Vetter Tom / Die große Überfahrt
Teng weckte Buliko noch vor der Morgendämmerung. Der kleine Schnuffel brauchte einige Sekunden, bis er seine Träume in die Wirklichkeit eingeordnet hatte. Er war auf der Erde, die Ereignisse der vergangenen Stunden waren wirklich passiert.
„Wir erreichen den Hafen am besten noch vor Sonnenaufgang“, sprach Teng sofort drauflos. „Die Stadt schläft nie, aber jetzt ist ein guter Moment, um unbemerkt zu bleiben.“ Teng reichte Buliko eine kleine silberne Münze, die an einer Kette hing. „Hier. Das hat das Menschenmädchen vergessen“, meinte er gleichgültig. „Es ist ein Talisman, vielleicht bringt er dir ja Glück.“
„Den hast du ihr gestohlen!“, rief Buliko entrüstet.
„Wohl kaum“, knurrte Teng. „Sie hat ihn vergessen, wie du selbst erlebt hast.“
Buliko nahm die Kette und blickte wehmütig auf die in der Dunkelheit kaum erkennbare Münze.
„Li wird sehr traurig über diesen Verlust sein“, überlegte er.
„Ach was! Wenn diesem Mädchen der Anhänger so wichtig gewesen wäre, dann hätte sie nicht nur an ihr blödes Elektroküken gedacht und ihn mitgenommen. Du darfst ihn ruhig tragen. Wenn ich ein Stückchen größer wäre, würde ich es jedenfalls tun.“
Buliko legte sich den Anhänger um den Hals und fühlte nach der Münze auf seiner Brust. Der Schnuffel wusste, dass er etwas ganz Besonderes trug.
„Lass uns gehen“, forderte Teng den Schnuffel auf.
Teng rannte voraus und Buliko setzte mit schnellen, kleinen Schritten nach. Sie eilten quer durch die Stadt, überschritten die eine oder andere Straße, bewegten sich im Schutz einiger abgelegener Gassen und stürmten dann wieder menschenleere Bürgersteige entlang. Immer wieder blieb Teng an Häuserecken stehen und spähte die Lage aus, ehe er sich mit Buliko weiterwagte. Ihm selbst würde man außer angeekelten Schreien nicht viel Beachtung schenken. Ein Wesen wie Buliko würde aber zweifelsohne große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Deshalb war Teng heilfroh, als sie die Stadt endlich hinter sich ließen und nun das Hafenviertel erreichten. Hier herrschte reges Treiben. Kräne beluden die mächtigen Frachter und Passagierschiffe bekamen den letzten Schliff vor der Abfahrt. Sogar ein Marineschiff lag heute vor Anker. Auf dem Deck traten gerade Soldaten zum Appell an.
„Unsere größte Schwierigkeit wird sein, dich auf das Schiff meines Vetters zu bekommen. Du wirst ja schlecht die Taue hochklettern können. Hej, Junge! Hörst du mir überhaupt zu?“
Ein Biss in seinen Fuß riss Buliko aus seinen Gedanken. „Aua! Warum tust du das?“
„Hör mir zu, Mann!“, schimpfte Teng.
„Entschuldige, ich habe so etwas nur noch nie zuvor gesehen. Die Boote, die auf unseren Seen fahren, sind so winzig gegen diese hier.“
Teng verdrehte die Augen und fauchte genervt: „Das sind Schiffe, Junge. Du kannst ja mal versuchen, mit einem Boot den großen Ozean zu befahren.“ Er wandte sich ab und schüttelte den Kopf. „Hast du jetzt genug gesehen? Würdest du nun die Güte besitzen, mir zuzuhören?“, brüllte Teng.
„Ich höre dir ja zu“, schrie Buliko zurück.
„Die Schanghai liegt gleich hier vor Anker.“ Teng deutete mit seiner Pfote auf einen Stapel Säcke und Kisten. „Versteck dich zwischen diesen Frachtgütern. Ich werde inzwischen Vetter Tom um Rat bitten. Du kommst nicht da raus, bevor ich zurück bin, verstanden?“
„Kein Problem“, nickte Buliko. „Wann bist du zurück?“
„Hoffentlich bevor du
irgendeinen Unfug angestellt hast. Die Gegend hier ist sehr
gefährlich, hörst du? Sieh dich bloß vor“, sprach Teng und war mit
wenigen Sprüngen verschwunden. Buliko beobachtete im Halbdunkel der
Morgendämmerung, wie sich die Ratte auf die Anlegeleinen eines
großen Frachters schwang und in Richtung Reling emporkletterte.
Dann folgte er Tengs Anweisungen und versteckte sich zwischen dem
Frachtgut.
Teng blieb nicht lange weg. Bei seiner Rückkehr befand sich in seiner Begleitung eine andere Ratte, die Teng wie ein Ei dem anderen glich, nur das Fell war etwas heller.
„Hier ist er“, erklärte Teng.
Die Ratte war beeindruckt. „Oh, wonderful! Dachte ich doch wirklich, diese absurde Geschichte wäre wieder ein Trick, um mich in deine Straßengang zu locken.“
„Du irrst, wie du siehst.“ Teng nickte Buliko zu. „Das ist mein Vetter Tom. Tom, das ist Buliko.“
„Schön, deine Bekanntschaft zu machen“, lächelte Buliko.
Tom stellte sich auf die Hinterfüße und machte eine Verbeugung. „Die Freude ist ganz meinerseits“, sagte er höflich. Er wandte sich von Buliko ab und richtete seine Worte an Teng: „Du hättest mir sagen müssen, dass er so groß ist“, zischte er. „Eine Ratte zu verstecken ist eine Sache, ein Wesen in der Größe eines Menschenkindes eine andere. Ich werde ihn nicht einmal aufs Schiff bekommen!“
„Ich habe nicht behauptet, dass er eine Ratte ist“, erwiderte Teng leise.
„Wie sollte ich ahnen, dass du so große Freunde hast?“, fauchte Tom.
Teng legte eine Hand an sein Kinn. „Lass mich überlegen ... wie hattest du dich noch vor wenigen Minuten ausgedrückt? Bei mir müsse man mit allem rechnen?“
„Damit meinte ich dein plötzliches Auftauchen!“, empörte sich Tom.
Buliko räusperte sich. „Ich möchte wirklich keine Unannehmlichkeiten machen ...“
„Blödsinn! Ich habe nur die Unannehmlichkeit, dass ich einen Vetter habe, der sich nie Gedanken macht, bevor er handelt. Aber ich werde schon eine Lösung finden, keine Sorge, Buliko. Teng erzählte mir, dass du dringend nach Amerika musst. Die Schanghai läuft noch heute aus, du hast also Glück. Aber wir müssen sehen, wie wir dich während der Reise unbemerkt auf dem Schiff unterbringen, und vor allem, wie wir dich auf das Schiff bekommen.“
„Das Schiff wird doch noch beladen“, überlegte Teng. Er kaute auf einem Strohhalm, den er auf dem Boden gefunden hatte, und lehnte lässig an einem Stapel Frachtgut. „Wir packen Buliko einfach in eine Kiste.“
„Und wie willst du den Deckel der Kiste aufbekommen, du starke Ratte?“, fragte Tom höhnisch.
„Wozu haben wir einen Schnuffel?“, antwortete Teng achselzuckend.
Plötzlich war Tom hell begeistert. „Yeah, wonderful! Buliko ist stark genug, um eine Kiste zu öffnen. Kommt. Das Frachtgut der Mannschaft ist gleich dort drüben.“
Tom rannte so schnell, dass Buliko und Teng kaum nachkamen. An einem gigantischen Turm großer und kleinerer Kisten blieb er stehen.
„Wir müssen einen der unteren Kartons öffnen, auf den nichts gestapelt ist“, erklärte er. „Dieser ist ideal. Du musst nur das Klebeband entfernen und hineinkraxeln. Wenn der Verlader kommt, wird er die Kiste automatisch wieder zukleben.“
Buliko folgte Toms Anweisungen und entfernte das Klebeband. In dem Karton befanden sich verschiedene Porzellanartikel, eingebettet in schützendes Stroh. Buliko räumte einige der Gegenstände heraus und verstaute sie etwas entfernt hinter einem anderen Kistenstapel des Kais. Nachdem er sich so genug Platz geschaffen hatte, nickte Tom zufrieden.
„Gut so. Wir sehen uns dann später an Bord.“
„In Ordnung“, lächelte Buliko.
„Und du, Vetter Teng ...“ Tom reichte ihm die Hand und drückte ihn kurz an sich, „wir sehen uns in einigen Monaten wieder.“
„Wahrhaftig. Und dann darfst du nicht vergessen, bei mir und meiner Gang reinzuschauen.“
„Du weißt doch, dass ich von deiner Gang nicht sehr viel halte“, lachte Tom.
„Sie sind meine Familie“, verteidigte sich Teng.
„Eine Familie von Straßenschlägern und Räubern“, wandte Tom ein.
Ungerührt entgegnete Teng: „Es sind meine Jungs.“
Tom lachte und verabschiedete sich. Dann verschwand er in Richtung Schiff.
Teng wandte sich zu Buliko um. „Und jetzt ab in die Kiste mit dir“, forderte er den Schnuffel auf.
Buliko folgte und stieg in den Karton. Teng blickte über den Rand der Pappkiste zu Buliko herab
„Viel Glück auf deiner Suche, Schnuffelchen, und gute Reise. War schön, dich kennen zu lernen.“
„Ich bin froh, dich kennen gelernt zu haben. Du hast mir sehr geholfen“, versetzte Buliko. „Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann. Danke.“
Teng wollte nicht zeigen, dass ihn die Worte des Schnuffels tief berührten. „Ja, ja, genug geschwafelt“, schmetterte er zurück. „Nimm den Kopf runter, ich mache jetzt den Deckel zu.“
Ohne eine Antwort abzuwarten rutschte Teng zurück. Dann huschte er flink um die Kiste herum und schloss die vier Klappen des Kartons.
„Leb wohl, Buliko“, sprach Teng zum Abschied.
„Leb wohl, Teng“, klang es dumpf aus der Kiste.
Buliko erwachte, als sich fremde Hände an der Kiste zu schaffen machten. Er spürte, wie sie hochgehoben und wieder abgestellt wurde. Er vernahm einen Laut und die Lichtritzen wurden mit einem Klebeband verschlossen. Dann ging wieder ein Ruck durch die Kiste und unter Holpern, begleitet von fremdartigen Motorengeräuschen und Stimmen, wurde die Kiste weiterbewegt.
Das Frachtgut der Mannschaft und damit Bulikos Unterschlupf wurde verladen. Es dauerte eine lange Zeit, ehe es endlich ruhig um Buliko wurde. Das Letzte, was der Schnuffel noch vernahm, war das schwere Schlagen von Türen. Im Anschluss daran wurden die Geräusche dumpf und die Stimmen entfernten sich.
Zwei Stunden verstrichen, ehe ein Ruck durch den Frachter ging. Brummgeräusche ließen den Boden vibrieren. Die Schanghai lief aus dem Hafen und begab sich auf ihren Weg nach Amerika.
Buliko vernahm eine helle Stimme: „Buliko?“, piepste es. „Buliko, bist du hier?“
Sich in Richtung des Geräuschs drehend, presste er sein Ohr an die Kiste. Wieder vernahm er den Ruf. Kein Zweifel, es war Tom.
„Ich bin hier!“, rief Buliko.
„Wo?“, antwortete es.
„Na, hier!“
Buliko vernahm Toms Stimme erneut. Diesmal war sie genau neben ihm: „Hier?“
„Ja!“, rief Buliko froh.
„Es sind einige Kisten über deiner gestapelt“, erklärte Tom sogleich. „Du musst versuchen an einer Seite rauszukommen.“
„Wie soll ich das machen?“
„Ungeschickter Schnuffel“, seufzte Tom. „Warte, ich helfe dir.“
Tom setzte seine kräftigen Zähne an und nagte ein kleines Loch in die Kiste. Buliko steckte seinen Finger hindurch und riss energisch an der Pappe, bis die Öffnung groß genug war, dass er selbst hindurchschlüpfen konnte. Das restliche Geschirr der Kiste polterte zu Boden und zerbrach.
„Bin ich auf dem Schiff?“, fragte Buliko sofort.
Tom lächelte. „Schau dich doch um. Wir sind bereits ausgelaufen.“
„Wie schön. Dann werde ich bald einen Menschen finden, der mit mir ins Regenbogenreich kommt, und ich kann wieder nach Hause“, schwärmte Buliko.
Tom lächelte noch immer. „Es wird schon noch eine Weile dauern, bis wir in Amerika sind. Ich werde mich bemühen, dir ausreichend Speisen zu besorgen. Was essen Schnuffel denn so?“
„Eigentlich alles. Obst, Brot, Gemüse, Schokolade ...“
„Umso besser. Ich werde mit Yingying reden. Sie ist eine sehr gutmütige Hündin. Ich bin sicher, sie wird uns helfen.“
„Danke. Seit ich auf der Erde angekommen bin, habe ich noch nichts gegessen, ich habe wirklich großen Hunger.“
„Schon besorgt“, sagte Tom und nahm die Haltung eines Soldaten an. Daraufhin verschwand er im Spalt einer entlegenen Tür des Frachtraums.
Yingying erklärte sich tatsächlich bereit, Buliko zu helfen. Die Hündin riskierte zwar Kopf und Kragen, wenn sie etwas aus der Vorratskammer des Schiffskochs entwendete, aber sie tat es gern, um einem Gottestierchen zu helfen. Die große Hirtenhündin verbrachte viel Zeit mit Buliko. Sie liebte es, ihren Kopf in seinen Schoß zu legen, sich hinter den Ohren kraulen zu lassen und Geschichten aus dem Regenbogenreich zu hören. Gleichzeitig erzählte Yingying Geschichten aus ihrem Leben, denen Buliko interessiert lauschte. So vergingen die ersten Tage wie im Flug. Am fünften Tag ereignete sich jedoch etwas, mit dem Buliko nie gerechnet hätte. Er war gerade alleine. Tom befand sich irgendwo auf Nahrungssuche und Yingying leistete ihrem Herrchen Gesellschaft. Buliko waren die Schiffsgeräusche schon so vertraut, dass er kaum noch auf sie achtete. Ein plötzliches Poltern und Scheppern in der hintersten Ecke des Frachtraums ließ den Schnuffel jedoch erschrocken hochfahren. Dumpfes Fluchen drang zu Buliko hinüber. Der Schnuffel wollte seinen Ohren nicht trauen. Vorsichtig pirschte er sich aus seiner Ecke hervor und versuchte im Halbdunkel des Frachtraums etwas zu erkennen. Das Fluchen dauerte an und wurde energischer und wütender.
„Teng?!“ Buliko glaubte zu träumen. „Bist du es, Teng Ho?“
Die Ratte befreite sich aus einem Haufen umgestürzter Bretter, trat aus dem Schatten und blickte Buliko finster an. „Natürlich bin ich es, wen hast du denn sonst erwartet?“, schnaubte sie.
„Ich hätte jeden erwartet, nur nicht dich“, erwiderte Buliko staunend.
„Du glaubst doch nicht etwa, dass du dich alleine in diesem Amerika zurechtfinden würdest?“, brummte er.
Buliko strahlte. „Du bist extra wegen mir gekommen?“
Tengs Blick wurde noch finsterer. „Bilde dir bloß nicht zu viel ein, Schnuffel Buliko. Du bedeutest mir gar nichts, mir bedeutet überhaupt niemand etwas. Ich bin nur gekommen, weil ich in meinem Leben von keiner Sintflut überschüttet werden will und noch ein paar Regenbögen zu Gesicht bekommen möchte.“ Er schmetterte es auf seine gewohnt forsche Weise.
Buliko lächelte. Selbstverständlich lag Teng etwas an ihm, aber das konnte er offenbar nicht zugeben.
„Aus welchen Gründen auch immer, ich bin froh, dass du hier bist“, hieß ihn Buliko willkommen.
„Ich wünschte, ich könnte das Gleiche sagen. Ich habe Tage gebraucht, um dich auf diesem verwünschten Frachter zu finden. Ich habe Hunger wie ein Wolf.“
„Ich habe Brot ...“ Buliko schaffte es nicht auszureden, sofort hatte Teng ihn unterbrochen:
„Wo? Gib her!“
Teng schnappte sich die halbe Scheibe Brot und tat sich sogleich an ihr gütlich.
Inzwischen war Tom unbemerkt in den Frachtraum gekommen. Auch die Schiffsratte glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
„Teng? Teng Ho?“, staunte Tom.
„Wer denn sonst?“, grummelte Teng.
„Was machst du hier?“
„Essen, wie du wohl sehen kannst“, zischte Teng.
„Du hast doch deine Gang nicht zurückgelassen, nur um dem Schnuffel zu folgen?“, staunte Tom.
„Nein, um mir etwas Brot von meinem Nachbarn zu leihen“, versetzte Teng sarkastisch. „Du glaubst doch nicht etwa, dass der Schnuffel alleine zurechtkommen wird? Ich für meinen Teil finde es wichtig, die Regenbögen zu retten.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt weißt, was ein Regenbogen ist“, versetzte Tom kühl.
„Ach, halt die Klappe, Vetterchen“, erwiderte Teng liebevoll, ließ sein Brot liegen und nahm Tom in die Arme.