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Die Wirkung der Schmerztabletten setzte rasch ein, und sie verursachten ihm zunächst eine leichte Übelkeit, gefolgt von einem vagen Gefühl des Wohlbefindens, auf das er wahrscheinlich gut und gern hätte verzichten können. Er strich im Erdgeschoss der Behausung herum, maß Schusswinkel aus und dachte halbherzig über Wehrhaftigkeit nach. Er spielte mit dem Stapel Waffen auf der Frühstückstheke, brachte dafür letztlich jedoch auch nicht viel Interesse auf. Etwas stand dem entgegen.
Er entdeckte eine Stelle, wo er sich hinsetzen und hinaussehen konnte, durch den Cañon hindurch bis zu den hoch aufragenden Bergen, von denen er umgeben war. Das Sonnenlicht stach wie ein Messer über den Gebirgskamm und ließ die Luft erglänzen, sodass alles leicht irreal wirkte. Als hätte sie darauf die ganze Zeit über gewartet, betrat Sevgi Ertekin seine Gedanken.
Es war dasselbe Gefühl. Genauso hatte er sie gespürt, als er das Licht über den Hügeln von Marin hatte schwinden sehen, und wiederum, als er die Schluchten von Manhattan über die Brooklyn Bridge verlassen hatte. Er ließ die Empfindung durch sich hindurchrinnen, und damit einher ging ein schleichendes Gefühl der Anspannung. Die bewussten Gedanken holten die unbestimmten ein, wie es bei Gray gewesen war. Vielleicht war es das Kodein, das irgendwo über einen synaptischen Schalter gestolpert war, der dem Verständnis jetzt Zugang gewährte. Sevgi war dahin. Sein Gehirn war darauf gepolt, diese Tatsache erfolgreich zu verarbeiten. Aber sie war nicht tot. Denn die uralten Gene seiner Vorfahren aus Afrika würden damit einfach nicht kalkulieren. Menschen hörten nicht einfach so auf zu existieren, sie verschwanden nicht einfach so in der verdammten dünnen Luft. Wenn Menschen verschwunden sind, beharrte irgendein tief einprogrammierter Teil seines Bewusstseins, ist das deshalb so, weil sie anderswo sind, nicht wahr? Also ist Sevgi verschwunden. Schön. Wohin sie aber verschwunden ist, das müssen wir herausfinden, weil wir dann dorthin gehen und sie finden, bei ihr sein und schließlich den verdammten Schmerz loswerden können.
Also.
Diese Hügel, die dort drüben auf der anderen Seite der Bay in der Dunkelheit ersterben – glaubst du, sie könnte da sein? Oder inmitten des Glases und Stahls auf der anderen Seite der Brücke, vielleicht? Oder, okay, vielleicht oben auf diesem verdammten Cañon und drüben auf der anderen Seite dieser Berge dort. Vielleicht ist sie da. Oben hinter dem glänzenden, unwirklichen Licht, oben in der dünnen Luft, und sie wartet da auf dich.
Zum ersten Mal im Leben erkannte er, warum es Wiederkäuern so schwer fiel, nicht an ein Leben nach dem Tod zu glauben, an einen anderen Ort, wohin man ging, wenn man von hier verschwunden war.
Und dann, als er seine eigene Polung überwand, als die Einsicht kam, schmolz das Gefühl dahin, dass sie gekommen war, alles zu erklären, und ließ ihn mit nichts an ihrer Stelle zurück als dem nackten Schmerz in der Brust und dem stechenden Balsam des Hasses.
Und aus der dünnen Luft kamen, wie als Antwort darauf, die Helikopter.
Es waren zwei, unklassifizierbare kommerzielle Maschinen, die mit der ungelenken Behutsamkeit von Schnaken durch die glänzende Luft des Cañons herabkamen. Eine Weile streiften sie geräuschvoll hin und her, tauchten herab, wobei die steil gestellten Rotorblätter in der Sonne glitzerten, und hielten dann ihre Stellung über dem Fluss, gegenüber der Behausung. Carl beobachtete sie freudlos durch das zerschlagene Panoramafenster. Genügend Tragfähigkeit in den beiden Luftfahrzeugen für mindestens ein Dutzend Männer. Er hielt sich aus ihrem Blickfeld, ließ die um die Tür verstreuten Leichen das gewünschte Bild malen. Die Helikopter schwankten und kippten ab. Schließlich nahm er eines der Steyr-Sturmgewehre und schoss eine rasche Salve durch das Fenster in ihre Richtung. Die Reaktion erfolgte prompt – beide Maschinen bäumten sich auf und entflohen flussabwärts, vermutlich auf der Suche nach einem sicheren Platz zum Landen.
Der Pfad verlief in diese Richtung, wie er wusste, grub sich eine Rinne nach unten zum Wasser und errichtete so auf der Landseite eine weitere Felsmauer. Sie wären in der Lage, stromaufwärts zurückzukehren und bis zum Rand des gesäuberten Grunds draußen vor dem Bau in Deckung zu bleiben – Spiegelbild seiner Annäherung von der anderen Seite vor einigen Stunden. Er runzelte leicht die Stirn, drückte den zusammenklappbaren Lauf der Steyr gegen seine Schulter, sah mit zusammengekniffenen Augen über die Kimme und schwenkte die Waffe versuchsweise über den gesäuberten Bereich. Er war sich ziemlich sicher, dass er jeden, der aufs Haus zulief, niederwerfen konnte, bevor er auch nur wenige Meter im Freien überwunden hätte. Vielleicht versuchten sie es mit einem Sturmangriff, aber das war wenig wahrscheinlich – sie wussten nicht, wie viele im Haus waren oder was sie vielleicht mit Greta Jurgens angestellt hatten, ob sie noch lebte oder schon tot war, geborgen in ihrem Mutterleib lag oder nach unten geschleift worden war und bereitgehalten wurde, um wie eine schlaffe Stoffpuppe als Schild zu dienen.
Und der Bau war eine harte Nuss zu knacken. Insofern war Ferrer sehr deutlich gewesen. Die Nutte hat ’ne verfluchte Festung da draußen, Mann. Direkt in den beschissenen Fels rein, keine Möglichkeit, von oben ranzukommen, spiegelglatte Wände, sodass man nicht heimlich hoch kann. Ich meine, er lehnte sich zurück, die Hände in den Taschen seiner sauberen neuen Baumwollhose, grinste höhnisch und zuversichtlich, nachdem er jetzt seinen Teil der Abmachung eingehalten hatte, wen, zum Teufel, erwartet die eigentlich, Mann, die verdammte Armee? Und das alles, nur damit sie schlafen kann? Mann, ich weiß nicht, warum sich diese Nutte auf Mancos Eier stürzt, muss aber was ziemlich Dolles sein, dass er das alles für sie tut. Muss ihm die Mutter aller Blowjobs gegeben haben oder so was.
Wie Stéphane Névant vor ihm sah Suerte die Ergebnisse und stürzte sich auf die offensichtlich falsche Schlussfolgerung. Onbekend blieb im Hintergrund. Wenn man nicht wusste, dass er bereits da war, hätte man nach anderen, offensichtlicheren Erklärungen gesucht.
Unmenschliche Monster, zum Beispiel, zurückgekehrt vom Mars.
Es war die treibende Kraft, um die herum Ortiz seine ganzen Tarngeschichten errichtet hatte. Ein Monster beschleicht uns! Alle Männer an die Palisaden und Fackeln in die Hände! Keine Fragen stellen, niemals fragen, wer wirklich für diese Dinge verantwortlich ist.
Ein Kopf tauchte unten auf, nahe am Fluss. Carl ließ ihn sich umschauen und feuerte dann eine weitere Salve ab. Steinsplitter und Staub sprangen in die Luft, und der Kopf fuhr ruckartig zurück.
Nur damit ihnen die Lage klar ist.
»Marsalis?«
Manco Bambarens Stimme. Carl lehnte sich mit dem Rücken an den Fensterrahmen, blieb in den Schatten und spähte mit einem Auge um die Kante. Das Sonnenlicht des frühen Nachmittags strömte steil herab in den Cañon. Wenn man sich hinhockte und nach oben schaute, konnte man es so gerade eben üppig am Grat hinabfallen sehen, darunter einen friedlichen blauen Schimmer, wo die höheren Abschnitte der Talwand im Schatten lagen. Da die Helikopter jetzt verschwunden waren, war es sehr still – bis auf das Sirren und Raspeln der Grillen und das Summen der Fliegen auf den Leichen draußen.
»Schwarzer Mann, bist du das?«
»Gut geraten«, rief er zurück und wählte anstelle von Bambarens Spanisch Quechua. »Was willst du?«
Kurzes Zögern. Carl überlegte, ob Onbekend einem Gespräch auf Quechua vielleicht nicht folgen konnte – es gab keine Garantie dafür, dass er es in der Zeit erlernt hatte, als er sich oben auf dem Altiplano versteckt gehalten hatte. Er wäre leicht genug mit Spanisch und Englisch durchgekommen. Und als Bambarens Hätschel-Pistaco hätte er sich bei den Einheimischen nicht integrieren müssen. Die übliche Isolation des Dreizehners hätte traumhaft gut funktioniert.
Auf jeden Fall sprach Bambaren weiterhin Spanisch. »Es geht wirklich darum, was du willst, Marsalis. Können wir reden?«
»Natürlich. Komm rein!«
»Du garantierst mir, mich nicht zu erschießen, bevor du angehört hast, was ich zu sagen habe?«
Carl grinste. »Ich weiß nicht so recht. Verlässt du dich auf das Wort eines Verdrehten?«
»Ja. Tue ich.«
»Dann komm rüber. Keine Waffen, keinen Körperschutz, die Hände da, wo ich sie sehen kann.« Carl hielt inne. »Oh, ja, und bring deinen Bruder mit.«
Langes, langes Schweigen. Die Grillen zirpten in der erhitzten Luft draußen.
»Was ist los, Manco? Hast du die Nachrichten nicht gesehen? Ist jetzt alles niedergebrannt, hast du das nicht gewusst? Ortiz ist weg. COLIN macht Großreinemachen. Wir wissen alles über Onbekend. Also zeigt euch alle beide!«
Es benötigte einige Minuten, aber dann kamen die beiden Gestalten aus der Deckung unten am Pfad und schritten auf den Bau zu, die Hände über dem Kopf verschränkt. Carl beobachtete sie über die Kimme der Steyr. Onbekend hielt einen Arm schief, als tue es ihm weh, ihn zu heben. Carl fiel Sevgi in der Bayview-Bar ein – habe ihn einige Male getroffen, aber nicht schwer genug, um ihn umzunieten. Dreizehner, hu!
Tja, wir sind zähe Burschen.
Er zielte auf Onbekends Gesicht, spannte den Zeigefinger am Hahn ein paar Mal, nahm die Anspannung in sich auf. Dann ließ er los und legte die Waffe ungeduldig zur Seite. Er nahm eine Handfeuerwaffe, eine weitere Glock, vom Stapel auf dem Fußboden, sah nach, ob sie geladen war, und spannte sie. Als Bambaren und Onbekend die Schwelle erreichten, trat er zurück, eingedenk möglicher Schusswinkel durch das Panoramafenster, und winkte ihnen mit der Pistole.
»Kommt weiter rein!«
Onbekend starrte ihn an und fauchte auf Englisch: »Wo ist sie, Marsalis?«
»Nicht so hastig. Dahinten hin, zu dem Tisch in der Nische, alle beide. Die ganze Zeit über Hände auf dem Kopf. Ich werde mich nicht damit abgeben, euch nach Waffen abzutasten, also wenn einer von euch eine Hand ohne meine Erlaubnis auch nur irgendwo in die Nähe seines Körpers bringt, werde ich einfach davon ausgehen, dass er eine Waffe ziehen will, und ihn erschießen. Kapiert?«
Bambaren drehte und wand sich leicht hin und her, und sein Blick glitt über den offenen Raum innerhalb des Baus. Er verstand und bekam große Augen.
»Du bist allein hergekommen?«
»Geht zum Tisch. Setzt euch auf die beiden Stühle, die ich hervorgezogen habe. Haltet die Hände auf dem Kopf, bis ihr euch gesetzt habt, und legt sie dann vor euch auf den Tisch. Keine jähen Bewegungen. Eine jähe Bewegung bedeutet euren Tod.«
Er zerrte an der Tür, zog, bis sie quietschend ins Schloss fiel.
»Marsalis, ich habe fünfzehn Männer da draußen.« Bambarens Stimme war leise, und er sprach im Plauderton, als er zum Tisch ging. Er hatte nun ebenfalls zu Englisch gewechselt. »Du bist hier eingeschlossen. Reden wir doch darüber!«
»Wir werden darüber reden. Aber ihr werdet euch hinsetzen, wenn wir das tun. Hände, wo ich sie sehen kann, und dann flach auf den Tisch vor euch.«
Sie ließen sich nieder, ungeschickt, da sie die Hände gehoben halten mussten. Bambaren setzte sich an den Kopf des Tischs, Onbekend an die Seite. An dieser Stelle war der Raum weit in die Felswand hineingebaut, und es war kühl und dämmrig, sodass die beiden Männer, wie sie mit steifem Rücken auf den Stühlen saßen, die Hände auf der hölzernen Platte, die Gesichter angespannt, aussahen wie Teilnehmer an einer geheimen spiritistischen Sitzung. Carl zog einen Stuhl heran und setzte sich Onbekend gegenüber, ein gutes Stück von der Tischkante entfernt. Er hielt die Glock über dem Knie.
»Und was jetzt?«, fragte der andere Dreizehner gleichmütig.
»Jetzt sprechen wir darüber, warum ich euch beide nicht töten sollte. Irgendwelche Ideen?«
»Bist du so wild darauf zu sterben, schwarzer Mann?«, fragte Bambaren.
Carl warf ihm ein schwaches Lächeln zu. »Na ja, fünfzehn zu eins ist ein schlechtes Verhältnis, das stimmt schon. Andererseits sah acht zu eins auch nicht gut aus, und sie liegen alle da draußen, Futter für die Fliegen.«
»Hast du nichts gelernt?« Onbekend sah ihn mit derselben Geringschätzung an, die er schon in der Bayview-Bar gezeigt hatte. »Bist du nach wie vor nichts Besseres als ein Soldat für die Wiederkäuer?«
Bambaren versteifte sich. Carl brachte ein kleines Lächeln zustande.
»Bist wohl lieber mal vorsichtig, in wessen Umgebung du dieses Wort gebrauchst, Bruder. Es ist nicht Mancos Schuld, dass er aus Isabelas Rohmaterial kein aufgepepptes limbisches System und einen aufgemotzten Dreizehnerbereich bekommen hat.«
Onbekend erübrigte für Bambaren kaum einen Blick. »Ich spreche nicht von Manco, und er weiß das. Ich spreche von den Männern bei der UN, denen du deine Seele verkauft hast.«
»Ich bin nicht für die hier.«
Onbekend kniff die Augen zusammen. »Warum bist du dann gekommen?«
»Weil du eine Freundin von mir umgebracht hast.«
»Wenn du Freunde hast, Angeheuerter, dann kenne ich sie nicht. Wen habe ich umgebracht?«
»Du hast eine Frau namens Sevgi Ertekin erschossen, eine Polizeibeamtin, als sie dir hinaus auf die Straße in Bayview gefolgt ist. Du hast sie mit einer Haag-Pistole angeschossen, und sie ist gestorben.«
»Hast du sie gebumst?«
»Ja, wir haben miteinander gebumst. Ziemlich genau so wie du und Jurgens.«
Onbekends Gesicht erbleichte, als er die logische Konsequenz dessen erfasste. Er räusperte sich.
»Es war ein Feuergefecht«, sagte er ruhig. »Nichts Persönliches. Du an meiner Stelle hättest dasselbe getan.«
Carl dachte an das Horkan-Garrod-Camp und an Gaby. Die Haag-Geschosse, die sie niedergeworfen hatten.
»Das steht hier nicht zur Debatte.«
»Was dann?«
Carl starrte den anderen Dreizehner an. »Bezahlung.«
»Hör mir zu, Marsalis!« Manco Bambaren, der das Gehörte missverstanden hatte. »Gleich, wie viel wir dir deiner Ansicht nach schuldig sind, wir können zu einer Übereinkunft gelangen.«
»Manco, halt’s Maul!« Der Tayta sah Onbekend an, als hätte er ihm eine Ohrfeige verpasst. Onbekend beachtete ihn nicht, bemerkte es vielleicht nicht einmal. Er hielt den Blick unverwandt auf Carl gerichtet. »Ich soll also Gretas Leben mit meinem eigenen erkaufen?«
»Warum nicht? Ist derselbe Handel, den du Toni Montes angeboten hast, nicht wahr? Ihr Leben gegen das ihrer Kinder.«
Onbekend sah auf seine Hände hinab. »Wenn du wüsstest, was Toni Montes mit ihrem Leben angestellt hat, bevor sie diesen Namen annahm, was sie mit anderen Kindern tat, bevor sie selbst welche bekam, würdest du vielleicht nicht so hart über mich urteilen.«
»Ich urteile überhaupt nicht über dich. Ich möchte dich einfach bloß tot sehen.«
»Wenn du ihn tötest, schwarzer Mann, musst du mich auch töten.« In Bambarens Worten lag eine ruhige Entschlossenheit. »Und dann werden meine Männer dich niedermetzeln wie einen räudigen Hund.«
Carl warf ihm einen Blick zu. Er lächelte und schüttelte ein klein wenig den Kopf.
»Dir gefällt es wirklich, einen jüngeren Bruder zu haben, nicht wahr, Manco? Na ja, das kann ich dir vermutlich kaum verdenken. Aber möchtest du etwas über diesen deinen Bruder erfahren?« Er nickte zu Onbekend hinüber. »Dieser dein Bruder ist ein Zwilling. Du hast in Wahrheit zwei jüngere Brüder. Das hast du den ziemlich verzweifelten Versuchen deiner Mutter zu verdanken, in Perus neuem kapitalistischen Traum nicht unterzugehen. Der andere hieß Allen Merrin. Unglücklicherweise ist er tot. Möchtest du wissen, warum?«
Bambaren sah zwischen den beiden Dreizehnern hin und her.
»Er ist tot, weil du ihn getötet hast, Marsalis«, sagte Onbekend beiläufig. »Zumindest habe ich das so gehört.«
»Er ist tot, weil sein Zwillingsbruder, Onbekend hier, ihn vom Mars zurückgeholt hat, um dessen Genset zu opfern. Hat ihn an die Leute verkauft, für die er gearbeitet hat. Hat ihn als Erklärung benutzt…«
»Aber du hast ihn getötet, oder?«
Der Tayta starrte Onbekend an. »Was soll das? Wovon redet er?«
»Es ist nichts.«
»Erzähl mir nicht, dass es nichts ist, Onbe.« In Bambarens Worten sammelte sich allmählich eine gewisse Anspannung. Dasselbe hatte Carl auf seinem Gesicht beobachtet, als Onbekend das Wort Wiederkäuer gebraucht hatte. »Wovon redet er?«
»Ich rede von Isabelas anderem modifizierten Sohn, Manco.« Carl hob die Pistole in Onbekends Richtung. »Das Ei, das deine Mutter an die Gringos verkauft hatte, teilte sich ein paar Tage später, und Projekt Gesetzeshüter hatte am Ende zwei identische Dreizehner zum Preis von einem. Während dein Bruder hier sich daran machte, unbequeme Kollegen aus seiner Vergangenheit abzuschlachten, trug er gleichfalls dafür Sorge, dass sein Bruder die Sache ausbaden musste.«
»Höre nicht auf ihn, Manco. Das ist…«
»Lügt er?« Der Ausdruck auf dem Gesichts des Tayta zeigte, dass er die Frage rhetorisch meinte. Seine Stimme sank fast zu einem Geflüster ab. »Du hast das getan? Du hast dein eigen Blut dazu benutzt, um dich dahinter zu verstecken?«
»Manco, mir blieb wirklich keine andere Wahl. Ich habe dir die Lage geschildert, in die Ortiz mich gebracht hatte. Ich habe dir die Gefahr geschildert, die…«
»Davon hast du mir nichts erzählt!«
Und jetzt zitterte Bambaren, der nach wie vor den Dreizehner anstarrte, dessen Gene er teilte. In seinem Gesicht zuckte unterdrückte Wut.
»Einen Bruder?«, fragte er heiser. »Einen Zwillingsbruder? Du hast deinen Zwillingsbruder verkauft? Nachdem du zu mir gekommen bist und ich dir…«
»Es ist nicht wichtig, Manco. Ich habe ihn nie gekannt, ich bin ihm nicht mal begegnet…«
»Er war von deinem Blut!« Bambaren wollte aufstehen. Carl richtete die Glock auf ihn, und er sank zurück, saß da wie etwas in sich Zusammengerolltes. »Er war von deiner Mutter Blut! Als du zu mir gekommen ist, habe ich dir gesagt, das Blut ist alles. Die Unternehmen haben uns die Seelen gestohlen, sie haben die Bande zerrissen, die uns stark machen, uns in uniforme Fremde verwandelt, die ihr Leben in vervielfältigten Schachteln leben. Die Familie ist alles, was wir haben.«
»Nicht, wenn du ein Dreizehner bist«, erklärte Carl düster.
Es folgte eine lange Pause.
»Manco, hör mir zu«, sagte Onbekend. »Ich tat das zum Schutz…«
»Hast du es je unserer Mutter erzählt?« Bambarens Gesichtsausdruck war kalt geworden und hart wie die Steine draußen in Sacsayhuaman, und seine Stimme war so leise wie der Wind.
»Hast du Isabela jemals erzählt, dass sie irgendwo einen weiteren Sohn hatte?«
Onbekend konnte sich nicht mehr beherrschen. »Um Himmels willen, Manco, das hätte nichts eingebracht!«
»Nein?«
»Nein. Er war auf dem Mars!«
Die Stille rauschte nach diesen Worten herein wie eine Flut, wie ein Lufthauch, der eine Kerzenflamme ausblies. Schweigend saßen sie in dem Dämmerlicht.
»Vermutlich möchtest du gern wissen, wie dein anderer Bruder zur Rückkehr vom Mars überredet wurde, nicht wahr, Manco?«
Onbekend spannte sich an. Kratzend sagte er: »Marsalis, ich warne dich!«
»Zieh das nicht mal in Erwägung!«, sagte Carl zu ihm. »Ich knalle dich ab, bevor dein Arsch auch nur die Sitzfläche verlässt.«
Er rückte ein wenig zu Bambaren hinüber. Hielt die Glock auf den Dreizehner gerichtet. Der Tayta erwiderte seinen Blick.
»Siehst du, Manco, dein unerwarteter Bruder hat einen Deal mit dem Mars gemacht. Vermutlich wusstest du davon nichts?«
»Es war kein Deal«, knurrte Onbekend. »Es war eine Strategie, eine Täuschung.«
»Okay, er hat eine Täuschung organisiert, in deinem Namen. Dein anderer Bruder sollte zurückkehren als ein Killer für die marsianischen Zweige. Gleiche Geschichte wie das Auslöschen der familias von Lima über Wiedergutmachung, der Stilllegung der ganzen afrenta marciana, damit du wieder sämtliche Geschäfte mit dem Mars machen könntest. Stimmt das so in etwa, Onbekend?«
»Du hast das getan?«, flüsterte Manco Bambaren. »Selbst das?«
»Komm schon, Manco, wir haben oft genug darüber gesprochen.« Onbekend gestikulierte ungeduldig. »Es war sowieso nicht ernst gemeint, aber…«
»Du hast meinen Namen benutzt?«
»Als Referenz, ja. Marsalis, du Arsch, hör mir zu…«
Bambaren setzte über den Tisch und fiel Onbekend an. Der Dreizehner sprang seinerseits auf, aus heiterem Himmel erwischt, und wehrte ihn ab. Carl hob die Glock.
»Meine Herren!«, warnte er.
Bambaren schien ihn nicht zu hören. Er legte die Arme auf den Tisch und starrte nach wie vor hinab in das Gesicht des Mannes, den er zu seinem Bruder gemacht hatte. Die Wut holte seinen Akzent hervor, kratzte das Englisch an, in dem er sprach.
»Du hast meinen verdammten Namen benutzt?«
»Setz dich, Manco!«, ordnete Carl an. »Ich sag’s dir nicht noch mal!«
Aber das familia-Oberhaupt setzte sich nicht. Statt dessen wandte er sich absichtlich Carl und der Glock zu. Er holte tief Luft.
»Ich möchte jetzt gehen«, sagte er steif. »Ich habe kein weiteres Interesse an dieser Sache. Ich ziehe meinen Schutz von Greta Jurgens zurück.«
»Oh, Manco, du kannst das nicht, verdammt…«
»Sage mir nicht, was ich kann, Verdrehter.« Manco stieß sich mit beiden Händen vom Tisch ab. Er sah Carl an. »Nun? Ist unser Geschäft damit abgeschlossen, schwarzer Mann?«
»Natürlich.« Carl hatte nicht annähernd erwartet, dass es so gut funktionieren würde, aber er wollte den plötzlichen Vorteil auch nicht sausen lassen. »Geh zur Tür, Hände auf dem Kopf. Geh hinaus und schließe die Tür hinter dir. Und ich höre diese Helikopter besser innerhalb von zehn Minuten von hier verschwinden!«
Bambaren erhob sich und verschränkte die Hände über dem Kopf. Er und Onbekend sahen einander für einen langen Augenblick an.
»Tu’s nicht«, sagte Onbekend gepresst. »Ich bin dein Bruder, Manco. Seit vierzehn Jahren bin ich dein verdammter Bruder.«
»Nein.« Bambarens Stimme war jetzt so schneidend wie die Kühle, die aus der Felsnische kam. »Du bist nicht mein Bruder, du bist ein Irrtum. Mein Irrtum, der Irrtum meiner Mutter und der Irrtum von Gringos ohne Seelen. Du bist ein verdrehtes, verdammtes Ding, ein Ding, das sich in meine Familie geschlichen und mich benutzt hat, ein Ding, das das lebendige Fleisch von meinen Knochen geschnitten hat, um sich davon zu nähren. Ich hätte auf die anderen hören sollen, als du gekommen bist.«
»Du hast mich auch benutzt, du Arsch!«
»Ja. Ich habe dich für das benutzt, was du bist.« Bambaren spuckte auf den Tisch vor dem Dreizehner. »Verdrehter! Pistaco! Du bist nichts für mich!«
Onbekend starrte auf den Speichel hinab. Dann schoss er jäh hoch.
»Das reicht, Onbekend!« Carl klopfte auf die Tischplatte und winkte mit der Glock. »Setz dich wieder, verdammt!«
Auf Onbekends Mund lag ein Grinsen. »Ich glaube kaum.«
Carl kam blitzschnell auf die Beine. Der Stuhl kippte hinter ihm um, und die Glock war auf Onbekends Gesicht gerichtet.
»Ich habe gesagt…«
Und dann war Bambaren über ihm wie ein Opsdog.
Im Nachhinein wurde ihm nie klar, weshalb der Tayta ihn angesprungen hatte. Vielleicht war es Wut, die Wut über Onbekend, aber allgemein auch auf sämtliche Dreizehner, vielleicht auf alle Varianten, vielleicht nur auf jeden in Reichweite. Vielleicht Wut auf die ungewohnte Machtlosigkeit, an einem Tisch unter der Waffe eines anderen Mannes zu sitzen. Oder vielleicht – ihm missfiel dieser Gedanke aufs Äußerste – überhaupt keine Wut, vielleicht hatten die beiden, Bambaren und Onbekend, die beiden ungleichen Brüder, vielleicht hatten sie am Ende nur mit Carl gespielt, improvisiert, die Gegebenheit genutzt, und es hatte funktioniert.
Bambaren schlug mit einer Hand nach der Glock, schlug sie weit zur Seite und kam kreischend um den Tisch herum. Die Waffe ging los, einmal, völlig nutzlos. Carl drehte sich um und warf ihn, den Schwung des anderen Mannes ausnutzend, über seine Hüfte. Der größte Teil seiner selbst suchte nach wie vor herauszubekommen, wohin Onbekend verschwunden war. Bambaren klammerte sich mit der Wildheit des Straßenkämpfers an ihn, die Finger hackten nach Carls Augen wie Klauen, das Knie knallte in Carls Geschlechtsteil. Er ließ die Waffe fällen. Beide gingen zu Boden und kämpften wild darum, obenauf zu bleiben.
Tanindo und das Netz gewannen das Rennen. Bambaren konnte eine überholte, auf der Straße erworbene Wildheit abrufen, aber durch das Alter und die jahrelange gehobene Position nur noch sehr nebelhaft. Carl durchbrach seine Umklammerung, fing die Hiebe mit der Polsterung der Weblarweste ab, wobei er fest die Zähne zusammenpresste, als der Schmerz in seinen gebrochenen Rippen durch den Schleier aus Kodein aufflammte. Er stieß ein Knurren aus, wehrte einen Kniestoß gegen sein Geschlechtsteil ab und trieb dann dem Tayta einen Ellbogen ins Gesicht. Der andere Mann wich zurück. Carl stach ihm mit steifen Fingern unters Kinn. Bambaren würgte und…
Hinter ihm, im Wohnraum, brach das erst kürzlich vertraut gewordene Geknatter eines Steyr-Sturmgewehrs los. Kurze, kontrollierte Salven.
Er riss sich von Bambaren los, wälzte sich auf der Suche nach Deckung vom Tisch und den Stühlen weg. Der Tayta kreischte, und dann fuhr ein weiterer kurzer Sturm automatischen Feuers über sie beide hinweg und erstickte den Aufschrei. Die Tischplatte wurde durchlöchert, die Geschosse des Sturmgewehrs fuhren hindurch wie durch einen Pappkarton. Er hörte sie auf dem Felsen hinter sich aufprallen. Etwas schlug ihm in den Rücken, Querschläger, dachte er flüchtig. Die Glock, die verdammte Glock…
… war weg. Aus seiner Position am Fußboden heraus sah er Onbekends Beine herantreten, sich vorsichtig hinhocken und für einen Schuss um die Ecke spähen. Er tat das Einzige, was ihm noch blieb: Er sprang rasend schnell auf, mit vom Netz gespeister Schnelligkeit und wilder Kraft, kippte den Tisch auf zwei Beine und hielt ihn wie einen Schild vor sich. Onbekend feuerte weiter, der Tisch kippte um wie eine abgeworfene Spielkarte, unmöglich langsam, und er duckte sich beiseite. Die Steyr knatterte, Geschosse prallten auf, die Weste wurde zusammengequetscht und erwärmte sich, während sie arbeitete, die Schüsse schleuderten ihn zurück in die Nischenwand…
Und das Feuer hörte auf.
Es war beinahe komisch. Onbekend stand mit der plötzlich schweigenden Waffe in Händen da. Das schwache Ping der Ladekontrolle tönte durch die Stille wie ein tropfender Wasserhahn. Sein Blick fiel hinab von Carls Gesicht auf die Steyr und erfasste das blinkende rote Lämpchen. Er hatte keine Zeit gehabt, das Magazin zu überprüfen, musste die erstbeste Waffe vom Stapel auf der Frühstückstheke genommen haben, und er hatte eine fast völlig geleerte erwischt.
Carl stieß sich mit einem Aufschrei von der Wand ab.
Onbekend warf ihm die leer geschossene Steyr entgegen, er schlug sie beiseite. Der andere Dreizehner versuchte, ihn zu packen, er zerhackte und zerstampfte den Versuch, trieb Onbekend mit einem Wirbel aus Tanindo-Technik durch den Raum zurück. Der Dreizehner blockte und deckte sich, versuchte, Gegenstöße anzubringen, aber die ganze Zeit über konnte Carl den Schaden, den Sevgis Kugeln angerichtet hatten, daran erkennen, wie sich der andere Mann bewegte. Er spürte, wie sich ein Knurren seinen Lippen entrang, eine wilde Befriedigung, die bis ins Innerste empfundene Erwartung eines zugefügten Schadens. Er traf, durchbrach eine Verteidigung, brachte einen hohen Schlag an und erwischte Onbekend über der Kinnlinie. Der andere Dreizehner geriet ins Stolpern, sein Rücken hatte jetzt fast das zerschmetterte Panoramafenster erreicht. Hinter ihm Blut und durchscheinendes Licht – Carl erhaschte es aus dem Augenwinkel, blassrotes, verschmiertes Blut auf der abgerissenen Unterkante der verbliebenen Scheibe, das Glitzern der Sonnenstrahlen auf den Sägezahnkanten. Erneut brachte er einen Hieb bei Onbekend an…
Und hinter der Scheibe hockte eine Gestalt.
Carl blieb noch die Zeit, das schockierte, entsetzte Gesicht in sich aufzunehmen, die gehobene Schrotflinte. Der Schwung seines Angriffs ließ sich nicht mehr aufhalten, er konnte sich lediglich stolpernd über den Raum tragen lassen und dabei versuchen, dem Schuss nicht in die Quere zu kommen. Die Schrotflinte knallte los, schlug weiteres Glas aus dem zerschmetterten Fenster, und Onbekend brüllte auf. Carl fing sich an der Frühstückstheke, schob klappernd etliche Waffen zu Boden und ließ sich ebenfalls fallen. Er schnappte sich, was gerade in Reichweite lag, entdeckte in seiner Hand ein weiteres der Sturmgewehre, zog es herum – Sicherheitsbügel lösen – und drückte genau in dem Augenblick ab, als die Tür nach innen flog.
Zwei von Bambarens Männern standen dort. Sie hatten das Schloss herausgeschossen und waren hereingestürmt, der eine oben, der andere unten. Carl saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken zur Frühstücksbar, wo sie ihn nun überhaupt nicht erwartet hätten. Er hielt den Hahn der Steyr gedrückt und schoss in weitem Bogen. Das hämmernde Feuer trieb beide Männer zurück, wobei ihre Gliedmaßen wedelten, als versuchten sie, die Kugeln abzuwehren. Einer flog durch den Eingang und landete draußen in einem Staubwirbel, der andere verfing sich mit dem Knöchel an der Türschwelle, und er ging an Ort und Stelle zu Boden. Carl rutschte mit dem Rücken hoch, ging am Rand des Panoramafensters in Deckung, glitt dann herum und holte den Mann mit der Schrotflinte von den Beinen.
Sporadisches Feuer weiter entfernt. Keine weiteren Leichen. In der jähen Stille meldete die Steyr beharrlich weitere Munition an. Der vorherige Besitzer der Waffe hatte die Magazine verdoppelt, zwei Rücken an Rücken und umgekehrt mit Klebeband aneinander geheftet. Carl öffnete die Waffe, vertauschte die Seiten und klickte das frische Magazin wieder an Ort und Stelle.
Irgendwo stöhnte Onbekend auf dem Fußboden.
Carl spähte hinaus und sah hingeduckte Gestalten, die hastig zurückwichen, wieder neben dem Pfad in Deckung glitten. Er jagte sie mit einer raschen Salve aus der Steyr weiter davon, holte tief Luft, kehrte zum Eingang zurück und schob den Leichnam auf der Schwelle mit seinem Stiefel beiseite, sodass er die Tür zuziehen konnte. Auf halben Weg entdeckte er, dass der Mann noch am Leben war, flach und rasch atmete, die Augen geschlossen hielt. Carl schoss ihm mit der Steyr in den Kopf, trat ihn ganz hinaus und schloss die Tür. Dann zerrte er einen Sessel über den Boden und drückte ihn fest unter den Griff. Vage nahm er dabei den Schmerz wahr – er blieb stehen und schaute hinab auf die Weste, sah die glänzenden Beulen, wo das genmanipulierte Weblar die Geschosse aufgehalten und darum herum zugeschmolzen war. Aber Blut sickerte am unteren Saum des Kleidungsstücks vorbei. Er zog es hoch und entdeckte eine hässliche Furche im Fleisch über seiner Hüfte. Schräges Feuer von jemandem, als er während der letzten anderthalb Minuten gesprungen, sich gedreht oder hingestürzt war. Konnten gut und gern Onbekend oder die Typen an der Tür gewesen sein, vielleicht sogar ein verirrter Weitschuss von draußen.
Bei dem Anblick überrollte ihn der Schmerz. Er sackte auf der Lehne des Sessels zusammen.
»Das ist ’ne verdammte Ironie.« Onbekend hustete nass vom Fußboden her. »Ich war so nahe daran, dich um die Ecke zu bringen, und stattdessen hat mich einer von Mancos verdammten Armleuchtern erwischt.«
Carl schoss ihm einen müden Blick zu. »Du warst nicht mal nahe dran.«
»Nein? Ach, verdammt!« Onbekend stützte sich auf einen Ellbogen. »Manco?«
Keine Antwort.
»Manco?«
Neugierig beobachtete Carl das Gesicht des anderen Dreizehners von der gegenüberliegenden Seite des Raums aus. Onbekends Züge verzerrten sich unter der Anstrengung des Versuchs, sich aufzusetzen. Sein Brustkorb war blutgetränkt von der Salve aus der Schrotflinte. Er knurrte durch die zusammengebissenen Zähne, drückte mit beiden Händen, brachte es nicht zustande. Er fiel zurück.
»Ich geh nachsehen«, sagte Carl zu ihm.
Manco Bambaren lag flach auf dem Rücken in einer Lache seines eigenen Bluts und sah blicklos zur Decke. Es war anscheinend augenblicklich geschehen – Onbekends Schüsse mussten ihn im Aufstehen in die Brust getroffen haben. Carl sah einen Atemzug lang auf das Oberhaupt der familia hinab und kehrte dann um.
»Er ist tot«, sagte Onbekend. Das Blut in seiner Kehle ließ seine Stimme tief und schlammig klingen. »Stimmt’s?«
»Ja, er ist tot. Guter Schuss.«
Ein blubberndes Gelächter. »Ich habe dich erwischen wollen.«
»Ja? Vielleicht wird es besser beim nächsten Mal.« Carl spürte eine sich ausbreitende Wärme, warf einen Blick auf sein Bein hinab und entdeckte Blut, das an Hüfte und Oberschenkel den Stoff der Hose tränkte. Selbst die Tabletten konnten den Schmerz im Brustkorb nicht unterdrücken. Es fühlte sich an, als wäre er gerade in einen Schraubstock eingespannt worden. Er überlegte, ob das Weblar nicht funktionierte, ob es auch etwas anderes durchgelassen hatte – bei häufigem Aufprall in derselben Region hatte er das zuvor schon gesehen. Oder vielleicht hatte irgendwer da draußen, irgendein verdammter Waffenfetischist, ein Panzer durchschlagendes Geschoss, das er unbedingt vorzeigen wollte. Genügend Kraft, um einen aufgepeppten schwarzen Mann zur Strecke zu bringen, genauso wie in Rovayos Geschichtsbüchern, genügend Kraft, um den Dreizehner zur Strecke zu bringen. Kraft, um das Untier aufzuhalten.
»Aha, also keine völlige Verschwendung.«
Onbekend hatte das Blut ebenfalls gesehen.
Carl sank auf den Fußboden und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Sessel, mit dem er gerade die Tür blockiert hatte, zog die Füße heran und stellte die Knie auf. Er stützte die Steyr auf die Beine und überprüfte das Magazin. Gedämpftes Sonnenlicht fiel schräg neben ihm herein, verfehlte seine Schulter um einen halben Meter und ließ ihn töricht in dem dunklen Schatten erschaudern.
»Wie viele sind wirklich da draußen?«, fragte er Onbekend.
Der andere Dreizehner wandte den Kopf und grinste über die kurze Strecke des gefliesten Bodens hinweg, die sie voneinander trennte. Seine Zähne waren blutig.
»Mehr, als du in deinem Zustand verkraften kannst, würde ich sagen.« Er schluckte nass. »Sag mir was, Marsalis. Sag mir die Wahrheit. Du hast Greta nichts getan, oder?«
Carl sah ihn eine Weile an. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Ihr geht’s gut, sie schläft. Ich bin nicht wegen ihr hergekommen.«
»Das ist gut.« Schmerz zuckte über Onbekends Gesicht. »Nur wegen mir gekommen, hm? Tut mir leid, dass dir jemand zuvorgekommen ist, Bruder.«
»Ich bin nicht dein verdammter Bruder!«
Stille, abgesehen von Onbekends nassem, raspelndem Atemgeräusch. Etwas war mit dem Licht von draußen geschehen, es fiel jetzt in einem anderen Winkel herein. Carl und Onbekend lagen beide in Teichen aus Schatten, aber zwischen ihnen fiel das helle Sonnenlicht auf den dunkel gefliesten Boden und schien in einem verschwommenen Dunst aus Staubmotten zurückzusteigen. Carl streckte ein wenig mühsam die Hand in den Glanz, streifte mit den Fingerspitzen über die Wärme in den Fliesen.
Irgendwo in der Struktur der Weblarweste rann ganz bestimmt Blut herab. Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte.
Also.
Er überlegte plötzlich, wie sich Fat Men are Harder to Kidnap wohl anhören würden, wenn sie kommende Woche auf der Bühne des Mars Memorial in Blythe auftreten würden. Ob sie überhaupt was taugten.
»Fünfzehn.«
Er sah zu Onbekend hinüber. »Was?«
»Fünfzehn Männer. Manco hat dir die Wahrheit gesagt. Plus zwei Piloten, aber die zählen nicht.«
»Fünfzehn, hm?«
»Ja. Aber du hast gerade eben ein paar auf der Schwelle erwischt, stimmt’s?«
»Drei.« Carl hob die Brauen zum Geländer der Galerie hinauf. Nur einen Augenblick lang hatte er geglaubt, Elena Aguirre dort oben zu sehen. »Inklusive dem Burschen, den du erwischt hast. Bleibt genau ein Dutzend. Wie würdest du sie einschätzen?«
Onbekend hustete etwas lauter, diesmal war ein wenig Blut mit dabei. »Ziemlich erbärmlich. Ich meine, für Gangster-Standard sind sie gut. Aber gegen Osprey-Training? Gegen einen Dreizehner? Ein Dutzend Wiederkäuer, die vor Angst volle Hosen haben. Keine Gegner.«
Carl verzog das Gesicht. »Du willst bloß, dass ich da rausgehe und dich mit Greta allein lasse, stimmt’s?«
»Nö, bleib noch was da. Lass uns ein bisschen Zeit zum Plaudern.«
Carl schoss dem anderen Dreizehner einen seltsamen Blick zu. »Wir haben was zu bereden?«
»Aber sicher.« Onbekend hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann rollte sein Kopf wieder zurück, und er schaute zur Decke auf. Er seufzte, Blut gurgelnd. »Du verstehst es immer noch nicht, oder? Selbst jetzt, wo wir beide hier drin sind und sie alle da draußen. Du erkennst es immer noch nicht.«
»Was?«
»Was wir sind.« Der andere Dreizehner schluckte heftig, und seine Stimme verlor etwas von ihrem Pfeifen. »Sieh mal, die verdammten Wiederkäuer, sie reden so viel von Gleichheit, demokratischer Verantwortlichkeit, Redefreiheit. Aber worauf läuft es am Ende hinaus? Ortiz. Norton. Roth. Plausibel. Nach der Macht strebende Männer und Frauen mit einem Lächeln für die Wähler, dem üblichen verdammten Einfühlungsvermögen und der üblichen alten Tagesordnung, die sie schon hatten, seitdem sie uns zum ersten Mal fertiggemacht hatten. Und jeder verdammte Wiederkäuer stellt sich einfach für diesen Scheiß an.«
Die Worte verloren sich in einem kehligem Keuchen. Carl nickte und starrte die mattgraue Oberfläche der Waffe in seinen Händen an.
»Aber wir nicht, stimmt’s?«
»Stimmt verflucht genau, wir nicht.« Onbekend krümmte sich unter einem Hustenanfall. Carl sah Blutflecken in dem herabfallenden Fluss aus Sonnenlicht gleich hinter der Stelle, wo der andere Dreizehner lag. Er wartete, bis der Anfall vorüber war und Onbekend wieder Luft bekam. »Verdammt genau, wir nicht. Weißt du, wie man zeitgenössische Menschen aus einem Dreizehner züchtet? Man domestiziert sie. Dasselbe, was sie mit den Wölfen getan haben, um daraus Hunde zu machen. Dasselbe, was sie im neunzehnten Jahrhundert in Sibirien mit der Fuchszucht getan haben. Man selektiert nach der verdammten Zahmheit, Marsalis. Nach fehlender Aggression und nach Gehorsam. Und weißt du, wie man die bekommt?«
Carl schwieg. Er hatte darüber gelesen, vor langer, langer Zeit. Damals, in den frühen Neunzigerjahren, als es diesen langen Abgrund aus Zeit gab, während Osprey eingemottet wurde und sie alle herumsaßen und abwarteten, was Jacobsen für sie bedeuten würde. Er hatte es gelesen, aber damals hatte er das alles über sich hinwegspülen lassen, und jetzt war seine Erinnerung bloß noch sehr schwach. Aber er erinnerte sich, mit Sutherland über die ursprüngliche Mythologie gesprochen zu haben, erinnerte sich, dass der große Mann das mit einem Grunzer abgetan hatte. Musst im Hier und Jetzt leben, hatte er gepoltert. Du bist jetzt auf dem Mars.
Aber lass Onbekend zu Ende sprechen.
»Sag dir, wie man den kriegt«, krächzte der sterbende Dreizehner. »Wie man einen modernen Menschen kriegt. Du kriegst ihn, indem man unreife Individuen nimmt, Individuen, die die Charakteristika verdammter Welpen zeigen. Bereich Dreizehn, Mann. Einer der letzten Teile des menschlichen Gehirns, der noch zu entwickeln ist, die letzten Stadien der menschlichen Reife. Der Teil, den sie vor zwanzigtausend Jahren weggezüchtet haben, weil er zu gefährlich für ihre verdammten Pläne zum Pflanzenzüchten war. Wir sind nicht die Variante, Marsalis – wir sind die letzten wahren Menschen. Die Wiederkäuer, die sind die verdammten Verdrehten.« Weiteres Husten, und jetzt wurde die Stimme hohl und brodelte erneut. »Moderne Menschen sind verdammte infantilisierte erwachsene Zugedrehte. Ist es da ein Wunder, dass sie tun, was ihnen gesagt wird?«
»Ja, wir auch«, sagte Carl düster. »Vergiss das nicht.«
»Sie haben versucht, uns im Zaum zu halten.« Onbekend drehte sich auf die Seite und sah verzweifelt zu Carl hinüber. In dem Dämmerlicht spuckte er weiteres Blut und räusperte sich, was eine Ewigkeit zu währen schien. »Aber wir werden drüber hinwegkommen. Wir sind so gepolt, verdammt, dass wir drüber hinwegkommen. Wir sind ihre letzte Hoffnung, Marsalis. Wir sind, was sie vor den Ortizes und Nortons und Roths retten wird. Wir sind das Einzige, was diesen Leuten Angst einjagt, weil wir uns nicht fügen werden, wir werden nicht infantil bleiben und hinausgehen und hübsch und nett in ihrer verdammten Plastikwelt spielen.«
»Wenn du meinst.« Carl beobachtete, wie die Sonne über die Fliesen kroch. Sie schien sich auf Onbekend zuzubewegen, wie der wandernde Saum des Feuers an einem brennenden Stück Papier.
»Ja, das meine ich verdammt so.« Der andere Dreizehner grinste ihn schwach über das Licht hinweg an. Er ließ den Kopf hängen, drückte eine Hand flach auf die sonnenbeschienenen Fliesen und versuchte, sich aufzurichten. Stattdessen rutschte die Hand weg, der Arm dahinter war zu schwach. »Wir sind der lange Weg zurück zur Gleichheit der Jäger und Sammler, Marsalis. Wir werden diesen Armleuchtern zeigen, was Freiheit wirklich bedeutet.«
»Wirst du nicht«, bedeutete ihm Carl.
Hochgezogene Lippe, blutige Zähne. »Nein, aber du.«
»Ich bin verwundet, Onbekend. Da draußen sind zwölf von denen.«
»He, du bist der Lotteriemann.« Onbekend keuchte jetzt. »Willst du mir sagen, dass du dich nicht glücklich schätzt?«
»Ich habe die Lotterie ausgetrickst. Ich habe sie manipuliert.«
Gelächter, wie winzige Hände, die einen langsamen Rhythmus auf einer dünnen Tin-Oil-Drum in weiter, weiter Entfernung trommelten. »Da hast du’s! Das ist reiner Dreizehner, Bruder. Spiele nicht ihre verdammten Spiele, finde eine Möglichkeit, sie alle stattdessen zu verarschen. Marsalis, du bist es! Du wirst dich gut da draußen machen.«
Er wälzte sich wieder auf den Rücken. Starrte zur Decke auf. Der Rand des Sonnenlichts kroch heran und leckte an seiner Hand.
»Du wirst es ihnen zeigen«, gurgelte er.
Die Sonne kroch weiter. Sie bedeckte allmählich seinen Leib mit demselben brennenden, staubigen Glanz. Er sprach nicht wieder.
Draußen hörte Carl Bambarens Männer miteinander reden. Einander ermutigen.
Vermutlich sehe ich euch alle im Garten wieder.
Fast war es, als ob sie da wäre, ihm ins Ohr spräche. Oder vielleicht war es wieder Elena Aguirre. Er erinnerte sich daran, wie er ihr im Krankenhaus die Hand gedrückt hatte, die trockene Gewichtslosigkeit. Wie er ihr gesagt hatte, all das Sonnenlicht durch die Bäume.
Er holte das volle Magazin aus der Steyr und betrachtete den sanften Schimmer auf dem obersten Geschoss. Ließ es zurück ins Gewehr gleiten.
Ich werde kommen, Sevgi. Ich werde dich einholen.
Wir alle werden dich einholen.
Onbekend atmete nicht mehr. Das Sonnenlicht bedeckte ihn. Carl zitterte in der Düsternis auf seiner Seite des Fensters. Er glaubte, irgendwo da draußen jemanden herumschleichen zu hören.
Er seufzte und schob sich hoch. Es fiel ihm schwerer, als er erwartet hätte. Er stieg über die Waffen, die von der Bar heruntergefallen waren, nahm eine Glock und steckte sie sich in den Gürtel, für später. Hob eine weitere Steyr auf, überprüfte die Magazine und hing sie sich dann um den Hals, wobei er den Riemen sorgfältig einstellte. Er würde sie nehmen, wenn er die in seiner Hand wegwarf, wenn sie leer war. Es war ein zusätzliches Gewicht, aber es könnte nicht viel schlimmer sein als mit der Haifischharpune auf dem Weg hier herunter.
Ein Dutzend Wiederkäuer, die vor Angst die Hose voll haben. Gute Chancen für den Lotteriemann.
Du wirst es ihnen zeigen.
»Ja, genau«, murmelte er.
Den Sessel beiseite zerren, die Tür einen Spalt breit öffnen und hinausspähen. Er sah niemanden, hatte es eigentlich auch nicht erwartet. Aber früher oder später würden sie kommen, um nach dem Mann zu sehen, der ihnen ihre Befehle erteilt, ihnen gesagt hatte, was zu tun war, sie in Lohn und Brot gehalten hatte.
Ich treffe euch alle im Garten.
Das Geflüster ertönte wieder geisterhaft an seinem Ohr, hinter ihm aus der Düsternis. Diesmal hörte er es ganz bestimmt. Ihm sträubten sich die Nackenhaare. Carl nickte und streckte die linke Hand nach hinten aus, legte sie auf die Stelle in seinem Nacken, wo ihn die Stimme berührt hatte. Ein weiteres Mal sah er zu Onbekends strahlendem Leichnam hinüber, überprüfte ein weiteres Mal die Waffen und nickte wiederum in sich hinein.
Tiefer Atemzug.
Dann trat er hinaus in die Sonne.