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Lucy erwachte noch vor Sonnenaufgang von dem Klang von Hufen, die auf das Pflaster schlugen, und heftigem, unterdrücktem Gelächter. Sie war verwirrt und erschrocken, ihr Herz pochte heftig.

Doch gleich darauf wurde ihr klar, wo sie sich befand.

Sie war in London, in Westcott House, da, wo der be-rüchtigte Zigeuner-Graf Hof hielt.

Bei dem Gedanken an ihn beschleunigte sich ihr Herzschlag wieder, doch diesmal nicht vor Schreck.

Unzufrieden mit sich warf Lucy die weiche Bettdecke zurück und erhob sich. Hinter den schweren Damastvor-hängen begann gerade der junge Tag die Nacht zu verdrängen. Die Silhouetten der Dachfirste und Kaminhau-ben der umliegenden Häuser zeichneten sich schwarz in dem fahlen Morgenlicht ab. Doch es war nicht das Schauspiel der Morgendämmerung in der Stadt, das Lucys Interesse fand. Statt dessen lugte sie zu der Kutsche hinab, die vor dem Haus stand. Vier Pferde stampften ungeduldig in ihrem Zaumzeug.

Lucy fragte sich, wer wohl zu solch unchristlicher Stunde angekommen sein mochte, während sie auf die noch im Halbdunkel liegende Straße hinabspähte. Doch obwohl sie ihr Gesicht fest an die Fensterscheibe preßte, konnte sie nicht genau sehen, ob jemand aus dem eleganten Fahrzeug ausgestiegen war. Ihre Neugierde steigerte sich. Obwohl sie wußte, daß das ungehörig war, hakte sie das Fenster aus und schob es vorsichtig hinauf.

Das ist viel besser, dachte sie, während sie in der kühlen Morgenluft fröstelte. Sie lehnte sich gerade weit genug hinaus, um zu sehen, daß jemand zur Kutsche ging. Eine Frau, begleitet von einem Mann.

Ivan Thornton! Diese schlanke Gestalt mit den breiten Schultern würde sie überall erkennen.

Ja, er war es, zweifelsohne. Und nun, ohne darauf zu achten, daß jeder zufällig Vorübergehende ihn sehen konnte, nahm er die Frau in seine Arme und küßte sie!

Küßte sie? Nein, als dieser Kuß kein Ende zu nehmen schien, bis Lucy fühlte, wie ihre Wangen sich röteten, wurde ihr klar, daß das Wort >Kuß< für dieses Ereignis, dem sie da heimlich beiwohnte, absolut unzureichend war. Er vergnügte sich mit einer Frau genau zwei Etagen unter ihrem Fenster, direkt auf seiner eigenen Vortreppe!

Endlich ließ er die Frau los und half ihr in die abge-dunkelte Kutsche, was nicht ohne weitere Zärtlichkeiten und unverständliches Gemurmel abging. Lucy konnte ihre Augen nicht von der Szene abwenden, die sich ihr bot. Was für eine Frau war das, die die ganze Nacht im Haus eines Mannes blieb?

Dummkopf, rief sie sich zur Ordnung. Jedermann, sogar die zurückgebliebene Landbevölkerung, wußte die Antwort. Es handelte sich um liederliche Mädchen, Nachtschattengewächse.

Trotzdem hatte sie noch nie eine solche Frau gesehen.

Sie schaute noch schärfer hin und versuchte, mit den Augen das Halbdunkel zu durchdringen. Doch gerade in diesem Moment zog die Frau sich zurück, die Peitsche des Kutschers knallte und die Pferde zogen an. Enttäuscht, daß sie das Gesicht der Frau, die sich mit dem dämonischen Lord Westcott eingelassen hatte, nicht hatte sehen können, zog Lucy den Kopf zurück. Sie war jedoch unachtsam genug, dabei in so heftige Berührung, mit dem Fensterrahmen zu kommen, daß sie einen lauten Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Zu ihrem großen Erschrecken wandte der Graf sein Gesicht nach oben.

Sofort zog Lucy sich weiter in das Zimmer zurück, wie eine Schildkröte in ihren schützenden Panzer. Du liebe Zeit, hatte er sie gesehen? Hatte er sie erkannt? Würde er sie beschuldigen, ihm nachzuspionieren?

Sie mußte sich zusammenreißen. Was war schon dabei, wenn er sie bemerkt hatte? Sie hatte nichts Unrechtes getan. Sie hatte lediglich ein Geräusch gehört und hatte nachgesehen. Er war es, der sich für sein Benehmen schä-

men sollte, nicht sie.

Sie schnaubte heftig. Was für ein närrischer Gedanke.

Man mußte kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß er sich nicht im geringsten schämen würde.

Ihren schmerzenden Hinterkopf reibend, kletterte sie wieder in die hohe Bettstatt, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und begann über ihren rätselhaften Gastgeber und sein unfreundliches Verhalten nachzudenken.

Wahrscheinlich war er ein sehr einsames Kind gewesen, überlegte sie. Sie hatte gehört, daß er seiner Mutter weggenommen, von seinem Vater ignoriert und dann jahrelang in Burford Hall versteckt worden war. Er war, aus welchen Gründen auch immer, von jedem Erwachsenen, den er gekannt hatte, enttäuscht worden.

War es da ein Wunder, daß er seine Großmutter haßte?

Sie hatte ihm nie Liebe gezeigt. Es war eine von Lucys Theorien, daß ein Kind, das nicht geliebt wurde, ein Erwachsener werden mußte, der entweder nach Liebe hungerte oder sie völlig ablehnte. In welche Richtung hatte Ivan Thorntons unglückliche Kindheit ihn geführt?

Obwohl Lucy sich sagte, daß sie das nichts anginge, konnte sie ihre Gedanken nicht von ihm ablenken. Wie hatte sich ein dunkelhaariges Zigeunerkind in das streng geregelte Leben eines Internats eingefügt? Was hatte er in den Jahren nach der Schule getrieben?

Die Times hatte geschrieben, daß er sich vor seiner Titelübernahme im Ausland aufgehalten hatte. Doch war das wirklich die Wahrheit, oder war das nur ein Versuch gewesen, seine Unsichtbarkeit während einer Reihe von Jahren zu erklären?

All ihre Überlegungen zerstoben plötzlich, als sie ein leises Pochen vernahm. Erschrocken starrte sie auf die bemalten Paneele ihrer Tür. Ein Klopfen zu dieser Stunde? Wer mochte das sein?

Doch ihr war auf der Stelle klar, um wen es sich handelte, und ihr Mund wurde trocken.

Das Pochen wiederholte sich.

Sie wußte nicht, ob sie sich unter ihrer Decke verkriechen und sich schlafend stellen oder ob sie aufspringen und die Tür verriegeln sollte.

Wieder klopfte es.

Er ging einfach nicht weg! Also steh auf, du Närrin, befahl sie sich, laß ihn nicht glauben, er habe dich in Verlegenheit gebracht.

Aber genau das hatte er. Obwohl sie sich vor seinen unergründlichen Augen und seiner unverschämten Art fast zu Tode fürchtete ...

Sie sprang aus dem Bett. Nein, sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Eine Armeslänge von der Tür entfernt blieb sie stehen. »Wer ist da?«

»Sie wissen ganz genau, wer da ist, Miss Drysdale. Es hat keinen Zweck, sich zu verstellen.«

In Lucys Kopf formte sich der absurde Gedanke, daß sie eine Lampe anzünden müsse, nein, viele Lampen, denn es wäre viel zu gefährlich, sich Ivan Thorntons seidiger, verführerischer Stimme in der Dunkelheit auszu-liefern.

Sie trat näher an die Türe. »Gehen Sie weg! Ich denke nicht daran, in meinem Morgenrock hinauszukommen.

Und hereinlassen werde ich Sie auch nicht«, rief sie und raffte ihren Morgenrock enger über der Brust zusammen.

»Und wenn ich mich selbst hereinlasse?«

Lucy schnappte empört nach Luft. »Das werden Sie nicht wagen!«

»Sie kennen mich nicht lange genug, um zu wissen, was ich tun oder nicht tun würde, Miss Drysdale -

Lucy«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Ich habe Ihnen diese vertrauliche Anrede nicht erlaubt«, sagte Lucy, doch der Klang ihrer Stimme war nicht so fest, wie sie es gewünscht hätte. »Gehen Sie weg, bevor ich - bevor ich Ihre Großmutter rufe.«

Durch die Tür vernahm sie sein leises, samtiges Lachen, und beunruhigt malte sie sich sein Gesicht aus: blitzende Augen, glänzende Zähne, und die Lippen zu einem Lächeln verzogen, das keineswegs beruhigend war.

»Sie wissen sicher, daß das für mich keine wirksame Drohung bedeutet.«

»Und Sie wissen sicher, daß ich weder herauskommen noch Sie hereinlassen werde. Also warum stehen Sie vor meiner Tür?« fragte Lucy aufgebracht.

Sie hörte ein Geräusch, als habe er seine Stellung gewechselt und würde nun an der Tür lehnen. »Sie schienen sich sehr für die Aktivitäten vor dem Haus zu interessieren. Nun bin ich da, um alle Ihre Fragen zu beantworten.«

Fragen! Besaß dieser Mann denn gar kein Schamge-fühl? Daß sie tatsächlich fast vor Neugierde platzte, überging Lucy geflissentlich.

»Ich erwachte, weil ich ein seltsames Geräusch vor dem Haus hörte. Wenn ich Ihr ... Ihr ... was immer es auch war, unterbrochen habe, bitte ich um Entschuldigung. Würden Sie jetzt bitte gehen?«

Da sich längere Zeit nichts rührte, tat Lucy nun den letzten Schritt zur Tür und legte ihr Ohr behutsam an den Spalt zwischen Tür und Rahmen.

»Gute Nacht, Lucy«, flüsterte es da, genau in ihr Ohr.

Lucys Herz klopfte so wild wie das eines verschreckten Kaninchens. Ihr war, als habe Ivan Thorntons warmer Atem ihr Ohr gestreift und sein Mund zärtlich ihr Haar berührt.

Sie wagte keine Antwort. Statt dessen stolperte sie rückwärts, bis ihre Schenkel an einen Stuhl stießen, in den sie hart hineinfiel.

Gute Nacht, Lucy.

Er war weg. Das wußte sie, obwohl sie kein Geräusch seiner Schritte gehört hatte. Sie fühlte es einfach mit jenem Teil ihres Herzens, der noch immer einem jungen Mädchen gehörte. In jenem heimlichen Teil ihres Herzens, der immer noch albern, närrisch und schrecklich naiv war.

Lange blieb sie in dem goldgestreiften Sessel sitzen, bis die Sonne die Dunkelheit endgültig vertrieben hatte und hell durch die schweren Vorhänge drang. Der hübsche Raum mit den Möbeln aus Mahagoni und gemalten, goldumrandeten Verzierungen war nun deutlich zu erkennen. Doch noch immer saß Lucy da und sann über die kommenden Wochen und Monate nach.

Vielleicht sollte sie Lady Westcott bitten, sie für die Zeit ihres Aufenthalts in einem anderen Haus unterzubringen. Denn zum einen glaubte sie, den Aufenthalt unter dem selben Dach mit dem schmerzhaft attraktiven und unberechenbaren Lord Westcott nicht unbeschadet überstehen zu können. Zum anderen hielt sie es für unklug, die junge Lady Valerie in unmittelbarer Reichweites des Mannes, der von ihr ferngehalten werden sollte, einzuquartieren.

Es sei denn, daß das, was die alte Gräfinwitwe zu wollen behauptete, nicht dasselbe war wie das, was sie wirklich wollte.

War die alte Frau listig genug anzunehmen, daß ihr launischer Enkelsohn genau die Frau würde haben wollen, die man ihm verweigerte?

Lucy blieb nachdenklich sitzen, bis sich das erste Hausmädchen in der Halle rührte und unter dem Fenster ein Straßenfeger zu pfeifen begann. Als sie sich schließ-

lich aus dem Sessel erhob, fühlte sie sich erschöpfter als am Abend zuvor nach der langen Reise. Sie würde sich vorerst damit begnügen, ihre Schutzbefohlene und ihre Arbeitgeberin zu beobachten. Vielleicht konnte sie dabei etwas über die wahren Absichten der Gräfinwitwe herausfinden.

Doch ebenso wachsam wollte sie auch Lord Westcott im Auge behalten. Sie hatte innerhalb von zwölf Stunden zwei unangenehme Auseinandersetzungen mit ihm gehabt. Gestern hatte sie ihm eine Ohrfeige versetzt, und heute hätte sie ihm für seine Frechheit, an ihre Tür zu klopfen, am liebsten noch eine verpaßt.

Doch nicht diese beiden Zwischenfälle waren es, die sie am stärksten beunruhigten. Viel beunruhigender war, daß der Mann einfach zu viel Anziehungskraft besaß.

Noch dazu hatte er in langen Jahren herausgefunden, wie er seine Großmutter am besten verärgern und brüskieren konnte. Es war nötig, daß Lucy ihn genau studierte, damit sie sich um so besser gegen ihn zur Wehr setzen konnte.

Lucy goß sich Wasser aus einem kostbaren Porzellan-krug in die dazu passende Waschschüssel und begann ihre Morgentoilette, während sie weiter überlegte. Sie wußte, daß der Umgang mit Ivan nicht leicht sein würde.

Er war schlau, und er war darauf aus, seiner Großmutter das Leben schwer zu machen. Und aufgrund ihrer Verbindung zu der alten Dame würde er das gleiche bei ihr versuchen.

Stell ihn dir einfach als vergrößerte Ausgabe von Derek oder Stanley vor, dachte sie. Oder von Derek und Stanley in einer Person. Versuch nicht, ihn zu brüskieren, steuere ihn nur behutsam in eine andere Richtung. Versuche all seine überschüssige Energie auf ein anderes Ziel zu lenken.

Wie sie sich allerdings selbst am besten seiner unheimlichen Attraktivität entziehen konnte, wußte sie nicht.

Ignoriere sie, befahl sie sich, nimm sie einfach nicht zur Kenntnis. Denk statt dessen an Sir James Mawbey.

Genau, Sir James. Erleichtert klammerte sie sich an die Vorstellung ihres Idols. Mochte Ivan Thornton eine noch so starke, animalische Anziehungskraft ausstrahlen, die auf jede normale, gesunde Frau ihre Wirkung nicht ver-fehlen würde - mit den geistigen Gaben und dem über-ragenden Wissen eines James Mawbey konnte er es nicht aufnehmen. Sie würde Ivan Thornton einfach ignorieren und nur noch an Sir James denken. In weniger als einer Woche sollte die erste Vorlesung stattfinden. Bis dahin würde sie es sicher schaffen, ihre lästigen, backfischhaf-ten Gefühle zu überwinden.

So hoffte sie.

Sie bekam den Grafen weder an diesem noch am nächsten oder übernächsten Tag zu Gesicht.

Am Mittwoch kam Lady Valerie an, und die drei Frauen blieben zu Hause, damit Valerie, die sehr scheu war, sich in die neue Umgebung eingewöhnen konnte. Sie war mit ihrer Zofe gereist, einem jungen Mädchen namens Tilly, das durch London, durch Westcott House und durch die Anwesenheit einer wahrhaftigen Gräfinwitwe so eingeschüchtert war, daß Lucy sie am liebsten kräftig durchgeschüttelt hätte. Zwei richtige Babys waren sie, Herrin und Zofe. Diese Tilly würde jedenfalls keine Hilfe sein.

Eineinhalb Tage später hatte sich die Nervosität der Zofe noch immer nicht gelegt. »Sie brauchen bei dem Tanz morgen abend nicht anwesend zu sein«, teilte Lucy ihr mit. »Lady Westcott und ich werden Lady Valerie begleiten.«

Auf dem Mausgesicht des Mädchens zeigte sich Erleichterung. Valeries hübsche Züge jedoch verschatteten sich. »Aber - aber ich brauche sie doch. Sie ist bei mir, seit ich alt genug bin, eine Zofe zu haben. Oh, bitte, lassen Sie mich nicht ohne sie gehen ...«

»Sei nicht so kindisch«, unterbrach Lady Westcott sie scharf. »Eine Zofe im Ballsaal? Soll sie dir vielleicht die Hand halten und dich stützen?«

Lucy hatte sofort bemerkt, daß Valerie vor ihrer Patentante stets in Ehrfurcht erstarrte, wenn diese sie anrede-te. Das konnte sich nur als gut erweisen, denn um so enger würde sie sich an sie selbst anschließen. Tröstend legte Lucy ihren Arm um das Mädchen.

»Sie haben doch mich, Valerie. Ich werde jede Minute neben Ihnen sein, wenn sie nicht gerade tanzen.« Sie fühlte, wie das Mädchen zitterte, und wußte genau, was seine nächsten Worte sein würden.

»Muß ich tanzen?«

Lady Westcott schnaubte, doch Lucy gab ihr keine Gelegenheit zu einer weiteren ätzenden Bemerkung, die das Mädchen noch mehr verängstigt hätte. »Es ist doch nur eine ganz gewöhnliche Hopserei, gar kein richtiger Ball. Man wird tanzen, und wenn Sie zum Tanz aufgefordert werden, müssen Sie annehmen. Für einen jungen Kavalier würde es ein großes Mißgeschick bedeuten, wenn Sie ihm einen Korb gäben. Sie werden schon alles richtig machen«, fügte sie hinzu und drückte Valerie auf-munternd.

»Kommen Sie, lassen Sie uns üben«, fuhr sie fort. »Ich werde den Part des Mannes übernehmen. Nennen Sie mich einfach Graf Stolperbein. Würden Sie bitte spielen?« fragte sie die alte Dame, während sie sich mit Valerie in der Mitte des Raumes in Position stellte. »Sonst wäre ich gezwungen, zu summen.«

Ivan ging ungläubig den Tönen eines mißgestimmten Klaviers nach, in die sich der Gesang einer überdurch-schnittlich guten Stimme mischte. Er hatte die letzten Tage mit Elliot in der Regent Street verbracht, wo er auf Teufel komm raus gespielt und gehurt hatte. Doch zu seinem größten Mißvergnügen hatte er feststellen müssen, daß es keinen Spaß machte, sich schlecht zu benehmen, wenn das alte Reff von Großmutter nichts davon erfuhr.

Bis heute war ihm nicht klar, warum er sie an jenem Abend nicht einfach an ihren Ohren aus seinem Haus hinausgezerrt hatte. Vermutlich lag es daran, daß er sich gelangweilt hatte. Gemeinsam mit ihren Begleiterinnen stellte sie zumindest eine Abwechslung dar. Daher war er heute abend nach Hause gekommen, um sie nach Kräften zu ärgern und vielleicht auch ein bißchen diese außerordentlich hübsche Miss Drysdale.

Doch das letzte, was er erwartet hatte, war diese Musik, die aus dem zweiten Salon zu hören war. Ebenso wenig vorbereitet war er auf die Szene, die sich ihm bot.

Die alte Lady saß am Klavier; wie ein Rabe hockte sie vor den Elfenbeintasten und entlockte ihnen eine etwas schräge Version einer beliebten Melodie. Dazu drehte sich, in der Rolle des Tänzers, Miss Lucy Drysdale mit einer außergewöhnlich schönen Blondine auf dem Parkett.

Ivan stand im Schatten der halboffenen Tür und beobachtete fasziniert und verärgert zugleich die Tanzfiguren, die die beiden Frauen ausführten.

Es war Miss Drysdale, die sang. Ihre Stimme war eher tief und rauchig zu nennen und glich in keiner Weise dem schrillen Geträller, das gerade in Mode war. Ebenfalls gegen den Zeitgeschmack waren ihre eher große Gestalt und ihr dunkles Haar. Für Ivan allerdings war sie nicht zu groß. Und obwohl ihr Haar die dunkle Farbe von altem Mahagoni besaß, fing sich darin jeder Lichtre-flex im Raum. Ihre Flechten glommen in schierem Gold und feurigem Rot.

Während er sie betrachtete, fühlte er plötzlich Verlangen in sich aufsteigen. Doch es war die jüngere Frau, für die er sich interessierte, redete er sich ein, nicht die Anstandsdame. Er zwang sich, sich auf sie zu konzentrieren - seine Kusine, das Mädchen, das Miss Drysdale vor ihm beschützen sollte.

Mit ihren blonden Haaren wirkte sie wie ein kleiner glänzender Diamant, wie ein silbrig schimmerndes Juwel. Sie war klein und hellhäutig und hatte vermutlich blaue Augen. Nur blau würde zu diesem zarten, rosigen Teint passen.

Er grinste bei dem Gedanken an das leichte Spiel, das er haben würde. Frauen hatten ihm nie viel Widerstand entgegengesetzt. Sogar jene, die ihn für einen mittellosen Matrosen oder einen verwegenen Schmuggler gehalten hatten, waren nicht schwer zu verführen gewesen. Sie wollten sich verführen lassen, und sein schlechter Ruf hatte sie nicht im mindesten gestört. Nun, da er so begehrenswert geworden war, hätte er jede beliebige Frau heiraten können oder sie als seine Geliebte aushaken, je nachdem, mit welcher Art von Frau er es zu tun hatte.

Diese junge Unschuld vom Lande würde ihm kein Problem bereiten, außer, daß er vielleicht anfangs begeisterte Hingabe würde heucheln müssen. Doch vielleicht besaß sie auch Verstand in ihrem hübschen Köpfchen.

Möglicherweise konnte man sich mit ihr über Themen unterhalten, die über die neueste französische Mode und die Anzahl der Handschuhe in ihrem Koffer hinausgin-gen.

Das Lied endete, die Gräfinwitwe sah vom Klavier auf, und ihre Augen trafen auf die Ivans. In diesem Moment wurde es ihm gleichgültig, ob seine Kusine schön oder häßlich, klug oder strohdumm war. Sie sollte von ihm ferngehalten werden? Bei Gott, er würde sie sich einfach nehmen!

Doch nicht als Ehefrau, niemals. Nein, er würde sie umgarnen und ihr Herz rauben. Ungezählte Tränen würde sie um seinetwillen weinen und jeden anderen Bewerber ablehnen. Zum Katholizismus sollte sie über-treten wollen und schwören, daß sie den Schleier nähme, sollte sie nicht ihn, ihre einzige Liebe, zum Mann bekommen. Kurz und gut, er wollte es zuwege bringen, daß ihre ganze Familie in Aufruhr geriete über den Mann, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Und am meisten sollte sich ihre Patentante, die würdevolle und halsstarrige Gräfinwitwe, darüber ärgern. Doch das Mädchen heiraten? Nie im Leben. Er würde überhaupt keine Frau aus der sogenannten guten Gesellschaft heiraten.

Er biß die Zähne zusammen und holte tief Luft in freudiger Erwartung des kommenden Kampfes. Was Miss Lucy Drysdale betraf: Man hatte sie zwischen die Fron-ten eines Krieges gelockt, dessen Ursache sie nicht kannte. Wenn sie klug war, würde sie auf der Stelle in das Dörfchen zurückfliehen, aus dem sie gekommen war.

War sie nicht klug - nun, dann würde sie bald eine bittere Lektion erhalten. Denn ein Ivan Thornton hielt sich nicht mit den Regeln der Gesellschaft auf. Dies war nicht seine Gesellschaft und würde es nie werden. Im Augenblick beliebte es ihm, die Rolle des einzigen Abkömmlings des unbetrauert verstorbenen Grafen zu spielen.

Doch es war nur eine Rolle, übergestreift zu einem einzigen Zweck; und er wollte sie abwerfen, sobald dieser Zweck erreicht war.

Im Augenblick jedoch war ihm nach Tanzen zumute.

Lucy hatte bemerkt, wie die Gräfinwitwe erstarrt war, und sie wußte sofort den Grund. Verdammt und zugenäht, fluchte sie bei sich selbst. Er war wieder da!

Sie schwenkte Valerie herum, um ihren Gegner im Auge zu haben. Valerie, die auf ihre eigenen Füße gestarrt und leise mitgezählt hatte, war auf diese Bewegung nicht gefaßt und stolperte. Stirnrunzelnd blickte sie zu Lucy auf. »War das die Stelle, an der wir uns drehen sollten? Ich dachte, Sie sagten ...«

Sie verstummte, als Lucy keine Antwort gab. Doch Lucy konnte nicht anworten, da sie vollauf damit beschäftigt war, ihre Fassung zu bewahren. Ivan Thornton war hier, und die Schlacht um Valerie würde beginnen. Mochte der Himmel ihr beistehen, wenn das Mädchen Ivan nur halb so attraktiv fand wie sie selbst.

»Guten Abend, Madam.« Ivan verbeugte sich tief vor der alten Frau und schenkte ihr ein bezauberndes, falsches Lächeln. »Hätte ich gewußt, daß heute abend hier eine Unterhaltung stattfindet, so hätte ich mein Kommen angekündigt.«

Dann schenkte er sein düsteres, verführerisches Lä-

cheln den beiden jungen Frauen, die noch immer Arm in Arm in ihrer Tanzhaltung dastanden. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Miss Drysdale.« Er hielt inne, und als Lucy nicht antwortete, fuhr er fort: »Würden Sie mich Ihrer reizenden Tanzpartnerin vorstellen?«

Lucy knirschte mit den Zähnen. Wenn sie Valerie lehren sollte, wie man sich in Gesellschaft benahm, so konnte sie diesen Unterricht kaum mit einer groben Antwort beginnen, besonders, da Ivan es sich in den Sinn gesetzt zu haben schien, zur Abwechslung einmal besonders höflich zu sein. Bei ihrem ersten Zusammentreffen war er nicht so freundlich gewesen, doch das konnte sie jetzt wohl kaum zur Sprache bringen.

Sie mußte mit gutem Beispiel vorangehen. Daher ließ sie Valerie los und rang sich ein kühles Lächeln ab.

»Guten Abend, Mylord. Ich wußte nicht, daß Sie Ihre Kusine noch nie gesehen haben. Lady Valerie, dies ist Ivan Thornton, Graf von Westcott.«

Lucy konnte deutlich an Valeries weit aufgerissenen Augen ablesen, daß sie Ivan zwar noch nie begegnet war, aber einiges über ihn gehört hatte. Und Ivans Gesicht verriet ihr, daß er eine etwas dramatischere Vorstellung erwartet hatte. Gut, dachte Lucy, und sie fuhr fort: »Mylord Westcott, darf ich Ihnen Lady Valerie Stanwich vorstellen. Sie kommt aus Arundel in Sussex. Ihr Vater ist Carl Stanwich, Graf von Hareton.«

»Das weiß er schon«, warf Lady Westcott ein, die sich vom Klavierhocker erhoben hatte und nun auf die drei jungen Leute zusteuerte. »Er weiß, wer du bist, Valerie, aber laß dich von mir über ihn aufklären: Er ist der vermutlich charmanteste und falscheste Mann, den du während deines Aufenthalts in London kennenlernen wirst.« Obwohl ihre Worte leicht dahingesagt waren, strafte ihr Gesicht sie Lügen.

Lucy griff Lady Westcotts Bemerkung auf und sagte, indem sie sich bei Valerie einhängte: »Hören Sie auf Ihre Patentante, Lady Valerie, denn sie weiß, wovon sie spricht. Ihr Vetter ist zu sehr als Frauenheld bekannt, um für eine so junge Person wie Sie als passend angesehen zu werden.«

Ivan schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Aber Miss Drysdale, was für eine unchristliche Haltung gegenüber einem Mann, den Sie erst kürzlich kennengelernt haben.

Dabei bin ich mit der guten Absicht hierhergekommen, über alles Auskunft zu geben, was Sie möglicherweise über das Leben in der Stadt wissen wollten.«

Er wagte es doch tatsächlich, auf das anzuspielen, was sie in der letzten Nacht gesehen hatte, und ihr eine Antwort auf ihre Fragen zu dem Verhältnis zwischen ihm und jenem - jenem Flittchen anzubieten.

»Ich danke für Ihr Angebot«, gab sie zwischen zusam-mengebissenem Zähnen zurück. »Trotzdem bin ich der Meinung, daß Valerie sich in einer weniger weltläufigen Gesellschaft als der Ihren wohler fühlen würde. Habe ich nicht recht, Lady Westcott?«

Als sie sich jedoch nach Lady Westcott umblickte, stellte sie fest, daß die alte Dame nicht im geringsten beunruhigt schien. Die arme Valerie zitterte in Lucys Arm angesichts einer solch freizügigen Sprache, während Lady Westcott sich scheinbar nicht im geringsten sorgte. Konnte es sein, daß es sie nicht kümmerte, ob Valeries Herz gebrochen wurde? Lucy unterdrückte eine Grimasse.

War es möglich, daß ihre Anstellung nur einem listig eingefädelten Plan Lady Westcotts diente, Ivans Interesse an der unschuldigen, lieblichen Valerie zu wecken? Und sie, Lucy, hatte man ins Zentrum dieses schlau gewobenen Spinnennetzes gesetzt?

Lady Westcott antwortete mit einer leichten Handbewegung auf Lucys Frage. »Ivan flirtet doch nur, Miss Drysdale. Das Kind muß lernen, solche angenehmen, doch unaufrichtigen Aufmerksamkeiten nicht ernst zu nehmen.«

Ja, das muß Valerie wirklich, meinte Lucy bei sich.

Doch sie sprach diese Ansicht nicht aus. Wenn sie aufrichtig war, konnte sie die alte Frau nicht tadeln. Lady Westcott wollte ihren Enkel lediglich anständig verheiratet sehen, ehe sie starb. Alles in allem ein vernünftiger Wunsch. Doch Lucy wußte instinktiv, daß Valerie nicht die richtige Frau für Ivan war. Nein, Valerie wäre ein gefundenes Fressen für einen Mann wie Ivan Thornton, und das konnte Lucy nicht zulassen, gleichgültig, wie die Verhältnisse zwischen Lady Westcott und ihrem Enkelsohn lagen.

Man hatte ihr diese Position unter dem Vorwand ange-tragen, daß sie helfen sollte, Valerie standesgemäß zu verheiraten. Und genau das, so beschloß Lucy, würde sie tun - trotz Lady Westcotts List. Ivan Thornton war auf keinen Fall, trotz seiner Titel und seines Vermögens -

und trotz seines unverschämt guten Aussehens, der richtige Mann für Valerie.

Solchermaßen durch ihren Entschluß gestärkt, nahm Lucy den Kampf auf. »Äußerst unchristlich wäre es von mir, nicht das Beste sowohl für Sie wie auch für Lady Valerie zu erhoffen. Ich bete darum, daß sie den Mann finden möge, der zu ihr paßt; genauso, wie ich darum bete, daß Sie eine Frau finden, die zu Ihnen paßt.«

Und sie beide wußten, von welcher Art Frau sie sprach!

Sie blickte ihm geradewegs in die Augen, um ihn davor zu warnen, seine erschreckende Gewöhnlichkeit durch eine Andeutung dessen preiszugeben, was sich letzte Nacht in Westcott House zugetragen hatte. Er durfte nichts sagen, das wußte sie, wenn er seinen Eindruck bei Valerie nicht verderben wollte. Wie also würde seine Antwort ausfallen?

Doch Ivan lächelte nur - ein Lächeln, das ihn zum Inbegriff aller männlichen Schönheit machte. Lucy mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, um nicht diesem Lächeln zu erliegen, das ebenso faszinierend wie bedrohlich war für ihre weibliche Seele, anziehend und doch eine schreckliche Gefahr.

Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

»Sind Sie eine fromme Christin, Miss Drysdale?«

»Aber - aber ja, natürlich. Sind Sie etwa kein Christ?«

fragte sie und hoffte, damit das Gespräch von sich abzulenken.

Noch immer lächelte Ivan sein dunkles, verführerisches Lächeln. »So fromm wie Sie bin ich wohl nicht.«

Dann schien er sich irgendwie in sein Inneres zurückzuziehen, und einen Augenblick später richtete er seine Aufmerksamkeit auf Lady Valerie. »Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?«

Er trat auf die beiden Frauen zu, entzog Lucy ohne Umschweife Valeries Hand und zog das Mädchen zu sich. »Nun, Lady Valerie, wenn Sie das Tanzen üben möchten, so tun Sie das besser mit jemandem, der den männlichen Part kennt - ohne Sie kränken zu wollen, Miss Drysdale.« Und zu seiner Großmutter gewandt fügte er hinzu: »Sie können bei diesem Lied bleiben.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er vor Valerie eine korrekte Verbeugung und stellte sich in Position für die erste Figur.

Lucy starrte ihn ungläubig an, dann drehte sie sich erwartungsvoll nach Lady Westcott um. Sicherlich würde sie dieser Frechheit ein schnelles Ende bereiten.

Doch die Gräfinwitwe verfolgte ihre eigenen Pläne.

Das ließ sich deutlich an dem Glanz ihrer Augen ablesen.

»Du bist heute abend so fröhlich, Ivan. Ich glaube nicht, daß ich dich jemals so umgänglich gesehen habe.«

Doch Ivan reagierte nicht auf ihre Schmeichelei.

»Wie sollte ich in meinem eigenen Heim nicht umgänglich sein, wo ich doch von der reizenden kleinen Familie umgeben bin, die mir verblieben ist?«

Lucy hörte aus seiner Stimme einen leisen Sarkasmus heraus, und wider besseres Wissen empfand sie ein wenig Mitleid mit ihm. Sein ganzes Leben hatte er ohne eine Familie zugebracht. Obwohl ihre eigene Familie ihr gelegentlich auf die Nerven ging, wußte sie, daß sie geliebt wurde und daß alle das Beste für sie wollten. Ivan hatte einen solchen Luxus nie genossen.

Trotzdem war das keine Entschuldigung für sein rücksichtsloses Benehmen. Und vor allem war es keine Recht-fertigung dafür, ein schüchternes junges Mädchen zu erschrecken. Und daß Valerie erschrocken war, war deutlich zu sehen. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, ihr sonst so rosiges Gesicht war bleich. Wie angewurzelt stand sie da.

»Wenn Sie nicht spielen wollen«, bemerkte Ivan zu seiner Großmutter, »so tut es vielleicht Miss Drysdale.« Er heftete seine saphirglänzenden Augen erwartungsvoll auf Lucy, und wieder lagen ihre Nerven bloß, so als würde sein männlicher Wille versuchen, und zwar mit Erfolg, ihren eigenen Willen niederzuringen.

Sie blickte zum Piano hinüber, und nun, da sie nicht mehr von Ivans Augen gebannt wurde, fing ihr Verstand wieder zu arbeiten an, »Ja, ich glaube, ich werde spielen«, stimmte sie zu, während sich in ihren Gedanken ein Plan entwickelte. »Kennen Sie den Galopp?« Herausfordernd blickte sie ihn an. »Den haben wir bisher noch nicht geübt.«

»Selbstverständlich.«

Er hatte die Herausforderung angenommen.

Lucy setzte sich an das schöne Mahagoni-Instrument und ließ ihre Finger leicht über die Tasten gleiten, um das Zittern ihrer Hände zu überwinden. Sie fühlte Lady Westcotts Blick auf sich ruhen und spürte auf unerklärliche Weise, daß diese bisher sehr zufrieden mit ihr war.

Doch wenn Lady Westcott glaubte, daß Lucy die unwissende Komplizin bei einer Liebesgeschichte zwischen dem Grafen und Lady Valerie spielen würde, so sollte sie sich geirrt haben.

Für Lucy war es klar, daß Valerie diesem Galopp nicht gewachsen sein würde. Die angeborene Schüchternheit des Mädchens und Ivans Gabe, auch die selbstbewußteste junge Frau - Lucy nahm sich da nicht aus - zu verunsichern, waren eine Garantie dafür, daß dieser Tanz ein Fiasko werden würde. Noch dazu nahm Lucy sich vor, die Melodie ein wenig zu schnell zu spielen.

»Vorwärts, Mädchen«, wies Lady Westcott ihr Patenkind an, »stell dich vor Ivan und nimm seine Hand.«

Valerie warf Lucy eine flehenden Blick zu. Diese zögerte einen Augenblick lang. Valerie wirkte wie ein Kaninchen, das zwischen zwei Schlangen geraten war, so versteinert vor - Furcht war sie. Am liebsten wäre Lucy zu ihrer Rettung hinzugeeilt. Doch um vor den Plänen ihrer Patentante gerettet zu werden, würde Valerie noch ein wenig aushaken müssen.

Lucy begann zu spielen.

Schon nach den ersten Schritten war klar, daß Valerie nicht mit der Musik Schritt halten konnte. Ivan war wirklich ein guter Tänzer, und man mußte eingestehen, daß er die Schritte für das Mädchen so leicht wie möglich machte.

Trotzdem stieg Valerie ihm während der zweiten Strophe heftig auf die Zehen, um sich ihm gleich darauf mit hochrotem Kopf und Tränen in den Augen zu entwinden.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie, »sehr leid ...«

Sofort hörte Lucy auf zu spielen und erhob sich. »Nein, es ist meine Schuld.«

»Nein, es liegt an mir. Ich bin so ungeschickt.«

Lucy tat das Mädchen schrecklich leid, obwohl sie wußte, daß es so am besten war.

»Sie haben zu schnell gespielt«, meinte Lady Westcott anklagend. »Vielleicht wäre ein Walzer besser.«

»Nein!« rief Valerie. Alle starrten sie an, denn dies war das erste Mal seit ihrer Ankunft, daß Valerie sich mit einem heftigen Wort bemerkbar gemacht hatte.

»Nein«, fuhr sie stammelnd fort, »ich könnte doch spielen und - und Miss Drysdale könnte mit - mit dem Grafen tanzen?«

»Ich glaube nicht«, begann Lucy.

»Was für ein guter Einfall.«

Lucy, aufgeschreckt von dem Einwurf des Grafen, starrte Ivan an. »Ich glaube nicht«, wiederholte sie.

Doch ihre Zuversicht, dieser unangenehmen Situation entgehen zu können, schwand, als sie das boshafte Glitzern in seinen Augen bemerkte. Seine nächsten Worte bestätigten ihre Vermutung.

»Als Anstandsdame von Lady Valerie haben Sie ihr alle gesellschaftlichen Regeln beizubringen. Und eine davon lautet, daß es äußerst ungezogen ist, eine höfliche Aufforderung zum Tanz abzulehnen.«

»Ja, aber ... Wir befinden uns zur Zeit nicht in Gesellschaft.«

»Aber Sie haben geübt, wie man tanzt. Also gehen Sie jetzt mit gutem Beispiel voran, Miss Drysdale!« Er stellte sich vor sie und verbeugte sich. »Bitte erweisen Sie mir die Ehre dieses Tanzes.«

Lucy runzelte die Stirn und hoffte, dadurch den Aufruhr, der in ihrer Brust tobte, nach außen verbergen zu können. Warum tat er das? Und weshalb reagierte sie wie ein dummes, verschämtes Mädchen? Sie hatte ihre Saison gehabt, zwei sogar, um genau zu sein. Sie hatte mit einer Anzahl von Grafen getanzt, einmal mit einem Marquis und zweimal mit einem Herzog. Sogar der Neffe des Königs hatte mit ihr getanzt und ihr anschließend ein Glas Punsch gebracht. Warum also verstörte dieser Graf sie so sehr?

Weil er sich nicht an die Regeln hielt. Weil er keinem der Männer glich, denen sie bisher begegnet war - weder was seine Herkunft betraf, noch in seinem Aussehen und Betragen. Und das war auch der Grund, weshalb so viele junge Damen schmachtend vor ihm zergingen. Es war etwas Wildes und Gefährliches um ihn, das die Frauen zu ihm hinzog wie die Motten zur Flamme.

»Nun gut«, murmelte sie und empfand dabei mehr Ärger über sich selbst als über ihn. Sie strich ihre Röcke glatt und warf den Kopf in den Nacken. »Was können Sie spielen, Lady Valerie?«

»Was Sie wollen, Miss Drysdale. Vielleicht ein Menuett?«

»Wie wäre es mit einer Polka?« fragte Ivan, ohne den Blick von Lucys Gesicht zu lassen.

»Ich kenne die ›Frederika‹«, bot Valerie an.

»Vorzüglich.«

Valerie ließ sich am Klavier nieder, während Lady Westcott sich auf eine rote Damastcouch zurückzog. So standen nun Lucy und Ivan in der Mitte des Raumes, zwischen sich einen Abstand von Armeslänge. Während Ivan ein selbstzufriedenes Lächeln zur Schau trug, unterdrückte Lucy mühsam ein Stöhnen. Eine Polka. Das bedeutete, daß er sie während des ganzen Tanzes im Arm halten würde und sie ihm ins Gesicht sehen mußte.

Das war ganz und gar nicht, was sie geplant hatte.

Aber sie würde es schon schaffen, redete sie sich ein. Sie würde mit ihm ein paar Runden durch den Raum drehen, und dann würde es vorbei sein. Anscheinend meinte er, jede Frau erobern zu müssen, die ihm über den Weg lief. Aber bei ihr sollte er sich gründlich getäuscht haben.

Sie holte tief Luft und bemerkte dabei, daß Ivans Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu ihren Brüsten wanderte. Ihre Zuversicht verließ sie. Als ihre Augen sich wieder trafen, war ihr die schreckliche Wahrheit bewußt, und sie fürchtete, daß ihr diese Wahrheit ins Gesicht geschrieben stand. Er konnte sie erobern, und das ohne die geringste Mühe.

Ivan reichte ihr seine linke Hand, und Lucy, verunsichert bis ins Mark, legte ihre Rechte hinein. Sie strengte sich an, keine Reaktion zu zeigen, und redete sich gut zu, daß schließlich der Stoff seiner und ihrer Handschuhe eine direkte Berührung verhindere. Dann legte seine rechte Hand sich auf ihre Taille, der Tanz begann und Lucy war verloren.

Ivan tanzte sehr gut, was Lucy kaum überraschte.

Doch es steckte mehr dahinter als die korrekten Schritte zur Musik. Es lag etwas Verführerisches, Sinnliches in seinen Bewegungen, das sich Lucy mitteilte, so daß sie selbst tanzte wie noch nie zuvor. Sie wirbelten in dem schnellen Dreivierteltakt durch den Salon, bis Lucys Herz raste und ihre Wangen glühten.

»Das Tanzen steht Ihnen gut«, murmelte Ivan ihr ins Ohr.

»Welch ein wohlüberlegtes Kompliment«, gab sie atemlos zurück. »Zweifellos fühlen sich alle jungen Damen davon sehr geschmeichelt.« Und das traf auch auf sie zu, gestand sie sich ein, obwohl sie es besser wissen sollte.

Ivans Lippen verzogen sich zu einem kleinen, unverschämten Lächeln, und Lucys Magen zog sich zusammen.« Ich finden«, erwiderte Ivan, »daß man aus dem Tanz einer jungfräulichen Dame sehr gut auf ihre - wie soll ich mich ausdrücken? - auf ihre Fähigkeit zur Leidenschaft schließen kann.«

Lucy geriet aus dem Takt, doch Ivan hielt sie und führ-te sie sicher. Schockiert und verärgert blickte sie zu ihm auf. Leidenschaft? Für diese Frechheit gab es keine passenden Worte.

»Kommen Sie«, fuhr Ivan hinterlistig fort, »wir wissen doch beide, daß Sie ein ganz besonderes Interesse für die Leidenschaften anderer hegen. Sagen Sie die Wahrheit, Lucy. Haben Sie nicht schon manchen Mann nach seinem Können auf dem Tanzboden eingeschätzt? Ein Klotz auf zwei Beinen wird sicher auch im Ehebett nicht viel Fi-nesse an den Tag legen.«

»Also wirklich!« Lucy hielt es nicht länger aus und entwand sich seinem Arm. Auf ihre zornige Geste hin endete die Musik mißtönend. Lady Westcott beugte sich kritisch vor, während Valerie sich am liebsten hinter dem Klavier verkrochen hätte. »Ich glaube, es wird Zeit, uns zurückzuziehen«, sagte Lucy in dem hochmütigsten Ton, den sie zustandebrachte.

»Valerie?«

Würde er sich nun entschuldigen? Anscheinend nicht.

Valerie, verschreckt durch die Emotionen um sie herum, die deutlich zu spüren waren, erhob sich zitternd.

Auch Lady Westcott stand unter Zuhilfenahme ihres Stockes auf. »Was geht hier vor sich?« fragte sie mißbilligend. »Wie? Weshalb gehen Sie, Miss Drysdale? Hast du sie beleidigt, John?«

John? Trotz ihrer Erregung entging Lucy weder der wütende Blick, den Ivan der alten Frau zuwarf, als diese ihn John nannte, noch deren widerstrebendes Einlenken.

»Na gut, dann eben Ivan! Was hast du zu ihr gesagt, Ivan?«

Innerhalb eines Augenblicks hatte Ivans Laune sich vom Spott zur Wut gewandelt, und das nur, weil seine Großmutter ihn John genannt hatte. Was hatte das zu bedeuten?

Dann fiel es Lucy ein, daß John die englische Form des Namens Ivan war. Vor ihren Augen entstand das Bild eines kleinen, dunkelhaarigen Zigeunerjungen, der alles aufgeben mußte, was er gekannt hatte, um ein richtiger englischer Lord zu werden. Und doch hatte er an seinem Namen - seinem wahren Namen - festgehalten.

Ihr Herz war bereit, ihm zu vergeben - bis Ivan sich wieder ihr zuwandte.

»Mir scheint, ich habe eine Bemerkung gemacht, die Miss Drysdales Empfindsamkeit berührt hat. Ich hatte sie für weltoffener gehalten, als sie ist. Dafür entschuldige ich mich.«

Daß Ivan sich mit diesen Worten keineswegs für seine Frechheit entschuldigte, entging Lucy nicht. Ihr Ärger regte sich wieder. Daß er ein unglückliches Kind gewesen war, konnte kein Freibrief dafür sein, sich als Mann unmöglich zu benehmen.

Lady Westcott stieß ungeduldig ihren Stock auf den Boden. »Nun, Miss Drysdale? Nehmen Sie seine Entschuldigung an? Ich werde keine Zwistigkeiten in diesem Hause dulden.«

Außer, wenn du sie selbst verursachst, dachte Lucy verstimmt. Trotzdem wollte sie ihren Aufenthalt in London nicht aufs Spiel setzen. Sie war noch nicht einmal eine Woche hier. Wenn Ivan Thornton glaubte, sie so weit aus der Fassung bringen zu können, daß sie die arme Valerie allein ließe, so hatte er sich getäuscht. Sie würde in London bleiben, so lange es irgend möglich war. Sie wollte Sir James' Vorlesungen besuchen. Sie hatte sich Hunderte, nein, Tausende anregende Gespräche vorgestellt, die sie mit ihm führen wollte.

Die schlechten Manieren eines einzigen Mannes sollten sie davon nicht abhalten.

»Entschuldigung angenommen«, erwiderte sie frostig und mit steifer Haltung. »Aber es ist spät, und ich bin müde.«

»Kommen Sie, Valerie, wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«

Valerie huschte an Lucys Seite, wobei ihr Gesicht deutlich ihre Angst vor jeder Disharmonie ausdrückte. Lady Westcott hatte gesagt, daß Valerie sehr fügsam wäre. Das rührte gewiß daher, daß sie ein mittleres Kind war und zu oft zwischen ihren streitenden Geschwistern gestanden hatte. Sicher würde sie nahezu alles tun, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen.

Ivan dagegen war ein Einzelkind gewesen und einsam dazu. Da stand er nun, die Hände nachlässig in die Taschen geschoben und höchst zufrieden mit dem Unheil, das er angerichtet hatte. Lucy wußte, daß er sie nicht so einfach davonkommen lassen würde.

»Sie sagen, Miss Drysdale, daß Sie meine Entschuldigung annehmen, doch aus Ihrer Stimme höre ich noch deutlich eine Irritation heraus. Daher bitte ich um Gelegenheit zur Wiedergutmachung. Als Zeichen meiner Reue würde ich Sie und Lady Valerie morgen vormittag gerne ausfahren.«

»Das ist wirklich nicht nötig.«

»Valerie muß anfangen, sich zu zeigen.« Das kam von Lady Westcott. Mit einem Blick warnte sie Lucy, sich ihrem Willen entgegenzustellen. »Es wird gut für sie sein, wenn sie sich sehen läßt. Man wird anfangen, über die neue Schönheit zu reden, die in der Stadt weilt. Und sorgen Sie dafür, daß sie etwas Blaues trägt«, endete sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Lucy biß die Zähne zusammen. »Sehr wohl. Doch während Lord Westcott sie ihren künftigen Verehrern vorführt, würde ich ihr gerne ein wenig geistige Anregung bieten.«

»Geistige Anregung?« fragte Lady Westcott wachsam.

»Was verstehen Sie darunter?«

»Es findet eine Vorlesungsreihe statt über den menschlichen Intellekt und die Einflüsse, die auf die Erziehung junger Menschen einwirken. Diese Vorlesungen würde ich gerne mit ihr besuchen.«

Zu Lucys Überraschung war Lady Westcott einverstanden. Es hatte sogar den Anschein, als lächelte sie zustimmend, was Lucy aber ziemlich unwahrscheinlich fand.

Auch um Ivans Lippen spielte ein leichtes, überhebliches Lächeln, als wolle er andeuten, daß alles genau nach seinen Plänen liefe. Doch das würde es nicht, dafür wollte Lucy sorgen. Sollte er morgen nur seine Launen an ihr austoben, Valerie würde sich dadurch lediglich noch weiter vor ihm zurückziehen.

Und in der Zwischenzeit würde Lucy, mit Hilfe von Sir James, die leicht beeindruckbare Valerie über eine har-monische Beziehung zwischen Eheleuten aufklären, eine Beziehung, die, wenn nicht auf Liebe, so jedenfalls auf Respekt gegründet war; eine Beziehung, die nicht wegen Geld oder Titeln eingegangen werden sollte.

Sie schob ihre Hand unter Valeries Arm und verließ mit ihr den Raum, nachdem sie vor Lady Westcott einen artigen Knicks gemacht und Ivan höflich zugenickt hatte.

Doch später, als sie die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich zugemacht hatte, lehnte sie sich gegen das dicke Holz und starrte zum gegenüberliegenden Fenster.

Würde sie heute nacht wieder hören, wie er irgendein Frauenzimmer unter diesem Fenster verabschiedete?

Obwohl sie sich einzureden versuchte, daß es sie überhaupt nicht interessierte, wußte sie, daß sie sich selbst etwas vormachte. Aber es war schließlich nur Neugierde, nichts weiter. Was er tat, berührte sie nicht, aber man durfte doch neugierig sein. Jeder halbwegs intelligente Mensch war das. Zugegeben, Neugierde war nicht gerade ein feiner Charakterzug, aber trotzdem weit verbreitet.

Lucy stieß sich von der Tür ab und begann die Haarnadeln aus ihrer Frisur zu ziehen. Sie nahm sich vor, Sir James nach seiner Ansicht zur Neugierde zu befragen, falls sich die Gelegenheit dazu bieten sollte. Sie würde ihn fragen, weshalb manche Gegenstände den Geist stärker erregten als andere und dazu führten, genauer hinzuschauen und tiefer nachzugraben. Doch sie würde ihre Frage ganz allgemein stellen, ohne Namen zu nennen, denn sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde sie sich speziell für eine besondere Person interessieren.

Obwohl leider genau das der Fall war.