen irgendwelche schlafenden Geister geweckt, mögen sie nun nur flüchtige Wesen oder Götter sein …“

„Vielleicht war es einfach die große Anzahl der Drachen, die Fjendur aus seiner eisigen Agonie rief“, vermutete Rajin. Er deutete in den weißgrauen, undurchdringlichen Nebel und fügte hinzu: „Selbst ich konnte ihr Herannahen bereits aus großer Entfernung spüren“

„Möglich“, murmelte Liisho, „aber ich dachte …“

Auf einmal verstummte er, sein Kopf ruckte hoch, er verzerrte das Gesicht vor Schmerz, ließ den Drachenstab fallen und presste sich die Hände gegen den Kopf.

Rajin wollte besorgt fragen, was mit ihm sei. Doch dazu kam er nicht mehr, denn im nächsten Moment spürte auch er es: Ein Strom des Geistes berührte sie mit unfassbarer Kraft.

Er hörte Bratlor aufschreien, doch der gellende Laut drang nur wie aus weiter Ferne in sein Bewusstsein. Auch das Stöhnen Shiiyyooms vernahm er – und die unglaublich fern klingenden Schmerzensschreie der anderen Drachen jenseits des Nebels, die wie ein schauriges Echo auf den Schrei Shiiyyooms waren.

Höret die Worte Fjendurs, des kalten Gottes! Höret seine Worte, fürchtet seine lähmende Gegenwart und spürt seine Macht! Auf dass ihr die Macht des kalten Fluchs in Zukunft achtet!

6. Kapitel:

Drachenfluch

 

 

 

Durch die kosmischen Tore tratet ihr in die Welt, aber die Welt genügte euch nicht. Ihr wolltet sie nach eurem Gutdünken neu schaffen. Ihr gabt ihr nicht nur euren Namen, sondern auch euer Gesicht. So ward das Antlitz der Welt runzelig und zerfurcht wie der Schuppenpanzer eines Drachen, und die Erinnerung an die Zeit eurer Herrschaft lastet bis heute wie ein Fluch auf allem, was existiert. Aber jede Kraft gebiert ihre Gegenkräfte, und die Kraft, die dem Feuer aus euren Schlünden und dem Feuer aus dem Inneren der Welt, die ihr aufgerissen habt, Einhalt gebot, war die Macht der Kälte.

Habt ihr nichts gelernt? Ist es euer Fluch, dass ihr es immer wieder versucht und die Welt jedes Mal in ein Chaos stürzt, das ihr als eure besondere Form der Herrschaft zu betrachten beliebt?

Seit den Tagen, da ihr durch schwächliche Zuwanderer, die durch die kosmischen Tore kamen, gezähmt worden seid, ist eure Kraft stetig geschwunden und euer Wille mehr und mehr erlahmt. Manche von euch liegen lebendig begraben unter hohen Gebirgen, und die meisten wurden zu Sklaven, erst der Magier, dann der Menschen. Aber ist es vielleicht so, dass ihr auch eure Herren mit dem Fluch angesteckt habt, der darin besteht, das Chaos zu bringen? Teilen eure Herren inzwischen vielleicht eure verderbte Lust, das Gleichgewicht zu stören? Anders ist es kaum erklärlich, dass sie euch in so großer Zahl hierher lenkten, dass ihre Präsenz mich aus einem Traum riss. Dem Traum davon, dass meine Existenz vielleicht verzichtbar und dass meine Leiden und Anstrengungen Vergangenheit sind.

Ah, wie nah war ich daran, mich nach all den Äonen auflösen zu dürfen …

In den sich verflüchtigenden Resten meiner entschlafenden Lebenskraft hätten noch ganze Zeitalter lang Inselbarbaren ihre Waffen für den Kampf gegen die Wassermenschen verzaubern und härten können, denen das Grunzen eines einfältigen, wenn auch langlebigen Faultieres als Orakel genügte.

Ich hatte so gehofft, all der Verantwortung entbunden zu sein und zu werden, was ich einst war …

Nichts!

So lernt den Gott der Kälte kennen, wenn ihr es nicht anders wollt, ihr Narren – Drachen und Menschen!

 

 

Katagi Ko Sajiro stand auf dem schmalen Balkon der kaiserlichen Gondel und hielt sich krampfhaft am Handlauf fest. Die Gondel war in eine äußerst unangenehme Schwingung geraten. Der gewaltige Gondelträger-Drache, dessen weit gespannte Flügel sich wie ein schattiges Dach über die Gondel spannten, konnte die bei dieser Pendelbewegung entstehenden Kräfte kaum noch ausgleichen. Immer langsamer und kraftloser bewegten sich seine Schwingen auf und nieder. Der Drache schrie auf, so als wollte er die unablässig drohende Stimme damit zum Schweigen bringen, deren Worte ihnen allen im Kopf widerhallten, sowohl Drachen als auch Menschen.

Doch eine Gedankenstimme ließ sich mit Gebrüll nun einmal nicht übertönen. Sie schien nur noch bedrängender, bohrender zu werden …

Mit Entsetzen sah Katagi, dass auch die anderen Gondelträger- und Reitdrachen von einer plötzlichen Lähmung befallen wurden. Die grauweißen, eiskalten Nebelschwaden, die vom Boden aufgewallt waren, schienen das zu verursachen – und spätestens die hoch aufragende Wolkengestalt eines Vermummten machte deutlich, dass mächtige übernatürliche Gewalten am Werk waren. Gewalten, die selbst die geballte Drachenmacht der kaiserlichen Kriegsarmada nicht so ohne Weiteres zu überwinden vermochte.

„Zurück!“, brüllte der Kaiser. „Umdrehen! Kehrt hinter den schwarzen Felsen zurück, oder wir werden alle jämmerlich zugrunde gegen!“

Sein Ruf verhallte. Mit ihm zusammen standen auch der Magier Ubranos, Lord Drachenmeister Tarejo sowie ein Signalbläser in der Uniform eines einfachen Fußkriegers an der Brüstung. Der Signalbläser hieß Siijii – und da dies zumindest im Norden Drachenias ein recht häufiger Name war, nannte er sich Siijii, Sohn von Siijii aus Tambanien, der am weitesten im Nordosten gelegenen Provinz des Drachenlandes. Da kein adeliges Blut in seinen Adern floss, stand ihm auch nicht das Recht zu, einen regulären Familiennamen zu führen.

An einem Riemen trug er ein Horn, mit dem Befehle an den Reiter des Gondeldrachens weitergegeben werden konnten.

Katagi schrie den Signalbläser an: „Na los, worauf wartest du Narr denn noch? Sollen wir erst am Boden zerschellen, wenn die Flügel des Drachen völlig erlahmen? Gib endlich das Signal zum Rückzug!“

Etwas unschlüssig warf Siijii einen kurzen Blick zum Lord Drachenmeister, der den Befehl hätte geben müssen. Aber Tarejo stand offenbar selbst zu sehr unter dem Eindruck dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, als dass er in der Lage gewesen wäre, zu reagieren.

Siijii blies eine Tonfolge auf seinem Horn. Aber der Reiter des kaiserlichen Gondeldrachens hatte ohnehin schon Mühe genug, den Drachen und die darunter hängende Gondel unter Kontrolle zu halten.

Auf breiter Front versuchten die Reiter der drachenischen Drachenarmada, ihre Reittiere zu wenden und zurück in das Gebiet jenseits des schwarzen Felsen zu lenken. Einer der Gondeldrachen sank ermattet so weit hinab, dass die Gondel mit ihren Armbrustschützen zuerst über den Boden schleifte und dort eine ziemlich deutliche Spur hinterließ, dann blieb sie an einem Felsbrocken hängen, der aus der vereisten Oberfläche ragte. Der Drache wurde von dem Haltegeschirr der Gondel im Flug gebremst, brüllte auf, flatterte wild mit den Flügeln, strampelte mit den Beinen und zappelte mit dem Schwanz und landete unsanft auf dem Boden.

Der massige Hinterleib des Drachen begrub dabei die inzwischen umgestürzte Gondel unter sich. Das Geräusch von berstendem Holz mischte sich mit den Schreien der kaiserlichen Krieger in der Gondel. Der Drache fauchte, ließ Feuerstöße aus seinem Maul züngeln, die immer schwächer wurden, bis schließlich nur noch etwas Rauch zwischen seinen Zähnen hervorquoll – begleitet von einem gurgelnden, an das Röcheln eines Sterbenden erinnernden Laut. Der Reiter versuchte sich verzweifelt im Sattel zu halten, aber der Drache strampelte mit all seinen Gliedmaßen wie im Todeskampf völlig unkontrolliert um sich; der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert, rutschte über ein Vorderbein zu Boden und blieb dort für einen Moment lang benommen liegen. Als er sich erhob, erwischte ihn der Schwanz, der einer Peitsche gleich über den Boden fuhr. Einer der Stacheln durchbohrte den Reiter in Brusthöhe und ragte etwa eine Schwertlänge weit aus dem Rücken hervor. Der Schwanz bewegte sich noch zweimal in horizontaler Richtung hin und her und fegte dabei mitsamt dem aufgespießten Drachenreiter über den Boden.

Katagi sah der Tragödie, die sich da vor seinen Augen abspielte, mit regungslosem Gesicht zu. Während es der Reiter des kaiserlichen Gondeldrachens schließlich schaffte, den Drachen zu wenden, wurden die Gedanken des Usurpators nur von einer einzigen Sache beherrscht: Er überlegte, dass diese unheimliche Macht, die sich selbst als göttlich betrachtete und sich mit einem einschüchternd intensiven Strom von Gedanken in die Seele zu drängen vermochte, offenbar auf Seiten Rajins stand.

So nah war er seinem Ziel gewesen, die Linie Barajans auszurotten und sich selbst damit im Bewusstsein der Drachenier als rechtmäßigen Herrscher zu etablieren! Ein günstiges Schicksal hatte ihm Rajins ungeborenen Sohn in die Hände gespielt, sodass er ihn töten könnte, wann immer er sich daraus einen Vorteil versprach. Und auch Rajin selbst wäre beinahe von Katagis Drachenreitern zur Strecke gebracht worden! Der Plan des Weisen Liisho, irgendwann doch wieder die alten Verhältnisse zu restaurieren und dem Kaiserhaus Barajan zurück zur Macht zu verhelfen, wären dann endgültig gescheitert gewesen.

„Ubranos! So tut doch etwas gegen die Zauberkräfte, die hier wüten!“, wandte sich der selbst ernannte Kaiser an seinen Magier-Diener, dessen sehr buschige und nach oben gebogenen Augenbrauen sich deutlich zusammenzogen, sodass auf der Stirn die typische, einer Pfeilspitze gleichende Magierfalte erschien. „Fließt wirklich Magierblut in Euch, oder stammt die Falte auf Eurer Stirn nur vom ungeschickten Umgang mit dem höfischen Essbesteck, an dass man in einer Barbarenstadt wie Capana vielleicht nicht gewöhnt ist?“, wetterte Katagi.

Ubranos’ Züge waren angespannt; er wirkte ratlos. „So einfach ist das nicht, mein Kaiser! Diese Kräfte …“ Er verzog schmerzverzerrt das Gesicht. „Ah, ihre Anwesenheit ist kaum zu ertragen!“

„Mein Kaiser, ich würde vorschlagen, Ihr begebt Euch wieder ins Innere der Gondel!“, mischte sich Tarejo ein.

„Schweigt, wenn Ihr keinen Weg wisst, wie wir Rajin doch noch töten können!“, fauchte Katagi.

Die Macht der Kälte soll euch lähmen. Fühlt die Agonie des Todes, auf dass der Traumhenker eure Seelen von den Körpern trennt … Katagi spürte einen heftigen Schmerz in den Schläfen, während ihn diese Gedanken befielen, sich geradezu aufdrängten und wie ein Messer durch seine Seele schnitten.

Den anderen schien es ähnlich zu ergehen. Die Schreie von Menschen und Drachen mischten sich auf schauerliche, ja, geradezu beängstigende Weise, und Katagi war nahezu fassungslos angesichts des Chaos, das inzwischen innerhalb seiner bisher so wohlgeordneten Drachenarmada herrschte.

Inzwischen war die kaiserliche Gondel zur Gänze gewendet, der Gondeldrache umrundete mit letzter Kraft den schwarzen Felsen, und schon wenige Augenblicke, nachdem er sich nicht mehr innerhalb des vom Nebel erfüllten Bereichs befand, fiel die Schwäche von ihm ab. Ein trotziges Brüllen entrang sich seiner Kehle, begleitet von einem Flammenschlag, der fast so lang wie die kaiserliche Gondel war und vermutlich in der Lage gewesen wäre, ein seemannisches Langschiff zur Gänze in Holzkohle zu verwandeln. Mit kräftigen Flügelschlägen brachte der Drache seinen Kaiser in Sicherheit.

Flieht nur und lasst es euch eine Lehre sein. Der Frevel der Drachen ist nicht vergessen, und wer immer ihn wiederholt, wird den Zorn jener Mächte spüren, die der Welt und dem Kosmos innewohnen, um dem Chaos Zügel anzulegen wie einer Riesenschneeratte!

„Bring diese Stimme zum Schweigen oder nenn dich fortan nie wieder Magier, Ubranos aus Capana!“, schrie Katagi und hielt sich den Kopf. Ein plötzlicher Ruck, und fast wäre er über die Brüstung des Gondelbalkons gestürzt, aber Siijii sprang herbei und zog den Kaiser zurück.

„In die Gondel mit ihm!“, befahl Tarejo, und diesmal vermochte er sich durchzusetzen: Der schwankende Kaiser wurde zurück ins Innere der Gondel geführt, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Trotz der großen Kälte schwitzte er, und ein Diener reichte ihm ein fünfeckiges Tuch, das mit jenen drachenischen Schriftzeichen bestickt war, die als Zeichen des Glücks galten; damit tupfte sich Katagi die Stirn ab und warf es achtlos fort, wobei es sich ausbreitete und zu Boden segelte. Es landete auf der Rückseite, sodass die drachenischen Buchstaben – die gleichzeitig auch eine Bedeutung als Bildzeichen hatten – in Spiegelschrift zu sehen waren.

Der Kaiser erschrak, sein Gesicht wurde bleich, und er musste schlucken. „Oh, seht nur, selbst das Schicksal meint es übel mit mir - die Zeichen sind gegen mich!“, stieß er hervor.

Der Lehre des Unsichtbaren Gottes zufolge war das Herauslesen der Zukunft aus derartigen Zeichen nichts als Aberglaube. Der Unsichtbare Gott allein vermochte die Zukunft zu offenbaren und tat diese zuweilen Auserwählten in besonderen Träumen kund. Aber der Glaube an die Macht von zauberkräftigen Schriftzeichen hatte sich trotz des großen Einflusses gehalten, den die Priesterschaft der heiligen Stadt Ezkor in Drachenia inzwischen ausübte.

Der Diener bückte sich und entfernte schnell das Unglückstuch. Mochte er sich seine Hände damit beschmutzen und das Unglück damit auf sich selbst ziehen! Katagi spürte, wie sich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Furcht in seine Seele schlich. Auf leisen Sohlen kam sie und ließ sich ebenso wenig ausrotten wie die Ratten, die sich in den zahllosen Kellergewölben, geheimen Verliesen und unterirdischen Gängen des Kaiserpalastes von Drakor verbargen.

Was, wenn tatsächlich höhere Mächte auf Rajins Seiten standen? An düsteren Prophezeiungen hatte es nach Katagis Machtübernahme nicht gemangelt. Die Furcht, dass alles, was er tat, letztendlich zum Scheitern verurteilt war, hatte er bisher erfolgreich unterdrücken können. Hatte er nicht beinahe jeden umgebracht, der ihm vielleicht irgendwann einmal schaden konnte? Hatten die Schreie der Gequälten und Gemarterten nicht ein solches Maß an Schrecken verbreitet, dass es zu seinen Lebzeiten ganz gewiss niemand mehr wagen würde, einen Aufstand anzuzetteln oder sonst wie gegen seine Herrschaft aufzubegehren?

„Wer oder was schützt Rajin?“, fragte Katagi und ballte dabei grimmig die Rechte zur Faust.

„Es muss Liisho sein!“, erklärte Tarejo.

Ubranos konnte dieser Einschätzung nur zustimmen. „Ich weiß nicht, was er getan hat, um diese Gewalten zu entfesseln, oder ob diese Macht vielleicht tatsächlich nur dadurch geweckt wurde, dass zum ersten Mal seit unvorstellbar langer Zeit wieder Drachen diesen Ort aufgesucht haben. Aber wir wissen, dass Rajin hier ist - unsere wilden Kundschafterdrachen haben das eindeutig übermittelt.“

„Warum ist es dann nicht möglich, ihn zu töten!“, polterte Katagi. „Es muss doch ein Mittel gegen diesen Fjendur geben!“

„Das ist nicht so leicht, wie Ihr Euch das vorstellt, mein Kaiser“, erwiderte der Magier.

Katagi lachte heiser auf. „Wozu brauche ich einen Magier, der so ratlos ist wie ich selbst!“, höhnte er.

Ubranos ließ sich äußerlich nichts anmerken. Aber dem Magier aus Capana war sehr wohl bewusst, dass er sehr vorsichtig sein musste. Er hatte schließlich schon miterlebt, dass Katagi Untergebene aus weit geringfügigeren Anlässen dem Geschick seiner Henker und Folterknechte überlassen hatte.

 

 

Die Drachenarmada sammelte sich auf halbem Weg zwischen dem schwarzen Felsen und der südwestlichen Begrenzung der kalten Senke. Gut ein Dutzend Drachen hatte man verloren. Sie verendeten jämmerlich in dem sich weiterhin ausbreitenden Nebel, der ihnen jegliche Lebenskraft entzog. Auf die abgestürzten Drachenreiter und die Krieger in den Schützengondeln wurde keine Rücksicht genommen; sie mussten sich zu Fuß zum Sammelplatz durchschlagen, wo sie dann von den restlichen Gondeln aufgenommen werden konnten – vorausgesetzt sie überstanden den langen Weg in der eisigen Kälte und es gab noch Platz für sie.

Der Nebel quoll inzwischen zu beiden Seiten des schwarzen Felsens vorbei, und erste Schwaden waberten auch schon über ihn hinweg. Katagi verfolgte diese Entwicklung von einem der Gondelfenster aus. Lord Drachenmeister Tarejo drängte den Kaiser dazu, die Gondeln landen zu lassen, um den Drachen eine Verschnaufpause zu gönnen. Gelitten hatten schließlich alle Drachen, die sich – wenn auch nur für kurze Zeit – innerhalb des Nebels und damit im Einflussbereich der Geisterstimme befunden hatten. In den Köpfen der Drachenier war noch immer ein Flüstern; die Gedankenstimme Fjendurs war zu einem unverständlichen, aber drohenden Gemurmel geworden, da man sich nicht mehr ganz so dicht an ihrem vermeintlichen Ursprung befand.

Katagi lehnte das Ansinnen seines Lord Drachenmeisters jedoch kategorisch ab. „Wir kennen die Macht unseres Gegners nicht. Wenn wir die Drachen erst einmal landen lassen, könnte es sein, dass sie nicht wieder hochkommen“, befürchtete er.

So blieben zumindest die Gondeldrachen in der Luft, während nur den einfachen Reitdrachen eine Pause am Boden gegönnt wurde. Signalhörner erklangen, um die Armada erneut zu formieren. Der Lord Drachenmeister hatte sich dafür wieder auf den schmalen Balkon der kaiserlichen Gondel begeben, um einen besseren Überblick zu haben.

Katagi blieb mit Ubranos allein zurück. Der Kaiser blickte durch das Fenster. „Dieser Zaubernebel breitet sich immer weiter aus. Und seht - diese riesenhafte Gestalt, die da wie ein Schemen hindurchscheint!“

Ubranos sah es auch. „Der Vermummte …“

„Ihr wisst etwas über ihn?“

„Es sind Legenden der Inselbarbaren“, sagte Ubranos. „Ihr wisst, dass man in Magus diese Geschichten sammelt, in der Hoffnung, dadurch auf Hinweise zu stoßen …«

„Hinweise? Hinweise worauf, Ubranos?“

„Hinweise auf übernatürliche Kraftquellen, die wir Magier durch unsere besondere Natur anzuzapfen vermögen. Da ich selbst viele Jahre lang alte Schriften und Überlieferungen studieren musste, bevor man mich zur Prüfung als Meister der Magie zuließ, bin ich auf die Erwähnung einer solchen vermummten Gestalt gestoßen. Lasst Euch durch seine Größe nicht erschrecken …“

Der Vermummte erschien sogar den schwarzen Felsen um etwa ein Viertel seiner Höhe zu überragen. Langsam schritt er voran – aber nie so schnell, dass er aus den stetig voranwabernden Nebelschwaden herausgetreten wäre und sich vollkommen offenbart hätte.

„Dann entspricht das, was uns die Gedankenstimme aufdrängte, der Wahrheit?“, fragte Katagi.

„Wahrheit ist nichts anderes als ein Standpunkt, von dem aus man Dinge betrachtet“, sagte Ubranos. „Das sind die Worte unseres legendären Großmeisters Herandos, der noch zu Zeiten Barajans über Magus herrschte …“

Katagi verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Mit anderen Worten: Ihr wisst es nicht, Meister Ubranos. Anscheinend seid Ihr nicht nur ein Meister der Magie, sondern vor allem ein Meister darin, Eure Unfähigkeit mit schönen Worten zu verhüllen.“

Ubranos war klug genug, nicht auf die Anschuldigung des Kaisers einzugehen. „Jedenfalls werden wir nur kurz hier verweilen können“, sagte er. „Die Macht des Vermummten breitet sich weiter aus. Und wir sollten nicht so lange warten, bis uns dieser Zaubernebel vielleicht sogar einschließt. Dann wären wir verloren …“

„Ihr wollt mir ehrlich einreden, ich sollte aufgeben und Rajin Ko Barajan einfach davonziehen lassen und vielleicht darauf hoffen, dass die Kälte dieser ungastlichen Gegend auch ihn dahinrafft?“ Katagi lachte heiser. „Dazu werdet Ihr mich nicht bewegen können!“

„Es gibt durchaus Mittel der Magie, die sich gegen diesen Fjendur einsetzen ließen. Aber alles, was meine Kunst in dieser Hinsicht aufbieten könnte, wäre sehr aufwendig und bräuchte Zeit …“ Ubranos aus Capana schüttelte bedauernd den Kopf. „So viel Zeit wird uns nicht bleiben.“

„Ach, nein?“

„Als wir in das Gebiet jenseits des schwarzen Felsen einflogen, gab es ein paar sehr charakteristische Lichterscheinungen. Dann ist da dieser schwarze Felsen selbst, die Markierungssteine, die schnurgerade durch die Senke führen und die sicher nicht ohne Grund plötzlich aufleuchteten. Außerdem habe ich eine Konzentration von Kräften gespürt … Ich kann es Euch nicht erklären, mein Kaiser. Verzeiht mir diesen ungeschickten Vergleich, aber es wäre, als wollte ich einem Tauben den Klang eines Konzertes am Hof von Drakor beschreiben oder versuchte einem Blinden die Schönheit eines Sonnenuntergangs zu vermitteln …“

Katagi musterte den Magier eindringlich. „Worauf wollt Ihr hinaus?“

„Wir haben schon darüber gesprochen, dass dieses Heiligtum der Barbaren eigentlich ein kosmisches Tor ist.“

„Richtig.“

„Der Weise Liisho ist eines der wenigen noch lebenden Wesen, die wahrscheinlich Kenntnis von der Funktionsweise dieser Tore haben!“

Katagi nickte. „Darüber hat man schon zu Zeiten Kaiser Kojans Geschichten erzählt – und auch darüber, dass der Tod bisher an ihm vorbeigegangen ist, denn eigentlich hat er die Lebensspanne gewöhnlicher Menschen längst überschritten …“ Er zog die Stirn in Falten. „Wir vermuten ja, dass Liisho das Tor benutzt haben könnte und hier ist, um Rajin zu helfen. Das bedeutet, er könnte das Tor jederzeit wieder benutzen und dann mit Rajin entschwinden – ohne dass er für mich noch erreichbar wäre!“ Auf einmal sprang Katagi auf. Die Wut gab ihm neue Kraft. „Das könnte diesem Narren in der Maske eines Weisen so passen!“ Er packte Ubranos am Kragen. „Fjendurs kalter Nebel trennt uns von ihm – aber Ihr müsst etwas unternehmen, Ubranos! Diese kosmischen Tore muss man doch magisch beeinflussen können!“

„Grundsätzlich schon. Aber das Wissen darüber ging bereits vor langer Zeit verloren“, gab Ubranos zur Antwort; seine Stimme zitterte nur leicht aus Angst vor seinem Herrscher. „Ich zumindest weiß kaum etwas darüber …“ Als er sah, wie der Kaiser den Mund öffnete, um ihn anzufahren, setzte er schnell hinzu: „Und auch Liishos Wissen scheint keineswegs vollkommen zu sein. Denn wenn Ihr mich fragt, versuchte der Weise das Tor zu öffnen, als wir hier eintrafen, was die seltsamen Lichterscheinungen hervorrief, die wir gesehen haben, doch es ist ihm aus irgendeinem Grund nicht gelungen.“

Katagi knurrte und ließ den Magier los. „Aber das bedeutet nicht, dass ein zweiter oder dritter Versuch ebenfalls erfolglos sein muss.“

Ubranos zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist eine besondere Konstellation der Gestirne oder der Monde dafür erforderlich – oder gar der Stand der Sonne entscheidend. Oder man ist auf das Wohlwollen dieser Kreatur namens Fjendur angewiesen - was ich beim Gedenken an alle Großmeister von Magus nun wirklich nicht hoffen will.“

„Was schlagt Ihr vor, Meister Ubranos?“

„Mein Kaiser, es gibt eine Möglichkeit, Rajin in diesem Fall dazu zu bewegen, Liisho nicht durch das Tor zu folgen. Immerhin befindet sich diese junge Frau in unserer Gewalt - Nya! Ich habe ihren Geist gründlich durchforscht, denn schließlich trägt sie ja den Enkel Kaiser Kojans unter ihrem Herzen. Ihr Geist ist schwach, und es gibt da ein paar interessante Varianten magischer Kunst, die man bei ihr anwenden könnte.“

„Und was schwebt Euch da so vor?“

„Zunächst einmal werden wir Rajin eine Botschaft zukommen lassen …“

 

 

Das Licht blendete Nya, als sich die Tür öffnete und der Magier in ihr Gefängnis trat. Sie war noch immer nicht in der Lage sich zu rühren. Eine ungeheure Kälte umfing sie, und sie hatte zwischenzeitlich schon überlegt, ob sie vielleicht längst gestorben war und nur der Todverkünder und Traumhenker Ogjyr vergessen hatte, ihre Seele von ihrem längst erkalteten Leib zu trennen.

Der Magier, der sie in ihrem Gefängnis aufsuchte, war derselbe, der sie schon unmittelbar nach dem Gemetzel von Winterborg auf so unangenehme Weise berührt hatte und in ihre Seele gedrungen war. Sie hätte vor ihm gezittert, doch nicht einmal dazu war sie in der Lage.

Der Magier redete zu ihr in einer Sprache, die nicht die ihre war, aber seine Worte drangen dennoch in ihre Gedanken. Es war beinahe so wie bei der Gedankenstimme Fjendurs, deren Botschaft sie ebenso erhalten hatte wie die Drachenier.

„Dein geliebter Rajin ist ganz in der Nähe“, sagte der Magier mit einer Stimme, deren Klang sie unwillkürlich schaudern ließ. „Oh, verzeih - du nennst ihn ja Bjonn Dunkelhaar. Du willst doch sicher auch, dass er von dir erfährt. Davon, dass es dir und seinem Kind gut geht.“ Der Magier kicherte, als hätte er schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Seine Hand berührte ihren Bauch, dann wanderte sie höher; dazu murmelte er Worte, deren Bedeutung sie auch auf magische Weise nicht erfassen konnte. Worte, die aus Lauten bestanden, die sehr tief aus seiner Kehle kamen, und die sich deutlich von der Sprache unterschieden, die er bis dahin benutzt hatte.

Eine Welle des Schmerzes durchfuhr Nya. Für Augenblicke war sie nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Seele aus dem Körper gerissen würde …

Aber nicht nur ihre Seele, sondern auch die des ungeborenen Lebens in ihr.

Der Magier legte die Hand auf ihr Gesicht, und es war Nya, als würde sich ein ungeheures Gewicht auf sie legen, eine Last, die sie zu zerdrücken drohte. Sie konnte nicht atmen. Aber wenn es die Götter so beschlossen hatten, dachte sie, dann sollte es so sein, dann war dieser Moment vielleicht einer jener Webfehler im Schicksalsteppich, die Groenjyr, dem Gott des Jademondes, nun einmal unterliefen, wenn er zu viel getrunken hatte. Der Traumhenker sollte kommen und sie von ihrem Leib trennen – aber mit ihm gehen würde sie nicht. Sie war bereit, alles loszulassen und sich in Njordirs nasses Reich zu begeben. Dort, so war sie überzeugt, wartete der Frieden auf sie, der immerwährende Frieden des dunklen Meergrunds. Der Gedanke beruhigte sie.

Da nahm der Magier seine Hand wieder weg, und von einem Moment zum anderen war auch der unerträgliche Druck, der sie hatte ersticken wollen, nicht mehr da.

Eine Wolke aus dunklem Rauch war in der geöffneten Hand des Magiers zu sehen. Eine Vielzahl winzigster Teilchen tanzte wie ein Schwarm kleiner Fliegen durcheinander. Dann begannen diese Teilchen zu glühen. Wie glimmende Aschestücke in einem Herdfeuer, in das ein Schürhaken gefahren war.

Die Teilchen verschwanden in der Hand des Magiers, verschmolzen mit ihr und waren im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

„Du willst wissen, was das war?“, fragte er, und seine an sich unverständlichen Worte formten in Nyas Geist Gedanken von absoluter Klarheit. „Ein Abbild deiner Seele. Glaubst du nicht, dass dein Geliebter sich darüber freuen wird?“ Der Magier lachte schallend, und dieses Lachen hallte auf eine Weise in Nyas Kopf wider, die sie Augenblicke später völlig betäubte; eine so bleierne Müdigkeit überfiel sie, wie sie die junge Frau noch nie zuvor gespürt hatte.

Dann war da nur noch Dunkelheit.

Schwärze, die sich wie eine immerwährende Nacht über ihre Seele legte.

Sie hörte noch, wie die Tür ihres Gefängnisses geschlossen wurde. Aber schon vorher war es so stockfinster um sie, als wäre sie erblindet.

 

 

Ein kaiserlicher Diener brachte einen Käfig mit einer Zweikopfkrähe herbei. Diese Art Vogel war dafür bekannt, dass er zuverlässig Botschaften überbrachte und für magische Beeinflussung leicht empfänglich war.

An einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten und sehr zierlich wirkenden Tisch, der fest im Gondelboden verankert war, hatte sich der Magier Ubranos niedergelassen. Der Tisch war ebenso wie der dazugehörige Diwan aus dem besonders leichten Holz des Vogelknochenbaums aus den Wäldern Tembiens, der östlichsten Provinz Feuerheims, gefertigt, das sich aufgrund seines geringen Gewichts auch bei den Luftschiffbauern von Tajima äußerst großer Beliebtheit erfreute. Die Schnitzereien zeigten größtenteils Drachenköpfe.

Der Magier entrollte ein besonderes Pergament, das aus der Haut eines mindestens zweihundertjährigen magusischen Fünfhornbisons gefertigt war. Diese achtbeinigen, einem hausgroßen Wollknäuel mit fünf Hörnern ähnelnden Geschöpfe lebten im Hochland von Ktabor in Mittel-Magus, einer Gegend, die man auch ›Das Land der leuchtenden Steine‹ nannte. Das Licht dieser Steine war es, so die gängige Meinung der Magiermeister, die so manchem dort lebenden Geschöpf außergewöhnliche Eigenschaften verlieh – und hin und wieder galt das über den Tod des betreffenden Geschöpfes hinaus.

Ubranos strich das Pergament mit großer Sorgfalt glatt nachdem er es entrollt hatte. Mit dem Finger malte er ein unsichtbares Zeichen darauf und murmelte dazu einige Worte in der Sprache der Magier.

Dann hielt er seine geöffnete rechte Hand wie einen Schirm über das Blatt. Myriaden kleiner schwarzer Teilchen drangen aus der Mitte seiner Handfläche hervor, lösten sich daraus, so als würde die Hand zu Staub zerfallen. Die feinen schwarzen Körnchen glühten auf, während sie mit unnatürlicher Langsamkeit auf die Oberfläche des Pergamentes zustrebten und sich dort verteilten.

Nachdem das geschehen war, schloss der Magier seine Hand.

Und sagte einen Namen.

„Nya.“

Das Gesicht der jungen Frau erschien auf dem Pergament. Es wirkte so lebensecht, wie es nicht einmal die Meister in den Küstenstädten des drachenischen Neulandes mit ihren Pinseln und Farben zu schaffen vermochten. Dabei waren die Malerschulen von Etana und Jandrakor berühmt und ihre Werke von so hoher Kunstfertigkeit, dass man sie zunächst für die Ergebnisse von Zauberei gehalten hatte. Innerhalb der Priesterschaft des Unsichtbaren Gottes war ein generationenlanger und noch immer nicht entschiedener Streit darüber entbrannt, ob diese Art der Malerei nun einen Frevel darstellte oder nicht.

Aber das, was Ubranos auf dem Fünfhornbison-Pergament erscheinen ließ, stellte all das in den Schatten – was nicht zuletzt daran lag, dass sich das Bild der jungen Frau bewegte.

Kaiser Katagi, der den Magier mit skeptischem Blick während der gesamten Prozedur beobachtet hatte, sackte die Kinnlade herab, und er vergaß eine ganze Weile, den Mund wieder zu schließen. Ubranos nahm das mit Genugtuung zur Kenntnis. Es war sicher nicht schlecht, wenn Katagi etwas Respekt vor seiner Kunst gewann.

Die junge Frau redete in ihrer Barbarensprache. Ubranos rollte das Pergament zusammen, woraufhin die Stimme der jungen Barbarin erstarb. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Nun, könnt Ihr Euch vorstellen, dass dies auf Rajin Eindruck machen wird?“

Der Kaiser gab sich betont kühl und unbeeindruckt, auch wenn es längst zu spät war, so zu tun, als hätte ihn diese Vorführung magischer Kunst nicht in ihren Bann geschlagen. „Ich bin kein Magier und habe deshalb auch keine Vorstellung davon, wie stark das Band zwischen den beiden tatsächlich ist.“

„Es ist stark“, versicherte Ubranos. „Sehr stark. Ein so starkes Band, dass Ihr Rajin damit werdet erwürgen können, wenn alles nach meinem Plan verläuft.“

Ubranos steckte das Pergament in eine zylinderförmige Lederschatulle, die eigens dafür gefertigt war, am Leib einer Zweikopfkrähe befestigt zu werden.

„Öffnete den Käfig!“, wies Ubranos den Diener an.

Der Diener gehorchte.

Die Zweikopfkrähe hüpfte aus dem Käfig, flatterte empor und landete in der Mitte des Tisches. Die beiden Köpfe des Vogels bewegten sich ruckartig. Kurz hintereinander drangen krächzende, nach Aufmerksamkeit heischende Laute aus beiden Schnäbeln.

„Komm her, mein treuer Diener“, sagte Ubranos. „Komm her und überbringe diese Nachricht an den, den ich dir zeigen werde!“

Er starrte die beiden Vögelköpfe an, und sie schienen auf einmal vollkommen gebannt zu sein. Seht, was ich sehe - denkt, was ich denke - wisst, was ihr wissen müsst …

Wenig später wurde ein Fenster geöffnet, und die Zweikopfkrähe flog hinaus und auf den Nebel zu. Sie krächzte mit ihren zwei Schnäbeln einen dissonanten Akkord nach dem anderen, und man hörte sie noch eine ganze Weile. Ubranos trat auf den Balkon hinaus, um ihr hinterher zu schauen, so als wäre er nicht sicher, ob das Tier nicht auch vom Nebel beeinträchtigt wurde.

„Und Ihr glaubt wirklich, dass sich Rajin darauf einlassen wird?“, fragte Kaiser Katagi, nachdem der Magier ins Innere der Gondel zurückgekehrt war.

„Das wird er“, versprach Ubranos. „Verlasst Euch darauf.“

 

 

 

7. Kapitel:

Im Licht des Meermondes

 

„Es ist kein Leben mehr in ihm“, stellte Bratlor fest und deutete auf den Drachen, dessen Schreie und schließlich auch Röcheln nach kurzer Zeit verstummt waren. Fjendur hatte sich in diesem ungleichen Kampf als der Stärkere erwiesen.

„Der Traumhenker hat die Seele des Drachen vom Leib getrennt“, stimmte Rajin zu. „Und ich frage mich, ob dieser Nebel auch für uns gefährlich sein könnte.“

„Nein, das glaube ich nicht“, meinte der Weise Liisho. Er rieb sich die Hände. „Mal abgesehen von der lausigen Kälte, die hier herrscht.“ Er würdigte Shiiyyoom keines Blickes mehr. „Lasst uns zur Höhle zurückgehen. Je schneller es uns gelingt, das kosmische Tor zu öffnen, desto sicherer werden wir von hier fortkommen und Katagis Schergen doch noch entwischen.“

„Du sagst ›wir‹?“, stellte Bratlor überrascht fest. „Welche Rolle hast du denn uns dabei zugedacht?“

Liisho musterte Bratlor. „Dir ursprünglich gar keine, wie du dir ja wohl denken kannst. Aber man kann sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen, und im Moment bin ich leider in der Situation, die Hilfe eines jeden annehmen zu müssen, um Rajins Leben zu retten – und damit die Hoffnung der Welt zu erhalten.“

Liisho drehte sich um und schritt in Richtung des Eingangs der Orakelhöhle.

„Große Worte!“, rief Bratlor. „Ihr habt einmal versucht, das Tor ohne die Kraft des Mondlichts zu öffnen, und es ist Euch nicht gelungen. Und wie soll es jetzt geschehen, da wir von einem Nebel eingehüllt sind, der so dicht ist, dass man heute Nacht weder den Meermond noch irgendeinen anderen Himmelskörper sehen wird?“

Liisho war nach wenigen Schritten stehen geblieben und drehte sich ärgerlich um. „Ist das die Art, wie Seemannen sich Mut machen, bevor sie auf Beutefahrt gehen, um Seemammuts zu erlegen? Indem sie sich immer wieder vorhalten, dass alles schiefgehen wird und sie ohnehin viel zu schwach sind, um so etwas zu vollbringen?“ Liisho machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Meister Liisho, sieh nur!“, fuhr Rajin dazwischen. Er deutete auf das Juwel über dem Höhleneingang. Es leuchtete pulsierend auf.

Liisho ließ den Blick suchend durch den Nebel hinein schweifen. „Da ist irgendeine Kraft am Werk, die …“ Er sprach nicht weiter.

Eine dunkle Säule schälte sich aus dem Nebel hervor. Es war die überlebensgroße Gestalt des Vermummten – höher als der höchste Mast im Hafen von Winterborg gewesen war!

„Fjendur!“, murmelte Rajin.

Er trat dem Vermummten ein paar Schritte entgegen. Die Linke legte sich dabei um den Griff des leichten drachenischen Schwertes, das er im Gürtel trug. Doch es war ihm durchaus klar, dass weder Feuerheimer noch drachenischer Stahl etwas gegen einen Gott wie Fjendur auszurichten vermochten.

„Zurück, Rajin!“, rief Liisho, dem die ganze Situation nicht geheuer war.

„Nein, es hat keinen Sinn, Fjendur ausweichen zu wollen!“, widersprach Rajin. „Er würde uns überall finden, denn er ist ja bereits in unseren Gedanken …“

Sehr richtig!, dröhnte die Gedankenstimme des Gottes, und seine Worte hallten auf eine gleichermaßen unangenehme wie erhaben wirkende Weise in Rajins Schädel und auch in den Köpfen seiner beiden Begleiter wider. Es schmerzte, aber Rajin ließ sich nichts anmerken. Er wollte sich diese Blöße nicht geben und auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wäre leicht zu beeindrucken – wer immer sich ihm da auch nähern mochte.

Seltsamerweise wurde die Gestalt des Vermummten immer kleiner, je weiter sie sich näherte. In einem Abstand von einer halben Schiffslänge hatte sie gerade noch die Größe der besonders kräftig gebauten Männer Winterborgs, wie etwa Kallfaer Eisenhammer. Als der Vermummte noch näher kam, fragte sich Rajin unwillkürlich, ob sich unter den zahlreichen Schichten aus Gewändern, Tüchern und Stoffbahnen, in die sich der Gott der Kälte gewickelt hatte, nicht vielleicht in Wahrheit ein halbwüchsiger Junge verbarg, so schmal wirkten seine Schultern und so schmächtig seine ganze Erscheinung.

„Sei gegrüßt, Fjendur“, sagte Rajin.

Bratlor trat neben ihn. Der Sternenseher legte eine Hand auf den Schwertgriff und schien den Oberkörper darauf zu stützen. Das war keine eindeutig kriegerische Pose, und doch signalisierte sie Kampfbereitschaft. Die in Lumpen gehüllte Gestalt des Vermummten wirkte alles andere als göttlich. Nicht der allgewaltige Gegenspieler Njordirs schien da vor ihnen zu stehen, sondern das bis auf die Knochen abgemagertes Gerippe eines halbwüchsigen Kindes, in zahlreiche Stoffbahnen eingewickelt. Das, was sich unter den stockfleckigen, teilweise zerrissenen und von Löchern übersäten Tüchern und Stoffstreifen befinden mochte, blieb der Fantasie des Betrachters überlassen, denn es ragten weder Hände daraus hervor, noch war etwas vom Gesicht zu sehen, das ebenfalls mit Stoff umwickelt war. „In uralter Zeit sollen die Magier ihre Toten derart mit Tüchern umwickelt und die Leichen mit allerlei Essenzen behandelt haben, damit ihre Leiber nicht verwesten“, raunte Bratlor seinem Gefährten zu. „Diese Gestalt scheint mir Ähnlichkeit mit manchen Artefakten dieser Art zu haben, die unsere Vorfahren einst raubten. Heutzutage modern sie in den Kellern der Sternenseherschule von Seeborg vor sich hin, auf dass man den gelehrigen Schülern ein paar Kuriositäten zu präsentieren vermag.“

„Ich nehme an, dass man in Magus längst bessere Möglichkeiten gefunden hat, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen“, vermutete Rajin, „nach allem, was man sich an Wunderlichem über dieses Land erzählt …“

„Überschätze die Kunst der Magier nicht“, mischte sich Liisho mit leiser Stimme ein. „Zumindest, wenn es darum geht, den Tod zu besiegen, versagen ihre Kunst und ihre Mittel auf die Dauer, wie ich am eigenen Leib schmerzvoll erfahren musste …“ Er trat zwischen die beiden Freunde. „Jedenfalls bin ich mir sicher, dass diese Erscheinung nichts mit den Mumien der Magier zu tun hat …“ Liisho trat noch einen Schritt vor. Rajin gefiel die Art und Weise nicht, wie er die Initiative übernahm, als er mit herausfordernder Stimme verlangte: „Sprich schon, wer bist du?“

Da entriss eine unsichtbare Kraft ihm den Drachenstab.

Gleichzeitig wurde auch Rajin der Drachenstab, den dieser noch bei sich trug, aus den Händen gezerrt. Die beiden Stäbe flogen im hohen Bogen durch die Luft, drehten sich dabei immer wieder um sich selbst und landeten schließlich genau vor den Füßen des Vermummten. Wie Speere stießen sie in den vereisten Boden, der ihnen jedoch keinerlei Widerstand zu bieten schien; als wären sie glühend, fuhren sie in das Eis und drangen bis zur Hälfte ihrer Länge darin ein, ehe sie zitternd verharrten. Dieses Zittern verursachte Töne, die so durchdringend waren, dass es für ein menschliches Ohr fast unerträglich war.

Sklavenhalter des Drachengezüchts – auch ihr!, drang die Gedankenstimme Fjendurs in ihre Köpfe. Rajin spürte die geistige Kraft seines Gegenübers und erschauderte.

Die Gestalt streckte die Arme aus, sodass die Hände zum Vorschein kamen, doch auch sie waren mit Tüchern umwickelt.

Tod über euch, die ihr den Tod bringt. Vernichtung über die, die das Chaos befördern …

„Du irrst dich! Wir sind nicht gegen dich – sondern deine natürlichen Verbündeten!“, rief Liisho. „Der Urdrache Yyuum erwacht – weit weg von hier, in einem Gebirge, dass nicht einmal dir bekannt sein dürfte. Wenn du uns vernichtest, wird das Fünfte Äon mit einer zweiten Herrschaft der Drachen zu Ende gehen, und wir alle werden vernichtet werden, lange bevor der Schneemond auf die Welt stürzt …“

Schweig!!!

Bratlor stöhnte auf und hielt sich den Kopf, so intensiv war dieser Gedanke des Vermummten, so voller Grimm und Hass auf diejenigen, die ihn und die Welt selbst aus ihrer kalten Ordnung gerissen hatten. Rajin sammelte alles, was an innerer Kraft in ihm aufzubringen war, um der bedrängenden Gegenwart des Vermummten zu begegnen.

Liisho aber vermochte dem Druck am besten standzuhalten. Er murmelte eine Zauberformel - Rajin kannte die Sprache nicht -, streckte beide Arme aus, und die Drachenstäbe, die vor dem Vermummten im Boden steckten und gegen jedes Naturgesetz die ganze Zeit über gezittert und die unheimlichen Töne erzeugt hatten, schnellten aus dem vereist Boden, wirbelten wie die Holzstäbe und Schauwaffen von Kampfkunst-Artisten drachenischer Zirkusse durch die Luft und auf Liisho zu. Gleichzeitig und vollkommen zielsicher fing Liisho sie auf.

Der Vermummte jedoch streckte die bandagierten Hände aus – und ein dritter Arm, der bis dahin unter den Tüchern verborgen geblieben war, kam zum Vorschein und richtete sich ebenfalls gegen Rajin und seine Gefährten.

Im selben Moment glühten die Drachenstäbe in Liishos Händen weißgelb auf. Doch welches Kunststück aus seinem Repertoire Liisho auch immer hatte vorführen wollen, es gelang ihm nicht mehr, und auch Bratlor und Rajin waren unfähig zu reagieren, als hellblaue Blitze aus den drei bandagierten Händen des Vermummten zuckten. Jeder dieser Blitze erfasste einen der drei Männer. Sie tanzten um ihre Gestalten, ließen sie zu regungslosen Statuen erstarren – Gefangene der unheimlichen Mächte, die der kalte Fjendur entfesselt hatte. Die Blitze teilten sich, bildeten viele kleine blitzartige Erscheinungen, die wie zuckende Spinnentiere aus Licht wirkten.

Die Blitze erloschen knisternd, aber die Spinnentiere aus purem Licht krabbelten noch immer über die Körper der drei Männer.

Dann öffnete der Vermummte die Bandagierung unter seiner Kapuze, die bisher sein Gesicht bedeckt hatte. Darunter war nur Schwärze. Ein Schatten, den kein Sonnenstrahl hätte erhellen können.

Im nächsten Moment wurden aus den Spinnentieren wieder Blitze, die von Rajin, Bratlor und Liisho zurück zu dem Vermummten zuckten. Sie sammelten sich unter der Kapuze – dort, wo eigentlich sein Kopf hätte sein müssen.

Ah, jetzt weiß ich, was ihr wisst … Jetzt begreife ich … Ein Weiser, der mit einem Drachen gegen die Drachenmacht kämpft … Das Schicksal erlaubt sich seltsame Scherze, und Groenjyr, der den Schicksalsteppich knüpft, scheint in diesen Tagen einen Vollrausch zu haben. Das er in seinem Suff jedes Augenmaß verloren hat, ist ja nichts Neues, aber das, was ich nun erfahre … Einen menschlichen Legendensänger würde man viel für solchen Einfallsreichtum zahlen …

Rajin fühlte Schwindel. Alles drehte sich vor seinen Augen und drohte, sich in einem Strudel aus Licht, Farben und der zerfließenden, sich dehnenden und wieder schrumpfenden Gestalt des Vermummten aufzulösen.

Liisho und Bratlor erging es nicht besser. Alle drei taumelten zu Boden. Liisho umklammerte dabei krampfhaft die beiden Drachenstäbe, die noch immer ein wenig glühten, doch dieses Glühen erlosch kurz darauf vollständig.

Allmählich klärte sich Rajins Blick wieder. Der Vermummte trat auf ihn zu. Er blieb schließlich nur eine knappe Armlänge von Rajin entfernt stehen und hatte lediglich noch die Größe eines fünfjährigen Kindes. Du bist also derjenige, der das Gleichgewicht erhalten soll …

„Das hat man mir gesagt“, murmelte Rajin.

Du wirst noch an innerer Stärke gewinnen müssen, ehe du dazu fähig sein wirst …

„Auch das ist mir schon oft gesagt worden.“

Es ist langer her, dass ich zu Gunsten oder Ungunsten irgendeines sterblichen Menschen in die Geschicke der Welt eingegriffen habe. Lange, lange ist es her, dass ich mich wirklich mit der Welt beschäftigte. So wurden auch die Fragen der Barbarenhäuptlinge an das Orakel mir mit der Zeit so unverständlich, dass sie ein Riesenfaultier nicht schlechter hat beantworten können als ich … Kurz hallte Gelächter in Rajins Kopf so laut wider, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, ihm würde der Schädel platzen. Ich habe mich zurückgezogen, und die Welt und ihre Bewohner wurden mir fremd … Selbst der ewige Streit mit meinem alten Feind langweilt mich …

„Du meinst Njordir?“

Existiert er noch, oder modert er schon am Grund seines nassen Reichs vor sich hin? Ach, es ist mir gleichgültig. Sterben einem die Feinde fort, stirbt ein Teil von einem selbst. Und irgendwann wünscht man sich nichts sehnlicher, als selbst nicht mehr zu existieren. Doch was erzähle ich dir von Dingen, die du ohnehin nicht zu begreifen vermagst. Eine Pause folgte.

Der dritte Arm des Vermummten war wieder völlig unter den Tüchern und Stoffstreifen verschwunden. Fjendur drehte sich um, wandte sich von Rajin ab und entfernte sich, wobei er wieder zu wachsen schien.

„Fjendur!“, rief Rajin. „Wir brauchen deine Hilfe!“

Die Antwort des Gottes der Kälte war ernüchternd: Nie hätte ich gedacht, diesen uralten Kampf noch einmal ausfechten zu müssen … Ich bin mir nicht sicher, ob mein Interesse an der Welt groß genug ist, dies zu tun …

„Dein Interesse an der Welt war groß genug, um die Drachen hinter den schwarzen Felsen zurückzudrängen!“, entgegnete Rajin, dem die Antwort des Gottes nicht gefallen wollte. „Willst du nicht dem rechtmäßigen Drachenkaiser die Möglichkeit geben, sein Erbe anzutreten, um das Gleichgewicht zu erhalten und eine zweite Herrschaft der Drachen zu verhindern?“

Der Vermummte blieb stehen – inzwischen bereits wieder auf die Größe eines halbwüchsigen Jünglings angewachsen. Er drehte sich herum, so als wollte er Rajin ansehen. Dabei war sich Rajin nicht einmal sicher, ob sein Gegenüber überhaupt so etwas wie Augen hatte. Fjendurs Gestalt verschwamm etwas; seine Konturen wurden für einen kurzen Moment undeutlich.

Ich wäge noch ab, bekannte der Gott der Kälte. Aber ganz gleich, wie ich mich auch entscheide – sage mir, auf welche Weise ich dir helfen könnte!

„Frag meinen Gefährten Liisho. Man nennt ihn einen Weisen. Er weiß mehr über diese Dinge als ich …“

Ein Weiser? Der Vermummte wandte sich Liisho zu. Ein leises, verächtliches Lachen ertönte in den Köpfen der drei Menschen. Gewiss doch, das ist mir gleich aufgefallen, als ich seinen Geist berührte und seine Seele erforschte - nur Narren nennen sich selbst einen Weisen, also ist Liisho eher ein Narr!

„Hör dir dennoch an, was er zu sagen hat!“, bat Rajin.

Warum sollte ich das tun? Es wird mich sehr wahrscheinlich nur langweilen …

„Es hängt so viel davon ab!“, bettelte Rajin.

Der kalte Fjendur ließ erneut ein vor Zynismus triefendes Gelächter in Rajins Kopf widerhallen. Ah, das ist immer ein Argument der Sterblichen: Es hängt so viel davon ab … Es war mir klar, dass du das irgendwann sagen würdest.

„Es ist aber die Wahrheit!“

Wie auch immer - soll der weise Narr Liisho mir sagen, was ich für euch tun soll!

Der Vermummte wandte sich Liisho zu und machte eine auffordernde Bewegung mit einem seiner Arme.

„Das kosmische Tor, durch das ich kam, muss geöffnet werden!“, stieß Liisho, der wieder im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein schien und sich erhoben hatte, eilig hervor. „Kannst du das – wer oder was auch immer du sein magst!“

Es tut mir leid, erklärte der Vermummte. Das Tor existierte schon, bevor meine Seele erwachte, und ich weiß nur wenig darüber. Das Juwel am Eingang der Orakelhöhle reagiert auf meine innere Kraft. Aber warum das geschieht, ist mir nicht bekannt … Allerdings erfuhr ich aus deinen Gedanken ein paar Neuigkeiten darüber, was man mit dem Tor anzustellen vermag. Früher hätte mich das interessiert … Heute nicht mehr …

„Ich vermag es nur beim Schein des Meermondes zu öffnen!“, erklärte Liisho.

Ausgerechnet jener Mond, auf dem der Njordirskint, der Sohn meines Erzfeindes Njordir residiert …

„Das Licht des Meermondes muss direkt durch die Öffnung in der Höhlendecke fallen und das Juwel auf der Säule bestrahlen“, fuhr Liisho fort, ohne auf die gedanklichen Worte des Gottes einzugehen.

Ich hatte schon befürchtet, es wäre etwas wirklich Kompliziertes!, höhnten die Gedanken des Vermummten mit beißendem Spott.

„Aber bevor es soweit ist“, mischte sich Rajin ein, „und sich der Meermond in der entsprechenden Position befindet, werden uns die Drachenier ermordet haben!“

Ihre Drachen werden vom Nebel zurückgehalten!

„Der Nebel ist ein weiteres Problem!“, sagte Liisho. „Er mag die Drachen des Usurpators fernhalten, aber erstens wird der früher oder später seine Fußsoldaten aussenden …“

Und du glaubst, mit denen würde ich nicht fertig? Narr! Ah, ich mag diese Kämpfe nicht mehr, und habe eigentlich auch schon genug der Eindringlinge getötet, um meinen Zorn abzukühlen - das gilt für Drachen ebenso wie für Drachenherren …

„… und zweitens“, fuhr Liisho fort, „ist der Nebel so dick, dass er das Licht des Meermondes schluckt.“

Ach wirklich? Der Vermummte wirkte amüsiert. Dann wäre es wohl das Beste, den Meermond aufsteigen und den Nebel verschwinden zu lassen! Sobald dies geschieht, müsstet ihr euch allerdings beeilen, von hier fortzukommen, denn ich habe wenig Lust, mich noch unnötig lange mit den Eindringlingen zu befassen!

„Wie bitte?“, rief Bratlor erstaunt. „Es wäre das Beste, den Meermond aufsteigen und den Nebel verschwinden zu lassen, hast du gesagt? Das … das geht einfach so?“

Der Vermummte wandte sich ihm zu. In dieser Senke bin ich auch der Herr der Zeit. Ich kann sie anhalten oder voranfließen lassen und beschleunigen. Die Zeit anzuhalten kann ich allerdings nicht wirklich empfehlen: Sie gleicht dann einem Stauwehr, das plötzlich weggerissen wird. Die Folgen können unabsehbar sein. Doch die Zeit, diese alte Schildkröte, etwas zur Eile zu treiben, hat mir immer Freude bereitet … Der Vermummte sah wieder Rajin an. Du weißt nicht, was eine Schildkröte ist, junger Freund? Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da sie zu Abermillionen an den Stränden dieses Eilandes ihre Eier ablegten. Sie ernährten sich von Pflanzen, von dem dieses Land geradezu überwuchert war … So ändern sich die Zeiten. Abgesehen von den Drachen scheinen mich auch andere Formen des Lebens zu meiden!

Auf einmal streckte er seine drei Arme dem Himmel entgegen und murmelte Worte, die diesmal nicht als Gedanken vermittelt wurden, sondern tatsächlich hörbare Laute waren, die Silben bildeten und dumpf unter seiner Vermummung hervordrangen.

Der Nebel, der bis dahin die Nordwesthälfte von Fjendurs Senke erfüllt hatte, löste sich auf. Wolken zogen rasend schnell über den Himmel, die Sonne sank mit der Geschwindigkeit einer landenden Eismöwe dem Horizont entgegen und verschwand schließlich jenseits des Gebirgsrings.

Kaum einen Herzschlag später erhoben sich die Monde einer farbigen Perlenkette gleich in den dunklen Himmel. Der Blutmond machte den Anfang, der blaue Meermond, auf dem Njordirskint, der Sohn des Meeresgottes Njordir, residierte, folgte, dann gingen kurz nacheinander Jademond, Augenmond und Schneemond auf, während im Hintergrund die Sterne funkelten.

Ah, ist der Schneemond groß geworden … Ich nehme an, der Verrätergott Whytnyr plagt noch immer die Bewohner des Nordens, in dem er die Wassermenschen unterstützt … Ich habe mir lange nicht mehr den Nachthimmel angesehen. Ich betrachte die Welt mit anderen Maßstäben als ihr Sterblichen, und für mich lohnt es fast nicht mehr, irgendetwas zu beginnen – sei es nun die Verwirklichung eines Racheschwurs oder die Rettung der Welt oder gar etwas so Abstraktes wie die Erhaltung irgendeines Gleichgewichts. Was mit Letzterem auch immer konkret gemeint sein mag, der Sturz des Schneemondes wird jede Waagschale überflüssig machen und ein Chaos erzeugen, das selbst die Drachen verschlingen wird … Könnte das vielleicht der Grund für die plötzliche Aktivität des Urdrachen Yyuum sein, der doch über Äonen hinweg damit zufrieden war, unter einem Gebirge zu schlummern, und nun zu erwachen scheint, wie ich den Gedanken des weisen Narren Liisho entnehmen konnte? Wer weiß? Ich werde mich jedenfalls keiner besonderen Anstrengung mehr unterziehen, um das in Erfahrung zu bringen … Ah, was waren das für Zeiten, als ich mit so viel Elan die Feuer der Drachen und Vulkane löschte … Vorbei … Erinnerungen - nichts als Schatten der Vergangenheit …

Die Monde rasten geradezu über das Firmament.

Rajin hatte die Sorge, dass sie die richtige Konstellation verpassen würden, aber Fjendur schien den Fluss der Zeit innerhalb der kalten Senke tatsächlich auf einzigartige Weise im Griff zu haben.

Der Vermummte vollführte eine ruckartig wirkende Bewegung mit allen drei Armen gleichzeitig, und die Monde hielten in ihrem rasenden Zug über das Firmament plötzlich inne. Der Fluss der Zeit schien wieder in seinem gewohnten Tempo zu verlaufen, sodass der Eindruck entstand, als würden die Monde reglos an ihren Positionen verweilen, und man erst nach einer Weile die Veränderung bemerkte.

Beeil dich, Liisho, du Narr, der du dich einen Weisen nennst! Der Meermond steht genau an der richtigen Stelle, sodass sein Licht exakt durch das Loch in der Decke der Orakelhöhle einfallen und das Juwel treffen müsste, sofern du die Position des Artefakts nicht verändert hast … Ein überhebliches Lachen folgte. Beeil dich, denn meinen Nebel, der die Drachen vertreibt, habe ich zurückgezogen, damit das Licht des Meermondes bis zur Erde fallen kann! Worauf wartest du, Narr Liisho?

Liisho zitterte am ganzen Körper, einerseits vor Kälte, aber andererseits auch deshalb, weil selbst er offenbar zutiefst beeindruckt war von dem, was er soeben erlebt hatte.

Der Vermummte wandte sich dem im Licht der fünf Monde gut erkennbaren schwarzen Felsen zu, der sich wie ein finsterer Schatten gegen die Nacht abhob. Fjendur setzte sich in Bewegung und schritt auf den Felsen zu. Offenbar sah er seinen Hilfsdienst als erledigt an. Den Rest sollten die Sterblichen selbst vollbringen: die Welt vor einer zweiten Herrschaft der Drachen zu bewahren und ihr Gleichgewicht aufrechterhalten. Sich auch noch daran zu beteiligen, dafür war sein Interesse an der Gegenwart offenbar doch nicht stark genug.

„Es gibt da aber noch ein Problem!“, rief Liisho ihm nach.

Ohne sich noch einmal umzudrehen winkte Fjendur nur mit seinem dritten Arm. Eine abwehrende Geste. Er schien einfach nichts weiter mit der Sache zu tun haben zu wollen. Finde eine Lösung und beweise, dass ich dich zu unrecht einen Narren nannte und du dich zu recht als einen Weisen betitelst!

„Es wird ein Drache durch das Tor kommen!“, rief Liisho. „Es ist mein Diener Ayyaam, ein direkter Nachfahre des Urdrachen Yyuum, aber mir dennoch treu ergeben und ebenso wenig dein Feind, wie ich es bin!“

Der Vermummte wirbelte herum. Seine Gestalt wuchs innerhalb eines Augenblicks um ein Drittel, und gleichzeitig drang ein durchdringender sonorer Ton unter der Kapuze hervor, ein Laut, der wie das wütende Brummen eines Insektenschwarms klang. Fjendur hob seine drei Arme, richtete sie gegen Liisho und ließ aus jedem von ihnen einen Blitz fahren.

Diese Blitze zielten alle drei auf einen einzigen Punkt – Liishos Stirn. Der Weise wurde getroffen, mehrere Schritte weit zurückgeschleudert und landete unsanft auf dem hart gefrorenen Boden.

Fjendur ließ die Arme sinken, wuchs aber weiter – bis auf Mastlänge. Nichts, was ich in deinen Gedanken fand, widerspricht dem, was du behauptest!, ließ der ins Riesenhafte gewachsene Vermummte dann wissen. Also sei es deinem Drachen gestattet, diesen Ort für kurze Zeit aufzusuchen. Aber ich warne dich: Sollte er sich nicht benehmen, werde ich dafür sorgen, dass sein Kadaver zur Beute der Eiswölfe wird und sie das Fleisch von seinen und euren Knochen nagen!

„Du kannst unbesorgt sein“, versicherte Liisho, der ächzend versuchte, sich wieder aufzuraffen.

So sei dein Drache der Erste, der mit meiner Einwilligung seine Klauen in die kalte Senke setzt, nicht verstohlen in aller Heimlichkeit und in der Hoffnung, dass ich nicht erwache und etwas davon bemerke – so wie er es bisher getan hat!

Der Vermummte ging davon. Und während er sich entfernte, wurde seine Gestalt noch immer größer, aber seine Konturen auch immer verschwommener und unklarer. Er bewegte sich sehr schnell – so schnell, dass ihm wahrscheinlich selbst ein Flugdrache nur mit Mühe hätte folgen können. Schließlich wurde er eins mit dem Schatten des schwarzen Felsens und war verschwunden.

„Auf zur Höhle!“, forderte Liisho die beiden anderen auf. „Wir werden uns beeilen müssen, denn für die Kriegsarmada des Usurpators gibt es jetzt kein Hindernis mehr!“

„Um so verwunderlicher, dass sie nicht längst hier sind“, murmelte Bratlor. Eine tiefe Furche teilte seine Stirn. Er lauschte und sah in Richtung des schwarzen Felsens, der wie ein drohender Schatten in der Mitte der Senke aufragte. Hätte man nicht längst die Signalhörner der Kriegsarmada hören müssen, mit denen ein erneuter Aufbruch befohlen wurde? Und wo blieb das Brüllen der Drachen? Das Rauschen ihres Flügelschlags?

„Dir kann man es wohl nie recht machen“, meinte Rajin. „Seien wir doch froh, dass sie nicht angreifen!“

Bratlor nickte düster. Er hob das Kinn, und er machte den Eindruck, als würde er eine herannahende Gefahr wittern.

 

 

Sie folgten Liisho in die Orakelhöhle, wo dieser das Juwel sogleich ausrichtete. Die blaue Scheibe des Meermonds hatte sich bereits zur Hälfte über die Öffnung in der Höhlendecke geschoben. Der blaue Strahl fiel direkt auf das Juwel, das Liisho auf dem wieder aufgestellten Säulenstumpf platziert hatte, und gab ihm die nötige Kraft. Es leuchtete und tauchte das gesamte Höhleninnere in ein wässrig-blaues Licht, das sich mit dem warmen, feuerroten Glühen der Wände auf eine ganz besondere Weise vermischte. Wie schon beim ersten Mal, als Liisho das schädelgroße Juwel berührt hatte, erschienen auch diesmal wieder Myriaden geheimnisvoller Zeichen, von denen wohl auch der Weise nur einen Bruchteil zu entschlüsseln vermochte.

Liisho wirkte angestrengt. Der Blick seiner Augen war starr auf das Juwel gerichtet, während er immer wieder die Finger auf bestimmte Symbole legte, woraufhin sich die gesamte Anordnung der zweifellos zaubermächtigen Zeichen jeweils veränderte. „Geht hinaus und sagt mir Bescheid, sobald die Markierungssteine zu glühen beginnen!“, befahl er.

Rajin und Bratlor wechselten einen kurzen Blick. Vielleicht war es dem Weisen einfach nur lästig, dass die beiden dermaßen intensiv jede seiner Handlungen verfolgten. Vielleicht wollte er auch einfach nur nicht, dass sie ihn dabei beobachteten, wie er das eine oder andere Mal ratlos dastand und selbst nicht genau wusste, welche Symbole er als Nächstes in welcher Reihenfolge zu berühren hatte. Mochte Liisho in mancher Hinsicht gewiss ein Meister sein, so war auch Rajin inzwischen klar geworden, dass seine Kenntnisse hinsichtlich der Funktionsweise der kosmischen Tore eher beschränkt waren.

Rajin und Bratlor folgten der Anweisung des Meisters und traten ins Freie.

Zwei der Markierungssteine hatten zu leuchten begonnen. Ebenso das Juwel über dem Höhleneingang. Aber bei den restlichen Markierungssteinen war noch immer nichts zu sehen – ebenso wenig von einem Lichtbogen, wie er sich vom Höhleneingang bis zum schwarzen Felsen gespannt hatte, als sich das Tor zum ersten Mal vor ihren Augen geöffnet hatte. Dafür aber war hin und wieder ein Flimmern in der Luft, das an Polarlichter erinnerte.

Doch noch öffnete sich das kosmische Tor nicht.

„Dein weiser Freund hat Schwierigkeiten“, stellte Bratlor fest. „Aber was mich nach wie vor am meisten beunruhigt, ist, dass die Drachenarmada nicht angreift. Bjonn – Rajin…“

„Ich habe nichts dagegen, wenn du mich aus alter Gewohnheit mit meinem Seemannen-Namen ansprichst“, sagte Rajin.

„Ich hätte gedacht, Nachkommen kaiserlichen Geblütes wären hinsichtlich ihres Namens und Titels etwas empfindlicher.“ Bratlor zwinkerte ihm zu.

Rajin grinste verwegen. „Auf mich trifft das jedenfalls nicht zu.“ Dann wurde seine Miene wieder ernst. „Gleichgültig, was auch immer du über mich erfahren haben magst, Bratlor – ich bin immer noch derselbe, der ich vor wenigen Tagen war, als wir uns in einer Winterborger Sommernacht in die Sättel unserer Riesenschneeratten geschwungen haben, um hierher zu gelangen.“

„Nun, es freut mich, das zu …“ Bratlor stockte. Er griff zu seinem Bogen. Zwei Pfeile hatte er noch im Köcher. Einen davon legte er auf die Sehne.

„Was ist denn los?“, fragte Rajin, denn er konnte in der Dunkelheit nichts ausmachen, was ihm irgendwie verdächtig erschienen wäre.

„Wusste ich’s doch“, knurrte Bratlor. „Die andere Seite führt etwas im Schilde!“

Dann sah es auch Rajin …

Ein zweiköpfiger Vogel tauchte aus dem Dunkeln der Nacht auf; das Licht der fünf Monde ließ sein Gefieder schwarzblau schimmern. Rajin drückte Bratlor den Arm nach unten. „Nicht schießen!“, forderte er. „Das ist eine Zweikopfkrähe! Man schickt uns eine Botschaft!“

Zweikopfkrähen erfreuten sich auch im Seereich immer größerer Beliebtheit, allerdings vertrugen sie die Kälte nicht. Ihre eigentliche Heimat war der Wald von Tembien im Südosten Feuerheims, wo so manche wundersame Kreatur beheimatet war. Nur dort gab es wildlebende Zweikopfkrähen, und manchmal fuhren seemannische Kapitäne so weit in den Süden, um ungezähmte Exemplare dieser Art von Fängern zu erstehen und sie im Norden teuer weiterzuverkaufen.

Trotz der Kälteempfindlichkeit hatte es selbst in Winterborg immer wieder mal einzelne Kapitäne gegeben, die mithilfe dieser Vögel Kontakt zu Händlern in Witborg oder Borghorst gehalten hatten. Der Wilde Aeriggr beispielsweise hatte sich ein Jahr zuvor noch ein Dutzend gezähmte Zweikopfkrähen gehalten, die allerdings alle den letzten harten Winter nicht überlebt hatten.

Angeblich gab es im Nordenthal-Land einen Vogelhändler, der Zweikopfkrähen von robusterer Natur gezüchtet hatte, denen die Kälte des Nordwestens nichts ausmachte. Aber niemand auf Winterland hatte je so ein Tier zu Gesicht bekommen.

Der Vogel landete ungefähr zehn Schritte von Rajin entfernt. Er zitterte am ganzen Körper, die beiden Schnäbel waren weit geöffnet und stießen Laute aus, die an das Röcheln eines Lungenkranken erinnerten, und eine Wolke gefrorenen Atems bildete sich um die Zweikopfkrähe. Vorsichtig machte das Tier einen Schritt vor den anderen und bewegte dabei auch immer wieder unruhig die Flügel, so als wollte es sich dadurch warm halten.

Rajin bemerkte sofort die zylinderförmige Schatulle, die dem Vogel an den Bauch geschnallt war. Er ging auf das Tier zu, das nicht zurückscheute; Zweikopfkrähen waren es gewöhnt, dass auch für sie Fremde die Botschaft, die sie überbrachten, an sich nahmen.

„Bjonn! Rajin!“, hörte er seinen Freund Bratlor rufen. „Scheuch das Vogelvieh doch einfach davon! Gleichgültig, was uns die Herrn der Drachenarmada mitzuteilen haben – es braucht uns nicht mehr zu interessieren!“

Aber Rajins Neugier war erwacht. Mehr noch, er wollte – er musste unbedingt erfahren, was die Drachenherrscher ihnen mitzuteilen hatten. Irgendetwas, was er sich nicht erklären konnte, drängte ihn dazu, eine Macht, die ihm einflüsterte, dass diese Botschaft von enormer Wichtigkeit für ihn sei. Er murmelte etwas vor sich hin. Einen Namen …

„Nya …“

Es war mehr ein Hauch, der über seine Lippen kam. Kaum hörbar verklang das eine Wort …

Immer wieder hatte Rajin während des Ritts zum schwarzen Felsen an sie gedacht. Doch warum sich ihr Name und ihr Gesicht ausgerechnet in diesem Augenblick so heftig in seine Gedanken drängten, wusste er nicht.

Der Name war plötzlich da, und ihr Gesicht stand so klar und deutlich vor seinem inneren Auge, als würde er eine Vision erleben.

Er kniete nieder und nahm das zusammengerollte Pergament aus der Schatulle des zweiköpfigen Vogels; das Tier ließ es ohne Weiteres mit sich geschehen, dazu waren diese Vögel abgerichtet.

Rajin entfaltete das Pergament – und sah das Bild einer jungen Frau, das im nächsten Moment aus seiner Erstarrung erwachte.

Es versetzte ihm einen Stich, als er ihre Züge erkannte.

Nya!

Ein Kloß steckte ihm im Hals, und er war im ersten Moment unfähig, auch nur einen Ton hervorzubringen.

„Bjonn! Mein geliebter Bjonn!“, begann das lebende Bild zu sprechen.

„Lass diese zaubermächtige Teufelei fallen!“, rief Bratlor. „Das riecht förmlich nach der List eines Magiers!“

Doch Rajin hörte nicht auf ihn, vernahm die Worte des Sternensehers nur wie aus weiter Ferne. Er starrte auf das sich bewegende Bild, das ihm wie ein Fenster in eine andere Welt erschien. Eine Welt, in der es abgesehen von Nya nur unklare, ineinander verschwimmende und zerfließende Formen gab.

„Bjonn - Geliebter! Ich bin so froh, dich zu sehen“, fuhr Nya fort. „Du kannst dir nicht vorstellen, was geschehen ist! Sie haben mich gefangenen genommen - und dann … Dies muss ein Traum sein! Ich weiß, dass ich in einer dunklen Kammer liege. Ein Magier war bei mir, und ein Bann verhindert, dass ich mich bewegen kann …“ Sie blickte sich um, so als könnte sie es kaum glauben, sich tatsächlich bewegen zu können. Die zerfließenden Farben und Formen im Hintergrund schienen sie aus irgendeinem Grund zu ängstigen. Verzweiflung und tiefster Seelenschmerz spiegelten sich in ihren Augen. „Die Drachenier haben alle getötet … Niemand lebt noch in Winterborg! Kein Haus steht mehr … Es war so furchtbar! Die Schreie …“

Sie zuckte plötzlich zusammen, sah zur Seite. Da war irgendetwas, das sich außerhalb des Bildes befinden musste und ihr offenbar einen höllischen Schrecken einjagte …

Rajin wollte zu ihr sprechen, aber etwas in ihm hielt ihn davon ab. Da war eine unheimliche, vielleicht zaubermächtige Kraft, die er deutlich erspürte. Zumindest für einen kurzen Moment. Er schluckte und schreckte zurück.

„Rajin, hörst du mich denn nicht? Hast du mich vergessen? Durch eine glückliche Fügung der Götter kann ich dich im Traum sehen – aber du antwortest nicht …“

Bedeutet dir die Frau nichts mehr, die deinen Sohn unter dem Herzen trägt?, durchzuckte es Rajins Gedanken. Aber er spürte deutlich, dass dies nicht sein eigener Gedanke war, sondern etwas, das sich ihm aufdrängte und in irgendeiner Weise mit der Kraft zusammenhing, deren Anwesenheit er gespürt hatte.

Eine wahre Flut von Gedanken brach über sein Inneres herein und stürzte Rajins Seele in ein Chaos. Die Zeit schien still zu stehen. Wie konnte diese sich ihm aufdrängende Macht davon wissen, dass Nya ein Kind erwartete? Wie konnte diese Macht über etwas Gewissheit haben, dessen sich nicht einmal Nya schon wirklich sicher gewesen war, als sie zuletzt mit Rajin gesprochen hatte?

Und wie konnte dieser fremde Geist behaupten, dass ihr Kind ein Sohn war?

Hast du keine Worte mehr für sie? Was lässt dich zögern?

Auf einmal ragten ihre Arme in einer flehentlichen Geste aus dem Bild – so verkleinert wie die Gliedmaßen einer jener Skulpturen, die seemannische Schnitzmeister aus Seemammutzähnen herauszuarbeiten vermochten …

Da stieß Rajin hervor. „Nya! Wie kann ich dir helfen?“

Er versuchte instinktiv, ihre herausgestreckten Arme zu berühren, aber sie glitten wie geisterhafte Erscheinungen durch seine Hand hindurch, so als hätten sie keinerlei Substanz. Ein Geisterbild. Mehr war es nicht, was der Absender des Pergaments ihm da vorgaukelte.

„Nya!“

Ein Gelächter folgte und ein Schrei. Nyas Schrei. Sie drehte sich herum, und dann geriet hinter ihr eine Gestalt ins Blickfeld, die sich offenbar bisher jenseits des Bildrands befunden hatte. Anhand der äußerst buschigen und nach oben gebogenen Augenbrauen sowie der sehr charakteristischen Stirnfalte in Form einer Pfeilspitze war er sofort als Angehöriger des Magiervolkes erkennbar.

„Du hättest ihr nicht antworten dürfen, Rajin Ko Barajan!“, höhnte der Magier, während sich Nya verzweifelt aus dem Bild herausreckte, ohne jedoch daraus entkommen zu können. „Dein Instinkt für alles Magische scheint ungewöhnlich stark – aber du stammst ja schließlich auch aus der Linie Barajans, der wiederum dem Magiervolk entstammte!“

Der Magier schnipste mit den Fingern, und Nya verblasste. „Nein!“, schrie sie noch voller Verzweiflung, als sie bemerkte, was mit ihr geschah. Sie löste sich einfach auf. Ihre Formen zerflossen, und sie schien wie eine Figur aus heiß gewordenem Wachs zu zerfließen. Wenig später war sie eins geworden mit den konturlosen Gebilden, die im Hintergrund waberten.

Der Magier lachte. „Du hast ihr geantwortet und dadurch die Magie des verlorenen Lebens ausgelöst. Um ein Haar hättest du die Falle bemerkt – aber du bist ein Mensch und damit ein Sklave dessen, was du liebst!“ Sein Gelächter dröhnte auf eine fast ebenso unangenehme Weise in Rajins Kopf wider, wie es bei dem des Vermummten der Fall gewesen war.

Auch das Bild des Magiers verblasste. Schließlich war nicht mehr zu sehen als ein Konglomerat von Farbklecksen.

Doch noch einmal dröhnte die Gedankenstimme des Magiers in Rajins Kopf: So empfange den Tod durch die Magie des verlorenen Lebens!

Die Zweikopfkrähe flatterte krächzend vom Boden auf, wo sie geduldig gewartet hatte, was der herkömmlichen Erziehung dieser Boten entsprach, denn normalerweise steckte man ihnen einen Antwortbrief in die Schatulle, bevor sie wieder davonflogen.

Ungefähr bis auf die Länge des Anderthalbhänders, den Rajin auf dem Rücken trug, war das Tier aufgestiegen, als etwas urplötzlich aus dem vereisten Boden hervorbrach. Im Licht der fünf Monde wirkte es zunächst wie der Tentakel eines Riesenkraken, die in großer Meerestiefe lebten und manchmal tot an die Küste gespült wurden oder deren Überreste man hin und wieder in den Mägen von Seemammuts fand. Der schlangenartige Arm wickelte sich blitzschnell um den Körper der Zweikopfkrähe und zerquetschte sie, dass das Blut aus ihr hervorschoss wie Saft aus einer überreifen Frucht, die man zertrat.

Im nächsten Augenblick wurde Rajins rechtes Fußgelenk von einem aus dem Boden hervorbrechenden Schlangenarm umfasst.