6. KAPITEL
Mariah sah ihn sofort, als er um die Ecke kam. Jonathan Mills saß auf den Stufen vor der Bibliothek, mit hängenden Schultern, und trank Kaffee aus einem Pappbecher.
Es war kaum möglich, dass er auf sie wartete. Nicht nach dem gestrigen Abend. Nicht, nachdem er so geblendet von Serena war.
Und doch wusste sie, dass es sonst niemanden gab, auf den er hier warten konnte. Sie war die einzige Person auf Garden Isle, die regelmäßig ehrenamtlich für Triple F arbeitete. Manchmal machte eine Gruppe Studenten mit, die ihre Ferien hier verbrachte, aber dann holte der Triple-F-Van sie am Campingplatz ab.
Einen Moment lang überlegte Mariah, einfach vorbeizufahren. Sie konnte den Van ebenso gut an der Drogerie oder am Postamt anhalten. Nur – wo sollte sie ihr Fahrrad lassen? Der Fahrradunterstand vor der Bibliothek war der Einzige in der Stadt.
Vielleicht würde Jonathan ja einfach verschwinden, wenn sie ihn ignorierte.
Natürlich wusste Mariah, dass auch das keine Lösung war. Also nickte sie ihm zur Begrüßung kurz zu und bremste.
Er stand auf, als täte ihm jeder Knochen im Leib weh. Als hätte auch er in der vergangenen Nacht nicht viel Schlaf bekommen.
„Als ich mich fertig machte, um dich hier zu treffen, fiel mir ein, dass ich gar keinen Werkzeuggürtel besitze“, sagte er.
Ihr eigener Werkzeuggürtel befand sich in ihrem Rucksack und zog ihn mit seinem Gewicht nach unten. Erleichtert streifte sie die Gurte von ihren Schultern und stellte den Rucksack auf den Gehsteig, um ihr Rad in den Ständer zu schieben. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Meinte er es wirklich ernst? Hatte er tatsächlich die Absicht, den Tag mit ihr zu verbringen?
Wenn sie an gestern Abend dachte, glühten ihre Wangen erneut vor Verlegenheit. Ebenso, wenn sie an den Abend davor dachte. Sie hatte wirklich geglaubt, er fühle sich so zu ihr hingezogen wie sie sich zu ihm. Aus diesem Grund hatte sie sich ihm ja förmlich in die Arme geworfen …
Momentan konnte sie sich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als den Tag mit diesem Mann zu verbringen. Andererseits konnte sie ihm schlecht sagen, er solle einfach wieder verschwinden. Das brachte sie nicht fertig. Sicher, vergangene Nacht hatte sie beschlossen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Ja, sie war zu der Erkenntnis gekommen, dass er weit oberflächlicher und selbstbezogener war, als sie geglaubt hatte. Trotzdem brachte sie es nicht fertig, ihm zu sagen, dass er nach Hause gehen sollte.
„Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen“, gestand er. „Ich lag wach im Bett und hörte Radio. Einen College-Sender vom Festland, und da lief dieser Song. Zwei Frauen sangen zur Gitarre. Wirklich schön. Der Text ging mir nahe. Er handelte davon, frühmorgens aufzustehen und den Hammer zu schwingen oder so ähnlich. Jedenfalls konnte ich nicht aufhören, an dich zu denken. Als hätten sie diesen Song über dich geschrieben.“
Erst jetzt sah Mariah ihn richtig an. Er trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt. Und er sah aus, als hätte er sich weder geduscht noch rasiert. Sein Kinn war bedeckt mit frischen Bartstoppeln, und auf dem Kopf hatte er eine Baseballkappe, unter der sein Haar versteckt war. Was im Grunde albern war, da sein Haar noch viel zu kurz war, um vom Schlaf zerwühlt zu sein.
Sie kannte den Song, von dem er erzählte. Es handelte sich um ein wundervolles Lied, nachdenklich und tiefsinnig. „Das waren die Indigo Girls“, sagte sie.
„So heißt die Band? Es war ein toller Song. Gefiel mir sehr. Ich habe früher nicht viel Musik gehört. Du weißt schon, vorher.“
Vor der Diagnose Krebs, meinte er. Was auch der Grund war, weshalb Mariah ihn nicht einfach auffordern konnte zu verschwinden. Möglicherweise waren dies die letzten Tage in seinem Leben. Wie konnte sie da etwas dagegen haben, dass er seine Zeit so verbrachte, wie es ihm gefiel?
„Mariah, es tut mir wirklich leid wegen gestern Abend. Ich habe nicht gemerkt, dass ich dich vernachlässigt habe. Und plötzlich warst du fort …“
„Ich hatte wohl zu hohe Erwartungen“, räumte sie ein. „Das konntest du ja nicht wissen.“
„Ich möchte wirklich gern mit dir befreundet sein“, versicherte er ihr schnell.
Das hatte er ihr schon vorher einmal rundheraus gesagt. Konnte er denn etwas dafür, dass sie nicht richtig zugehört hatte? War es seine Schuld, dass sie längst mehr empfand, als für eine reine Freundschaft nötig war?
„Bitte lass mich dich heute begleiten“, fügte er hinzu.
Mariah sah den Triple-F-Van näher kommen und schulterte wieder ihren Rucksack.
„Meinetwegen“, sagte sie und wusste, wie dumm das war. Er war derjenige, der bloß Freundschaft zwischen ihnen wollte. Also würde sie den Tag mit ihm verbringen, obwohl jede Minute, die sie mit ihm verbrachte, nur dazu führen würde, dass sie ihn noch mehr mochte. Noch mehr begehrte. Mehr als nur Freundschaft wollte.
Jeden anderen hätte sie glatt abgewiesen. Doch für Jonathan Mills mit seinem traurigen Lächeln, seinen klaren blauen Augen und der schlimmen Krankheit sprang sie über ihren Schatten.
Auch wenn sie jetzt schon ganz genau wusste, dass sie das noch bitter bereuen würde.
John hatte allmählich den Bogen raus. Nimm einen Nagel, klopfe ihn sanft an, dann hämmere ihn hinein.
Er hatte eigentlich noch nie so richtig die Gelegenheit gehabt, mit einem Hammer zu arbeiten. Das Werkzeug lag gut in der Hand. Fast so gut wie seine Pistole.
Mariah schaute zu ihm herüber und wischte sich den Schweiß weg, der trotz ihres Stirnbands in Strömen über ihr Gesicht lief. „Schon müde?“
„Nein, alles bestens.“
Als sie auf der Baustelle eintrafen, stellte sie ihm einen Liegestuhl in den Schatten, wie für einen Invaliden. Der er ja eigentlich auch sein sollte.
Nur konnte er nicht einfach dasitzen und zusehen. Es dauerte nicht lange, bis er um einen Hammer bat und Seite an Seite mit Mariah arbeitete.
Sie waren in dem kleinen Haus und nagelten Gipskartonplatten fest, sodass aus dem rohen Gerüst richtige Zimmer wurden, in denen bereits alle Elektrokabel verlegt waren. Sie schafften das Wohnzimmer, in dem einige andere freiwillige Helfer mit mehr Erfahrung die Löcher für die Steckdosen und Lichtschalter in den Gipskarton sägten. Anschließend nahmen sie sich den Flur vor und dann das größere der beiden Schlafzimmer.
Langsam verwandelte sich der Rohbau in ein richtiges Haus. Natürlich mussten die Übergänge noch gespachtelt und anschließend abgeschliffen werden, bevor man die Zimmer streichen konnte. Aber es sah schon recht vielversprechend aus.
Die Besitzer des Hauses, ein großer Farbiger namens Thomas und eine schlanke, stolz aussehende Frau namens Renée, schlenderten in jeder Pause durch die Räume, Händchen haltend und staunend wie zwei Schulkinder.
„Du lieber Himmel“, wiederholte Thomas immer wieder, mit Tränen in den Augen. Er hatte noch nie ein Haus besessen und das auch nie für möglich gehalten, wie er ständig versicherte. Einmal blieb er sogar stehen, um John voller Dankbarkeit an sich zu drücken.
John begriff, warum Mariah diese Arbeit gefiel. Mehrmals hatte er ihre Tränen der Rührung bemerkt. Und wenn die freiwilligen Helfer mal gerade nicht damit beschäftigt waren, sich verstohlen die Freudentränen aus den Augen zu wischen, sangen sie gemeinsam. Sie sangen alle möglichen Lieder, von aktuellen Popsongs bis zu Spirituals, je nachdem, wer im Moment am Sendersucher des Radios drehte. John stimmte sogar selbst einmal mit ein, als ein Beatlessong gespielt wurde. In seiner Jugend hatte er die Beatles sehr gemocht, und zu seinem Erstaunen kannte er noch fast den ganzen Text.
Doch als die Sonne am Himmel höherstieg, heizte sich das kleine Haus auf. John hatte schon vor einer ganzen Weile sein T-Shirt ausgezogen. Inzwischen bereute er, keine Shorts statt der Jeans angezogen zu haben. Draußen mussten es schon an die dreißig Grad sein, und das Thermometer kletterte weiter.
Mariah legte den Hammer aus der Hand und zog ihr T-Shirt ebenfalls aus. Sie trug wieder einen Sport-BH, diesmal in einem Sweatshirt-Grau. Mit dem T-Shirt wischte sie sich das Gesicht ab und hängte es anschließend an ihren Werkzeuggürtel.
John versuchte, nicht zu ihr hinzuschauen, aber das war verdammt schwer. Als er den nächsten Nagel in die Wand schlug, verfehlte er nur knapp seinen Daumen.
In dem anderen Schlafzimmer stellte jemand das Radio auf einen Klassiksender ein.
„Mozart“, bemerkte John nebenbei und stellte überrascht fest, dass Mariah ihn ansah. „Sein Klarinettenkonzert“, fügte er hinzu. „Meine Mutter liebte dieses Stück. Sie war überzeugt davon, dass es einen klüger machte, sich Mozart anzuhören.“
„Das habe ich auch schon mal gehört“, meinte Mariah. „Die Theorie gründet darauf, dass die Komplexität der Musik die Denkfähigkeit erhöhen soll.“
„Trinkpause“, rief Renée fröhlich und kam mit zwei großen Gläsern in den Händen in den Raum.
Mariah legte den Hammer aus der Hand und nahm ein Glas von ihr entgegen, während John das andere nahm. Er bedankte sich bei Renée und setzte sich neben Mariah auf den staubigen Sperrholzboden.
Sie leerte ihr Glas mit einem einzigen Schluck bis zur Hälfte. „Wow“, sagte sie atemlos. „Was ich wirklich gebrauchen könnte, wäre eine Dusche aus dem Gartenschlauch. Ob es noch heißer werden kann?“
„Ja.“
Mariah lachte. „Das war jetzt aber nicht die korrekte Antwort.“ Sie lehnte den Kopf an die frisch verputzte Wand, drückte den kühlen Plastikbecher an ihren Hals und schloss die Augen.
John gestattete es sich, sie ausgiebig zu betrachten. Solange ihre Augen geschlossen waren, konnte er die Gelegenheit ruhig nutzen. Ihre Wimpern waren unglaublich lang und ruhten auf ihren von der Sonne leicht geröteten Wangen. Auf ihrer Nase entdeckte er ein paar Sommersprossen, auch auf ihren Schultern und ihrer Brust.
Zu spät bemerkte er, dass sie die Augen längst wieder geöffnet und ihn beim Gaffen ertappt hatte. Na klasse.
Aber weder tadelte sie ihn, noch rückte sie weg.
„Thomas und Renée können es kaum erwarten, endlich einzuziehen.“
John brauchte einen Moment, um zu erfassen, wovon sie redete.
„Es ist wirklich ein hübsches kleines Haus“, fuhr sie fort. „Das Modell ist sehr beliebt – ich habe bestimmt schon bei sieben solcher Häuser mitgeholfen.“
„Als Kind habe ich in einem ganz ähnlichen Haus gelebt“, sagte John.
Mariah zog die Knie an die Brust und fragte interessiert: „Ja?“
„Ja, es ist fast komisch, durch diese Räume zu gehen.“ Er deutete zum Flur. „Dort drüben war mein Zimmer, gleich neben dem Bad. Und dieser Raum hier war das Schlafzimmer meiner Mutter.“
Mariah sah ihn an und wartete darauf, dass er noch mehr von sich erzählte. Ihm war klar, dass er erneut viel zu viel erzählt hatte, aber ihre Augen hatten diesen warmen Glanz. Er wollte nicht, dass sie aufhörte, ihn auf diese Weise anzusehen.
Außerdem hatte er eine Möglichkeit gefunden, wie er die eigene Geschichte mit der Coverstory verbinden konnte. Denn als Jonathan Mills hatte er die gleiche Vergangenheit wie John Miller. Nur, dass er mit elf, als seine Mutter gestorben war, nicht zu Pflegeeltern gekommen war. Jonathan Mills hatte danach bei seinem Vater gelebt, dem König der Autoalarmanlagen.
„Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie die Küche gerochen hat“, sagte er. „Nach Ingwer und Zimt. Meine Mutter liebte es zu backen.“ Er deutete auf die weißen Gipskartonplatten, die sie gerade gegenüber dem begehbaren Kleiderschrank angenagelt hatten. „Außerdem liebte sie Bücher. Entlang der ganzen Wand standen Bücherregale. Sie las alles Mögliche, wenn sie es für gut hielt.“ Er sah Mariah liebevoll an. „Sie war so ähnlich wie du.“
Erst in diesem Moment, als er die Worte aussprach, wurde ihm klar, wie viel Wahrheit sie enthielten. Äußerlich ähnelte sie seiner Mutter, die durchschnittlich groß und gertenschlank gewesen war, überhaupt nicht. Doch das Lächeln strahlte die gleiche Offenheit und Zuversicht aus. Wenn er mit Mariah zusammen war, fühlte er sich bedingungslos akzeptiert. So etwas hatte er seit vielen Jahren nicht mehr empfunden.
„Sie arbeitete als Sekretärin“, erzählte er weiter. „Obwohl sie ihrer eigenen Überzeugung nach viermal so klug war wie ihr Boss. Ich weiß noch, dass unser Haus im Winter gut geheizt war, obwohl wir es uns kaum leisten konnten. Ihr war nämlich immer so kalt. Ich dagegen lief in T-Shirt und Shorts herum, während sie Pullover und Schal trug.“ Bei der Erinnerung daran musste er lächeln. „Und in einem Jahr ließ sie mich die Farbe aussuchen, in der wir das Wohnzimmer streichen wollten. Da muss ich sechs gewesen sein, und ich entschied mich für gelb. Hellgelb. Sie versuchte nicht, es mir auszureden. Den Leuten fielen fast die Augen aus dem Kopf, wenn sie in unser Haus kamen.“
„Wann ist sie gestorben?“, fragte Mariah mit sanfter Stimme.
„Kurz nach meinem elften Geburtstag.“
„Das tut mir schrecklich leid.“
„Ja, es war schlimm.“
„Du sprichst von deiner Mutter, aber du erwähnst nie deinen Vater“, sagte sie.
Johns Vater war in Vietnam ums Leben gekommen. Er war Sanitäter, der bei der Evakuierung einer bombardierten Marinekaserne getötet wurde, zwei Wochen vor Ende seiner Dienstzeit. Doch hier ging es nicht um John, sondern um Jonathan.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, log er. „Er und meine Mutter waren geschieden. Nach ihrem Tod lebte ich bei ihm.“ Er wechselte das Thema. „Wir reden immer nur über mich. Von dir hast du eigentlich noch gar nichts erzählt.“
„Mein Leben verlief langweilig und völlig ereignislos.“ „Du erwähntest einmal, dein Vater sei an einem Herzinfarkt gestorben“, erinnerte er sie. „Und neulich beim Abendessen hast du mir erzählt, dass du mal verheiratet warst, ohne auf Details einzugehen.“
„Sein Name war Trevor“, begann sie. „Wir heirateten gleich nach dem College und trennten uns später wegen der Unvereinbarkeit unserer Arbeitszeiten. Falls du dir so etwas vorstellen kannst. Er wollte Kinder, und die passten damals noch nicht in meinen Zeitplan. Also ging er.“
John schwieg, in der Hoffnung, dass sie noch ein bisschen mehr erzählen würde.
„Sechs Monate nach unserer Trennung heiratete er erneut“, fuhr sie fort. „Vor einem Jahr bin ich ihm in der Stadt begegnet. Er hatte zwei kleine Kinder dabei. Seine Frau lag im Krankenhaus, wo sie gerade Kind Nummer drei zur Welt brachte.“
Sie machte eine Pause, bevor sie weitererzählte.
„Ich sah Trevor und diese Kinder an und dachte, ich müsste mich elend fühlen. Du weißt schon, so nach dem Motto: Das hätte mein Leben sein können, meine süßen kleinen Kinder, mein Ehemann …“
„Aber?“
„Aber ich war bloß erleichtert. Mir wurde plötzlich klar, dass ich Trevor nur deshalb geheiratet hatte, weil mir kein guter Grund einfiel, weshalb ich ihn nicht hätte heiraten sollen. Ich liebte ihn, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich auch wirklich jemals in ihn verliebt war. Ich hatte jedenfalls nie das Gefühl, sterben zu müssen, wenn er mich nicht küsst …“
Sie verstummte, und John merkte, dass er sie anstarrte, sich ihr Gesicht einprägte, während sie auf das Glas in ihren Händen schaute.
„Wenn ich mich jemals wieder mit jemandem einlasse, dann, weil ich einen Mann gefunden habe, ohne den ich nicht mehr leben kann. Ich will überwältigende Leidenschaft und vollkommen die Kontrolle verlieren“, erklärte sie.
Die Kontrolle verlieren. Überwältigende Leidenschaft.
Die Art von Leidenschaft, die Kriege auslöst und Weltreiche zum Einsturz bringt. Die Art von Leidenschaft, die es selbst einem abgebrühten Profi wie John schwer machte, seinen Job zu erledigen. Die Art von Leidenschaft, die in ihm den Wunsch weckte, sämtliche Regeln und Beschränkungen zu brechen, die er sich selbst auferlegt hatte, indem er diese Frau an sich zog und küsste.
Sie sprach von der glühenden Begierde, die zwischen ihnen aufgeflackert war, obwohl sie nichts weiter taten, als dazusitzen und sich miteinander zu unterhalten. Das zwischen ihnen war etwas Einmaliges, und John machte es schwer zu schaffen, dass er diesem Gefühl nicht nachgeben durfte. Er durfte nicht herausfinden, wohin das mit ihnen führen könnte.
Mariah war still und schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen.
John versuchte, sie nicht anzusehen. Doch er scheiterte.
„Mariah!“ Eine von Thomas’ und Renées kleinen Töchtern kam in den Raum gestürmt. „Jane Ann ist auf den großen alten Baum hinten im Garten geklettert, und jetzt kommt sie nicht wieder herunter“, jammerte das Mädchen. „Papa meint, er ist zu schwer, um hinaufzuklettern – die Äste dort oben würden ihn nicht tragen. Und Mama hat Höhenangst. Und Janey weint, weil sie sich nicht mehr länger halten kann!“
Mariah sprang auf und rannte los.
John folgte ihr dicht auf den Fersen.
Im Schatten des riesigen Baumes, der den Garten beherrschte, hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt. Es war der perfekte Kletterbaum, mit ausladenden dicken Ästen, die bis in die Reichweite eines Kinderarms nach unten wuchsen. Doch je weiter es den Stamm hinaufging, desto dünner wurden sie. Wo Janey saß und wie eine Polizeisirene heulte, ziemlich nah an der Baumkrone, sahen die Äste sehr zerbrechlich aus.
Mariah bewegte sich schnell und geschickt, als sie den Baum hinaufkletterte. Allerdings war sie auch nicht schwerelos. Obwohl sie John gesagt hatte, sie sei absolut schwindelfrei und könne gut klettern, sah es nach einer heiklen Angelegenheit aus.
„Mariah!“, rief John. „Wir können ebenso gut die Feuerwehr rufen.“
Sie schaute nur kurz zu ihm herunter. „Ich glaube aber, Jane Ann möchte lieber sofort von dem Baum herunterkommen“, erklärte sie. „Ich bezweifle, dass sie bis zur Ankunft des Feuerwehrwagens warten will.“
Er wusste nicht, was er tun sollte – ob er ihr hinterherklettern oder am Boden warten sollte, um einen möglichen Sturz Mariahs oder des Kindes irgendwie aufzufangen. Er wandte sich an den Vater des Mädchens.
„Thomas, habe ich vorn nicht eine Plane gesehen? Eine aus dickem blauen Plastik, die man zum Abdecken eines Daches benötigt, damit es nicht hineinregnet, bis das Dach vollständig gedeckt ist?“
Thomas verstand nicht.
„Wenn wir sie straff halten, könnte sie den Fall des Mädchens abfedern“, erklärte John. „Wir könnten versuchen, Janey aufzufangen, wenn sie fällt.“
Thomas gab einen kurzen Befehl, und zwei Jungen im Teenageralter rannten los, um die Plane zu holen.
John sah wieder hinauf zum Baum. Mariah kletterte inzwischen langsamer und vorsichtiger. Er hörte ihre beruhigende Stimme, mit der sie zu dem kleinen Mädchen sprach, doch die Worte konnte er nicht verstehen. Immerhin war das Kind jetzt still. Was immer Mariah zu Jane sagte, es nahm ihr offenbar ein wenig die Angst.
Die Jungen kehrten mit der Plane zurück, und alle bis auf John fassten mit an, um sie straff zu halten, bereit für den Notfall. John jedoch begann, den Baum hochzuklettern.
Mariah war so weit hinaufgestiegen, wie sie sich traute, und streckte die Hand nach dem Mädchen aus. Den anderen Arm hatte sie fest um den Baumstamm geschlungen, um Halt zu haben. Offenbar versuchte sie, das Kind dazu zu bringen, wenigstens ein kleines Stück näher zu kommen, damit sie es erwischen konnte.
Langsam, Zentimeter für Zentimeter, bewegte Jane Ann sich.
Die Zuschauer unten am Boden seufzten erleichtert, als Mariah das Kind an sich zog und die Arme um die Kleine schlang.
Doch das Schlimmste war noch nicht überstanden, denn vor Mariah lag der Abstieg. Diesmal mit dem zusätzlichen Gewicht einer Achtjährigen.
Mariah testete vor jedem weiteren Schritt, ob der jeweilige Ast auch halten würde, bevor sie ihn mit ihrem vollen Gewicht belastete.
Und dann passierte es.
John sah den Ast, ehe er das laute Knacken hörte. In albtraumhafter Zeitlupe sah er Mariah nach dem Ast über ihr greifen. Ihr ganzes Gewicht und das des Kindes hingen plötzlich nur noch an einem Arm, einer Hand. Ihre Muskeln waren straff gespannt, während sie mit den Füßen verzweifelt nach Halt suchte.
Unaufhaltsam rutschten ihre Finger immer weiter ab.
„Mariah!“, schrie er, als sie fiel.
Doch wunderbarerweise fiel sie nicht tief. Der Sturz endete abrupt, und sie hielt nach wie vor das Mädchen im Arm.
Verantwortlich dafür war ihr Werkzeuggürtel, der sich an einem vorstehenden Ast verhakt hatte. Anscheinend war das Stück stark genug, um sie beide zu halten. Nun hingen sie im Baum wie Weihnachtsschmuck im Tannenbaum.
John kletterte rasch hinauf und spürte die raue Rinde scharf an den Handflächen und Knien, trotz der Jeans, die er trug.
Beim Näherkommen erkannte er, dass Mariah am Ellbogen blutete. Ihre Knie waren auch aufgeschrammt. Der Werkzeuggürtel hielt sie nicht an der Hüfte, sondern eher in Höhe der Rippen. Trotz ihrer misslichen Lage brachte sie es fertig, John anzulächeln. „Das hat Spaß gemacht“, flüsterte sie.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Erst da bemerkte er die Prellungen an den Innenseiten ihrer Oberarme. Dafür war nicht der Baum verantwortlich, sondern er. Die stammten von ihm, aus der Nacht, als er auf ihrem Sofa geschlafen hatte. Von Albträumen geplagt, hatte er sie gepackt, weil er sie für Domino hielt. Himmel, er hätte sie töten können. Bei der Vorstellung wurde ihm ganz flau, sodass er sich schnell wieder auf das Hier und Jetzt konzentrierte. Er würde noch genug Zeit haben, um sich schlecht zu fühlen, nachdem er ihr von diesem Baum heruntergeholfen hatte.
„Ich fürchte, ich habe mir eine Rippe angeknackst“, sagte sie. „Mir ist auch kurz die Luft weggeblieben. Nimmst du Janey? Jane Ann, das ist Jonathan. Er wird dich nach unten zu deiner Mom und deinem Dad bringen. Okay?“
Das kleine Mädchen wirkte verstört. Mariah gab Jane einen Kuss auf die Wange, und John nahm sie ihr aus dem Arm. „Lass mich dich herunterbringen“, sagte er zu Mariah.
„Nimm erst Jane“, bat sie, noch immer in diesem merkwürdigen Flüsterton. „Für mich wirst du beide Hände brauchen.“
John war einverstanden. So schnell, wie er es mit dem Kind auf dem Arm wagte, kletterte er nach unten. Er schaute hinauf zu Mariah, aber sie hatte die Augen geschlossen. Eine angeknackste Rippe. Ihm war klar, dass sie es so formuliert hatte, damit Jane nicht zusätzlich Angst bekam. Aber ihr Werkzeuggürtel war mit voller Wucht gegen ihre Rippen geprallt. Und es passierte leicht, dass eine gebrochene Rippe die Lunge durchstach.
Angst beschlich John. Hatte sie einfach nur die Augen zugemacht? Oder hatte sie das Bewusstsein verloren?
Er warf Jane Ann praktisch ihrem Vater in die Arme und kletterte, so schnell er konnte, wieder hinauf zu der Stelle, an der Mariah hing, gehalten nur von ihrem Werkzeuggürtel.
Sie machte die Augen auf, als er näher kam. Vor Erleichterung wäre er beinah vom Baum gefallen.
„Autsch“, sagte sie. „Darf ich das jetzt sagen?“
John nickte und suchte in ihren Augen nach Anzeichen für einen Schock. „Kannst du atmen? Fällt dir das Atmen schwer?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich nur gequetscht.“
„Können wir deinen Werkzeuggürtel aufmachen?“, fragte er.
„Daran habe ich auch schon gedacht, aber die Schnalle befindet sich anscheinend auf dem Rücken. Und die ist selbst unter normalen Bedingungen nicht leicht aufzubekommen.“
Also mussten sie es auf die harte Tour probieren.
John stellte die Füße auf zwei verschiedene Äste und presste sich so nah wie möglich an Mariah. „Halt dich an mir fest“, forderte er sie auf. „Ich werde dich anheben und deinen Gürtel lösen.“
Sie zögerte.
„Ich bin ein bisschen verschwitzt“, entschuldigte er sich. „Tut mir leid, aber das lässt sich jetzt nicht ändern. Schling die Beine um meine Taille.“
„Vielleicht sollte ich lieber auf die Feuerwehr warten.“
„Leg deine Beine um meine Taille“, wiederholte er. „Na los, mach schon.“
Sie gehorchte.
John weigerte sich, an irgendetwas anderes zu denken als daran, sie von diesem Baum herunterzubringen. Ja, sie war weich, sie war warm, und ja, sie duftete wundervoll. Sie war genauso wie in seiner Erinnerung an die Nacht auf ihrer Couch. Mit dem Unterschied, dass sie jetzt Gefahr lief, vom Baum zu fallen und sich das Genick zu brechen.
„Pack fester zu“, befahl er, während er versuchte, sie anzuheben. Mit einer Hand tastete er hinter ihr nach dem Aststummel, an dem sich ihr Werkzeuggürtel verhakt und dadurch ihr und Jane Annes Leben gerettet hatte.
Endlich fand er ihn. Und er stieß dort auf Blut – Mariahs Blut –, wo die scharfkantige Abbruchsstelle des Astes ihren Rücken aufgekratzt hatte. Ihr scharfes Einsaugen der Luft verriet ihm, wie sehr es wehtat.
„Versuch, dich hochzustemmen“, forderte er sie auf. „Hilf mir, dich freizubekommen.“
Sie schlang die Beine fest um ihn, und er drückte sie nach oben. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Sein Kopf drückte gegen die sanften Wölbungen ihrer Brüste, aber das ließ sich nun einmal nicht verhindern.
Endlich, nach einer Kraftanstrengung, die er kaum für möglich gehalten hätte, bekam er den Werkzeuggürtel frei. Seine Muskeln blieben angespannt, da er nun Mariahs Gewicht allein hielt. Sie klammerte sich an ihn, fester, als er es sich je erträumt hätte.
„Ich fühle mich nicht besonders sicher hier“, gestand sie.
„Ich hab dich“, beruhigte er sie. „Und ich werde dich nicht loslassen.“
Zumindest nicht eher, bis sie wieder Boden unter den Füßen hatte.
Er half ihr, sicheren Tritt auf einem der dickeren Äste zu finden, doch sie ließ seine Hand nach wie vor nicht los.
Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
„Ich fürchte, ich kann mich nicht mehr lange zusammenreißen“, sagte sie.
„Schaffst du es noch ein paar Minuten?“, bat er. „Wenigstens, bis wir unten am Boden sind?“
Sie lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. „Klar.“
Langsam, einen Ast nach dem anderen nehmend, stiegen sie den Baum hinunter. Unten angekommen, musste John sie loslassen.
Renée und Thomas nahmen sie zusammen mit den anderen Helfern in Empfang.
Doch Mariah weinte immer noch nicht, sondern lächelte ihre Helfer an. Sie machte sogar Scherze über ihre Kratzer und den übel aussehenden Riss an ihrem Rücken. Und als Jane Ann und das andere kleine Mädchen, Emma, an ihr hochsprangen und sie beinah aus dem Gleichgewicht brachten, drückte sie beide an sich. John sah deutlich, dass sie dabei vor Schmerz das Gesicht verzog.
Er ging zu Laronda, der Baustellenkoordinatorin. „Ich möchte Mariah ins Krankenhaus bringen“, erklärte er. „Möglicherweise hat sie eine gebrochene Rippe, und der Riss am Rücken muss vielleicht genäht werden. Kann uns jemand fahren, oder wollen Sie mir die Schlüssel für den Van geben?“
„Ich wollte sie eigentlich von Bobby fahren lassen, aber wenn Sie fahren wollen …“
„Auf jeden Fall. Unbedingt.“
Laronda nickte. „Zeigen Sie mir Ihren Führerschein, Mr Mills, dann können Sie den Van nehmen.“
John zog seine Brieftasche hervor. Nichts erinnerte in seinen Papieren an John Miller. Kreditkarten, Pass, Führerschein – alles lautete auf den Namen Jonathan Mills. Er ging noch einmal in den Rohbau, um sein T-Shirt zu holen, und zog es sich auf dem Weg zu Mariah über. Behutsam fasste er sie am Arm und führte sie zum Van.
Sie protestierte. „Ich will mich vorher wenigstens waschen.“
„Du kannst dich im Krankenhaus waschen.“
„Na gut, einverstanden.“
Dass sie nicht weiter protestierte, war kein gutes Zeichen. Offenbar war sie schlimmer verletzt, als sie sich anmerken ließ.
John half ihr auf den heißen Kunstledersitz des Vans. Dann ging er um den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Er startete den Motor und fuhr auf die Straße, wobei er darauf achtete, nicht durch Schlaglöcher zu fahren, damit Mariah nicht durchgeschüttelt wurde.
Als er am Ende der Straße an einem Stoppschild anhalten musste, sah er sie an. Sie saß still da, die Augen geschlossen, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen.
„Du kannst jetzt weinen“, sagte er leise. „Außer mir ist niemand hier.“
Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. John nahm den Gang heraus. Es war verrückt, und er wusste, dass er das lieber nicht tun sollte. Trotzdem streckte er die Arme aus, und sie schmiegte sich hinein, als sie in Tränen ausbrach.
„Ich dachte, das kleine Mädchen würde abstürzen.“ Schluchzend hielt sie sich an ihm fest. „Ich war mir sicher, dass ich sie und mich umbringen würde.“
„Scht“, flüsterte John, das Gesicht an ihre Haare geschmiegt, während er sie sacht an sich drückte. „Ist schon gut. Jetzt ist alles wieder gut.“
Was machte er denn da? Das war der reinste Irrsinn, sie auf diese Weise zu halten und zu trösten … Sein Körper reagierte prompt auf die sinnliche Nähe. Innerhalb weniger Sekunden war Johns Verlangen deutlich größer als sein Beurteilungsvermögen für das, was richtig und was falsch war.
Er durfte sie nicht küssen. Und das würde er auch nicht tun.
„Verzeih mir“, sagte sie, halb lachend, halb weinend. „Ich mache dein T-Shirt ganz nass.“
Er wollte sie küssen. Ihr Mund war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, aufregend, verlockend …
Er nahm sich zusammen. „Mach dir wegen meines T-Shirts keine Sorgen.“
Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. „Ich glaube, ich hatte noch nie so viel Angst. Aber ich habe sie nicht fallen lassen. Selbst als mir beim Aufprall die Luft wegblieb und sich dieser Ast in meinem Rücken wie ein Messer anfühlte, habe ich sie nicht losgelassen.“
John strich ihr die Haare aus dem Gesicht, obwohl es besser gewesen wäre, sie nicht mehr als unbedingt nötig zu berühren. Nur empfand er diese Berührung als unbedingt notwendig. „Das hast du großartig gemacht“, lobte er sie. „Du warst klasse.“
„Es war blöd von mir, nicht auf die Feuerwehr zu warten.“
„Du warst mutig … und du hattest Glück.“
Sie nickte. „Kann man wohl sagen, was? O Mann, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können.“
Sie drückte ihn fester an sich, und er erwiderte ihre Umarmung.
Wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. Er konnte kaum an etwas anderes denken, höchstens daran, wie sehr er diese Frau küssen wollte.
Es war nicht richtig. Das wusste er, aber er würde es trotzdem tun.
Sie erwiderte den Kuss begierig, als hätte sie sich ebenso sehr danach gesehnt wie er.
Es war einfach himmlisch.
Und es war die Hölle, denn ihm war klar, dass es bald wieder enden musste.
Er zwang sich, den Kuss zu beenden, und sah in Mariahs bernsteinfarbene Augen.
„Ich muss dich zum Krankenhaus fahren.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Sie nickte und wirkte ein wenig verlegen. „Es tut mir leid. Ich … ich mache es schon wieder, nicht wahr?“
„Was denn?“
Sie rutschte auf ihre Seite der Sitzbank. „Dich küssen.“ Da war erneut ihre Unverblümtheit. „Ich kann mich anscheinend einfach nicht zurückhalten.“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Na los, das Krankenhaus ist nicht weit von hier. Vor ein paar Wochen habe ich José hingefahren, als er in einen Nagel getreten war.“
John legte den Gang ein und wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Er hatte schon wieder den Fehler begangen, sie zu küssen. Doch sie schien der Ansicht zu sein, dass es ihr Fehler gewesen war.
Er bog nach links ab in die Hauptstraße und wünschte nicht, er wäre standhaft geblieben, statt sie zu küssen. Nein, er wünschte, er wäre so schwach, dass er den Kuss nie beendet hätte.
John wartete auf Mariah, als sie vom Röntgen kam.
So verschwitzt, verdreckt von der Arbeit auf dem Bau und unrasiert sah er verdammt sexy aus. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht.
„Mir geht’s gut“, erklärte sie. „Es ist nichts gebrochen. Nicht mal angeknackst. Nur geprellt.“
Ein Ausdruck von Erleichterung huschte über sein Gesicht. „Gut.“ Er wandte sich an die Krankenschwester, die Mariah im Rollstuhl schob. „Wie geht es weiter?“
„Sie hat eine Wunde am Rücken, die mit einem oder zwei Stichen genäht werden muss“, erklärte die Krankenschwester. „Wir müssen kurz auf den Arzt warten.“
„Darf ich bei ihr bleiben?“, fragte John.
„Selbstverständlich.“
„Natürlich nur, wenn sie das auch will“, fügte er rasch hinzu und sah zu Mariah.
„Danke“, sagte sie, seltsam verlegen, als sich ihre Blicke trafen. „Das wäre schön.“
Die Krankenschwester brachte sie wieder in einen der Notaufnahmeräume. In diesem gab es sechs Betten, jedes mit einem Vorhang versehen, damit die Patienten möglichst ungestört waren.
John half Mariah aufs Bett. Zum Röntgen hatte sie ihren Sport-BH ausgezogen, und jetzt trug sie nur noch ein Krankenhaushemd über den Shorts. Das Hemd war im Nacken zusammengebunden, und sie spürte die kühle Luft der Klimaanlage auf ihrem nackten Rücken.
Es war die Vorderseite dieses Hemdes, weswegen sie verlegen war. Der Baumwollstoff war sehr dünn und umschmiegte auf provozierende Weise ihre Brüste, sodass man jedes kleine Detail, jede Wölbung erkennen konnte. Sie zog das Hemd am Nacken hoch und wünschte, es gäbe irgendeine Möglichkeit, um zu verhindern, dass es womöglich ganz herunterrutschte.
Durch ihre Bewegung rutschten die kurzen Ärmel des Nachthemds nach oben. John umfasste einen ihrer Arme und schob den Ärmel noch weiter hoch. Er drehte ihren Arm und untersuchte die blauen Flecken, die er dort sah. Es waren fünf kleine ovale, wie Finger- und Daumenabdrücke geformte Flecken. Auf dem anderen Arm sah es fast genauso aus.
John sah ihr in die Augen. „Das tut mir sehr leid.“
„Ich weiß.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Was hast du in jener Nacht geträumt?“
Er wandte sich zwar nicht ab, aber es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Es war, als würde er erst genau überlegen müssen, was er ihr sagen wollte. „Tony, mein bester Freund, war Polizist“, begann er schließlich. „Er wurde von einer Drogendealergang umgebracht. In den Kopf geschossen.“
„O mein Gott.“ Mariah konnte kaum glauben, was er ihr da erzählte. „Wurden die Leute, die ihn umgebracht haben, gefasst?“
John nickte. „Ja, sie wurden gefasst. Trotzdem träume ich noch heute davon. Ich sehe ihre Gesichter und …“ Er verstummte und wandte sich ab. „Ich sollte dir das nicht erzählen. Ich muss verrückt sein.“
„Kanntest du die Männer, die es getan haben?“
Einen Moment lang glaubte sie, er werde nicht antworten.
„Einer der Typen, die für den Drogenboss arbeiteten, ging mit mir und Tony zur Highschool. Ich frage mich dauernd, ob es wohl seine Kugel war, die Tony getroffen hat. Ich denke ständig, ich hätte auf der Highschool die Chance nutzen und Verstand und Gottesfurcht in ihn hineinprügeln sollen.“
„Dadurch bist du zu Princess gekommen“, vermutete sie. „Tony war der Freund, der sie dir hinterlassen hat.“
„Stimmt. Sie vermisst ihn immer noch. Und ich auch“, fügte er traurig hinzu.
„Du träumst also von seinem Tod. Warst du denn dabei, als es geschah? Du hast es doch nicht etwa mit angesehen, oder?“
Mit Bitterkeit in der Stimme antwortete er: „Nein, ich kam zu spät.“ Er wechselte das Thema. „Mariah, es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe.“
Er sprach von den blauen Flecken an ihren Armen, doch für einen kurzen Moment hätte sie schwören können, dass er sich für sein Verhalten auf Serenas Party entschuldigen wollte.
„Mir tut es leid wegen deines Freundes. Du kanntest ihn seit der Highschool?“
John zog einen Stuhl an ihr Bett und setzte sich. Warum hatte er Mariah von Tony erzählt? Tony war auf der Highschool nicht mit dem Jonathan Mills aus besseren Kreisen befreundet gewesen. Im Alter von sechzehn hatte Tony sich mit John Miller angefreundet, dem Neuen in der Klasse. Dem armen Jungen, dem Pflegekind, dem Problemkind. Tony hatte aus Versehen ein Fenster kaputt gemacht, und John nahm die Strafe auf sich. Es war nicht schwer, die Lehrer hinters Licht zu führen. Jeder rechnete ohnehin damit, dass das Problemkind aus der Pflegefamilie die Scheibe zerbrochen hatte.
John hatte lange genug bei seiner Pflegefamilie gelebt, um zu wissen, dass man ihm dort einen langen Vortrag halten, ihn aber nicht schlagen würde. Tony dagegen hatte einen brutalen Stiefvater, den es nicht einmal kümmerte, ob man die Folgen der Schläge im Gesicht des Jungen sehen konnte.
John war vorgetreten und hatte ein Vergehen auf sich genommen, für das er nicht verantwortlich war. Dafür gewann er Tonys bedingungslose Loyalität. Dabei hatte John die gar nicht gewollt. Zumindest anfangs nicht. Aber nach einer Weile war Tony durch den harten äußeren Kern durchgedrungen, und die beiden Jungen waren Freunde geworden.
Nur konnte John nichts von alldem Mariah erzählen. Pflegefamilien und Stiefväter passten nicht in Jonathan Mills’ Welt aus Jachtklubs, Tennisstunden und Aktiendividenden.
„Was glaubst du, mit wie vielen Stichen muss ich genäht werden?“, fragte Mariah und wechselte nach einer ganzen Weile des Schweigens das Thema.
John winkte ab. „Das weiß ich nicht.“
Erneut schwiegen sie. John spürte, dass sie ihn beobachtete.
„Wie geht es dir eigentlich?“, erkundigte sie sich schließlich. „Bei der ganzen Aufregung habe ich völlig vergessen, dass du dich ja vor einigen Tagen noch so krank gefühlt hast, dass du am Strand ohnmächtig geworden bist. Und nun hilfst du schon mit, ein Haus zu bauen, und kletterst auf einen Baum.“ Sichtlich verblüfft fuhr sie fort: „Du trägst nicht nur Janey herunter, sondern auch mich. Wenn du nach deiner Krankheit so stark bist, wie viel Kraft hattest du früher?“
„Ich fühle mich ziemlich müde“, erklärte er, in der Hoffnung, dass sie darüber hinweggehen würde, dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte. Er konnte nur beten, dass sie nicht weiter darüber nachdenken würde, mit welcher Kraft und Leichtigkeit er den Baum hinauf- und wieder heruntergeklettert war. Ein Mann, der gerade eine Chemotherapie hinter sich hatte, wäre dazu kaum imstande. Ihm fiel nur ein Weg ein, sie rasch und zuverlässig von diesem Thema abzulenken. „Mariah … wegen vorhin im Van …“
Sie errötete, hielt seinem Blick aber stand. „Jonathan, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, du willst nur, dass wir Freunde sind. Offenbar brauche ich eine Weile, bis ich es begriffen habe. Aber irgendwann wird das passiert sein und …“
„Nein, ich wollte mich bei dir entschuldigen.“
„Bei mir? Warum?“
„Weil ich dich geküsst habe. Du hast den Kuss erst erwidert. Ich hätte es nicht tun sollen, und deshalb entschuldige ich mich.“
Sie sah ihn perplex an. Es kostete ihn einige Selbstbeherrschung, sie nicht schon wieder zu küssen. „Es lag gar nicht an mir“, sagte sie fragend.
„Nein“, bestätigte er. „Ich konnte nicht widerstehen.“
„Ich fasse es nicht“, erwiderte sie. „Wenn du nicht widerstehen kannst, mich zu küssen, und ich auch nicht widerstehen kann, dich zu küssen – warum, verdammt noch mal, küssen wir uns nicht einfach viel öfter?“
Der Arzt kam herein und bewahrte John davor, ihre Frage beantworten zu müssen. Dankbar für die Fluchtmöglichkeit, stand er auf. „Ich warte draußen.“
„Jonathan.“
Er blieb stehen und sah sie an.
„Vergiss, was ich gesagt habe, okay? Wir sind Freunde. Das reicht, und ich komme auch damit klar.“
John nickte und ging zur Tür. Er wünschte nur, er könnte die Augen zumachen und an einem Ort aufwachen, an dem es auch für ihn okay wäre, nur mit Mariah befreundet zu sein.
Er traf sich also auch mit ihr.
Er traf sich nach wie vor mit ihr. Sie waren den ganzen Tag unterwegs, und ihr wurde klar, dass er zu dieser albernen Hausbauaktion mitgefahren sein musste.
Sie fand es amüsant und sah darin keinen Grund zur Besorgnis.
Wenn die Zeit für eine Entscheidung gekommen war, würde er schon die richtige Wahl treffen. Daran hatte sie nicht den leisesten Zweifel.