Die zehn vermummten Gestalten hockten hinter einigen gewaltigen Felsbrocken, die ihnen Schutz vor dem beißenden Wind boten. Seit Mittag warteten sie. Da hatten sie drei Pferde entdeckt, die auf sie zukamen.
Einige hatten die Wartezeit verschlafen, andere hatten den länger werdenden Schatten zugeschaut, die nun vom fahlen Abendlicht verwischt wurden. Bald würde es dunkel sein.
Tordo stand langsam auf. Er war zwanzig Winter alt und einer der geschicktesten Jäger des Stammes.
Die Sommerjagd war für den Stamm sehr schlecht gewesen. Die großen Herden der Wisente und Pferde waren ausgeblieben. Der Jagdzauber ihres Schamanen-Häuptlings Chwum war vergangenes Jahr noch mächtig gewesen. Da hatten sie genügend Vorräte für den harten Winter anlegen können. Doch seit Chwum krank geworden war, hatte alles Glück den Stamm verlassen. Seine Angaben, wo sich die Herden sammeln würden, hatten nicht gestimmt. Meist waren sie ohne Beute zurückgekehrt, und sie hatten sich von Beeren und Wurzeln ernähren müssen - unwürdig für Jäger. Oft genug war Tordo mit knurrendem Magen unter die Felldecken gekrochen.
Auch jetzt war Tordo hungrig. Vor zwei Tagen waren sie heruntergestiegen in die tieferen Regionen der Bergwelt, doch auch hier war ihnen das Unglück treu geblieben. Sie fanden kein jagdbares Wild. Außer ein paar Schneeziegen und Wölfen hatten sie überhaupt keine Tiere gesehen.
Tordo duckte sich und blickte in das Tal, das sich in zahlreichen Windungen zwischen bewaldeten Hügeln genau auf sie zu erstreckte.
Die drei Pferde waren nun ganz deutlich zu sehen. Auf zweien saßen Männer, das dritte war hoch bepackt. Die Reiter zügelten die Pferde, und einer sagte etwas zum anderen. Schließlich stiegen sie ab und verschwanden hinter ein paar hohen Felsen.
Tordos Erfahrungen mit Menschen aus der Ebene waren gering. Die Flachlandbewohner mieden das Bergland. Nur selten bekamen die Chereber, wie sich sein Stamm nannte, einen Fremden zu Gesicht. Üblicherweise lebte sein Stamm in den unwirtlichen Gletschergebieten, die sie nur zur Jagd verließen.
Ihr Fleischvorrat, den sie im Gletscher versteckt hatten, würde nicht für den ganzen Winter reichen. Chwum lag im Sterben, und dunkle Wolken hingen über den Cherebern. Die junge Olinga, die als einzige des Stammes über magische Fähigkeiten verfügte, war aber noch nicht soweit, den Stamm zu führen. Daher kamen ihnen die Pferde gerade recht. Sie bedeuteten Nahrung für die paar Tage, die sie benötigten, um ihr Winterlager zu erreichen. Tordo vermutete, dass sich die zwei Männer ein Lager für die Nacht suchen würden. Vermutlich würden sie eine der vielen leeren Höhlen dazu benützen, um sich und die Pferde zu schützen. Es würde für ihn und seine Männer nicht schwierig sein, sie zu töten und die Pferde zu erbeuten.
Es begann zu schneien. Der Wind war schwächer geworden. Es war kalt, aber an diese Kälte waren die Männer gewöhnt. Über der Leibwäsche aus Entenbälgen trugen sie enganliegende Anzüge aus Wisenthaut mit der Fellseite nach außen. Darüber Umhänge aus Bären- oder Höhlenlöwenfellen, an denen sich noch die Köpfe der Tiere befanden, die sie sich, falls es besonders kalt wurde, über den Kopf stülpen konnten. Die Beine steckten in hohen Fellstiefeln, die mit Moos gefüllt waren, um die Innenseite trocken zu halten.
Tordo griff nach seinem mannshohen Speer. Die Spitze bestand aus zugeschlagenem Feuerstein, der Schaft aus Holz. Er schob sich den Bärenkopf über den Kopf, dann stieß er ein tiefes Brummen aus.
Die Männer erhoben sich rasch. Worte waren nicht notwendig. Tordo hob den Speer hoch und stapfte an den Felsen vorbei. Die Männer folgten ihm. Im schwindenden Tageslicht stiegen sie geräuschlos ins Tal hinunter.
Tordo war sicher, dass es nicht schwierig sein würde, die beiden Männer zu finden. Sicherlich würden sie ein Feuer entfachen, und der Rauch würde sie hinführen.
*
Sadagar fühlte sich einsam. Daran konnte auch Nottrs Nähe nichts ändern, der neben ihm ritt.
Vor ihnen erhoben sich die Götterberge, deren Gipfel von den tief hängenden Wolken verborgen wurden. Rechts war die Sonne nur als verwaschener Fleck zu erkennen, der keine Wärme spendete. Es war unheimlich still. Die einzigen Geräusche waren das gelegentliche Schnauben der Pferde und das gleichmäßige Trommeln der Hufe auf dem gefrorenen Boden.
Sadagar wandte den Blick. Das Packpferd folgte willig. Nottr saß mit unbewegtem Gesicht im Sattel; den Körper hatte er leicht vorgebeugt und die Beine angewinkelt.
Seit sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, war ihnen keine Menschenseele begegnet. Das Vorgebirge war unbewohnt. Zu beiden Seiten des schmalen Tales erstreckten sich undurchdringliche Wälder und verschneite Wiesen. Das einzige Lebewesen, das sie gesehen hatten, war ein Schneehase gewesen, der sie neugierig beäugt hatte und dann davongehoppelt war.
Sadagar blickte wieder besorgt zu Nottr. Der Barbar war körperlich von Graf Corians Folter weitestgehend genesen, aber sein Geist hatte Schaden erlitten. Meist starrte er nur teilnahmslos vor sich hin, und es schien, als würde er seine Umgebung nicht wahrnehmen. Auf Fragen antwortete er nicht, auch sonst sprach er kaum ein Wort. Er war wie ein geistig zurückgebliebenes Kind, dem man alles sagen musste. Schon vor der Folter hatte er mit seiner quer über den Mund verlaufenden Narbe und dem abgeschlagenen Ohr alles andere als hübsch ausgesehen. Jetzt wies sein Gesicht noch zusätzlich Brandnarben auf Stirn und Wangen auf.
»Wir müssen uns ein Lager für die Nacht suchen, Nottr«, sagte Sadagar.
Der Lorvaner antwortete nicht. Sein zerfurchtes Gesicht mit den dunklen Augen und der plattgedrückten Nase blieb unbewegt.
Sadagar seufzte und sah sich aufmerksam um. Die Berge sahen im düsteren Abendlicht noch bedrohlicher aus. Es schneite leicht. Das Land wirkte bedrückend auf Sadagar, und wie schon oft an diesem Tag überlegte er, ob sein Entschluss, den Weg nach Süden durch dieses unwegsame Gebiet zu nehmen, wohl richtig gewesen sei.
Er dachte an Mythor und fragte sich, wo der junge Krieger wohl im Augenblick stecken mochte. Zuletzt hatte er ihn in der Höhle in der Nähe der Burg Anbur gesehen, als sich Mythor von Nottr und ihm verabschiedete. In zwei Tagen zur Wintersonnenwende würde es zur alles entscheidenden Schlacht mit den Caer kommen. Er sollte Mythor anschließend beim Koloss von Tillorn treffen. Und Sadagar war froh, dass Ugalien hinter ihnen lag. Gern dachte er an den Sterndeuter Thonensen zurück, von dem er einiges gelernt hatte. Keine große Magie, aber einfache magische Formeln, die sehr wirksam waren.
Sein faltiges Gesicht verdüsterte sich, als er an das Kräuterweiblein mit dem zungenbrecherischen Namen Silbabrombambora dachte, die ihm mit ihren geheimnisvollen Wundermitteln bei der Pflege Nottrs geholfen hatte. Ein wenig hatte sie ihn an Fahrna, die Runenkundige, erinnert, mit der er lange Zeit durch die Lande gezogen war. Und die Erinnerung an die Zeit mit Fahrna hatte ihn auch rascher aufbrechen lassen, als er eigentlich gewollt hatte. Er hatte befürchtet, dass ihm das alte Kräuterweiblein einen Liebestrank einflößen könne und er dann für den Rest seiner Tage an diese alte Vettel gefesselt sein werde.
Sadagar schob die Gedanken an Fahrna und Silbabrombambora weit von sich und starrte wieder einmal Nottr enttäuscht an. Auch die unzähligen Heilkräuter der Alten hatten Nottr nicht aus seiner Teilnahmslosigkeit reißen können. »Hörst du mich, Nottr?«
Wieder keine Antwort.
Sadagar zügelte sein Pferd, und Nottr folgte automatisch seinem Beispiel. Sadagar sprang von seinem struppigen Wallach. »Steig ab, Nottr!«
Der Barbar gehorchte. Er griff nach dem Zügel und folgte Sadagar, der auch das Packpferd führte. Den Pferden schien der anstrengende Ritt nichts ausgemacht zu haben. Es waren genügsame, kräftige Tiere, die mit ein paar Schlucken Wasser und einer Handvoll Hafer auskamen.
Die vergangene Nacht hatten sie Glück gehabt, denn sie entdeckten ein verlassenes Bauernhaus, in dem sie übernachten konnten. Im Freien wollte Sadagar keineswegs nächtigen, denn er wusste, dass es hier viele Wölfe gab. Eine Höhle wäre wohl am besten. Aufmerksam musterte er die Felswand, an der sie entlanggingen. Der Schneefall wurde etwas stärker.
Nach ein paar Schritten fand er einen Felsspalt, der aber zu eng für Mensch und Tier war.
Ein paar Schritte später hatte er endlich Glück: Er entdeckte eine mannshohe Öffnung in der Felswand.
»Halt die Pferde, Nottr!« sagte er befehlend. Der Barbar gehorchte widerwillig.
Die Pferde waren unruhig. Sie stampften auf. Anscheinend hatten sie Angst vor der hereinbrechenden Nacht.
Sadagar trat in die Höhle, die nach wenigen Schritten größer und breiter wurde. Zwanzig Schritte weiter war es so dunkel, dass er nichts mehr erkennen konnte. Mit beiden Händen tastete er sich die Wand entlang.
Die Höhle schien groß genug für ihren Zweck zu sein. Rasch kehrte er zu Nottr zurück. Aus einer der Satteltaschen des Packpferdes holte er eine Fackel heraus. Die Zeit, die er beim Zauberer Thonensen verbracht hatte, war nicht nutzlos gewesen. Er hatte sich einige einfache Zaubersprüche gemerkt, die recht nützlich waren. So konnte er die Kraft des Feuers wecken. Mit Hilfe eines Zauberspruchs und der Drehung der linken Hand gelang es ihm, die Fackel zum Aufflammen zu bringen. Er blies in die Flamme und grinste erfreut, als die Fackel loderte.
So griff er nach den Zügeln und ging voraus in die Höhle. Der Wallach wieherte unwillig und wollte ihm nicht folgen. »Komm schon«, redete er dem Tier gut zu. »Komm schon.« Zögernd folgte ihm der Wallach.
Sadagar atmete erleichtert auf, als er feststellte, dass die Höhle tatsächlich groß genug war, um ihnen allen Platz zu bieten. Die Wände waren feucht und verwittert. Der Boden war mit verfaultem Gras bedeckt. »Sattle die Pferde ab, Nottr!«
Sadagar blickte sich in der Höhle um, dann starrte er eine Wand an. Schließlich fand er einen schmalen Spalt, in den er die Fackel hineindrückte.
Kurze Zeit später waren die Pferde versorgt, die sich aber noch immer unruhig verhielten. Nottr hatte die Sättel an eine Wand gelegt und ein paar Felle hervorgeholt. Sadagar schichtete einige Holzscheite, die sie mitgenommen hatten, in der Mitte der Höhle auf und entfachte ein Feuer.
Die beiden setzten sich nieder und begannen ihr einfaches Abendbrot zu essen, das aus getrockneten Früchten, Brot, Käse und Bratenstücken bestand. Dazu tranken sie Wein aus einem Schlauch.
Der Rauch zog durch die Höhle auf die Eingangsöffnung zu. Sadagar wischte sich den Mund ab und schob zwei Holzscheite ins lodernde Feuer. Dann lehnte er sich zufrieden zurück und sah den hochtanzenden Flammenzungen zu.
Ein wenig später richtete er sich aber auf, als er die stärker werdende Unruhe der Pferde bemerkte. »Was ist mit euch los?« fragte er, stand auf und ging auf sie zu, um sie zu beruhigen.
Die Pferde wichen vor ihm zurück und wollten dem Höhlenausgang zustreben. Sadagar schnitt ihnen den Weg ab und trieb sie zurück. Der struppige Wallach bäumte sich auf, stieß ein angstvolles Wiehern aus und schlug mit den Vorderbeinen nach ihm. »Beim Kleinen Nadomir!« fluchte Sadagar. »Was ist nur in euch Biester gefahren? Nottr, hilf mir!«
Der Barbar schien ihn nicht gehört zu haben, denn er saß weiterhin ruhig vor dem Feuer und kaute ein Stück Fleisch.
Als Sadagar das wütende Brummen hörte, wirbelte er herum. Zwei glühende Augen kamen aus der Tiefe der Höhle auf ihn zu. Wieder war das unheilvolle Fauchen zu hören.
»Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte er, »da habe ich uns eine Bärenhöhle zum Schlafen ausgesucht.«
Die Pferde waren nun nicht mehr zu halten. Das Weiße in ihren Augen war zu sehen. Sie stürmten auf Sadagar zu, der zur Seite springen musste. »Nottr!« schrie er und wich noch ein paar Schritte zurück. Dann griff er nach den Wurfmessern in seinem Gürtel. »Nottr!«
Der Barbar drehte ihm den Kopf zu, dachte aber nicht daran, aufzustehen und ihm zu Hilfe zu kommen. Da war auch schon der Bär heran.
Ein mächtiges, altes Biest, dessen rotbraunes Fell an einigen Stellen bereits angegraut war. Der Kopf war klein, das Maul stand halb offen und ließ die starken Reißzähne erkennen. Der kurze Hals war kräftig, der massige Körper plump und die kurzen Beine muskulös.
Sadagar wusste, dass ihn der Bär mit einem einzigen Hieb seiner riesigen Vorderpfote töten konnte.
Der Höhlenbär richtete sich halb auf, ließ sich aber gleich wieder auf die Sohlen fallen und stürmte laut knurrend auf Sadagar zu, der einen Dolch aus dem Gürtel riss und ihn blitzschnell dem Untier entgegenschleuderte. Er hatte gut getroffen, denn das Wurfmesser blieb zwischen den Augen des Bären stecken. Blut quoll hervor. Ein weiterer Dolch spaltete eines der Ohren.
Sadagar sprang über das Feuer, ergriff eines der brennenden Holzscheite und warf es dem Bären entgegen, der ein wütendes Fauchen ausstieß und das Holzscheit zur Seite schleuderte. Mit einer Bewegung seiner linken Pranke streifte er das Wurfmesser zwischen den Augen ab.
»Nottr, so hilf mir doch!«
Der Barbar aber schien die Vorgänge rund um sich nicht wahrzunehmen. Teilnahmslos stierte er in die Flammen.
Der Bär spürte nun die Schmerzen und wurde rasend vor Wut.
Sadagar konnte ihn nur töten, wenn er ihn genau ins Auge traf und sich das Messer ins Hirn bohrte. Aber im flackernden Licht war ein genaues Zielen nicht möglich.
Und mit jedem weiteren Fehlwurf würde er die Bestie nur noch wütender machen.
Der Höhlenbär ging nun auf den unbeweglich da sitzenden Nottr los.
Sadagar stieß einen lauten Schrei aus, um den Bären vom Freund abzulenken, und tatsächlich wandte das mächtige Tier ihm den Kopf zu. Wieder warf Sadagar ein Messer, das im Hals des Bären steckenblieb.
Der alte Bursche stürmte nun blindwütig auf Sadagar zu, der zur Seite sprang und dabei fieberhaft überlegte. Mit dem Messer konnte er den Bären nicht töten, er musste eine andere Lösung finden.
Magie! Von Thonensen hatte er einige einfache Zauberformeln gelernt, mit denen man wilde Tiere vertreiben konnte.
»Toka hapa pmka tafadhali!« brüllte der Steinmann, bückte sich und zog einen brennenden Ast aus dem Feuer. »Nisamehe!«
Vom Ast loderten plötzlich fünf Fuß lange Feuerzungen los, die auf den Bären losrasten und ihn in ein gespenstisches rotes Licht hüllten.
Das Tier stieß ein klägliches Winseln aus und richtete sich auf den Hinterpranken auf.
Sadagar ging mit klopfendem Herzen auf ihn zu. »Nisamehe!« brüllte er wieder.
Der Feuerstrom, der den Bären einhüllte, wurde stärker. Sein Pelz fing an einigen Stellen Feuer.
»Nisamehe!«
Der Bär heulte wieder auf, ließ sich auf alle viere sinken und dachte nur mehr an Flucht.
»Nisamehe!« schrie Sadagar nochmals und verfolgte den Bären, der auf den Höhlenausgang zulief. Die Flammen, die vom Ast ausgingen, wurden kürzer und fielen dann in sich zusammen.
»Geschafft«, flüsterte Sadagar zufrieden.
Alles war so gekommen, wie Tordo vermutet hatte. Die beiden Männer hatten sich eine Höhle als Unterkunft für die Nacht gesucht. Und er hatte nicht warten müssen, bis ihn Rauchgeruch ans Ziel leitete. Die Hufspuren der Pferde waren im frisch gefallenen Schnee deutlich zu sehen. Es war schon fast dunkel, als sie die Höhle erreichten.
Tordo hob den Speer, und seine Männer blieben stehen. Er wollte sich zur Höhle schleichen und hineinsehen.
In diesem Augenblick hörte er lautes Wiehern, und der Wallach rannte aus der Höhle. Die zwei Stuten folgten ihm. Die Tiere rannten nicht auf ihn zu, sondern in die andere Richtung, die zum Ende des Tales führte. Die Pferde konnten ihnen also nicht entkommen.
Tordo wunderte sich jedoch über die Flucht der Pferde. Neugierig schlich er näher, kniete nieder und starrte in die Höhle.
Als er das wütende Fauchen des Bären hörte, wusste er genug. Er richtete sich auf und winkte die Männer heran. Dann flüsterte er ihnen Befehle zu. Sie stellten sich mit stoßbereiten Speeren im Halbkreis um die Höhle auf.
Noch einmal blickte Tordo in die Höhle, und seine Augen wurden groß. Der kleinere der Männer, sein weißblondes Haar war zerrauft, musste ein Zauberer sein, denn er ging auf den gefährlichen Bären mit einem Ast los, aus dem Flammenzungen schlugen, die den Bären einhüllten. Als der Bär die Flucht ergriff und auf Tordo zulief, sprang der Jäger zur Seite und schrie den Männern einen Befehl zu.
Heute lachte ihnen das Glück. Die Pferde gehörten ihnen, und dazu gab es noch eine Bärenjagd, die allerdings nicht ungefährlich war, da es in der Zwischenzeit schon fast dunkel geworden war.
Auf Bärenjagd ging der Stamm recht häufig, aber das war meistens im Frühling. Während der Wintermonate erkundeten sie die Höhlen rund um ihr Winterquartier. Dann brauchte man nur einen Stein oder eine Fackel in die Höhle zu werfen und konnte aus den Lauten, die die aus dem Schlaf geschreckten Tiere von sich gaben, genau schließen, was für ein Tier in der Höhle überwinterte. Und meist machten sich dann ein Dutzend Jäger an einem strahlenden Tag auf den Weg, versammelten sich vor der Höhle und warfen brennende Kiefernzweige hinein. Einige von ihnen standen dann oberhalb des Eingangs, und sobald der Bär herausstürmte, fielen ihm ein paar gewaltige Steinbrocken auf den Schädel. Der Rest war dann sehr einfach, da die anderen so lange mit den Speeren auf das Tier einstachen, bis es tot war.
Auch jetzt stürmte der Bär heraus. Seine glühenden Augen waren deutlich zu sehen.
Tordo wartete, bis das Tier im Freien war, dann sprang er tollkühn vorwärts und rammte seine Lanze in den Leib des Bären, der gequält aufheulte.
Da waren auch schon die anderen Jäger heran. Sie stachen zu, rissen die Speere aus dem Leib und sprangen zurück, um sich aus der Reichweite der wild um sich schlagenden Pranken zu bringen. Der Bär wehrte sich verzweifelt. Er schlug einen der Speere zur Seite, der Jäger rutschte aus, und da war auch schon der Bär über ihm. Seine gewaltigen Kiefer verbissen sich im Unterarm des Mannes, der einen lauten Schrei ausstieß. Doch schon waren die anderen Jäger heran und stachen auf das Tier ein, das daraufhin von seinem Opfer abließ.
Tordos linke Hand verkrallte sich im Fellumhang des Verwundeten. Er riss ihn zurück.
Keiner der Jäger begab sich in die Reichweite der gefährlichen Zähne und Krallen. Stach einer auf der linken Seite zu, bekam das Biest auch schon einen Stich in die andere Seite. Innerhalb weniger Augenblicke blutete der Bär aus unzähligen Wunden.
Wenig später ließen die Jäger von ihm ab, wichen ein paar Schritte zur Seite und warteten. Ein tiefes Brummen entrang sich der Kehle des Bären, der sich mühsam vorwärts bewegte. Nach ein paar Schritten brach er lautlos zusammen.
Tordo kam vorsichtig näher. Er stieß seine Speerspitze in die rechte Flanke des Bären, der sich aber nicht mehr bewegte. »Der Herr der Berge ist tot«, sagte Tordo, kniete nieder, presste die Lippen auf eine der Halswunden des Bären und trank gierig das warme Blut. Er glaubte ganz deutlich zu spüren, wie die Kraft des Bären auf ihn überging.
Nach ihm tranken die anderen Jäger vom Blut.
Tordo bestimmte fünf Männer, die vor der Höhle wachen sollten, darunter auch den verletzten Nokko. Sie sollten die Pferde einfangen. Er selbst wollte mit vier Männern in die Höhle gehen.
Den Speer nahm er in die linke Hand, in der rechten hielt er die schwere Steinaxt. Gebückt betrat er die Öffnung und stapfte in die Höhle.
Der kleine Mann, der den Bären mit dem Zauberast aus der Höhle vertrieben hatte, tanzte um das Feuer herum. »Beim Kleinen Nadomir«, jubelte der Alte, »ich bin ein mächtiger Zauberer. Hast du gesehen, wie ich den Bären vertrieben habe, Nottr?«
Der Mann, der vor dem Feuer saß und Tordo den Rücken zukehrte, antwortete nicht.
»Ich werde ein mächtiger Magier werden, Nottr. Das kannst du mir glauben, so wahr der Kleine Nadomir mein Schutzgeist ist. Ich werde...«
*
Sadagar blickte zum Höhleneingang und brach mitten im Satz ab. Fünf düster aussehende Wilde standen dort, die Speere waren auf ihn gerichtet. Die fünf standen wie Statuen da und starrten ihn an.
»Nottr«, hauchte Sadagar mit versagender Stimme, »wir haben Besuch bekommen.«
Nottr bewegte sich nicht. »Seid willkommen, Fremde«, sagte Sadagar schnell. »Nehmt Platz und wärmt euch!«
Einer der Wilden trat zwei Schritte vor. Die blutverschmierte Lanzenspitze zeigte genau auf Sadagars Herz. Er sagte etwas, das Sadagar nicht verstehen konnte.
»Ich verstehe dich nicht, Fremder.«
»Tordo«, sagte der Wilde und klopfte sich mit der Steinaxt an die Brust.
»Hm, du bist Tordo«, stellte der Steinmann fest. »Verzeih mir, aber ich verstehe dich äußerst schlecht. Ich bin Sadagar, ein mächtiger Zauberer.« Er zeigte mit der rechten Hand auf sich und sagte nochmals: »Sadagar!«
»...adagar?«
»Sadagar.«
Tordo versuchte es nochmals. »…adagar!« Er konnte kein »S« aussprechen.
»Ist schon gut, alter Freund, dann nenne mich eben Adagar. Ich bin ein mächtiger Zauberer, ein großer Schamane.«
Sadagar hatte sich etwas von dem Schrecken erholt, den ihm der Anblick der fünf verwegen aussehenden Wilden bereitet hatte. Ihre Ähnlichkeit mit Nottr war unverkennbar. Nach den primitiven Waffen zu schließen, hatte dieser Bergstamm kaum Kontakte zu den Flachlandbewohnern.
»Wer ist das?« fragte Tbrdo und zeigte auf Nottr.
Langsam gewöhnte sich Sadagar an die Sprechweise Tordos, und er konnte den fast unverständlichen Gorgan-Dialekt mehr erraten als verstehen.
»Das ist mein treuer Diener«, antwortete er. »Sein Name ist Nottr, und ich brauche ihn, um meine Zauberkräfte einsetzen zu können.« Sadagar hatte ganz langsam gesprochen und jedes Wort deutlich betont. Der Wilde schien ihn verstanden zu haben.
Tordo schritt auf das Feuer zu und blickte Nottr an, der noch immer in die Flammen stierte. Er versetzte Nottr einen Tritt in den Rücken, doch der Lorvaner reagierte nicht.
»Sieh mich an, Nottr!« brummte Tordo verärgert. Seine Hand krampfte sich stärker um die Steinaxt, die er langsam zum Hieb erhob.
»Nottr!« rief Sadagar. Er befürchtete, dass der Wilde seinen Freund erschlagen werde.
Endlich bewegte sich Nottr. Er hob den Kopf und blickte Tordo gleichgültig an. Plötzlich lächelte er.
»Steh auf, Nottr!«
Der Barbar erhob sich langsam.
»Gib mir dein Schwert, Nottr!«
Gehorsam löste Nottr sein Schwert vom Gürtel und reichte es dem Wilden.
»Gib mir deine Waffen, Adagar!« Sadagar zögerte einen Augenblick, dann öffnete er den Gürtel und hielt ihn Tordo hin.
»Du bist ein Schamane, Weißkopf?« fragte Tordo.
»Ein mächtiger Zauberer«, behauptete Sadagar kühn.
»Kannst du auch Verletzungen heilen?«
»Das gehört zu meinen Künsten.«
Tordo schrie seinen Männern etwas zu, das Sadagar nicht verstehen konnte. Einer der Wilden verließ die Höhle, die anderen durchsuchten die Satteltaschen und heulten begeistert auf, als sie die Nahrungsmittel fanden.
Sadagars Miene verdüsterte sich, als Tordo ihre Vorräte an seine Männer verteilte, die sich gierig darüber stürzten, als hätten sie schon tagelang nichts zwischen die Zähne bekommen. Auch Tordo schob sich ein paar Fleischbrocken in den Mund. Einer der Männer nahm den Rest an sich und verschwand aus der Höhle.
Ein junger Jäger trat ein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Sein Oberkörper war nackt. Um seinen Hals hing eine Kette aus Raubtierzähnen. Der rechte Unterarm war blutverschmiert.
»Der Bär hat Nokko gebissen«, sagte Tordo. »Sieh die Verletzung an und heile sie!«
Nokko blickte Sadagar misstrauisch entgegen und streckte ihm nur zögernd den verletzten Arm hin.
Sadagar brummte und wiegte bedenklich den Kopf hin und her, als er die Wunden betrachtete. Er griff nach dem Arm und strich über den Ellbogen und den Unterarm, dann packte er zu und beobachtete das Gesicht Nokkos. Kein Muskel zuckte in Nokkos Miene.
Da habe ich Glück, dachte Sadagar, der Arm ist nicht gebrochen. Nichts weiter als eine eher harmlose Fleischwunde.
»In zwei Tagen ist die Wunde verheilt«, versprach Sadagar. »Ich werde sie nun versorgen.«
Er holte einen Lederbeutel hervor, den er vom alten Kräuterweiblein erhalten hatte. Darin befanden sich einige recht wirksame Heilsalben und schmerzstillende Kräuter. Vorsichtig reinigte er die Wunde, streute ein paar der zerstoßenen Kräuter darüber und bestrich die Wunde dünn mit der intensiv riechenden Salbe.
Der junge Jäger blickte seinen Arm verwundert an. »Die Schmerzen sind verschwunden«, sagte er verblüfft.
»Du scheinst wirklich ein Schamane zu sein«, stellte Tordo fest und sah sich Nokkos Arm an. »Ich lasse dich und deinen Freund am Leben. Unser Schamane ist krank. Du wirst ihn heilen. Gelingt dir das nicht, wirst du sterben.«
Das sind ja heitere Aussichten, dachte Sadagar.
»Setzt euch nieder!« befahl Tordo und zeigte auf eine der Wände.
Seufzend ergriff Sadagar Nottrs rechte Hand und zog ihn zur Wand hin. Dann setzten sie sich nieder.
Nokko betastete noch immer seinen Arm. Er konnte offensichtlich nicht verstehen, dass er keine Schmerzen mehr hatte.
Einer der Jäger schürte das Feuer. Die Flammen schossen hoch. Ein paar Männer zerrten den Bären in die Höhle.
Niemand kümmerte sich um Sadagar und Nottr. Ein Fluchtversuch war sinnlos, das war Sadagar völlig klar. Im Augenblick blieb ihm keine andere Wahl, als sich mit seinem Schicksal abzufinden. Vielleicht wäre ihm allein die Flucht gelungen, aber keinesfalls wollte er Nottr zurücklassen.
Die Jäger waren überaus geschickt. Mit ihren Feuersteinmessern häuteten sie den Bären blitzartig ab, breiteten das Fell aus und begannen das Fleisch von den Knochen zu lösen. Sie spießten ein paar Fleischstücke auf, die sie über dem Feuer brieten. Das restliche Fleisch warfen sie auf die Bärenhaut.
Sadagars Augen weiteten sich, als drei Jäger den toten Wallach in die Höhle zogen. Sie schlugen ihm den Kopf ab, schnitten die Zunge heraus, die sie roh verschlangen. Dann zerlegten sie auch das Pferd. Als sie damit fertig waren, stürzten sie sich gierig auf die halb gebratenen Fleischstücke und schlangen sie heißhungrig hinunter.
Tordo warf Sadagar ein Stück Fleisch zu, der es sofort an Nottr weitergab. Der Barbar hob die Schultern und wandte sich ab.
Sadagar war nicht sonderlich überrascht, als die Jäger auch die zwei Stuten in die Höhle brachten, sie abhäuteten und zerlegten.
Nottr lehnte an der Wand und schlief.
Sadagar sah den Wilden zu, wie sie die Fleischstücke für den Transport vorbereiteten. Die Felle wurden an dünnen Baumstämmen befestigt und so zusammengeschnürt, dass sie große Taschen bildeten, die von zwei Männern getragen werden konnten.
Als die Jäger damit fertig waren, ließen sie sich einfach zu Boden fallen und schliefen sofort ein.
Das Feuer brannte langsam herunter. Sadagar hüllte sich enger in seinen Umhang. Ihm war kalt. »Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte er verbittert, »es war alles andere als eine gute Idee, sich in das Karsh-Gebiet zu wagen.« Irgendwann schlief er ein.
*
Es war noch dunkel, als sie aufbrachen. Sadagar war müde, und alle Knochen taten ihm weh. Seine düstere Stimmung Passte genau zum Wetter. Es war kalt, neblig, und es regnete leicht. In die Regentropfen mischten sich immer mehr Schneeflocken, je höher sie die Geröllhalde hinaufstiegen.
Nottr stapfte neben ihm und trug wie er einen der Sättel. Vor ihnen waren vier Jäger zu sehen, die die mit Fleisch gefüllten Felle schleppten. Hinter ihnen gingen die anderen.
Sadagar hatte mit Tordo eine Unterhaltung beginnen wollen, doch der junge Wilde hatte auf keine seiner drängenden Fragen geantwortet. Aber Nokko hatte kurz mit ihm gesprochen. Seine Wunde war schon fast verheilt.
Die Sicht wurde immer schlechter. Sadagar konnte nicht weiter als fünfzig Schritt sehen. Die Geröllhalde stieg steil an. Nun verstand er auch, weshalb die Wilden die Pferde getötet hatten. Hier herauf hätten ihnen die Tiere kaum folgen können.
Ich weiß überhaupt nichts über diese Wilden, sinnierte er. Sie sahen Nottr zwar ähnlich, waren aber viel primitiver. Über die Sitten und Gebräuche der wilden Bergvölker war kaum etwas bekannt. Er wusste nicht, wie sie lebten und welche Götter sie verehrten.
Die Steine waren feucht und glitschig. Sadagar hatte immer größere Mühe, Nottr zu folgen. »Schlaf nicht, Weißkopf!« hörte er Tordos polternde Stimme und bekam einen aufmunternden Stoß in den Rücken, der ihn taumeln ließ. Keuchend vor Anstrengung, beschleunigte er seine Schritte. Ich bin ein alter Mann, dachte er, viel zu alt für solch eine Schufterei.
Endlich lag die Geröllhalde hinter ihnen. Nun ging es einen schmalen Saumpfad entlang, der sich sanft höher schlängelte. Die Sicht wurde noch schlechter. Der Regen war zu Schnee geworden, und ein eisiger Wind schlug ihnen entgegen.
Eine kurze Rast wäre nicht übel, dachte Sadagar voller Hoffnung. Doch dazu kam es nicht. Die Jäger schritten trotz des immer stärker werdenden Schneefalls unverdrossen weiter.
Er dachte wieder an Flucht. Sadagar verkrallte sich förmlich in diesen Gedanken, obzwar er genau wusste, dass jeder Fluchtversuch völlig sinnlos war. Allein auf sich gestellt, hätte er in dieser unwirtlichen Gegend nicht einmal zwei Tage überlebt. Einmal blieb er ermattet stehen und atmete tief ein. Am liebsten hätte er sich niedergesetzt.
»Weiter, Weißkopf, weiter!«
Verbittert blickte er seinen Peiniger an. Tordos Gesicht war nass, und er hatte sich den Bärenkopf über den Schädel gezogen. Seine Fellkleidung war schneebedeckt, und das alles war für den Wilden ganz normal.
Knurrend vor Ärger, stapfte Sadagar den Pfad entlang. Nottr war vor ihm nur als schemenhafte Figur zu erkennen.
Kurze Zeit danach ging es einen Berghang hoch. Zu beiden Seiten des Weges standen verschneite Tannen und Fichten. Der Schneefall wurde immer dichter. Mit der rechten Hand hielt Sadagar den Sattel gepackt, der über seinen Schultern lag; und mit der linken wischte er sich fluchend den Schnee aus dem Gesicht. Er rutschte aus, stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden. Völlig teilnahmslos blieb er liegen.
Ein kräftiger Arm riss ihn hoch. Der Sattel wurde ihm von Tordo abgenommen. »Geh, Alter!«
Sadagar nickte schwach und schritt los. Ohne den schweren Sattel kam er rascher vorwärts. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich erholt. Der Wind war zum heulenden Sturm geworden, doch der Schneefall wurde schwächer. Nun konnte man auch etwas besser sehen. Sie schritten durch ein tief verschneites Latschenfeld. Die Jäger schienen keine Müdigkeit zu kennen. Ohne Pause stapften sie durch den knöchelhoch liegenden Schnee.
Nun schritten sie an einer Felswand entlang über eine Ebene dahin. »Bald haben wir das Lager erreicht, Weißkopf«, sagte Tordo aufmunternd, als Sadagar wieder einmal seine Schritte verlangsamte.
Dem Kampf mit den Caer war er entflohen, grübelte Sadagar, aber dafür war er wie schon so oft in seinem Leben in Gefangenschaft geraten. Bis jetzt hatte er es immer geschafft, sich irgendwie zu befreien, vielleicht würde er auch diesmal Glück haben. Tordos Versprechen traute er nicht. Sollte es ihm tatsächlich gelingen, den Schamanen zu heilen, so war es trotzdem höchst zweifelhaft, dass er und Nottr mit dem Leben davonkommen würden. Er wusste zwar herzlich wenig von den Sitten der wilden Karsh-Stämme, aber eines wusste er ganz sicher: Die Winter in den Bergen waren hart und lang. Oft reichten die Lebensmittelvorräte nicht aus, und er hatte Gerüchte von Menschenfresserei gehört.
»Beim Kleinen Nadomir«, brummte er, »ich soll ihnen schwer und lang im Magen liegenbleiben und ihnen gehöriges Bauchzwicken verursachen.«
Sadagar konnte sich nicht erinnern, wann er einmal so erbärmlich gefroren hatte. Sein Pelz war nass, und Schnee klebte in seinem Haar. Müde hob er den Kopf, als er lautes Schreien hörte. Einige Wilde liefen auf sie zu. Das Lager musste ganz nahe sein. Er blieb schnaufend stehen und schüttelte den Schnee aus dem Haar.
Etwa zwanzig Wilde waren es, die sie laut johlend umringten. Alle brüllten durcheinander.
Sadagar versuchte sie zu verstehen, doch er konnte nur Wortfetzen aufschnappen. Alle waren von der Jagdbeute begeistert. Die Männer und Frauen musterten Nottr und ihn verstohlen; die paar Halbwüchsigen, die mitgekommen waren, verhielten sich nicht so zurückhaltend. Sein helles Haar schien es ihnen angetan zu haben.
Er ertrug die neugierigen Blicke gelassen, denn er war überaus froh, dass er verschnaufen durfte. Sein Rücken und die Beine schmerzten.
Aber die Rast war nur sehr kurz. Bald ging es weiter. Zwei Jäger, die ihn besorgt anblickten, nahmen ihn in die Mitte. Tordo hatte irgend etwas zu ihnen gesagt, was er nicht verstanden hatte.
»Sollen wir dich tragen, Alter?« fragte der eine.
Eigentlich wäre das gar nicht so übel, überlegte Sadagar kurz. Aber sofort verwarf er diesen Gedanken. Nein, das kam nicht in Frage, das würde beim Stamm keinen guten Eindruck hinterlassen, da er ja als großer Schamane auftreten wollte.
»Nein, das ist nicht notwendig«, sagte er mit fester Stimme. Er versuchte zu grinsen, was ihm aber nicht gelang, da sein Gesicht zu einer Eismaske erstarrt war.
Die Flocken fielen nun nicht mehr so dicht. Weiterhin hielten sie sich im Schutz der Felswand. Nach ein paar Schritten erblickte er das Lager. Es bestand aus etwa zehn zeltartigen Hütten, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Dazwischen standen ein paar voll bepackte Schlitten, die teilweise kunstvoll verziert waren. An einigen Stangen waren pelzige, fremdartig aussehende Hunde angebunden, die alle wie verrückt kläfften, hochsprangen und sich loszureißen versuchten. Sie waren klein und gedrungen, ihr Fell war meist grau, aber einige waren schwarz gefärbt. Die Schwänze waren eigenartig eingedreht, fast wie bei Schweinen, und ihre Augen waren kornblumenblau und blickten heimtückisch.
*
Tordo lief voraus. Die Nachrichten, die er über Chwums Gesundheitszustand erhalten hatte, waren alles andere als erfreulich. Sein Befinden hatte sich noch verschlechtert. Er war bewusstlos, und es stand zu befürchten, dass er die heutige Nacht nicht mehr überleben würde.
Der Stamm hatte schon alle Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Die Erdgrubenhäuser waren geräumt worden, nur die Felle, die als Wände dienten, mussten abgenommen werden. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren, denn wenn es ihnen nicht gelang, bis morgen das Göttertor zu erreichen, war ihnen der direkte Weg zum Winterlager möglicherweise verschlossen. Es war schon öfters vorgekommen, dass Lawinen den Eingang des Tunnels verschüttet hatten. In so einem Fall mussten sie einen großen Umweg machen, der sie durch unwegsame Pässe führen würde, wo sie die Schlitten nicht verwenden konnten, die für eine schnelle Fahrt unerlässlich waren.
Tordo betrat das Lager. Er winkte den ihn begrüßenden Stammesmitgliedern kurz zu, dann betrat er eines der mit Perlen und Federn geschmückten Erdgrubenhäuser. Rasch stieg er die zwei Stufen hinunter.
Drinnen war es heiß. In der Mitte brannten Holzscheite in der Feuerstelle. Die Luft war stickig und roch nach Ausscheidungen und ungewaschenen Körpern. Auf einigen Felldecken lag der Schamane, der röchelnd atmete. Neben dem Lager hockte Olinga und murmelte beschwörend Zaubersprüche.
Langsam trat Tordo näher. Chwums Atem kam rasselnd. Sein hageres Gesicht war eingefallen, die Haut war gelb und faltig. Seine Lippen waren verzerrt, und Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Wie geht es Chwum?« fragte Tordo leise, als wollte er nicht die Ruhe des Sterbenden stören.
»Er wird sterben«, antwortete die junge Frau, ohne sich umzublicken.
»Vielleicht gibt es eine Rettung für ihn, Olinga.«
»Er stirbt, Tordo.«
Er öffnete seinen Umhang und ließ ihn einfach zu Boden fallen. Die junge Frau richtete sich auf und blickte ihn an. Für ein Chereber-Mädchen war sie ungewöhnlich groß: sechs Fuß und eine Handbreit und zwei Finger. Ihr Haar, dunkelbraun und borstig, war kunstvoll mit einem Geflecht aus Lederriemen verbunden. Ihr rundes Gesicht mit den großen dunkelbraunen Augen war nach den Begriffen der Bergvölker schön. Besonders anziehend wirkten die plattgedrückte Nase und der breite Mund. Bekleidet war sie mit einem dünnen Ledergewand, das ihre üppigen Formen unterstrich.
»Wir haben einen Bären und drei Pferde erjagt, Olinga. Und zwei Gefangene mitgebracht.«
»Wir brauchen keine Gefangenen. Sie sind nur zusätzliche Esser, die dem Stamm nichts nützen. Es wäre besser gewesen, du hättest sie gleich getötet.«
»Das wollte ich auch, aber.«
»Aber?«
»Einer der beiden ist ein Schamane!«
»Das hat er wahrscheinlich nur behauptet, damit du ihn am Leben lässt.«
Tordo schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ich habe gesehen, wie er einen Bären mit einem brennenden Ast vertrieben hat. Er hat… «
Olinga schnaubte verächtlich.
»…Nokkos Wunde geheilt, die ihm der Bär beigebracht hatte.«
»Jede Wunde heilt irgendwann einmal.« »Der Bär hat Nokko in den Unterarm gebissen. Die Verletzung war tief und schmerzhaft. Der Fremde, der sich Adagar nennt, hat sie mit einer Salbe bestrichen, die sofort die Schmerzen vertrieb. Und als wir im Morgengrauen aufbrachen, war die Wunde bereits verheilt!«
Olinga blickte ihn durchdringend an. »Du willst, dass der Fremde Chwum heilt?«
»Ja, das will ich.«
Tordo wartete auf einen heftigen Widerspruch, doch er blieb aus.
»Der Fremde soll es versuchen«, flüsterte Olinga fast unhörbar, »denn meine Heilkunst ist am Ende.«
»Ich werde ihn holen.«
»Bleib nur!« sagte Olinga und stand auf. »Ich gehe hinaus.«
»Der zweite Gefangene soll der Helfer des Schamanen sein. Er gehört unserer Rasse an, doch er spricht kaum etwas. Sein Geist scheint verwirrt zu sein.«
»Er interessiert mich nicht.«
*
Die junge Frau schritt an Tordo vorbei und trat vor die Erdhütte. Ihr Blick fiel auf den blonden Mann. Nie zuvor hatte sie solch ein Haar gesehen. Der Schamane war alt, doch seine grauen Augen funkelten listig. Er stand gekrümmt da und war offensichtlich erschöpft. Im Augenblick war er keine Hilfe.
Und dann fiel Olingas Blick auf den Mann neben Sadagar. Tatsächlich, er musste ihrer Rasse angehören, dachte sie. Er sah ihnen sehr ähnlich, doch gleichzeitig war etwas um ihn herum, was ihn auch fremdartig machte. Es war nicht der stumpfe Ausdruck seiner Augen, der sie störte, auch nicht die Narben und das fehlende Ohr, denn gerade das machte ihn für sie anziehend.
Es war etwas ganz anderes, was sie abstieß und gleichzeitig anzog, wie sie es nie zuvor bei einem Mann bemerkt hatte. Sie hatte einige Männer von anderen Stämmen näher gekannt, aber solch ein Mann war ihr nie begegnet.
Olinga war zum Stamm der Chereber gekommen, als sie drei Jahre alt gewesen war. So wie bei vielen der Bergstämme üblich, war sie von ihren Eltern ausgesetzt worden. Die Chereber hatten sie gefunden und aufgenommen.
Olinga war für den Stamm ein Glücksfall gewesen, da sie über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte, die für einen Schamanen wichtig waren. Deshalb war sie auch Chwums Schülerin geworden, der ihr bereitwillig sein Wissen mitgeteilt hatte. Sie war für den Stamm ein Gewinn, trotzdem war sie allen anderen gleichgestellt. Sie handelte nach den Gesetzen des Stammes und wählte sich unter den Männern ihre Fellgefährten aus.
Die meisten Frauen in ihrem Alter, sie war neunzehn Winter alt, waren bereits mehrmals schwanger gewesen, sie aber noch nicht. Denn sie wollte erst ein Kind haben, wenn sie den richtigen Fellgefährten gefunden hatte. Und der Fremde, der sie gleichgültig anglotzte, schien sich als geeigneter Fellgefährte anzubieten.
»Bringt die beiden zum Starken Arm des Großen Albs«, sagte Olinga befehlend, »und gebt ihnen zu essen und zu trinken.«
*
Sadagar musterte die junge Frau aufmerksam. Für seinen Geschmack war sie viel zu groß und viel zu kräftig. Aber ihr Interesse an Nottr war offensichtlich. Sadagar kannte die Frauen und ihre Blicke. Er unterdrückte ein Seufzen, da er Schwierigkeiten aufkommen sah. Kurz blickte er Nottr an, aber der Barbar, der früher weiblichen Reizen durchaus aufgeschlossen war, beachtete die Stammesschönheit überhaupt nicht.
Sie sprach deutlicher als Tordo, und Sadagar hatte keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Ihre Worte hoben seine Lebensgeister. Der Gedanke an Essen und Trinken war überaus erfreulich. Aber wer der >Starke Arm des Großen Albs< war, das wusste er nicht, und es interessierte ihn im Augenblick auch nicht.
Die Wilden führten sie zu einer der fellüberzogenen Hütten, zogen die Felltür zurück, und Sadagar trat ein. Nottr folgte ihm.
Ein kleiner Mann stand bei ihrem Eintritt auf. Er trug die Kleidung der Wilden, doch auf den ersten Blick erkannte Sadagar, dass er nicht zu ihnen gehörte.
»Willkommen«, sagte der kräftige Mann, der etwa fünfzig Sommer alt war. »Ich bin Duprel Selamy.«
»Ich bin Steinmann Sadagar«, stellte er sich vor. Duprel Selamy, diesen Namen hatte er schon gehört, doch er konnte sich nicht an den Zusammenhang erinnern. »Und das ist mein Freund Nottr.« Er wies mit dem Kopf auf den Barbaren, der Selamy nur flüchtig musterte.
»Schlüpft aus euren Kleidern und wärmt euch, Leidensgenossen! Ich freue mich, endlich wieder einen Menschen aus meinen Landen zu sehen.«
Sadagar folgte der Aufforderung. Er zog seine klitschnassen Kleider aus und legte sie neben das Feuer. Nottr folgte seinem Beispiel.
»Setzt euch!« sagte Duprel.
Selamy und Sadagar starrten sich neugierig an. Was Sadagar zu sehen bekam, gefiel ihm. Nach dem Dialekt zu schließen, musste der wuschelköpfige, breitschultrige Mann aus Ugalien stammen. Er war alles andere als hübsch mit seinem eckigen Kopf, den Henkelohren und der breiten Stirn. Aber auf Äußerlichkeiten gab Sadagar nicht viel. Er ließ sich mehr von seinem Instinkt leiten. Und der sagte ihm, dass er Duprel trauen durfte.
»Wir wurden von den Wilden gefangengenommen«, brach Sadagar das Schweigen. Er wärmte seine Hände am Feuer und rutschte näher.
»So wie ich«, stellte Duprel Selamy fest. »Ich bin ebenfalls ein Gefangener der Chereber, so nennt sich dieser Karsh-Stamm. Sie wollten mich töten, aber ich konnte sie davon überzeugen, dass ich lebend für sie nützlicher sein kann. Sie wissen überhaupt nichts von der Gewinnung und Handhabung von Metall. Da ich aber Schmied bin, habe ich ihnen…«
»Du bist Schmied«, unterbrach ihn Sadagar und legte die Stirn in Falten. »Jetzt erinnere ich mich. Du bist doch der berühmte Waffenschmied?«
Selamy nickte stolz. »Du hast von mir gehört«, freute er sich sichtlich.
»Ja, ich habe von dir gehört. Du hast den Goldharnisch für den L'umeyn gefertigt. Du hast die Kavaliers-Armbrust erfunden. Man rühmt dich als den besten Waffenschmied Ugaliens. Doch plötzlich warst du verschwunden.«
Selamys Gesicht verdüsterte sich, und er nickte. Bevor er noch etwas sagen konnte, traten zwei Jäger in die Hütte. Einer trug eine dampfende Schüssel, der andere eine Holzplatte, auf der getrocknetes Fleisch, Nüsse, Wurzeln und fladenartiges Brot lagen.
»Esst!« sagte einer der Jäger.
Sie stellten die Schüssel und das Tablett auf den Boden, dann verließen sie die Hütte.
Gierig griff Sadagar nach der Schüssel. Eine braune Flüssigkeit, die ölig glänzte, befand sich darin. Er nippte daran, es war ein Kräutertee, den er nicht kannte, der aber aromatisch schmeckte. Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, reichte er die Schüssel Nottr.
»Erzähl weiter, während wir essen, Duprel«, bat der Steinmann und schob sich ein Stück Fleisch zwischen die Lippen.
»Eigentlich sollte ich nicht darüber sprechen«, begann der Schmied zögernd, »aber Ugalien, der L'umeyn und der Erzmagier Vassander sind weit weg. Ich sollte für den Magier einen Harnisch anfertigen, der gewisse magische Eigenschaften hatte. Vassander steckte mich in das Gefängnis am Grund der verpesteten Lorana. Ich ahnte, dass er mich nach getaner Arbeit umbringen würde, und ich schützte mich dagegen.« Er kicherte leise vor sich hin.
Sadagar knackte eine Nuss, schob sie sich in den Mund und starrte den Schmied gespannt an. »Erzähl weiter!«
»Ich legte den Erzmagier herein. Wie, das will ich dir lieber nicht berichten. Mir gelang die Flucht. Ich wanderte flussaufwärts und erreichte die Blutquelle. Dort entdeckte ich zu meiner größten Verwunderung einen tiefen Krater, aus dem das schweflige Gebräu quoll, das die Lorana vergiftete. Ich sah einen großen Stein, der von Männern behauen wurde, die wie Angehörige der wilden Bergstämme aussahen. Bei ihnen war ein Caer-Priester, der sich Oghan nannte. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es gelang mir, den Caer-Priester zu töten und den Krater mit dem Dämonenstein zu verschließen. Ich wusste, dass Vassander mit den Caer zusammenarbeitet, aber mir war auch klar, dass es sinnlos war, nach Ugalos zurückzukehren und von seinem Verrat zu berichten, denn niemand hätte mir geglaubt. So irrte ich umher und stieß schließlich auf die Chereber, die auf Jagd waren.«
»Du bist ein tapferer Mann«, sagte Sadagar schmatzend, während er an einem Stück Fleisch kaute.
»Bei den Wilden geht's mir ganz gut. Ich vermisse nur schmerzlich einen guten Tropfen. Die Chereber haben keinen Wein. Aber trotzdem sehne ich mich nach Ugalos zurück. Oft schon hätte ich fliehen können, aber es hat keinen Sinn, denn in Ugalos erwartet mich Vassanders Rache.«
Sadagar grinste vergnügt. »Ich habe gute Nachrichten für dich, Duprel. Vassander wurde zu einem Xandor!«
Der Schmied beugte sich aufgeregt vor. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Lügst du auch nicht, Sadagar?«
»Nein, ich war dabei, als Vassander sich verwandelte, und ich kann dir versichern, Duprel, dass ich diesen Tag mein Leben lang nicht vergessen werde.«
»Das musst du mir genau erzählen, Sadagar.«
»Später werde ich dir alles ganz genau erzählen, Freund, aber im Augenblick gibt es wichtigere Dinge. Nur soviel dazu: Es kam zwischen dem Sterndeuter Thonensen und Vassander zu einem Duell der Magier, bei dem ich, in aller Bescheidenheit, eine wesentliche Rolle gespielt habe. Mein lieber Freund Thonensen siegte dank meiner Hilfe.«
»Ich kann es noch immer nicht glauben«, flüsterte Selamy. »Nun kann ich ja nach Ugalos zurückkehren, da ich Vassander nicht mehr fürchten muss. Zurück zu meiner Schmiede und meinen treuen Gehilfen Jules und Frerick.«
»Ja, das könntest du«, sagte Sadagar und nickte zustimmend. »Aber ich weiß nicht, ob es besonders klug von dir wäre, da die Entscheidungsschlacht mit den Caer unmittelbar bevorsteht. Ich brauche dein Hilfe, Duprel.«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Ich muss alles über diesen Stamm erfahren. Kannst du mir da behilflich sein?«
Duprel nickte. »Was willst du wissen?« »Tordo ließ uns am Leben, da ich ein Magier bin. Er will, dass ich Chwum heile. Sollte mir das nicht gelingen, wird er Nottr und mich töten.«
Der Schmied blickte Nottr forschend an, der zusammengesunken ins Feuer stierte. »Was ist mit deinem Gefährten los?« fragte er fast unhörbar.
»Er landete in Graf Corians Folterkammer. Körperlich ist er genesen, doch geistig hat er einen Schaden erlitten. Ich habe meine ganze Heilkunst aufgeboten, doch sein Zustand bessert sich nicht.«
»Ich verstehe. Deine Aufgabe ist nicht leicht, Sadagar, denn Chwum ist ein alter Mann, dessen Zeit abgelaufen ist. Ich fürchte, du wirst ihn nicht retten können.«
»Ich werde es versuchen. Ist Tordo der Anführer des Stammes?«
»Nein. Sie haben keinen Anführer. Tordo ist der geschickteste Jäger des Stammes, daher fügen sich die anderen seinen Anordnungen bei der Jagd. Wenn man überhaupt von einem Häuptling oder Anführer sprechen kann, war es Chwum. Seine Nachfolge wird Olinga antreten, die als einzige über magische Fähigkeiten verfügt. Das Zusammenleben ist hier sehr einfach, so ganz anders als in Ugalien. Hier gibt es keinen Neid, keine Gier und keine Eifersucht.«
»Das hört sich merkwürdig an. Aber vermutlich sind sie blutrünstig?«
»Nein, das sind sie auch nicht. Sie sind nur Fremden gegenüber misstrauisch. Mit den meisten anderen Stämmen leben sie in Frieden.«
»An welche Götter glauben sie?« »Ihr Hauptgott, wenn ich das so sagen darf, ist der Große Alb. Mir haben sie den Namen >der Starke Arm des Großen Albs< gegeben, der aber nicht viel zu bedeuten hat. Wer oder was dieser Große Alb ist, wurde mir nie gesagt. Es gibt Stämme, die an eine andere Gottheit glauben. Mit denen sind die Chereber verfeindet, und da kommt es auch öfters zum Kampf.«
Sadagar verarbeitete das eben Gehörte. Doch es half ihm nicht weiter. Die Sitten der Chereber kamen ihm ziemlich merkwürdig vor.
»Der Stamm lebt hauptsächlich von der Jagd. Im Sommer steigen sie aus den Gletscherregionen herunter ins Tal. Jetzt bereiten sie alles zum Aufbruch ins Winterlager vor.«
»Hm«, brummte Sadagar missvergnügt. »Glaubst du, dass sie uns tatsächlich töten werden, wenn ich den Schamanen nicht retten kann?«
Selamy hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Ein junges Mädchen betrat die Hütte. »Ihr sollt zu Olinga kommen«, sagte sie.
Nun ist es soweit, dachte Sadagar und griff nach seinen noch immer feuchten Kleidern.
Männer und Frauen waren dabei, die Erdhütten abzudecken. Sie zogen die Felle von den aus Holz und Knochen gefertigten Gestellen, rollten sie zusammen und verstauten sie auf den Schlitten. Andere brieten das Fleisch über großen Feuern. Überall herrschte ein geschäftiges Treiben.
Das Mädchen führte sie in Chwums Hütte. Sadagar glaubte zu ersticken, so scheußlich roch es. Er begann zu husten, und Tränen stiegen ihm in die Augen.
Die hochgewachsene Frau, die so begehrliche Blicke auf Nottr geworfen hatte, stand neben dem Lager des Sterbenden und sah Sadagar mit unbewegtem Gesicht an. »Ich bin Olinga«, sagte sie mit fester Stimme. »Du bist Adagar.«
»Ja, ich bin Sadagar, ein mächtiger Schamane meines Stammes.«
»Dann beweise mir, wie mächtig du bist, Alter.« Das Mädchen trat zwei Schritte zur Seite, und nun sah Sadagar den röchelnden Greis, der noch immer bewusstlos war. Seine Hoffnung, ihn heilen zu können, war äußerst gering. Auf den ersten Blick hatte er gesehen, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
Bedächtig kam Sadagar näher und blieb neben Olinga stehen. Der bestialische Gestank in der Hütte legte sich schwer auf seine Lungen.
»Ich brauche warmes Wasser«, keuchte Sadagar. »Das sollst du bekommen.«
Der Steinmann kniete neben dem Sterbenden nieder und lüftete rasch eines der Felle, mit denen Chwum zugedeckt war. Der Körper des Schamanen war zum Skelett abgemagert, er schien nur mehr aus Haut und Knochen zu bestehen. Heilen konnte er Chwum keinesfalls, er konnte nur sein Leben verlängern, und das wollte er tun.
Er öffnete den Lederbeutel, in dem sich die Kräuter befanden, die ihm bei Nokko schon geholfen hatten. »Das Wasser«, bat er.
Olinga reichte ihm einen einfachen Holzbecher, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Sadagar warf ein gelbes Pulver hinein und bewegte den Becher leicht. Das Pulver löste sich langsam auf, und kurze Zeit später stiegen gelbe Dampfwolken auf. Er stellte den Becher auf den Boden und holte aus einer Innentasche einen Tiegel mit Erdfarbe heraus. Er schmierte etwas Farbe auf die Stirn des Schamanen, dann zog er Linien über die Nase, die Wangen und das Kinn. Dabei murmelte er völlig sinnlose Worte, die aber recht eindrucksvoll klangen.
Schließlich stand er auf, schloss die Augen und steigerte seine Stimme. Aus dem Becher zogen noch immer gelbe Schwaden hervor. Er trat zwei Schritte zurück und warf ein paar getrocknete Blätter ins Feuer, das augenblicklich die Farbe änderte. Die Flammen waren nun giftgrün, und ein eklig süßer Geruch breitete sich in der Hütte aus.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Olinga, deren Gesicht weiterhin völlig unbewegt blieb.
Sadagar überlegte, wie er die junge Frau beeindrucken könne. Schließlich entschied er sich für einen einfachen Zauber, den er Thonensen abgeschaut hatte.
Er richtete sich plötzlich auf, seine Glieder strafften sich, und er stieß einen gellenden Schrei aus. Dann bewegte er ruckartig den rechten Arm und zeigte mit dem Zeigefinger auf das Feuer. »Sita!« schrie er und krümmte den Finger zusammen.
Zischend, so als habe jemand einen Kübel Wasser in die Feuerstelle geschüttet, erloschen die Flammen. Augenblicklich war es dunkel in der Hütte. Nur ein schwacher Lichtschimmer fiel durch die Rauchabzugsöffnung.
Sadagar bückte sich, hob den Becher hoch und reichte ihn Olinga. »Chwum muss den Heiltrank trinken«, sagte er.
Olinga ergriff den Becher und kauerte neben dem Lager nieder.
»Siku, majuma, miezi er miaka«, flüsterte Sadagar und bewegte rasend schnell seine rechte Hand.
Die Wirkung dieses Zaubers war so verblüffend, dass Olinga einen unterdrückten Schrei ausstieß. Die Linien, die Sadagar auf Chwums Gesicht gemalt hatte, begannen plötzlich zu leuchten. Es war, als würden Flammen aus Chwums Gesicht lodern.
»Gib ihm den Heiltrank zu trinken!« sagte Sadagar scharf.
Sie gehorchte. Sie hob den Kopf des Bewusstlosen an, drückte den Becher an seine Lippen und ließ die gelbe Flüssigkeit in seinen Mund rinnen.
Sadagar war mit sich sehr zufrieden. Das habe ich sehr eindrucksvoll gestaltet, freute er sich.
Als der Becher leer war, wollte die Frau aufstehen. »Du musst sein Gesicht reinigen, Olinga«, sagte Sadagar sanft. Nun wandte er den einfachen Zauber an, mit dem er das Feuer entzünden konnte. Die Holzscheite flammten auf; diesmal brannten sie allerdings ganz normal.
Deutlich war Olingas Verwunderung zu bemerken. Sie war ganz offensichtlich von Sadagars Zauber beeindruckt.
»Reinige Chwums Gesicht!« befahl er wieder.
Zögernd griff die junge Frau nach einem Lederlappen. Das rasselnde Atmen des Sterbenden war verstummt. Seine Brust hob sich nun ruhig und gleichmäßig. Rasch wischte Olinga die Farbe fort und stand auf.
»Wirf den Lappen ins Feuer!«
Olinga gehorchte. Der Lappen fing rasch Feuer, loderte einmal kurz auf, krümmte sich und zerfiel zu Asche.
»Du scheinst tatsächlich ein mächtiger Zauberer zu sein«, sagte sie leise. »Wann wird Chwum gesund werden?« »Es wird ein paar Tage dauern«, antwortete Sadagar ausweichend. »Heute abend werde ich für ihn einen weiteren Zaubertrunk bereiten, der die Heilung beschleunigen wird.«
»Euer Leben ist mit Chwums Leben verbunden«, sagte sie, jedes Wort betonend. »Stirbt er, dann werdet ihr auch sterben.«
Sadagars Mund war plötzlich trocken. Er räusperte sich, doch sie schenkte ihm keine Beachtung mehr.
Ihre Aufmerksamkeit galt nur noch Nottr, vor dem sie stehenblieb. »Wie heißt du?« fragte sie.
»Nottr.«
»Nottr«, flüsterte sie. »Ein schöner Name. Woher kommst du, Nottr?«
Der Barbar blickte sie verwirrt an. Er verstand ihre Frage nicht.
»Nottrs Geist ist verwirrt«, sagte Sadagar rasch, »er war lange krank und…«
»Ich habe dich nicht gefragt, Alter«, unterbrach sie ihn scharf. Ihre Stimme wurde aber sofort wieder sanft, als sie mit Nottr sprach. »Hast du mich nicht verstanden? Ich habe dich etwas gefragt, Nottr.«
»Ich weiß nicht, was du von mir willst, Mädchen«, sagte er stockend.
»Immerhin kannst du wenigstens sprechen«, freute sie sich. »Willst du mein Fell mit mir teilen, Nottr?«
»Fell teilen...?« stotterte er verständnislos.
»Nottr versteht dich nicht, Olinga.«
»Dann erkläre ihm, was ich will. Und jetzt geht, da ich die Vorbereitungen zum Aufbruch treffen muss.«
Sadagar ergriff Nottrs rechten Arm und zog ihn aus der Hütte. »Habe ich Olinga richtig verstanden, Duprel?« fragte Sadagar, als sie im Freien waren.
»Ich denke schon. Sie will, dass Nottr heute nacht mit ihr schläft.«
»Sind alle Frauen des Stammes so direkt in ihren Wünschen?«
»Ja, das sind sie. Und sollte Nottr ablehnen, dann wäre das eine große Beleidigung für Olinga und den ganzen Stamm.«
»Beim Kleinen Nadomir«, fluchte Sadagar verärgert, »ich ahnte, dass es mit diesem Weib noch Schwierigkeiten geben wird.«
»Weshalb soll es denn Schwierigkeiten geben?« wunderte sich der Schmied. »Es ist doch eine große Ehre für Nottr, das Lager mit dem schönsten Mädchen des Stammes zu teilen.«
»Das mag schon sein, trifft aber nicht auf Nottr zu. Durch die Folter scheint sein Interesse an Frauen erloschen zu sein, dabei war er früher alles andere als ein Kostverächter. Im Augenblick ist er an Frauen sowenig interessiert wie ein Wallach an einer rassigen Stute!«
Duprels Gesicht verfinsterte sich, dann grinste er aber plötzlich. »Du bist doch ein großer Zauberer, Sadagar. Hast du nicht gewisse Mittelchen in deinem Kräuterbeutel, die da helfen könnten?«
»Bei Nottr versagen meine Mittel.«
»Dann, mein Freund, sehen wir einer unangenehmen Nacht entgegen.«
Sadagar nickte kummervoll.
*
Der Himmel war frostklirrend, und die Landschaft war in ein düsteres Licht getaucht. Das flache, schneebedeckte Tal zog sich zwischen mächtigen Bergen dahin, deren Gipfel nicht zu sehen waren.
Einige Zeit vergaß Sadagar seine Sorgen. Gebannt sah er dem Stamm beim Aufbruch zu. Die Felle der Erdhütten und alle Gebrauchsgegenstände wurden auf die Schlitten verladen, die unterschiedlich groß und verschiedenartig gearbeitet waren. Die meisten waren Kufenschlitten, von denen es zwei Formen gab. Die erste Art bestand aus einem Paar gerader Kufen aus Holz, die durch hölzerne Querstäbe miteinander verbunden waren; sie waren bis zu zwanzig Fuß lang. Die zweite Art war kleiner, da waren die Kufen nach oben gebogen, und darauf waren senkrechte Stützen angebracht, auf denen sich ein mit einer Lehne ausgestatteter Sitz befand.
Gezogen wurden die Schlitten von den bösartig knurrenden Hunden, die seit zwei Tagen nichts zu fressen bekommen hatten. Es waren genügsame Tiere, die nur etwa alle drei Tage ein paar Fleischstücke und Knochen vorgeworfen bekamen. Jeder der Hunde war an einer eigenen Leine befestigt. Die Schlitten wurden von jeweils sechs bis zu vierzehn Hunden gezogen.
Die Beförderung selbst war recht einfach. Die Kinder und Alten, die nicht mehr rasch laufen konnten, durften die ganze Reise auf dem Schlitten verbringen. Die jungen Jäger, Frauen und Halbwüchsigen liefen neben den Schlitten her, und sobald sie müde geworden waren, saßen sie für einige Zeit auf, um zu rasten.
Chwum war auf einen der Transportschlitten gelegt worden. Er war so zugedeckt, dass kaum die Nasenspitze zu sehen war. Hinter dem Schlitten stand Olinga, die den Schamanen nicht aus den Augen ließ.
Sadagar durfte die ganze Fahrt auf dem Schlitten sitzen, während Selamy und Nottr nur gelegentlich für kurze Zeit ruhen durften.
Die Hunde verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Sie bellten, jaulten, knurrten und heulten vor Verlangen, endlich losrasen zu dürfen. Schließlich war es soweit.
»Hiiii!« brüllte einer der Jäger, und los ging die wilde Jagd. Die Hunde legten sich ins Geschirr. Nun waren das Hecheln der Tiere und das Knirschen der Kufen zu hören, und dazu kam noch das anfeuernde Schreien der Fahrer.
Sadagar fand die Fahrt aufregend. Die Hunde legten ein solches Tempo vor, dass die dahinter laufenden Jäger Mühe hatten, ihnen zu folgen.
Es war eisig kalt. Um Sadagars Nasenlöcher bildeten sich kleine Eiströpfchen. Für kurze Zeit kam die Sonne hervor. Schnee und Eis funkelten so stark, dass Sadagar geblendet die Augen schloss. Dann verschwand sie wieder, und weiter ging die Fahrt über die weiße Fläche. Das Tal wurde enger; die Schlitten fuhren nunmehr hintereinander.
Die Hunde waren langsamer geworden, jetzt konnten die Jäger mühelos mithalten. Ihre Zähigkeit und Ausdauer beeindruckten Sadagar immer wieder.
Dann lief Selamy neben dem Schlitten her. Sein Atem kam stoßweise, und weiße Wölkchen hingen vor seinen Lippen. Er sprang auf den Schlitten und blieb erschöpft neben Sadagar sitzen.
»Weshalb eigentlich diese Eile, Duprel?«
Der Schmied rang noch immer nach Luft. »Sie wollen noch heute das Göttertor erreichen. Das ist ein Tunnel, der durch einen der Berge führt. Sie befürchten, dass der Zugang von Lawinen verschüttet wird.«
»Und wie weit ist es dann bis zum Winterlager?«
»Etwa drei Tagesreisen, wenn es nicht schneit. Nach dem Tunnel erreichen wir die Straße der Götter, frage mich aber nicht, wie sie aussieht oder was sie ist. Ich habe nur davon gehört.«
»Werden wir die ganze Nacht hindurch fahren?«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie wollen nur durch den Tunnel hindurch.«
Nun schwiegen beide. Die eiskalte Luft stach in den Lungen, spannte die Haut und schmerzte auf den Zähnen. Sadagar verkroch sich, so gut es ging, in seinen Pelz und hielt sich einen Ärmel vors Gesicht, um sich vor dem aufkommenden Sturm besser zu schützen. Als seine Augen zu tränen begannen, schloss er sie einfach.
Irgendwann hielten sie an, um den Jägern und Hunden eine Verschnaufpause zu gönnen. Die Fahrer lösten die Eis- und Schneeklumpen zwischen den Pfoten der Hunde.
Sadagar blickte sich suchend nach Nottr um, den er auch schließlich fand. Der Barbar stand neben Olinga, die auf ihn einsprach, doch sie waren zu weit von ihm entfernt, um verstehen zu können, was sie sagte.
Ergeben schloss Sadagar die Augen, als er bemerkte, dass Nottr auf Olingas Fragen nicht antwortete und sie immer wütender wurde.
Er war froh, als die Fahrt weiterging. Aber die düsteren Gedanken ließen ihn nicht los. Trotz seiner Bemühungen war es ziemlich sicher, dass Chwum kaum mit dem Leben davonkommen würde. Und dazu kam noch der Ärger mit der liebestollen Olinga.
Sadagar wurde aus seinen bitteren Gedanken gerissen, als die Jäger begeistert zu brüllen begannen. Er hob den Kopf, blickte sich um, konnte aber den Grund für ihre Aufregung nicht entdecken.
Erst einige Zeit später erblickte er eine fast senkrechte, verwitterte Felswand, in der sich eine runde Öffnung befand, die halb vom Schnee zugeweht war. Das musste der Tunneleingang sein.
Männer und Frauen warfen den Schnee zur Seite und stampften ihn fest. Alle stiegen von den Schlitten. Fackeln wurden entzündet, und sie betraten den Tunnel, der etwa zwanzig Fuß breit und zehn Fuß hoch war. Nach wenigen Schritten verschluckte sie die Dunkelheit. Die Wände waren feucht und rissig.
Sadagar und Selamy gingen nebeneinander. Die Geräusche im Tunnel waren merkwürdig verzerrt und pflanzten sich wie geheimnisvolle Echos fort. Die flackernden Fackeln spendeten nur wenig Licht. Es schien Sadagar, als sei er in einem Alptraum gefangen und wandere durch endlose Gänge, die ins Nichts führten. Sein Herz schlug schneller. Da war die unbestimmte Angst, sich tief unter gewaltigen Steinmassen zu befinden und erdrückt zu werden.
Langsam wurde es heller. Sadagar atmete erleichtert auf; der Marsch durch den Tunnel war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Aber nicht nur er war erleichtert. Die Freude, dem Tunnel entronnen zu sein, spiegelte sich auf allen Gesichtern. Auch die Hunde bellten ihre Freude heraus.
Die Chereber nützten das Tageslicht. Die Fahrt ging weiter, das Tal stieg sanft an. Als es dunkel wurde, hielten sie an und errichteten das Lager im Windschatten einiger hoher Steine.
Sie befestigten Stangen an den Schlitten, die mit Schnüren verbunden wurden, über die sie Felle warfen. So entstanden verschieden große Zelte. Darin stampften sie den Schnee fest und legten dicke Pelze auf den Boden. Überall brannten Feuer in der zunehmenden Dämmerung.
Sadagar, Selamy und Nottr bekamen eines der kleineren Zelte zugewiesen. Licht spendete eine flache Talglampe aus Speckstein mit einem Moosdocht.
»Was hat Olinga von dir gewollt, Nottr?« erkundigte sich Sadagar.
»Olinga?«
»Die Frau, die mit dir sprach«, sagte Sadagar ungeduldig.
»Ich verstand sie nicht.« »Gefällt sie dir?«
Nottr blickte ihn verständnislos an.
»Findest du sie hübsch?«
»Ich weiß nicht.«
»Weckt ihr Anblick bei dir irgendwelche Gefühle, Nottr?«
»Sie scheint kräftig zu sein.«
Sadagar seufzte und wechselte mit Selamy einen Blick. »Sonst fällt dir zu Olinga nichts ein?«
Nottr überlegte kurz, dann lächelte er. »Ihr Umhang ist hübsch. So einen hätte ich auch gern.«
»Ihr Umhang ist hübsch«, stöhnte Selamy gequält auf. »Es ist hoffnungslos, Sadagar, dein Freund ist zu einem geschlechtslosen Wesen geworden.«
Sadagar dachte angestrengt nach. Früher, als er noch mit der Runenkundigen Fahrna durch die Lande gezogen war, hatte er gute Geschäfte mit seinen erfundenen Prophezeiungen gemacht. Und er hatte auch manchem Mann, der die ehelichen Pflichten nicht mehr zur Freude seiner Frau erfüllen konnte, ein Mittelchen zur Steigerung der Manneskraft verkauft, das aber völlig nutzlos war. Doch gelegentlich hatte es dank der Kraft des Wunschgedankens auch geholfen. Aber bei Nottr lagen die Dinge ganz anders. Er hatte ein Mittel bei sich, das möglicherweise Nottr anregen würde, aber nur ein paar Tropfen zu viel, und Nottr würde zum Stier werden. Bei Thonensen hatte er einen Zauberspruch gelesen, der dieses Problem lösen konnte, doch er hatte sich den Spruch nur unvollständig gemerkt.
»Adagar!« riss ihn Olingas Stimme aus seinen Gedanken. »Komm heraus, Adagar!«
Brummend stand er auf und trat ins Freie. Es war nun dunkel geworden. Ein sternenloser Himmel spannte sich über die Ebene. Um die Feuer saßen die Jäger und brieten Fleisch auf langen Spießen.
»Komm mit zu Chwum, Adagar!«
Gehorsam folgte er der jungen Frau, die über ihrem Fellgewand einen Umhang trug, der mit Raubvogelfedern geschmückt war. Sie führte ihn zu einem Zelt am Ende des Lagers.
»Chwum ist noch immer wie tot«, sagte sie. »Aber sein Zustand scheint sich gebessert zu haben. Seine Wangen sind nicht mehr so bleich.«
Das Zelt wurde von zwei Talglampen erleuchtet. Sadagar beugte sich über den Schlafenden, konnte aber keine Besserung feststellen.
»Lass mich allein, Olinga! Ich werde nun einen starken Zauber anwenden, bei dem ich völlige Ruhe brauche.«
Die Frau zögerte, dann huschte sie geräuschlos aus dem Zelt.
Sadagar setzte sich schnaufend nieder und starrte den Greis missmutig an. In seinem Kräutersack hatte er ein Mittel, das den Alten für kurze Zeit aufwecken würde. Aber seinen Tod konnte er nicht verhindern.
Er öffnete den Beutel, feuchtete seinen rechten Zeigefinger an und drückte ihn in ein türkisfarbenes Pulver. Er beugte sich über Chwum, öffnete dessen Lippen und strich das Pulver auf seine Zunge. Der Alte röchelte und schluckte.
Bedächtig steckte er den Beutel ein und begann sinnlose Worte zu murmeln. Es war ein Singsang, der nur für Olinga bestimmt war, die sicherlich vor dem Zelt lauschte. Immer wieder rief er den Kleinen Nadomir an.
Es dauerte nicht lange, und Chwum bewegte sich. Seine Nasenflügel bebten, und seine Lider zuckten. Er brummte und warf den Kopf zur Seite. Speichel tropfte über seine welke Wange. Für kurze Zeit öffnete er ein Auge und starrte Sadagar an.
»Beim Kleinen Nadomir«, flüsterte der Steinmann. »Ich habe es geschafft. Er erwacht! Ich danke dir, Kleiner Nadomir!«
»Ich nehme deinen Dank gern an!«
Sadagar zuckte zusammen und wandte den Kopf schnell nach links, woher die Stimme gekommen war. Doch er sah nur ein paar Fellbündel im düsteren Schein der Lampen. Ich muss mich wohl getäuscht haben, dachte er.
Chwum hob langsam den Kopf, dann räusperte er sich. »Wasser!« hauchte er fast unhörbar.
Rasch griff Sadagar nach dem Wasserkrug neben dem Lager des Schamanen und ließ ihn ein paar Schlucke trinken. Ermattet schloss Chwum wieder die Augen und murmelte unverständliche Worte.
Als sich Sadagar setzte, sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Fellbündel bewegte sich auf ihn zu. Ungläubig riss er die Augen auf, als daraus ein Kopf zum Vorschein kam. Ein Kopf mit einer gewaltigen Mähne aus borstigem, sich zu blätterförmigen Strähnen formendem Haar. Das Gesicht nahm sich in diesem Kugelkopf winzig klein aus: Es war so groß wie die Handfläche eines Zehnjährigen. Der unverhältnismäßig breite Mund mit den fleischigen Lippen war zahnlos.
Sadagar dagegen war sprachlos. Sein Mund stand weit offen. Das seltsame Geschöpf bewegte sich langsam. Es war etwa drei Fuß groß und mit einem dichten Pelz bekleidet, der seiner ganzen Gestalt eine Kugelform verlieh.
»Wer bist du?« fragte er stotternd.
»Du hast mir eben gedankt«, sagte das Geschöpf mit undeutlicher Stimme. »Ich bin Nadomir, aber nicht der Kleine Nadomir, wie du mich nennst, sondern der Schöne Nadomir!«
Einen Augenblick glaubte Sadagar, den Verstand zu verlieren. Oft schon hatte er den Kleinen Nadomir angerufen, einen Geist, den er nur zur Täuschung anderer Leute erfunden hatte. Es war ihm zur festen Gewohnheit geworden, ihn anzurufen, doch niemals hätte er geglaubt, dass es ihn tatsächlich gab. Und nun stand er wirklich vor ihm.
»Dich gibt es tatsächlich«, keuchte er mit versagender Stimme. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Ich bin ein Troll«, sagte der Kleine. »Unter den Karsh-Völkern bekannt als der Kleine oder auch der Schöne Troll.«
Sadagar hatte sich etwas von seiner Überraschung erholt. Klein war der Troll, aber als schön konnte man ihn beim besten Willen nicht bezeichnen.
»Einige der Stämme«, sprach der Gnom weiter, »verehren mich, andere huldigen dem Großen Alb, der mein größter Feind ist. Ich werde dir helfen, Sadagar. Du musst mir vertrauen...«
In diesem Augenblick setzte sich Chwum auf und stieß einen durchdringenden Schrei aus.
»Der Große Alb«, brüllte er, »der Große Alb stehe mir bei!«
»Du musst verschwinden, Nadomir«, sagte Sadagar heftig. »Jeden Augenblick können.«
Er hörte Olingas Aufschrei, und als er sich nach dem Gnomen umdrehte, war dieser bereits verschwunden.
»Nicht, Chwum!« schrie Olinga entsetzt.
Sadagar blickte zum Alten hin. Er war wie gelähmt. Der Schamane hielt in der rechten Hand ein scharfes, spitzes Feuersteinmesser, das er sich mit aller Kraft in die Brust stieß. Ein Zittern durchlief seinen Körper, dann sackte er leblos zusammen.
Olinga stieß Sadagar zur Seite und warf sich laut schluchzend über den Toten.
Sadagar saß noch immer erstarrt da. Seine Gedanken schossen hin und her wie Sternschnuppen, die er nicht festhalten konnte.
Jäger stürmten in das Zelt, schrien durcheinander und verstummten dann.
Olinga ließ den Toten los und drehte sich langsam Sadagar zu. Ihr Gesicht war plötzlich unmenschlich verzerrt.
»Du Mörder«, zischte sie. »Ich habe dich mit jemandem sprechen hören. Du und dein Geisterhelfer, ihr habt Chwum verhext, so dass er sich selbst tötete. Chwums Tod wird gerächt werden. Du und dein Gefährte werden sterben. Schafft ihn fort!«
Er wurde hochgerissen. Harte Fäuste schlugen auf ihn ein. Sein linkes Auge schloss sich, Blut tropfte aus seiner Nase, und seine Lippen sprangen auf. Verzweifelt versuchte er die Hiebe abzuwehren, hielt sich die Arme vors Gesicht und taumelte ins Freie. Ein paar Jäger verfolgten ihn und prügelten ihn quer durch das Lager. Schließlich brach er bewusstlos zusammen.
*
Olinga strich zärtlich mit beiden Händen über das Gesicht des Toten. Tränen rannen über ihre Wangen.
»Olinga.« Die Stimme schien weit fort zu sein. »Olinga, du musst dem Stamm den Tod verkünden.«
Sie wischte die Tränen fort und stand schwankend auf. Tordo reichte ihr Chwums Lebensstab, ein kunstvoll geschnitztes Stück Holz. Olinga griff danach und presste die Lippen zusammen. Ihr Gesicht war nun zu einer Maske geworden, nur die dunklen Augen funkelten fiebrig.
Gefasst durchschritt sie das Zelt, vor dem sich bereits der Großteil des Stammes versammelt hatte. Sie wichen vor ihr zurück, als sie den Lebensstab hochhielt, den Kopf zurückwarf und den Todesschrei ausstieß, ein durch Mark und Bein gehendes wolfsähnliches Geheul.
Zuerst stimmten die Frauen in den Todesschrei ein, dann die Jugendlichen und Kinder und schließlich auch die Männer. Die Totenklage verbreitete sich im ganzen Lager.
Die Schreie verstummten langsam, und es wurde unwirklich still. Nur das wehklagende Heulen des Windes, der an den Fellen der Zelte zerrte, war zu hören.
Tordo trat neben Olinga und hielt ihr eine Holzschüssel hin. Die junge Frau kniete nieder, spreizte die Beine und rammte Chwums Lebensstab vor sich in den Boden. Danach griff sie mit beiden Händen in die Schüssel, in der sich roter Staub befand. Zum Zeichen der Trauer schmierte sie sich die Farbe ins Gesicht, die sie erst abwaschen würde, sobald Chwum bestattet war.
Sie stand auf. Die Stammesmitglieder drängten näher. In der linken Hand hielt sie nun die Farbschüssel, in der rechten Chwums Lebensstab, den sie in die Farbe tauchte. Alle Stammesmitglieder zogen an ihr vorbei, und jeden berührte sie mit dem Lebensstab an der Stirn.
Als sie damit fertig war, trat sie ins Zelt. Tordo und Acco folgten ihr.
Olinga zögerte einen kurzen Augenblick, dann zog sie das Messer aus Chwums Brust und ließ es neben den Toten fallen. Sie bestäubte die Wunde mit Farbe, dann das Gesicht, den Bauch und die Oberschenkel.
Tordo und Acco brachten Chwums reich verziertes Zeremoniengewand und kleideten den Toten an. Zwei Jäger brachten eine Bahre, auf die der Tote gelegt wurde. Schweigend verließen die Männer das Zelt und ließen Olinga mit dem Toten allein.
Ihr Herz war schwer, als sie vor Chwum niederkauerte. Er hatte, bald nachdem sie zum Stamm gestoßen war, ihre besonderen Fähigkeiten erkannt und sie gefördert. Geduldig hatte er ihr die Pflanzen der Berge gezeigt und ihr beigebracht, wann man sie pflücken musste und wie man sie anwenden konnte. Alle Sitten und Gebräuche und die Grundlagen der Jagdmagie hatte er sie gelehrt. Immer war er freundlich und geduldig gewesen. Und nun war er tot. Eingegangen in die Unterwelt, aus der er erst erlöst werden konnte, wenn sein Name, der seine Seele war, einen neuen Träger erhielt. Der erste neugeborene Knabe des Stammes würde seinen Namen erhalten, und dadurch konnte er der Unterwelt entfliehen. So wollte es der Brauch des Stammes.
Einige Zeit später traten wieder Tordo und Acco ins Zelt. Olinga stand auf und hüllte Chwum in kostbare Pelze. Die Männer trugen die Bahre ins Freie und stellten sie auf den Boden.
Olinga stimmte den Totengesang an, in den der Stamm einfiel. Während sie sang, ging sie im Kreis um den Toten herum und ließ bei jedem Schritt einen schwarzglänzenden Stein fallen. Als der Kreis geschlossen war, trat sie heraus, und der Gesang verstummte.
Damit war der erste Teil der Trauerfeierlichkeiten abgeschlossen, der zweite Teil würde erst im Winterlager erfolgen.
Die Stammesmitglieder zogen sich in ihre Unterkünfte zurück. Schließlich war sie allein. Der Stamm durfte schlafen, doch sie würde über die Ruhe des Toten wachen.
Im Lager wurde es still. Nur gelegentlich schreckte einer der Hunde auf und stieß ein klagendes Winseln aus.
Sadagar wurde von Alpträumen gequält. Stöhnend wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Immer wieder erwachte er, richtete sich auf und lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge Nottrs und Selamys.
Sein Gesicht brannte, und die Wunden schmerzten noch immer, obzwar er sie mit seinen Heilkräutern behandelt hatte. Sein ganzer Körper war mit blauen Flecken bedeckt, und alle Knochen taten ihm weh.
Vorsichtig setzte er sich auf und unterdrückte mühsam ein Stöhnen. Als er aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht war, hatte ihn Selamy mit Fragen bestürmt. Die Geschichte vom Kleinen Nadomir hatte der Schmied nicht geglaubt, wie er ihm auch nicht glaubte, dass er an Chwums Tod unschuldig war. Chwum war tot, und Olinga gab ihm die Schuld - so standen die Dinge. Lange hatte er sich mit Selamy über einen Fluchtversuch unterhalten, der aber ziemlich hoffnungslos war. Die Jäger hätten die Hunde auf sie gehetzt, und vor den scharfen Zähnen dieser Bestien hatten er und Selamy Angst. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als abzuwarten und auf ein Wunder zu hoffen.
»Der Kleine Nadomir wird uns helfen«, flüsterte Sadagar vor sich hin. Er kroch zum Zelteingang hin und hob das Fell ein Stück hoch. Im Lager war es noch immer ruhig. Es wurde langsam hell. Im diffusen Licht sah er die Bahre mit dem Toten, um die Olinga noch immer im Kreis ging.
Und dann erinnerte er sich an Mythor, und ihm fiel ein, dass heute der entscheidende Tag war. Der Tag der Wintersonnenwende war angebrochen. In wenigen Stunden, bei Sonnenaufgang, würde es zur Schlacht kommen, die über das Schicksal der Welt entscheiden sollte.
Das Schicksal der Welt kümmerte Sadagar aber herzlich wenig. An seinem eigenen lag ihm im Augenblick viel mehr. Und so, wie es aussah, würde es der letzte Tag seines Lebens werden.
Als ein Jäger eines der Zelte verließ, ließ er rasch das Fell fallen und kroch zurück auf sein Lager. Sein Magen knurrte. Die Wilden hatten ihnen nichts zu essen gegeben. Aber der Hunger war sein geringstes Problem.
Als es im Lager lauter wurde, erwachte Duprel Selamy und setzte sich laut gähnend auf.
»Einen schönen guten Morgen«, sagte Sadagar.
»Vermutlich ist es der letzte, den wir erleben«, brummte der Schmied, stand auf und streckte sich.
Nun wachte auch Nottr auf, doch Sadagar und Selamy beachteten den Barbaren nicht.
»Weshalb sollten sie dir etwas tun, Duprel?«
»Ich fürchte, dass sie mich für Chwums Krankheit verantwortlich machen werden. Der Alte war zwar schon krank, als sie mich gefangen nahmen. Aber das haben sie vermutlich bereits vergessen. Wir drei sind Fremde, die Unglück über den Stamm gebracht haben. Das wird sie in Zukunft nur noch in ihrem Misstrauen allen Fremdartigen gegenüber bestärken.«
»Und was ist mit Nottr?«
Duprel hob die Schultern. »Er gehört zu dir, deshalb ist auch sein Leben verwirkt. Ich bin nur neugierig, wie sie uns töten werden.«
»Du siehst dem Tod gelassen ins Auge, mein Freund.«
»Hilft es etwas, wenn ich jetzt zu wehklagen beginne? Irgendwann müssen alle sterben. Und ich kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken, das ich sehr genossen habe. Mir tut es nur leid, dass ich nie mehr meine Schmiede sehen werde, nie mehr Metall bearbeiten darf. Aber glaube mir, mein Freund, ich werde lächelnd sterben.«
»Ich stimme mit deinen Ansichten überhaupt nicht überein, Duprel. Schon oft sah ich dem Tod ins Auge. Oft schien es, als sei ich verloren, doch immer fand ich eine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen. Warum sollte es mir nicht auch diesmal gelingen?«
»Das Leben des Menschen ist vorbestimmt. Die Götter lenken die Wege, die Götter entscheiden, ob man leben oder sterben soll.«
Sadagar schüttelte entschieden den Kopf. »Die Götter hätten viel zu tun, wenn sie jeden von uns beobachten wollten. Glaube mir, mein Freund, der Mensch ist in seinen Entscheidungen frei. Er ist dafür verantwortlich, was er tut. Rede dich nicht auf die Götter hinaus.«
»Du bist ein gottloser Mensch, Sadagar.«
»Diese Feststellung, Duprel, habe ich mir schon oft selbst als Frage gestellt. Ich war in vielen Ländern und habe vieles gesehen. Überall gibt es Götter, die alle verschieden sind. An welche Götter soll ich nun glauben, Duprel?«
»Ich glaube an Erain, den Gott, der beweist, dass auch im Bösen das Gute steckt.«
»Ich will dir deinen Glauben nicht nehmen, mein Freund«, sagte Sadagar leise, »ich freue mich für dich, dass du noch glauben kannst.«
Nottr hatte der Unterhaltung verständnislos gelauscht, jetzt war er ungeduldig geworden. Er war hungrig. »Wann gibt es etwas zu essen?« fragte er ungeduldig.
»Sieh dir den Barbaren an, sein Gott wohnt in seinem Magen«, sagte Sadagar kichernd. Doch er wurde sofort wieder ernst. »Ich fürchte, Nottr, dass uns deine Artgenossen nichts Essbares anbieten werden.«
»Ich habe Hunger, großen Hunger«, knurrte der Barbar und stapfte auf den Zelteingang zu.
Bevor ihn Sadagar zurückhalten konnte, war der Lorvaner schon im Freien. Aber er kam nicht weit. Drei Jäger stellten sich ihm entgegen, die drohend ihre Lanzen auf seine Brust richteten.
»Geh zurück ins Zelt!«
Nottr stieß ein tief aus der Kehle kommendes Brummen aus. Er hatte Hunger, und nur das Bedürfnis nach Nahrung ließ ihn handeln. Blitzschnell duckte er sich, warf sich zur Seite, rammte seine geballte rechte Faust dem nächststehenden Jäger in den Magen und rannte auf einen der Schlitten zu. Frauen waren eben dabei, Fleischstücke zu verladen.
Knurrend blieb Nottr vor den Frauen stehen, ergriff ein Stück Fleisch und biss gierig hinein.
»Achtung! Nottr!« schrie Sadagar, als er ein paar Jäger sah, die sich dem Barbaren vorsichtig näherten. Doch Nottr war so vertieft ins Essen, dass er ihn nicht hörte. Die Jäger erreichten ihn. Einer hob eine Keule und schlug sie Nottr über den Hinterkopf. Er zuckte zusammen, wankte etwas, dann drehte er sich um und bekam einen Hieb auf die Stirn, der so gewaltig war, dass er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach.
»Sie haben ihn erschlagen«, murmelte Sadagar.
»Er hat einen raschen Tod gehabt«, flüsterte Selamy.
Die Jäger kamen jetzt auf sie zu. Ein paar Schritte vor ihnen blieben sie stehen.
»Ihr habt Unglück über unseren Stamm gebracht«, sagte Harbo, einer der ältesten Männer der Chereber, »ihr werdet sterben.«
Selamy trat einen Schritt vor. »Macht es rasch!«
Harbo schüttelte den Kopf. »Nein, so einfach ist es nicht, Duprel. Euer Blut soll nicht über uns kommen. Euer Schicksal legen wir in die Hände des Großen Albs. Er soll entscheiden, ob ihr sterben oder leben sollt. Streckt die Arme aus!«
Die Jäger umringten sie. Beiden wurden die Handgelenke mit dünnen Lederschnüren zusammengebunden.
»Was habt ihr mit uns vor?« fragte Duprel. Er bekam keine Antwort.
Sadagar warf immer wieder sorgenvolle Blicke zu Nottr hin. Er wusste, welch harten Schädel der Barbar hatte, und er hoffte, dass er auch die beiden gewaltigen Hiebe überlebt hatte. Und er hatte sich nicht getäuscht, Nottr bewegte sich. Aber auch ihm wurden die Hände gefesselt.
Die Jäger führten Nottr zu ihnen. Der Barbar schüttelte immer wieder verwundert den Kopf, dazu kniff er die Augen zusammen und blickte sich verwundert um. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch nur ein heiseres Krächzen kam über seine Lippen. Seine Augen waren blutunterlaufen. Wütend riss er an den Fesseln.
»Jetzt ist er total verrückt geworden«, sagte Selamy leise.
Alles war zum Aufbruch bereit. Die Hunde hechelten bereits ungeduldig, als Olinga zu ihnen kam. Ihr Gesicht war ernst. Sie sah müde aus.
»Der Große Alb wird über euch richten«, sagte sie mit fester Stimme. »Er wird entscheiden, ob ihr weiterleben sollt oder ob er euren Tod wünscht. Ihr werdet jetzt an einen Schlitten gebunden. Seid ihr bei Einbruch der Dunkelheit noch am Leben, dann lassen wir euch frei. Wahrscheinlich werdet ihr aber tot sein. Was dann noch von euch übrig ist, werden die Hunde fressen.«
Sadagar sah ihr wortlos nach, als sie sich auf den Schlitten setzte, auf dem der Tote ruhte. Dann hob er den Blick und hielt unwillkürlich den Atem an.
Es war ein herrlicher Wintertag. Der Himmel war strahlend blau, und zum ersten Mal konnte er die Berge im Süden sehen, diese gewaltigen, hoch aufragenden Gipfel, bedeckt vom ewigen Schnee, der in der Morgensonne funkelte.
Ein Jäger stieß ihn zu einem der kleineren Schlitten hin. Er befestigte eine daumenstarke Lederschnur an seinen Handfesseln, dann trat er ein paar Schritte zur Seite.
»Hiiii!« schrie einer der Jäger.
Sofort ging Sadagar in die Knie. Der Schlitten fuhr an. Die Leine spannte sich, und er wurde auf den Bauch geschleudert. Er schrie vor Schmerzen auf, als sich die Handfesseln tief in sein Fleisch bohrten. Einen Augenblick glaubte er, dass ihm die Arme aus den Schultern gerissen würden. Ich hätte die Leine packen müssen, dachte er verbittert. Blut tropfte aus seinen Handgelenken. Die Lederriemen rieben seine Haut auf und durchdrangen das Fleisch bis zu den Knochen. Tränen rannen über seine Wangen. Er wurde fast verrückt vor Schmerzen, doch er biss die Zähne zusammen und ließ das straff gespannte Lederseil nicht aus den Augen. Er musste es zu fassen bekommen, bevor er so geschwächt war, dass es ihm nicht mehr möglich war.
Erst ging es flach dahin, und nur wenige Buckel rüttelten seinen Körper durch. Dann stieg das Land sanft an.
Er presste die Hände zusammen und versuchte mit den Fingern das Seil zu packen, was ihm auch schließlich gelang. Keuchend vor Anstrengung, zog er sich daran entlang, und er schnaubte zufrieden, als die Schmerzen in seinen Handgelenken schwächer wurden. Mit aller Kraft hielt er nun das Seil umklammert. Durch die beißende Kälte hatte er aber bald kein Gefühl mehr in den Händen. Er konnte das Seil nicht länger halten und ließ los. Sofort waren wieder die peinigenden Schmerzen da, die ihn verzweifelt aufschreien ließen.
Die wilde Fahrt ging nun eine Senke hinunter. Einige der Hunde mussten sich im Geschirr verfangen haben, denn der Fahrer hielt an.
Das war die Chance, auf die Sadagar gewartet hatte. Sofort kroch er ein paar Schritte vorwärts, setzte sich stöhnend auf und nestelte mit den gefesselten Händen an seinem Umhang herum. Es gelang ihm, einen der Beutel hervorzuziehen, den er mit den Zähnen öffnete. Rasch stülpte er sich den Lederbeutel über die rechte Hand, dann ergriff er die Lederschnur, ließ etwa einen Fuß Spielraum und wickelte sie sich ein paarmal um die geschützte rechte Hand. Keinen Augenblick zu früh, denn der Schlitten ruckte an und er wurde wieder auf den Bauch geschleudert.
Die Lederschnur fraß sich schmerzhaft in seine Hand, doch der Schmerz war zu ertragen. Aufmerksam beobachtete er den Boden. Bei jeder Bodenschwelle zog er den Bauch ein.
Endlich wurden die Hunde langsamer. »Ich schaffe es«, flüsterte er. »Ich schaffe es. Kleiner Nadomir, hilf mir.«
Das Tal wurde enger. Spitze Steine, die seine Kleidung zerrissen, ragten aus dem Boden. Seine Ellbogen, der Bauch und die Schenkel und Knie waren bald blutüberströmt. Seine Arme schienen abgestorben zu sein.
Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sein Körper bestand nur mehr aus Schmerzen. Irgendwann wurde er auf den Rücken geschleudert, doch er merkte es nicht. Als er einige Zeit später wieder auf den Bauch geworfen wurde, erwachte er aus seiner Erstarrung. Mühsam hob er den Kopf. Sein Blick fiel auf steile eis- und schneebedeckte Wände. Müde schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war die Landschaft in ein fremdartiges, unheimliches Licht getaucht. Der Himmel hatte sich verfärbt, als wollte die Welt untergehen. Dann hörte er das Trommeln von Tausenden Hufen und das Gebrüll unzähliger Männer.
Der Kleine Nadomir hat meine Hilferufe erhört, dachte er erleichtert.
Das Geschrei wurde lauter. Das Hufgetrappel war über ihm und neben ihm, doch er konnte keine Reiter sehen.
Schneebrocken fielen donnernd von den Felswänden. Die Schreie und das Trommeln der Hufe entfernten sich immer mehr.
Doch in die Bergwelt war Bewegung gekommen. In den eisbedeckten Felswänden klafften plötzlich Risse. Eisplatten zersprangen, und riesige Schneebretter teilten sich und rutschten talwärts.
Die Jäger erkannten die Gefahr, die ihnen in diesem engen Tal drohte, und sie trieben die Hunde zu höchster Eile an.
Ein Knall zerriss die Luft, laut wie ein Donnerschlag. Dann war ein Tosen zu vernehmen, das immer lauter und durchdringender wurde.
Sadagar drehte erschöpft den Kopf zur Seite und hob ihn. Seine Augen weiteten sich, als er die Lawine sah, die, immer schneller werdend, einen Berghang herunterdonnerte - genau auf sie zu. Schneewolken rasten hoch in den Himmel.
Jetzt ist alles vorbei, dachte er. Und schon begrub eine Schneeladung den Schlitten, an dem er angebunden war. Er selbst rutschte noch ein Stück vorwärts, bevor ihn die Lawine begrub.
Vor Jahren hatte ihm ein Barbar in einer Schenke erzählt, wie er in den Karsh-Bergen von einer Lawine verschüttet worden war und wie er es geschafft hatte zu überleben. Mehr konnte er nicht überlegen, denn da rissen ihn schon die Schneemassen zur Seite. Unwillkürlich handelte er jedoch richtig. Er hielt sich die Arme vors Gesicht, um sich so einen Atemraum zu schaffen.
Endlich kam die Lawine zur Ruhe, und Sadagar wunderte sich, dass er noch lebte. Kein Laut war zu hören. Sollte die Lawine die ganze Schlittenkarawane verschüttet haben, überlegte er, dann war er verloren. Ihm war nur zu deutlich bewusst, dass er sich aus eigener Kraft nicht retten konnte. Vergeblich versuchte er die Beine zu bewegen. Den Kopf jedoch konnte er hin und her drehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass nicht Dunkelheit um ihn herum war, sondern im Atemraum ein düsteres Licht herrschte. Wahrscheinlich steckte er nicht allzu tief in den Schneemassen. Er spuckte aus und sah dem Speichel zu, wie er nach unten rann. Das bedeutete, dass er nicht auf dem Kopf in der Lawine steckte.
Er rief sich alle Zaubersprüche in Erinnerung, die er kannte, doch es war kein passender dabei, der ihn aus seiner üblen Lage gerettet hätte. Tiefste Verzweiflung überkam ihn, als er die hoffnungslose Situation erkannte, in der er sich befand. »Kleiner Nadomir, rette mich!« flehte er verzweifelt.
Später begann er wild zu fluchen, und noch später versank er in einen dämmerartigen Schlummer, der durch die Unterkühlung und den Luftmangel ausgelöst wurde.
*
Olinga sah das Unglück auf sich zukommen, und sie wusste, dass der Stamm verloren war. Die Lawine überraschte sie an einer Stelle, an der das Tal nur etwa zwanzig Schritt breit war.
Die vordersten Schlitten konnten vielleicht der Lawine entkommen, für die hinteren gab es keine Rettung. Und damit würden vermutlich die Gefangenen überleben, da sie an die ersten drei Schlitten gebunden waren.
Schreie waren zu hören, die vom Krachen der herniederdonnernden Lawine verschluckt wurden.
Olinga blickte der Lawine gefasst entgegen. Sie konnte ihr nicht entfliehen. Der Schneeberg erreichte sie und schleuderte sie hoch. Sie steckte bis zur Brust im Schnee und wurde auf eine der Felswände zugetragen. Ohne zu denken, begann sie Schwimmbewegungen zu machen, und kurz bevor die Schneemassen zum Stillstand kamen, riss sie sich die Arme vors Gesicht. Mit dem Hinterkopf schlug sie gegen die Wand und wurde bewusstlos.
Ihr Kopf dröhnte, als sie erwachte. Olinga bewegte die Hände und bohrte den rechten Arm durch den Schnee. Erleichtert atmete sie auf, als sie die Schneedecke durchstieß. Sie hatte großes Glück gehabt, denn sie war sicher, dass sie sich aus eigener Kraft befreien konnte.
Nach und nach erweiterte sie das Loch über ihrem Kopf, warf den Schnee hoch und schaffte einen Hohlraum um ihren Oberkörper. Schließlich gelang es ihr, sich hochzuziehen.
Entsetzt blickte sie sich um. Der Schnee und die Eisbrocken hinter ihr türmten sich bis zu dreißig Fuß auf. Da kommt wohl jede Rettung zu spät, dachte sie verzweifelt. Vermutlich waren die meisten Stammesmitglieder sofort tot gewesen, und die anderen waren wahrscheinlich bereits erstickt.
Einer der Hunde kam laut kläffend auf sie zugelaufen und sprang an ihr hoch. Sie tätschelte seinen Kopf.
Sie sah die vier schneebedeckten Gestalten, die auf sie zukamen. Vom Stamm hatten Tordo und Retto überlebt, von den Gefangenen waren Nottr und Selamy am Leben. Ein Dutzend Hunde liefen laut winselnd hin und her. Einige gruben im Schnee.
In Olinga war alles erstorben. Sie bemerkte, dass die Gefangenen ungefesselt waren. Das war auch gut so, denn angesichts der Vernichtung ihres Stammes war Rache sinnlos.
»Wir müssen nach Überlebenden suchen«, sagte Selamy.
»Uns fehlt das notwendige Werkzeug dazu«, stellte Tordo fest, der bleich wie Schnee war.
Retto, ein etwa dreißig Winter alter Jäger, schluchzte und fing an zu weinen.
Einige der Hunde begannen durchdringend zu bellen und stellten die Haare auf. Drei Hundeschlitten näherten sich rasch.
»Das sind Jäger vom Stamm der Heusen«, sagte Olinga. »Sie sind uns feindlich gesinnt.«
»Bist du sicher, dass es die Heusen sind?« fragte Tordo.
Olinga nickte. »Ich erkenne Guravo und Dörövo. Es sind die Heusen, und bei ihnen ist der Gnom, den sie als Gott verehren.«
Die Schlitten hielten an, und etwa fünfzehn Jäger näherten sich ihnen. Die Heusen unterschieden sich äußerlich und auch in ihren Sitten und Gebräuchen kaum von den Cherebern. Nur ihr Glaube war anders.
Guravo, ein kräftiger, bärtiger Mann, hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust, und die linke legte er auf sein Herz. Das bedeutete, dass er nicht in feindlicher Absicht kam.
Olinga starrte den drei Fuß hohen Gnomen an, über den sie schon einiges gehört hatte. Die Heusen hatten schaufelartige Werkzeuge bei sich.
»Das ist das Werk des Großen Albs«, sagte der Troll mit seiner nuschelnden Stimme und zeigte auf die Lawine.
Olinga schwieg. Sie glaubte dem Gnomen nicht, denn sie vermutete, dass er die Lawine ausgelöst habe.
Der Troll kümmerte sich nicht weiter um sie. Die Hunde wichen winselnd vor ihm zurück. Der kugelrunde Gnom stapfte auf und ab und blickte dabei forschend den Boden an. Schließlich blieb er stehen, und Dampfwolken stiegen auf. »Grabt hier!«
Drei der Jäger begannen zu graben, während der Troll weiterging. Die anderen Jäger folgten ihm. Zweimal noch befahl er ihnen zu graben, dann kam der Gnom zu den Überlebenden zurück.
»Du bist Olinga«, sagte er und musterte die junge Frau. »Du warst Chwums Gehilfin.«
Olinga nickte zustimmend.
»Du weißt, wer ich bin?«
»Man nennt dich den Troll«, antwortete sie leise.
»Den Schönen Troll«, verbesserte er sie. »Ich bin aber auch unter dem Namen Nadomir bekannt.«
»Der Kleine Nadomir!« rief Nottr aus und starrte den Zwerg verblüfft an.
»Dein Stamm ist vernichtet«, sprach der Gnom weiter, ohne auf Nottrs Ausruf zu achten. »Ich biete euch die Hilfe der Heusen an. Sie werden euch aufnehmen, wenn ihr wollt.«
»Wir nehmen die Hilfe gern an, Nadomir.«
Einer der Jäger stieß einen Schrei aus, und alle blickten zu ihm hin. Sie zogen eine leblose Gestalt aus den Schneemassen.
»Das ist Sadagar!« rief Selamy. »Er scheint aber tot zu sein.«
»Er lebt«, sagte der Gnom bestimmt. »Bringt den Mann zum Schlitten!«
Sadagar war noch immer mit der Lederschnur verbunden. Einer der Jäger durchschnitt sie und löste die Fesseln, dann hob er den schmächtigen Mann hoch und trug ihn zu den Schlitten.
Die Jäger fanden noch zwei weitere Überlebende, einen zehn Winter alten Knaben und einen alten Mann. Nur fünf des Stammes hatten das Unglück überlebt.
Stöhnend öffnete Sadagar die Augen.
»Du bist zäh, Alter.«
Sadagar blickte in Nadomirs grinsendes Gesicht.
»Du hast also doch meinen Hilferuf erhört«, flüsterte der Steinmann. »Danke.«
»Ich habe versprochen, dass ich dir helfen werde, und ich halte meine Versprechen.«
»Wo sind wir?« Sadagars Stimme war fast unhörbar. Er fühlte sich unendlich schwach, und jede Bewegung bereitete ihm Schmerzen.
»Bei den Heusen, das ist ein Stamm, der mich verehrt.«
»Bin ich der einzige, der überlebt hat?«
»Nein. Deine Freunde und fünf Chereber haben auch überlebt.«
»Die anderen, sind alle tot?«
»Ja, sie sind tot.«
Sadagar schloss die Augen. »Furchtbar.«
»Du warst zwei Tage bewusstlos, Sadagar. Du bist noch immer krank. Schlaf weiter!«
»Ich will alles ganz genau wissen«, hauchte er. »Ich muss mit dir sprechen, Kleiner Nadomir.«
»Das hat Zeit, Sadagar.«
Der Gnom rutschte näher und berührte mit einer dünnen Rute Sadagars Stirn, was diesen sofort einschlafen ließ.
Als er wieder erwachte, war es hell im Zelt. Duprel Selamy saß neben seinem Lager und grinste ihn an. »Ausgeschlafen, Sadagar?«
»Ich denke schon.«
»Wie fühlst du dich?«
Sadagar setzte sich auf und streckte sich, dann starrte er seine Handgelenke an. Die Haut war glatt, und keine Narben waren zu sehen. »Eigentlich fühle ich mich recht gut. Ein wenig schwach noch. Und hungrig.«
»Da kann ich dir helfen.« Duprel stand auf und kam mit einem Tablett zurück, das voll beladen mit Nahrungsmitteln war. »Greif zu!«
Das ließ sich Sadagar nicht zweimal sagen. Heißhungrig schlang er ein Stück Fleisch hinunter.
»Du hast fünf Tage geschlafen. Ich dachte, dass du tot bist, als dich die Heusen aus der Lawine gruben. Aber du bist ein harter Mann. Und du hattest recht, man darf nie die Hoffnung aufgeben, auch wenn die Lage noch so aussichtslos aussieht.«
»Wo steckt Nadomir?«
»Er kommt heute abend zurück. Ich hatte dir die Geschichte vom Kleinen Nadomir nicht geglaubt, entschuldige.«
Sadagar nickte gnädig. »Wie geht es Nottr?«
»Sein Geisteszustand scheint sich von Tag zu Tag zu bessern. Gelegentlich beteiligt er sich sogar schon an einer Unterhaltung.«
»Das ist erfreulich. Kenne ich jemanden der Überlebenden des Stammes?«
»Ja, Tordo und Olinga.«
Vor Schreck verschluckte sich Sadagar und hustete gequält.
»Keine Angst«, sagte Selamy lächelnd. »Olinga trachtet uns nicht mehr nach dem Leben. Die Götter wollten, dass wir am Leben bleiben, und dagegen lehnt sich Olinga nicht auf.«
»Ist sie noch immer hinter Nottr her?«
»Ja, aber er teilt das Lager nicht mit ihr.«
»Sie wird es schon noch schaffen«, brummte Sadagar und aß eifrig weiter.
»Nadomir hat mir gesagt, dass wir uns bei den Heusen befinden. Was ist das für ein Stamm, Duprel?«
»Sie sind den Cherebern ziemlich ähnlich. Wir befinden uns in ihrem Winterlager, das in einem kleinen Seitental liegt. Es sind freundliche Leute, die den Kleinen Nadomir verehren. Mir gefällt es hier.«
»Hast du vielleicht die Absicht, dich hier niederzulassen?«
Duprel zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich weiß es noch nicht genau. Ich könnte sie die Metallverarbeitung lehren. Das wäre eine lohnende Aufgabe.«
»Hm«, brummte Sadagar und stellte das Tablett auf den Boden. »Ich möchte mich ein wenig umsehen. Wo sind meine Kleider?«
»Die Heusen haben dir neue Kleider gefertigt. Hier hast du sie.«
Der Steinmann schnaubte verächtlich, als er die Fellkleidung sah. Sehnsuchtsvoll dachte er an seine alte Kleidung, die aber in dieser unwirtlichen Gegend höchst unpassend gewesen wäre. Langsam schlüpfte er in die Hosenkleidung. Die Fellseite war innen, die hohen Stiefel mit Moos gefüllt.
Sadagars Augen glänzten, als er seinen Gürtel mit den Wurfmessern sah. Liebevoll zog er ein paar Messer hervor und streichelte sie zärtlich. Dann, so plötzlich, dass das Auge kaum folgen konnte, schleuderte er drei Messer, die an Duprel vorbeizischten, der zur Seite sprang. Die drei Messer blieben in der Zeltstange stecken, so dicht nebeneinander, dass man nicht einmal den kleinen Finger dazwischen stecken konnte.
»Du bist ein wahrer Meister in der Kunst des Messerwerfens«, sagte der Schmied tief beeindruckt.
Breit lächelnd zog Sadagar die Messer aus der Stange und schob sie in den Gürtel, den er sich umschnallte. »Es hat Jahre gedauert, bis ich so gut treffen konnte«, meinte Sadagar. »Lass uns nun gehen.«
Duprel schlug eines der Zeltfelle zur Seite. Sadagar blieb erstaunt stehen. Das Zelt stand in einer riesigen Höhle unweit des Eingangs.
»Wenn es noch kälter wird, zieht sich der ganze Stamm in solche Höhlen zurück, in denen sie die Zelte aufstellen. So sind sie viel besser vor der Kälte geschützt.«
Sie traten ins Freie. Ein Erdgrubenhaus lag neben dem anderen. Langsam blickte sich Sadagar um. Im Hintergrund waren die schneebedeckten Berge zu sehen, nahe den Häusern lag ein tief verschneiter Tannenwald. Der Himmel war strahlend blau, und es war eiskalt. Sofort stülpte er sich die Kapuze über den Kopf.
Die Kälte und der heftige Wind schienen die Heusen aber nicht zu stören.
Die beiden schritten an einer Gruppe Frauen vorbei, die im Freien arbeiteten. Sie bereiteten Felle für Kleidungszwecke vor. Mit Steinschabern lösten sie das verfaulende Fleisch von der Innenseite ab. Lächelnd blickten sie Sadagar an, und einige kicherten.
»Die Felle werden später dann über dem Feuer getrocknet und geräuchert«, erläuterte Duprel, »damit sie wasserdicht werden.«
Sadagar zuckte zusammen, als er Olinga erblickte, die in Begleitung zweier junger Frauen auf sie zukam.
»Keine Angst«, sagte Duprel lachend. »Sie tut dir nichts.«
Olinga war so wie die anderen Frauen des Stammes gekleidet: Kapuzenanzug, Stiefel und ein bestickter Umhang. Die Farbe, die sie sich zum Zeichen der Trauer über Chwums Tod ins Gesicht geschmiert hatte, war abgewaschen.
»Die Frauen in Olingas Begleitung sind Xogra und Akahara.«
Beide sahen Olinga ziemlich ähnlich, ihr Haar war dunkel und streng nach hinten frisiert und im Nacken mit einer Spange zusammengehalten. Beide waren aber etwas kleiner und zierlicher und jünger als Olinga.
Olinga blieb vor Sadagar stehen. »Es freut mich, dass du wieder gesund bist, Adagar.«
Sadagars Mund blieb vor Verblüffung offen. Mit so einer herzlichen Begrüßung hatte er nicht gerechnet.
Sie nickte ihm freundlich zu und gesellte sich zu den anderen Frauen.
»Nun, es ist so, wie ich es dir gesagt habe, Sadagar. Olinga ist nun eine Angehörige der Heusen geworden, und nur das zählt für sie. Chwum ist unter der Lawine begraben, und damit ist die Zeit der Trauer für sie vorüber.«
Sadagar nickte nachdenklich. Ihm waren die Sitten und Gebräuche dieser wilden Stämme unverständlich.
Auf einem großen Platz zwischen den Häusern spielten Kinder. Halbwüchsige warfen mit Steinen und Speeren auf einen in der Mitte des Platzes aufgestellten Holzpfahl. Jeder gelungene Wurf wurde mit Beifallsrufen aufgenommen.
»Haben die Heusen einen Anführer?«
»Sie gehorchen dem Troll. Er ist für sie wie ein Gott.«
»Wo kann ich Nottr finden?«
»Vermutlich hilft er den Männern bei der Waffenherstellung.«
Sie wanderten zwischen den Häusern hin und her, und schließlich blieb Duprel vor einem langgestreckten Gebäude stehen. Fünf Männer saßen um ein hochloderndes Feuer und sahen auf, als sie eintraten.
»Nottr!« rief Sadagar erfreut.
Der Barbar legte den großen Stein zur Seite, den er mit einem Geweihstück bearbeitet hatte. »Nottr ist froh, dass du wieder in Ordnung bist, Sadagar. Alle fürchteten, dass du sterben wirst.«
Auch die anderen Männer standen auf und begrüßten Sadagar freundlich. Die verwegen aussehenden Jäger, die alle Vollbärte hatten, umringten Sadagar und stellten sich vor, doch der Steinmann hatte Mühe, sich die fremdartig klingenden Namen wie Dörövo, Guravo, Sekiz und Negen zu merken.
Nottrs Anblick erfreute Sadagars Herz. Es schien, als habe sich der Barbar endgültig von seinen Wunden erholt. Der dümmliche Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden.
»Setzt euch!« sagte Sekiz.
Alle nahmen Platz. Die Männer unterhielten sich lautstark und sprachen so rasch, dass Sadagar nur Bruchteile der Unterhaltung mitbekam. Sie schienen sich alle irgendwelcher Heldentaten zu rühmen.
Nottr beteiligte sich nicht am Gespräch. Aufmerksam widmete er sich dem Feuersteinknollen. Mit einem Steinhammer schlug er kraftvoll auf den Knollen ein, bis einige Splitter absprangen. Danach bearbeitete er den Steinblock mit einem Hammer aus Hirschgeweih. Schließlich setzte er ein Stanzwerkzeug an und schlug mit dem Hammer dünne Klingen ab, die später zu Messern oder Speerspitzen verarbeitet werden würden.
»Diese Klingen sind schärfer als Eisen«, sagte Duprel. »Trotzdem möchte ich ihnen gern die Kunst des Metallmachens beibringen. Hier in den Bergen liegt überall Erz herum. Man braucht sich nur zu bücken und es aufzuheben.«
Sadagar begann sich zu langweilen. Ein paarmal hatte er versucht, ein Gespräch mit Nottr in Gang zu bringen, doch der Barbar hatte nur einsilbig geantwortet. Eine Zeitlang war es ja interessant gewesen, den Männern bei der Arbeit zuzusehen, doch die stickige Luft machte Sadagar zu schaffen und schläferte ihn ein.
»Lass uns gehen, Duprel«, bat der Steinmann.
Sie verabschiedeten sich von den Männern und traten ins Freie. Die frische Luft tat Sadagar gut. Er atmete tief durch.
Einige Frauen waren mit der Bereitung der Abendmahlzeit beschäftigt.
»Würde es dir nicht gefallen, hierzubleiben, Sadagar?« erkundigte sich der Schmied.
Der Steinmann schüttelte den Kopf. »Nein, denn ich bin ein unruhiger Geist. Mein ganzes Leben lang war ich immer unterwegs. Ich würde unglücklich sein, an so einem Platz gefangen zu sein. Dieses friedliche Leben wäre nichts für mich.«
»Mir gefällt es hier. Hier bedrängen mich keine ungeduldigen Kunden, die mich mit Sonderwünschen zur Verzweiflung bringen. Da gibt es keine Steuereintreiber, keinen Streit und keine Hast. Nicht einmal den Wein vermisse ich.«
»Dann bleib doch hier, Duprel.«
»Ich werde es mir noch überlegen. Ich habe ja Zeit.«
Kinder fütterten die Schlittenhunde mit Knochen und Fleischstücken. Die Frauen brachten den Männern das Essen in die Häuser. Langsam wurde es dunkel.
Von irgendwoher war ein lauter Schrei zu hören, der sich rasch fortpflanzte.
»Einer der Wachtposten hat Nadomir gesehen«, sagte Duprel.
Männer und Frauen strömten ins Freie und blieben erwartungsvoll auf dem großen Platz stehen.
Dann war der Schlitten im dämmrigen Licht zu sehen. Ein prächtiges Gefährt, kunstvoll verziert und von zehn kräftigen Hunden gezogen. Der Fahrer war ein mächtiger Bursche. Sein Gesicht war bartlos und sein dunkles Haar zu einem Zopf geflochten. Sein Kapuzenanzug war mit fremdartigen Mustern bestickt.
Der Schlitten hielt an, und der Mann stieg ab und half Nadomir heraus.
»Die meisten von euch kennen Aravo«, sagte der Gnom mit durchdringender Stimme. »Er ist der kühnste Jäger der Gruden, der als Abgesandter seines Stammes am Kampf gegen den Alb teilnehmen wird!«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
»Tod dem Alb!« schrie einer der Jäger, und die anderen stimmten in den Ruf ein.
Nadomir kam auf Sadagar zu. »Geh in dein Zelt, Sadagar! Ich muss mit dir sprechen.«
»Gut, ich werde auf dich warten.« Sadagar holte sich ein paar Stücke Fleisch und ein fladenartiges Brot. Dann ging er in sein Zelt. Er aß langsam und dachte angestrengt nach. Der Kleine Nadomir hatte offenbar die Absicht, gegen den Großen Alb zu kämpfen.
Es war schon dunkel, als der Gnom das Zelt betrat. Sadagar wollte aufstehen.
»Bleib sitzen, mein Freund.«
Der Troll suchte einen bequemen Platz und musterte Sadagar eingehend. Dann nickte er zufrieden. »Du scheinst gesund zu sein, Sadagar«, stellte er schließlich fest. »Das ist gut so, denn ich brauche deine Hilfe.«
»Meine Hilfe?« wunderte sich der Steinmann.
»Meine Geduld ist jetzt endgültig erschöpft. Bis jetzt habe ich dem Treiben des Großen Albs eher gleichgültig zugesehen, aber nun hat er das Fass zum Überlaufen gebracht. Überall in der Bergwelt gab es Beben, und unzählige Lawinen gingen nieder. Es störte mich auch nicht sonderlich, dass er einige Stämme für seine dunklen Zwecke einsetzte. Dazu gehört der Bau der Straße der Götter, den ich zwar immer wieder gestört habe, aber nie so richtig wirksam, und das will ich nun tun. Du sollst mir bei meinem Kampf gegen den Großen Alb beistehen.«
»Ich bin ein alter Mann, Schöner Nadomir. Mein Arm ist schwach, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dir eine große Hilfe sein könnte.«
»Starke Arme habe ich genug«, brummelte der Kleine, »aber an Hirn fehlt es den Wilden. Deine Erfahrung gleicht deine körperliche Schwäche aus. Willst du mir helfen?«
Zögernd nickte Sadagar. »Ja, ich werde dir helfen. Aber ich würde gern mehr wissen. Wer bist du wirklich, Nadomir?«
Der Gnom kicherte. »Ich bin ein Troll, das habe ich dir schon erzählt. Mein Volk lebt im ewigen Eis, wo es im Winter nicht hell wird und im Sommer die Sonne nicht untergeht. Wir haben kein eigenes Reich errichtet, es liegt uns nicht, zu herrschen. Uns hat der Lichtbote dazu bestimmt, den Menschen zu helfen. Wir sind eine alte Rasse, und ich bin auch sehr alt, wie alt, das weiß ich nicht mehr, und es ist auch nicht wichtig.«
»Wie bist du dann in die Karsh-Berge gekommen?«
»Ich ging auf Wanderschaft, und auf dem Rückweg blieb ich in den Götterbergen hängen. Mir gefallen die Gegend und die Menschen, die hier leben. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich hierblieb. Ich entdeckte, dass hier ein Alb hauste, und deshalb ließ ich mich hier nieder.«
»Wer oder was ist ein Alb?«
»Eine Frage, auf die ich schon lange gewartet habe, mein Freund. Alben sind Riesen und die erklärten Feinde der Trolle.«
»Was verstehst du unter Riesen?«
»Sie sind menschenähnlich und werden bis zu dreißig Fuß groß!«
»Dreißig Fuß?«
Der Kleine Nadomir nickte. »Ja, es sind scheußliche, gefühllose Bestien, die den Dunklen Mächten dienen. Die Trolle und Alben sind Feinde, seit es die Welt gibt. Bis jetzt vermied ich jede direkte Auseinandersetzung mit dem Riesen, aber nun denke ich daran, ihn aufzusuchen und zu töten! Und du wirst mir dabei helfen!«
Der Gedanke, einem dreißig Fuß großen Burschen entgegenzutreten, war alles andere als erbaulich für Sadagar. Ich Narr, da habe ich mich ja wieder einmal in ein schönes Abenteuer eingelassen.
»Der Große Alb lässt von den Seinen eine Straße bauen, die sich bereits weit in den Süden zieht. Bald schon, vielleicht in drei Generationen, wird die Straße die Gräberstätte der Riesen erreichen, und dann sollen nach der alten Legende die toten Riesen erwachen und die Welt vernichten. Das muss ich verhindern.«
»Aber das ist doch nur eine Sage, wie du selbst sagst.«
»Eine Legende, die aber stimmen kann. Ich will mich ein wenig im Gebiet des Albs umsehen und dann meine Entscheidung treffen. Wir brechen morgen auf.«
»So bald schon«, flüsterte Sadagar. »Ich weiß nicht, ob ich schon kräftig genug.«
»Keine Angst, mein Lieber, du bekommst einen hübschen Schlitten zur Verfügung gestellt. Bis wir das Gebiet des Albs erreicht haben, bist du völlig gesund.«
*
Sie waren nun schon drei Tage lang unterwegs. Die Fahrt ging über die Straße der Götter, die aber nicht zu sehen war, da sie von einer fünf Fuß hohen Schneeschicht bedeckt war. Bis jetzt waren die zehn Schlitten rasch vorwärts gekommen. Übernachtet hatten sie bei Stämmen, die den Kleinen Troll verehrten.
Sadagar hatte Nadomir gefragt, ob zwischen dem Titanenpfad und der Elvenbrücke in Yortomen mit dieser Straße der Götter eine Verbindung bestehe, doch der Troll hatte darauf höchst ausweichend geantwortet. Vermutlich wusste er viel mehr, als er Sadagar gegenüber sagen wollte.
Die Stimmung war überaus gut. Das Wetter war prächtig, und an die Kälte hatte sich Sadagar bereits gewöhnt. Der Großteil der Jäger, die an der Fahrt teilnahmen, war vom Stamm der Heusen, doch es hatten sich auch junge, unternehmungslustige Männer anderer Stämme angeschlossen. Nottr, Duprel Selamy und Tordo waren mitgekommen, und auch Olinga hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzufahren. Aber es waren auch fünf andere Frauen dabei, alle kräftig und vergnügt.
Sie näherten sich dem Ende der Straße. Dort würden dann die Schwierigkeiten beginnen, denn es war das Land, in dem der Große Alb über alle Menschen und Tiere herrschte. Die Jäger hatten von unheimlichen Bestien erzählt, die den Zugang zum Tunnel bewachten, der in die Totenstadt der Riesen führte. Aber weit gefährlicher waren vermutlich die dem Alb treu ergebenen Stämme, die viel grausamer und wilder waren als die Jäger aus dem Norden.
Bis jetzt war es nichts anderes als eine vergnügliche Spazierfahrt gewesen, doch morgen mussten sie vorsichtig sein. Hinter jeder Talkrümmung, in jeder Felsspalte konnte eine Gefahr lauern. Hier gab es keine Stämme mehr, die ihnen helfen würden. Nun waren sie ganz auf sich gestellt.
Sadagar hatte in den vergangenen Tagen genügend Gelegenheit gehabt, sich mit dem Kleinen Nadomir anzufreunden. Immer wieder hatte er den Gnomen mit Fragen bestürmt, doch er hatte nur ausweichende Antworten erhalten. Schließlich hatte er es aufgegeben und die Ausfragerei eingestellt.
Meist saß der Zwerg bei ihm im Schlitten, so wie auch jetzt. Bekleidet war er mit einem dichten schwarzen Pelz, der seiner Gestalt eine Kugelform verlieh. Manchmal, wenn er nicht gestört werden wollte, stülpte er sich auch den Pelz über den Kopf. Dann sah er wie ein zusammengerollter Igel aus, so stachelig war der Pelz. Seine Hände vergrub er meist in einem Muff, der aus dem gleichen Material gefertigt war.
Nur einmal hatte Sadagar den Zwerg ohne Pelz gesehen. Er trug darunter einen enganliegenden Anzug, wie ihn Sadagar nie zuvor gesehen hatte. Das Material war dünn und glänzend und schmiegte sich wie eine zweite Haut an Beine und Leib des Gnomen. Das Oberteil war langärmelig mit einem runden Halsausschnitt. Um den Hals schlangen sich drei Goldreifen, in die fremdartige, unverständliche Zeichen und Symbole graviert waren.
Über die magischen Fähigkeiten des Trolls war sich Sadagar nicht klargeworden. Der Kleine hatte einige recht nützliche Gegenstände in seinem Muff verborgen, war jedoch bisher jeden Beweis für eine überwältigende Beherrschung der Magie schuldig geblieben. Aber das konnte sich ja noch ändern. Sadagar wollte jedenfalls den Kleinen genau beobachten, um vielleicht etwas Neues zu lernen.
Oft hatte er in den vergangenen Tagen an Mythor und die anderen Freunde gedacht. Er hatte auch nicht seine Verabredung mit dem jungen Krieger vergessen, aber so, wie es im Augenblick aussah, würde er sie nicht einhalten können.
Die Schatten wurden länger. Hoch über ihnen zogen ein paar schwarze Vögel ihre Kreise, die Sadagar entfernt an Krähen erinnerten. Geschöpfe, die sie im Auftrag des Albs beobachteten? Eine Frage, die ihm niemand beantworten konnte.
Er genoss die friedliche Stille und schob alle Gedanken weit von sich. Sie fuhren genau auf die unbezwingbaren Götterberge zu, die im Widerschein der untergehenden Sonne purpur flammten. Berge, die so gewaltig waren, dass er sich richtig bewusst wurde, wie klein und unwichtig er war, Berge, die seit der Erschaffung der Welt standen und die noch stehen würden, wenn die ganze Menschheit zu Staub zerfallen war.
»Giiii!« schrie einer der Jäger, und die Stimmung brach wie Glas.
Die Hunde bellten vergnügt und verlangsamten ihr Tempo. »Giiii!«
Sadagar stieg ab und bewegte die steifen Glieder. Ein sanfter Wind spielte mit seinem Haar. Er blickte zu Olinga und Nottr hinüber, die sich während der Fahrt nähergekommen waren. In ihren Augen war noch immer das Begehren, das von ihm nicht erwidert wurde.
Nadomir blickte sich prüfend um. Dann nickte er langsam. »Das scheint ein guter Platz für ein Nachtlager zu sein«, meinte er und sprang vom Schlitten. »Komm mit, Sadagar. Wir werden uns umsehen.«
Das Tal war an dieser Stelle etwa zweihundert Fuß breit. Es führte schnurgerade auf den höchsten Berg zu. Links und rechts ragten steile Felswände empor.
Immer wieder blieb der Gnom forschend stehen. Er musterte die schneebedeckten Felsen und suchte den Boden nach Spuren ab.
»Der Schnee ist ziemlich frisch. Er fiel vergangene Nacht«, sagte der Troll.
Nur selten entdeckten sie Spuren. Meist stammten sie von Vögeln und anderen kleineren Tieren. Das Tal wurde immer breiter, und dann lag eine riesige, zerklüftete Ebene vor ihnen, die sich in der Weite verlor. Dünne Rauchfäden stiegen in den dunkel werdenden Himmel.
»Dort leben die Stämme, die den Alb verehren«, sagte Nadomir. »Im Winter behauen sie die großen Steinblöcke, die sie dann im Sommer für den Straßenbau verwenden. Außerdem bewachen sie den Zugang zum Tal der Riesen.«
»Was hast du vor, Nadomir?«
»Ich habe die Wilden oft beobachtet«, sprach dieser weiter, ohne auf Sadagars Frage einzugehen. »Der Zugang zum Tal der Riesen ist ein Tunnel oder ein Schacht, der von ihnen bewacht wird. Es ist der einzige Zugang zum Tal, in dem sich der Alb versteckt.«
»Warst du schon mal im Tal der Riesen?«
»Nein. Ich habe mit einigen der Wilden gesprochen, doch auch sie wissen nichts über das Tal. Keiner von ihnen war dort, denn der Alb hat ihnen verboten, es zu betreten.«
»Du weißt also nicht, was uns in diesem Tunnel und dem Tal erwartet?« »Richtig. Ich habe keine Ahnung. Lass uns zurückgehen.«
Als sie zurückkamen, waren bereits die Zelte aufgestellt, und ein halbes Dutzend Feuer brannten.
»Ist es nicht gefährlich, die Feuer brennen zu lassen?« fragte Sadagar. »Die Wilden werden uns entdecken.«
»Sie haben uns bereits bemerkt. Wir müssen vorsichtig sein. Diese Nacht werden wir Wachen aufstellen.«
»Befürchtest du einen Überfall?«
»Ich kann ihn nicht ausschließen.«
Sadagar gesellte sich zu Duprel, Nottr und Olinga, die um eines der Feuer saßen. Er ließ sich auf ein Fell nieder, und Olinga reichte ihm einen Becher dampfenden Tee, den er dankbar annahm. Bedächtig trank er.
»Hast du irgendwann einmal den Großen Alb gesehen, Olinga?« erkundigte er sich.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Chwum sah ihn einmal. Er hatte große Angst vor ihm.«
»Hat dir Chwum erzählt, wie der Alb aussieht?«
»Er ist ein Riese. Mehr wollte mir Chwum nicht sagen.«
»Stört es dich nicht, dass wir den Großen Alb zum Kampf stellen wollen?«
»Nein, denn jetzt gehöre ich zum Stamm der Heusen, und wir betrachten den Großen Alb als unseren Feind.«
So einfach ist das, sinnierte Sadagar und griff nach einem Stück Dörrfleisch. Ihre religiösen Empfindungen waren anscheinend nicht sehr stark ausgeprägt. Olinga trauerte auch nicht mehr um Chwum. Es war, als habe sie ihren früheren Stamm bereits vergessen.
Der Kleine Nadomir bestimmte einige Männer für die Wache, dann zog er sich in eines der Zelte zurück.
Sadagar unterhielt sich noch kurze Zeit mit Duprel, der sich noch immer nicht klargeworden war, ob er zurück nach Ugalien gehen sollte. Zwar sehnte er sich nach seiner Arbeit in der Schmiede, doch auf der anderen Seite hatte er auch Geschmack am einfachen Leben der Wilden gefunden.
Schließlich ging auch Sadagar schlafen.
Lautes Geschrei ließ ihn aufschrecken. Er sprang hoch und lief aus dem Zelt. Es war noch dunkel. Während der Nacht hatte es geschneit, und noch immer fielen dichte Flocken.
Das Gekläff der Hunde wurde durchdringender. Vereinzelt waren Schreie zu hören. »Ein Wollmammut!« pflanzte sich der Schrei fort. Nun war auch das wütende Trompeten des riesigen Tieres zu vernehmen.
Sadagar hatte schon ein paarmal mit Mammuts zu tun gehabt. Eigentlich waren es friedliche Tiere, Pflanzenfresser, die mit ihren langen Stoßzähnen die Schneekruste aufbrachen und so an die darunter liegende Nahrung gelangen konnten. Aber wenn sie gereizt wurden, gingen sie auch auf Menschen los. Der Rüssel, die Stoßzähne und die gewaltige Kraft des wuchtigen Körpers konnten überaus gefährlich werden.
Blitzschnell entzündete er ein Feuer. Einige der Jäger ergriffen die flackernden Holzstücke und liefen in die Richtung, aus der das Geschrei kam. Sadagar schloss sich ihnen an.
Allmählich wurde es hell.
Und dann erblickte er das Wollmammut. In seinen zottigen Pelz hatten sich ein paar Hunde verbissen. Einige Jäger stießen mit den Speeren auf das Untier ein, das den Kopf senkte, sich herumdrehte und mit den Stoßzähnen seine Peiniger erwischen wollte. Der lange Rüssel bewegte sich ständig, erfasste einen Hund und schleuderte ihn durch die Luft. Mehrere Jäger sprangen mit den brennenden Ästen auf das doppelt mannshohe Tier zu und versuchten, es vom Lager fortzutreiben. Aber unbeirrt stapfte es weiter, obzwar es aus unzähligen Wunden blutete.
»Das Mammut soll uns nur ablenken!« schrie jemand. »Die Alb-Krieger greifen.« Gurgelnd brach der Schrei ab.
Kleine, dunkle Gestalten liefen auf sie zu, die mit Lanzen und Steinäxten bewaffnet waren. Ein Speer raste heran und bohrte sich dem neben Sadagar stehenden Jäger in die Brust. Die Angreifer stießen durchdringende Kampfschreie aus. Jetzt war es bereits hell genug, dass man die Feinde besser sehen konnte.
Sadagar riss ein Wurfmesser aus dem Gürtel. Dann schleuderte er es, und er traf gut, denn einer der Angreifer riss die Arme hoch und stürzte tödlich getroffen zu Boden.
Das Wollmammut trompetete wütend und tobte im Lager herum. Es zertrampelte einige der Schlitten und zerfetzte die Zelte. Doch seine Bewegungen wurden immer schwächer. Endlich brach es zusammen und zerdrückte zwei weitere Schlitten.
Sadagar hatte keine Zeit, sich um das sterbende Mammut zu kümmern. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den tollkühn heranstürmenden Alb-Kriegern.
Bei den Wilden gab es keine Taktik, keine Strategie. Alles war viel primitiver. Jeder gegen jeden. Und wie Sadagar bald feststellte, waren die Angreifer in der Überzahl.
Ein finster blickender Mann stürmte auf Sadagar zu. Drohend schwang er die blutverschmierte Axt. Ein gut gezieltes Messer riss den Krieger in den Schnee.
Sadagar zog sich ein paar Schritte zurück. Er hatte schon viele Kämpfe miterlebt, und daher merkte er bald, dass die Anhänger des Kleinen Nadomir die viel geschickteren Kämpfer waren.
Zu seiner größten Überraschung beteiligte sich auch Nottr am Kampf. Er war weiter auf dem Weg der Besserung. Er stieß grimmige Schreie aus und schwang sein Krummschwert wie in alten Tagen. Neben ihm stemmten sich Tordo und Olinga den Angreifern entgegen. Die Reihen der Alb-Krieger lichteten sich immer mehr. Ihre blindwütig vorgetragenen Angriffe waren leicht abzuwehren.
Sadagar griff nur noch einmal ein, als er bemerkte, dass Tordo in Bedrängnis kam, da er von zwei Kriegern angegriffen wurde. Ein Messerwurf, und die Sache war erledigt.
Es dauerte nicht lange, und die Angreifer zogen sich zurück. Ihre Verwundeten und Toten nahmen sie mit. Nottr wollte sie verfolgen, doch der Kleine Nadomir hielt ihn zurück. »Es wurde genug Blut vergossen«, sagte der Gnom.
Die Alb-Krieger hatten ihr Ziel teilweise erreicht. Das Lager war fast völlig zerstört. Von den zehn Schlitten waren nur mehr drei verwendbar. Mehr als die Hälfte der Hunde war tot oder so schwer verletzt, dass sie sterben mussten.
Bei dem Angriff waren drei Männer und eine Frau getötet worden. Zehn hatten böse Verletzungen erlitten, und die anderen waren mit unwesentlichen Verwundungen davongekommen.
Sadagar und Olinga kümmerten sich um die Verletzten, während der Kleine Nadomir und die unverletzten Jäger das Lager zusammenräumten und die Gegenstände bargen, die noch zu verwenden waren.
»Die Schwerverletzten werden zurück zum Winterlager gebracht«, sagte der Kleine Nadomir. »Das werden die leichter Verletzten besorgen.« Niemand widersprach.
Einige der Jäger begannen das Mammut geschickt zu zerlegen. Sein Fleisch stellte eine willkommene Abwechslung dar. Kurze Zeit später durchzogen die ersten Bratendüfte das zerstörte Lager. Die Verwundeten wurden auf die Schlitten gebettet. Dann brachen sie auf, zurück zum Winterlager der Heusen.
Sadagar blickte über das Häufchen derjenigen, die weiterhin den Kampf gegen den Alb aufnehmen wollten. Außer seinen beiden Freunden und dem Kleinen Nadomir waren noch Tordo und Olinga und sechs vom Stamm der Heusen dabei. Insgesamt also nur zwölf Personen.
Sie stapften im Gänsemarsch durch den immer tiefer werdenden Schnee. Das Gelände wurde hügeliger. Der Schneefall verstärkte sich, und kräftiger Wind kam auf. Aber trotz der widrigen Umstände kamen sie rasch vorwärts.
Einmal sahen sie in der Ferne ein paar Alb-Krieger, die grimmig zu ihnen herüberstarrten, sich aber nicht näherten. Nun waren auch häufiger die großen Steinbrocken zu sehen, die von den Alb-Anhängern für den Straßenbau verwendet wurden. Aber keiner der feindlichen Krieger ließ sich mehr blicken.
Sadagar fühlte sich immer unbehaglicher, je mehr sie sich dem mächtigen Berg näherten, der ihnen den Weg zum Tal der Riesen versperrte. Eigentlich erwartete er jeden Augenblick einen Überfall der Alb-Krieger, der aber zu seiner größten Überraschung ausblieb. Die ganze Landschaft schien ihnen allein zu gehören. Nur das Säuseln des Windes begleitete sie.
In einer der eisbedeckten Felswände klaffte eine dunkle Öffnung: der Eingang zum Tunnel.
Plötzlich war wieder die Angst da, die Sadagar die ganze Zeit verdrängt hatte. Nur zu deutlich erinnerte er sich an seine Furcht, die er vor ein paar Tagen empfunden hatte, als sie mit den Cherebern den kurzen Tunnel durchquert hatten. Vergeblich versuchte er, seine angespannten Sinne zu beruhigen.
Er seufzte tief auf, als sie vor einer etwa zweihundert Fuß hohen Steilwand stehenblieben. Klettern war noch nie seine Stärke gewesen.
Sie kamen nur langsam vorwärts. In den Ritzen lag der Schnee, und jeder Schritt musste genau geprüft werden. Sadagar begann zu keuchen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ehe er endlich die Steilwand überwunden hatte.
Der Himmel wurde zusehends dunkler. Die großen Schneeflocken fielen gleichmäßig. Vor ihnen lag nun ein sanft ansteigendes Schneefeld.
Immer wieder hob Sadagar hoffnungsvoll den Kopf, doch die Tunnelöffnung war nicht zu sehen. Und wieder mussten sie eine Steilwand emporklettern. Die Kälte kroch durch ihre Kleider, und die Finger wurden steif. Aber sie schafften den Aufstieg und blieben ermattet vor der Höhle stehen.
Sie hielten ihre Waffen bereit, doch auch hier ließen sich keine Alb-Krieger blicken.
»Sollen wir hier übernachten?« fragte Tordo.
»Nein«, antwortete der Kleine Nadomir. »Wir legen nur eine kurze Rast ein, dann gehen wir weiter.«
Erleichtert setzte sich Sadagar nieder. Er sah sich nach Nadomir um, doch der Gnom war plötzlich verschwunden. Kurze Zeit später tauchte er breit grinsend aus der Höhle auf. »Weit und breit sind keine Alb-Krieger zu sehen«, sagte er zufrieden.
*
Der Tunnel führte schnurgerade in den Berg hinein. Die Wände waren grau und glatt. Von der Decke ging ein fahles Leuchten aus, das hell genug war, um den Gang zu erleuchten. Sie brauchten die mitgebrachten Fackeln nicht zu entzünden.
Der Tunnel musste in jahrhundertelanger Arbeit vollendet worden sein. Die Luft war frisch und der Boden feucht. Dann versperrten ihnen Stufen den Weg, die nicht für normale Menschen ins Gestein gehauen waren. Sie waren etwa fünf Fuß hoch und glattpoliert.
»Das schaffen wir nie«, flüsterte Sadagar.
Die Stufen schienen in die Unendlichkeit zu führen.
»Keine Angst, Adagar«, sagte Olinga. »Ich werde dir helfen.«
Fast spielerisch leicht schwang sie sich hinauf und reichte Sadagar die rechte Hand, der sie ergriff und von ihr hochgezogen wurde. Auch der Kleine Nadomir und Duprel Selamy brauchten Hilfe. Die anderen kamen besser zurecht. Trotzdem war es ein mühsamer und ziemlich kräfteraubender Aufstieg.
Nach fünfzig Stufen zeigten alle die ersten Ermüdungserscheinungen, und sie legten eine Rast ein.
»Diese Stufen sind mir unheimlich«, flüsterte Sadagar. »Der ganze Schacht scheint kein Menschenwerk zu sein. Ihn müssen Riesen erbaut haben.«
»Du irrst«, sagte Nadomir. »Es ist Menschenwerk. Viele Jahrhunderte arbeiteten Menschen daran.«
Sadagar war davon nicht überzeugt, denn ihm kam es unwahrscheinlich vor, dass die Wilden mit ihren einfachen Werkzeugen eine so gewaltige Leistung vollbringen konnten.
Sie stiegen höher. Die Stufen wirkten nun irgendwie unfertig. Sie waren nicht mehr glattpoliert. Und dann erreichten sie plötzlich eine riesige Höhle. Auch hier strömte mattes Licht von der wild zerfurchten Decke auf sie nieder. Sechs hohe Gänge waren zu sehen.
Nadomir untersuchte den Boden, betrat die Gänge der Reihe nach und entschied sich dann für den linken. »Dies müsste der richtige Gang sein«, meinte er.
Gelegentlich kamen sie an Nischen vorbei, in denen Menschenknochen und Totenschädel aufgestapelt waren. Der Boden war uneben, mit großen Steinen übersät und an einigen Stellen voller tiefer Löcher.
Plötzlich schimmerte Tageslicht in den Schacht herein. Sie gingen schneller, verließen den Tunnel und blieben überrascht stehen. Vor ihnen lag ein endlos tiefer Abgrund. In die rechts liegende Felswand war ein schmaler Pfad gehauen, der auf ein dunkles Loch zuführte. Sadagar wurde schwindelig, als er in die schwarze Schlucht blickte.
Ein Stein löste sich aus der Felswand, schlug auf dem Pfad auf und fiel in die Tiefe. Sein Aufschlag am Boden war nicht zu hören.
Vorsichtig betraten sie den Pfad. Sadagar wagte nicht in die Tiefe zu blicken. Er drückte sich an die Felswand und hielt sich an vorstehenden Steinen fest. Als er etwa fünfzig Schritte getan hatte, lösten sich wieder ein paar Steine aus der Wand und rissen größere Brocken mit, die auf den Pfad stürzten.
Einer der Heusen versuchte dem Steinschlag auszuweichen, stieß dabei an den vor ihm gehenden Guravo an, klammerte sich an ihm fest, und beide verloren das Gleichgewicht und wurden mit der Steinlawine in die Tiefe gerissen. Ihre Schreie hallten von den Wänden wider, wurden leiser und verstummten dann.
Sadagars Knie schlotterten. Er wischte sich den Angstschweiß von der Stirn.
»Weiter, geht weiter!« schrie der Kleine Nadomir.
Alle waren bleich, als sie den Tunneleingang erreichten. Schaudernd warfen sie entsetzte Blicke in den Abgrund. Der Tod der beiden Jäger hatte sie erschüttert, und jeder dachte wohl, dass es auch ihn hätte erwischen können.
Schweigend betraten sie den Gang. Auch hier glühte die Decke in geheimnisvollem Licht. Der Gang war hoch, aber ziemlich schmal.
Der als erster gehende Aravo stieß einen Warnschrei aus. Ein riesiges, fledermausartiges Geschöpf schoss auf ihn zu und verkrallte sich in seinem Gesicht. Dzurgo kam ihm zu Hilfe und erschlug das Biest mit seiner Axt.
Aber diese Bestie war nur die Vorhut gewesen. Der Tunnel wurde schwarz von den fledermausartigen Wesen, die ein durchdringendes Pfeifen ausstießen.
»Stellt euch nebeneinander!« schrie der Kleine Nadomir. »Versucht, sie mit den Lanzen aufzuhalten!«
Tordo, Xogra und Aravo stellten sich nebeneinander auf und richteten die Lanzen auf die heranfliegenden Monstren. Sie stießen nach ihnen, konnten aber nicht alle Fledermäuse aufhalten. Einige flogen so tief, dass sie zwischen den Beinen der Jäger hindurchschossen.
Doch da wartete Nottr mit seinem Krummschwert auf sie. Seine Hiebe waren so rasch, dass das Auge kaum folgen konnte. Aber auch er konnte nicht alle der ihn umflatternden Tiere erledigen. Einige stürzten sich auf den Kleinen Nadomir, dem Duprel und Olinga zu Hilfe kamen.
Drei Fledermäuse hatten sich auf Dzurgo gestürzt und verkrallten sich in seinem Haar und in seinem Gesicht. Akagara konnte zwei der Tiere mit ihrer Axt töten, doch das dritte verbiss sich in Dzurgos Kehle, erwischte die Schlagader und trank gierig das Blut. Der Jäger ging in die Knie, stieß einen unmenschlichen Schrei aus, riss sich das Vampirwesen ab und zerquetschte es mit seinen Händen.
Sadagar traf eine der Fledermäuse im Flug mit einem Messer und spießte sie auf. Eine zweite setzte sich in seinem Haar fest und hackte mit den spitzen Zähnen auf ihn ein. Blut spritzte aus seiner Stirn und verklebte seine Augen. Verzweifelt ergriff er einen der flatternden Flügel und versuchte es aus seinem Haar zu reißen. Die Bestie ließ sich davon nicht stören und bearbeitete ihn weiterhin. Nun endlich erwischte er den Kopf des Tieres. Er drehte ihm den Hals um und schleuderte es angewidert zu Boden.
Überall lagen nun tote und noch zuckende Vampirgeschöpfe herum. Der Ansturm war abgewehrt worden. Doch sie hatten einen weiteren Toten zu beklagen: Dzurgo. Und alle waren verletzt und bluteten aus unzähligen Wunden.
Nottr und Tordo töteten die verwundeten Fledermäuse, dann blieben sie keuchend stehen. Von den toten Tieren ein eklig faulender Geruch aus, der sie rasch weitergehen ließ. Als sie eine Seitenhöhle erreichten, legten sie eine Rast ein.
Olinga und Sadagar behandelten die Verletzungen, die bei einigen ziemlich schwer waren. Die Stimmung war sehr gedrückt; auch als der Kleine Nadomir ein paar aufmunternde Worte sprach, änderte sich nichts daran. Alle waren niedergeschlagen und schweigsam. Sie waren müde, doch niemand dachte an Schlaf. Alle wollten den Tunnel möglichst rasch verlassen. Kurze Zeit später brachen sie auf.
Der Tunnel schien endlos zu sein. Die Luft wurde stickiger, doch es wurde wärmer. Irgendwo rauschte Wasser.
Schließlich wurde die Luft besser und das Wasserrauschen immer lauter. Und plötzlich standen sie im Freien!
Es war eine Sternenlose Nacht, die sich wie ein Tuch über die Landschaft breitete und alles verschluckte. Sie konnten nichts sehen. Doch es war unwahrscheinlich warm, und die Luft war vom Rauschen unzähliger Wasserfälle erfüllt.
»Kannst du etwas erkennen, Nadomir?« fragte Sadagar.
»Leider nein. Wir übernachten hier. Es ist sinnlos, bei dieser Finsternis weiterzugehen.«
Völlig erschöpft ließen sich alle auf den harten Boden fallen und hüllten sich in Felle. Tordo reichte einen Wasserschlauch herum.
Sadagar trank einen Schluck und aß etwas Dörrobst, dann schloss er die Augen und versuchte zu schlafen.
*
Es war noch finster, als sie aufstanden. In das Wasserrauschen mischte sich auch gelegentlich ein durchdringendes Zischen. Es roch nach Schwefel.
Langsam wurde es hell.
Sie standen auf einem mit Felsbrocken und versteinerten Bäumen und Ästen übersäten Hang. Zur Rechten schoss ein Bach aus einer Felsöffnung und stürzte über Klippen ins Tal hinunter. Vor ihnen lag ein riesiger Talkessel. Im Hintergrund waren die Felskuppen und zerklüfteten Zinnen der Berge zu sehen. Und überall sprudelten heiße Bodenquellen, deren dampfendes Wasser durch ein Netz von künstlich angelegten Kanälen floss. Von Zeit zu Zeit stiegen dünne Dampfwolken aus kraterähnlichen Hügeln. Gurgelnd schoss das Wasser aus einem größeren Krater hervor, dann war ein lautes Zischen zu vernehmen, und eine riesige Dampfsäule, vermischt mit Wasser, stieg hoch. Immer mehr kochendes Wasser spritzte hervor, und die Fontäne stieg höher in die Luft.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Sadagar beeindruckt.
Felsen aus schwarzem Gestein schimmerten in der Morgensonne. Bizarr geformte, rotglühende Felsnadeln stießen in den Himmel. Es war ein verwirrender Anblick, Steilhänge, abgeflachte Kegel und spitze Säulen und alle in den verschiedensten Farben schimmernd: rot, violett, rosa, orange und braun.
Alle waren sprachlos. Lange standen sie stumm da und blickten über die fremdartige Landschaft.
»Das Tal der Riesen«, hauchte Olinga, die neben Sadagar stand.
»Es dürfte schwierig sein, hier den Großen Alb zu finden«, brummte Duprel Selamy.
Der Kleine Nadomir blickte sich aufmerksam um. Gelegentlich stieß er knurrende Laute aus. »Seht ihr den Weg hier?« fragte er schließlich und trat ein paar Schritte zur Seite. »Dieser Pfad wird uns zum Alb führen!«
Der Abstieg war ziemlich steil.
»Zuerst werden wir uns aber stärken«, sprach der Kleine Nadomir weiter. »Olinga und Sadagar sollen sich die Verletzungen ansehen.«
Sadagars Stirnwunde schmerzte nur leicht, doch die rechte Hand konnte er kaum bewegen. Die anderen waren auch nicht besser dran. Trotz der Heilkräuter brannten die Wunden und waren entzündet.
Tordo holte frisches Wasser vom Bach. Sie setzten sich nieder und tranken und aßen. Es wurde unerträglich warm, und sie legten Teile ihrer Pelzkleidung ab.
Im ganzen Tal zischte und dampfte es ununterbrochen. Tausende heißer Quellen und Schlammlöcher brodelten. Das ganze Gebiet musste ein Labyrinth aus unterirdischen Wasserleitungen sein. Aus all den unzähligen Rissen und Spalten stiegen Dampfwolken hoch. Es war ein beunruhigendes Schauspiel.
Zögernd machten sie sich an den Abstieg. Der Pfad war feucht und führte steil in die Tiefe. Sie kamen nur langsam vorwärts. Immer wieder überschütteten sie heiße Wassertropfen. Dann ging es eine etwa zweihundert Fuß hohe Klippe hinunter, und danach wurde der Pfad leichter begehbar. Aber auch hier schoss aus allen Spalten das kochende Wasser hervor.
»Diese Gegend gefällt mir gar nicht«, brummte Duprel. »Ich war ein Narr, dass ich mitgekommen bin. Wie schön wäre es jetzt in Ugalos.«
»Vielleicht steht die Stadt nicht mehr«, meinte Sadagar, der neben dem Schmied ging. »Die Caer werden die Stadt verwüstet haben.«
»Du glaubst also, dass sie gesiegt haben?«
»Ich befürchte es, Duprel.«
»Hoffentlich irrst du dich.«
Sadagar dachte wieder an seine Verabredung mit Mythor beim Koloss von Tillorn. Aber wie es im Augenblick aussah, würde er sie nicht einhalten können.
Je tiefer sie ins Tal hinabstiegen, umso heißer wurde es. Für die Wilden war diese Hitze völlig ungewohnt und beängstigend. Immer wieder blieben sie stehen und legten Kleidungsstücke ab. Sogar der Kleine Nadomir war aus seinem Pelz geschlüpft. Ihm machten die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit am meisten zu schaffen, denn er war an eisige Temperaturen gewöhnt.
Olinga blickte Nottr gebannt an, als er seine Kleidung ablegte und die Narben auf seinem Rücken zu sehen waren, wo man ihm das mit seinem Fleisch verwachsene Bärenfell abgezogen hatte. Und sie stieß einen leisen Schrei aus, als sie das kreisrunde weiße Bärenfell über seinem Herzen sah. Ihre Verwunderung wuchs noch mehr, als er auch seine Beinkleider auszog und die gelben, schwarz getüpfelten Beine zum Vorschein kamen.
Nottr wandte sich ihr breit grinsend zu. Olinga trat einen Schritt näher und strich mit der rechten Hand sanft über seine Schultern und dann über das Herzfell.
Sadagar freute sich, als er das Aufblitzen in Nottrs Augen bemerkte. Der Lorvaner hatte in den vergangenen Tagen immer mehr zu sich selbst gefunden. Er wirkte noch immer leicht beschränkt, doch die Zuneigung der Karsh-Frau tat ihm wohl. Ganz offensichtlich begann er sich für Olinga zu interessieren, und ihre Bewunderung behagte ihm. Auch die junge Frau war aus den Kleidern geschlüpft und nur mehr mit einem schmalen Lendenschurz bekleidet. Ihr halbnackter Körper mit den schweren Brüsten weckte in Nottr lange zurückgedrängte Begierden. »Du bist schön, Olinga«, sagte Nottr mit rauer Stimme und zog die junge Frau an sich.
»Hört sofort damit auf!« schaltete sich Nadomir wütend ein. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Liebesspiele.«
Zögernd ließ Nottr sie los, doch ihre leuchtenden Augen versprachen ihm alles.
»Sieh dich einmal genau um, Sadagar, und sag mir, ob dir etwas auffällt.«
Der Steinmann gehorchte. Überall flossen Bäche das Tal herunter, scheinbar sinnlos und verwirrend, doch nach kurzer Zeit dachte er anders. Es steckte doch ein System dahinter. Alle Kanäle wurden auf eine schroffe Felswand zugeleitet, in der sich unzählige Öffnungen befanden, durch die das dampfende Wasser in den Berg strömte.
»Diese rotbraune Felswand vor uns«, sagte Sadagar. »Es sieht so aus, als würde das Wasser dort hingeleitet.«
»Du hast gut beobachtet«, lobte ihn der Gnom. »Das ist auch meine Vermutung. Wir werden uns diese Felswand näher ansehen.«
Sie durchschritten einen Wald, der aus fremdartig aussehenden Bäumen bestand, wie sie keiner je zuvor gesehen hatte. Es roch faulig, und der Boden war mit roten und gelben Blättern bedeckt. Die Bäume waren hoch, und überall hingen zwischen den Stämmen die Ranken der Lianen herunter. Immer tropfte es von den Bäumen, die Luft war mit Feuchtigkeit geschwängert, die einem den Atem raubte. Faustgroße Falter flogen herum, und im Laub raschelte es.
Nottr ging voran. Manchmal musste er mit seinem Krummschwert einige Lianen und andere Kletterpflanzen abschlagen. Auf den Bäumen wuchsen farbenfrohe Blumen, die einen süßlichen Geruch verströmten. Die Luft war vom Surren unzähliger Insekten erfüllt.
Xogra stieß einen gellenden Schrei aus, als sich aus dem Geäst eine armdicke, etwa zehn Fuß lange Schlange auf sie fallen ließ und sich blitzschnell um ihren Körper wand.
Nottr wirbelte herum. Mit einem gewaltigen Hieb schlug er der Schlange den Kopf ab. Das Tier krampfte sich noch im Tod zusammen und erdrückte die Frau fast. Aravo und Tordo kamen ihr zu Hilfe.
»Danke«, keuchte Xogra und rieb sich den schmerzenden Hals. Schaudernd blickte sie den noch immer zuckenden Körper des Reptils an.
Der dschungelartige Wald ging in einen Sumpf über. Der Boden war weich und trügerisch.
»Da kommen wir nicht weiter«, sagte Tordo.
Ein stiller Wasserlauf versperrte ihnen den Weg. Blasen stiegen zur Oberfläche und zerplatzten. Luftwurzeln ragten aus dem Wasser, Flechten hingen wie riesige Bärte von Ästen und Stämmen der bizarr geformten Sumpfbäume.
»Seht, da!« rief Akagara und zeigte auf das Wasser hinaus. Eine lange Schnauze ragte heraus, und zwei grün schillernde Augen blickten tückisch die Eindringlinge an.
»Das ist ein Krokodil«, sagte Sadagar.
In diesem Augenblick riss das Biest das gewaltige Maul auf und entblößte die messerscharfen Zähne. Die Jäger wichen angstvoll zurück. Dieses Sumpfgebiet ließ sie ängstlich werden. Es war eine Welt, die ihnen völlig fremd war.
»Lasst uns umkehren«, flüsterte Aravo.
»Das kommt nicht in Frage«, sagte Nadomir heftig. »Wir werden einen Weg aus dem Sumpf finden.«
Sie wandten sich nach links und gingen den Tümpel entlang. Immer wieder blockierten ihnen Bäume mit dichten Ranken den Weg.
Sadagar war schon öfters in einer ähnlichen Landschaft gewesen. Aber Sumpfgebieten hatte er nie etwas abgewinnen können. »Passt auf den Boden auf«, sagte er. »In solchen Landschaften gibt es Unmengen von Schlangen und Spinnen, deren Biss tödlich ist.«
Diese Warnung trug ihm von Nadomir einen bösen Blick ein, und sie ließ die Karsh-Jäger noch furchtsamer werden. Schlangen kamen in den Götterbergen nur äußerst selten vor, und alle hatten eine instinktive Angst vor ihnen.
Sie wateten am Tümpel vorbei, und der Boden wurde etwas fester. Aber dichte Büsche hinderten sie am raschen Vorwärtskommen.
»Vorsicht, Nottr!« schrie Sadagar, der hinter dem Barbaren ging.
Nottr blieb stehen. Er entdeckte das Spinnennetz, und dann erblickte er die Raubspinne, die groß wie ein Säuglingskopf war. Mit dem Schwert zerriss er das Netz, und die Spinne lief wütend auf ihn zu. Er spießte sie mit der Schwertspitze auf, und eine gelbe, stinkende Flüssigkeit floss aus dem zuckenden Leib hervor. Der Barbar schleuderte das tote Tier weit von sich, dann stapfte er ruhig weiter. Er schien der einzige zu sein, der keine Angst hatte.
Insekten verfolgten sie, die sich summend auf sie stürzten und gierig ihr Blut saugten. Innerhalb kurzer Zeit waren ihre Gesichter verschwollen.
Wieder verlegte ihnen ein Wasserarm den Weg, den sie mühsam umrunden mussten. Sie entfernten sich immer mehr von der Felswand, zu der sie gelangen wollten. Der Boden war nun so weich, dass sie oft bis zu den Knien im Schlamm versanken.
Nun führten Tordo und Aravo die Gruppe an. Sie prüften jeden Schritt ganz vorsichtig. Mit den Lanzen stießen sie in den Boden, und erst wenn sie Grund unter den unsicher tastenden Füßen spürten, schritten sie weiter. Aber auch das bot keine vollständige Sicherheit. Einmal versank Tordo bis zum Hals im Wasser, und Nottr und Aravo zogen ihn heraus.
Alle atmeten erleichtert auf, als der Boden hart wurde. Nun war wieder die Felswand zu sehen. Der Boden wurde steinig. Nur gelegentlich mussten sie einen Umweg machen, wenn ihnen ein glucksendes Schlammloch den Weg versperrte. Manchmal schoss vor ihnen eine Dampfwolke hoch, und kochendes Wasser sprühte über sie.
Im Schutz einiger großer Steine sanken sie einfach stöhnend und keuchend nieder. Sie waren alle fürchterlich gezeichnet. Die Gesichter waren aufgedunsen, und die Leiber und Glieder mit unzähligen Stichwunden bedeckt.
Sadagar kroch zu einem Schlammloch und steckte seine Hände hinein. Dann wälzte er sich auf die Seite und strich sich
Schlamm auf Gesicht und Körper. Der Schlamm brachte den beißenden Juckreiz der Wunden zum Schwinden.
»Kommt her!« krächzte Sadagar und setzte sich auf. Müde schleppten sie sich heran. »Der Schlamm kühlt die Wunden.«
Die Jäger legten die wenigen Kleidungsstücke ab, die sie noch trugen, warfen sich einfach in das Schlammloch und wälzten sich darin.
»Das war eine gute Idee, Adagar«, sagte Olinga. Ihr ganzer Körper, das Gesicht und das Haar waren mit einer dicken Schlammschicht bedeckt. »Der Schlamm hält uns die Insekten vom Leib.«
Der Kleine Nadomir beschmierte nur Hände und Gesicht mit dem Schlamm.
Sadagar ließ sich auch in das Loch fallen und schloss die Augen. Vor Jahren hatte er heilende Moorbäder genommen, und dieser braune Schlamm hatte eine ähnliche Wirkung.
Sie kehrten zu den Steinen zurück. Alle, mit Ausnahme Nadomirs, sahen wie Tonfiguren aus. Der Schlamm trocknete rasch und bildete eine gute Schutzschicht. Nun hatte sich auch die Stimmung gebessert. Einige machten sich über den Anblick lustig, den sie boten. Der Wasserschlauch wurde herumgereicht, und langsam stellte sich auch der Hunger ein. Fleischstückchen wurden gekaut und harte Brotfladen herumgereicht.
Der Kleine Nadomir kletterte einen Felsen hoch, legte sich auf den Bauch und starrte zur Höhle hinüber, die etwa hundert Fuß entfernt war.
»Der Alb!« keuchte er plötzlich. »Ich sehe den Riesen!«
Sadagar und Nottr sprangen auf.
»Bleibt sitzen!«
Doch Nottr und Sadagar hörten nicht auf ihn. Neugierig lugten sie hinter den Steinen hervor. Sadagar hielt den Atem an, als er den Riesen erblickte, der gemächlich auf die Höhle zuschlenderte.
Er hatte sich den Riesen immer wie einen übergroßen Menschen vorgestellt, doch da hatte er sich gründlich geirrt. Der Große Alb war ein tierhaftes Zwittergeschöpf, das etwa zwanzig Fuß hoch war, also etwa viermal so groß wie Sadagar selbst. Der Kopf des Riesen erinnerte ein wenig an einen Mammutschädel mit dem kurzen Rüssel und den nach oben gebogenen Stoßzähnen, die aus einem froschartigen Maul ragten. Die Augen lagen eng nebeneinander und leuchteten glutrot. An Stelle der Ohren waren zwei schneckenhausartige Gebilde zu sehen. Der Oberkörper, die stämmigen Beine und die Arme schienen menschlich zu sein, jedoch war der Oberkörper mit weißem Pelz bedeckt. Der Riese verschwand in der Höhle, und Sadagar atmete schnaubend aus.
Nadomir glitt vom Steinbrocken herunter. »Wir werden uns hinschleichen und vor der Höhle auf ihn warten. Es liegen genügend große Steine dort herum, hinter denen wir uns verstecken können«, flüsterte er heiser.
»Und was machen wir dann?« fragte Xogra.
»Wir warten, bis er herauskommt, und greifen ihn an.«
»So einfach wird das nicht sein, Schöner Nadomir«, meinte Tordo und trat einen Schritt vor. »Adagar und Duprel sind keine große Hilfe beim Kampf, und verzeih, Kleiner Nadomir, du bist auch keine Verstärkung.«
Der Gnom plusterte sich empört auf. »Ich werde meine gewaltigen Zauberkräfte zum Einsatz bringen.«
»Von deinen Zauberkräften haben wir aber bisher noch nicht viel bemerkt, Nadomir«, ließ sich Olinga respektlos vernehmen.
»Dann Passt nur auf, wie ich sie einsetzen werde.«
»Gerede, nichts als Gerede«, schaltete sich Sadagar verärgert ein, der es überhaupt nicht mochte, wenn man seine Stärke anzweifelte und noch dazu auch seinen Schutzgeist beleidigte.
»Wir sollten wie bei der Bärenjagd die Felswand hochklettern«, sagte Tordo, »und dem Großen Alb ein paar Steine auf den Kopf fallen lassen.«
»Dazu haben wir zu wenige Leute. Nein, wir machen es anders. Wir teilen uns in zwei Gruppen. Ich werde den Großen Alb aus der Höhle locken. Er wird sich auf mich stürzen wollen, wahrscheinlich rasend vor Wut, da ich in sein Gebiet eingedrungen bin. Und dann greift ihr von zwei Seiten an.«
Der Plan stieß auf wenig Begeisterung, aber schließlich wurde er doch widerstrebend angenommen, da es keine besseren Vorschläge gab.
Die eine Gruppe, der sich Olinga, Tordo und Sadagar anschlossen, stand unter Nottrs Führung. Die zweite wurde von Aravo angeführt, dem die beiden Frauen zur Seite standen und natürlich Duprel Selamy.
Sie warteten, bis der Gnom die Höhle erreicht hatte. Er winkte sie heran, und sie liefen los. Nottr postierte sich hinter ein paar Steinen auf der rechten Seite, während sich Aravo auf der anderen versteckte.
Nottr hielt in der linken Hand eine Steinaxt und in der rechten das Krummschwert. Tordo und Olinga umklammerten mannslange Lanzen, und Sadagar hielt in jeder Hand eines seiner Wurfmesser.
»Hörst du mich, Alb?« ließ sich der Kleine Nadomir vernehmen. »Komm heraus, du Feigling! Oder traust du dich nicht, du schwacher Zwerg?« Ein trompetenhaftes Tuten war zu vernehmen, das rasch lauter wurde. »Komm schon, winziger Alb! Ich bin da, um dich zu töten, feiger Winzling!«
Sie standen auf und blickten zur Höhle hin, vor der Nadomir stand und weiterhin den Riesen beschimpfte. Plötzlich sprang er ein paar Schritte zurück und riss die Arme hoch, das Zeichen, dass sich der Riese näherte. Rasch wich er weiter zurück.
Das Tuten wurde überlaut, und da rannte auch schon der Riese aus der Höhle.
Für einen Augenblick waren Tordo und Olinga wie gelähmt, dann handelten sie gleichzeitig. Sie rissen die Lanzen hoch und schleuderten sie dem Riesen entgegen. Von der anderen Seite folgten zwei weitere Lanzen. Alle vier bohrten sich in den Oberkörper des Albs, der gequält aufheulte. Mit seinen gewaltigen Händen riss er sich die Lanzen aus dem Körper und zerbrach sie. Nun stürmten alle hervor.
»Konzentriert euch auf die Knie!« schrie Nadomir.
Nottr schlug auf die linke Kniescheibe ein, während sich Xogra und Aravo die rechte mit ihren scharfen Steinäxten vornahmen.
Sadagar wartete, bis sich der Riese etwas bückte, dann warf er ein Messer, das sich in die Stirn bohrte. Wieder heulte der Alb auf. Er versetzte Nottr einen Fußtritt, der den Barbaren durch die Luft wirbeln ließ. Tordo und Olinga schlugen gleichzeitig mit ihren Äxten gegen das linke Schienbein. Nun griffen auch Akagara und Duprel in den Kampf ein.
Der Alb versuchte den wuchtigen Schwert- und Axthieben zu entkommen, benahm sich dabei aber ziemlich dumm. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts, verfolgt von den wild schreienden Jägern, die wie verrückt seine Beine angriffen.
Nun bückte sich aber der Riese und packte Akagara, die ihm ausweichen wollte, jedoch einen Augenblick zu spät handelte. Er griff sie mit seiner riesigen Hand, hob sie hoch über den Kopf und schleuderte die Frau gegen die Felswand, wo sie mit zerbrochenen Gliedern liegenblieb.
Als er nach Nottr griff, erlebte er aber eine unliebsame Überraschung. Der Barbar schlug mit aller Kraft zu und spaltete die linke Hand des Riesen bis zum Handgelenk. Nun sah Sadagar, dass der Daumen die Form eines krallenartigen, nadelspitzen Horns hatte. Die unheimlichen Geräusche, die der Alb von sich gab, kamen aus den schneckenartigen Gebilden.
Verblüfft sah der Riese seine blutende Hand an, da schlug ihm Nottr zwei Zehen ab. Das war zu viel für den Alb. Panikartig ergriff er die Flucht. Damit hatte niemand gerechnet.
»Er wird zurückkommen, sobald er sich von seiner Überraschung erholt hat«, stellte der Kleine Nadomir fest.
Sadagar kniete neben Akagara nieder, doch bei ihr kam jede Hilfe zu spät. Ihr Schädel war zerschmettert. »Sie ist tot«, sagte der Steinmann leise und stand auf.
Der Kleine Nadomir nickte bedauernd. »Komm mit mir, Sadagar! Wir sehen uns die Höhle des Riesen an. Ihr wartet draußen.«
Ein bestialischer Gestank schlug ihnen entgegen. Es roch nach verfaulten Eiern.
So wie in den Tunneln, durch die sie in das Tal des Riesen gelangt waren, wurde auch diese Grotte von einer unbekannten Lichtquelle erhellt, die von der hohen Decke herabstrahlte. Die Höhle war leer. Wasser rann ihnen entgegen.
Der Boden stieg sanft an, und der eklige Geruch verstärkte sich mit jedem Schritt. Die Höhle verjüngte sich langsam und endete in einem schmalen Gang, der nun steil anstieg. Übergangslos standen sie plötzlich in einem riesigen Gewölbe.
Der Gestank wurde so stark, dass sie sich die Nasen zuhielten. Ihre Augen begannen zu tränen.
»Sieh selbst, Sadagar!« sagte der Kleine Nadomir mit versagender Stimme und streckte die linke Hand aus.
Hustend hob Sadagar den Kopf, ließ vor Entsetzen seine Nase los und japste nach Luft.
Von der Decke stürzte das dampfende Schwefelwasser herunter auf Lehmgruben, in denen Dutzende von Alben lagen! Das Wasser brodelte und zischte. Einige der Alben bewegten sich bereits.
»Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte Nadomir. »Der Alb will seine Artgenossen aufwecken, und das müssen wir verhindern.«
»In diese Schlammgruben können wir nicht hinuntersteigen«, meinte Sadagar, »da würden wir nur jämmerlich ertrinken.«
»Wir müssen die Wasserzufuhr unterbrechen. Ich bin sicher, dass dieses schwefelhältige Wasser eine belebende Wirkung auf die Riesen hat.«
»Deine Vermutung dürfte stimmen, Nadomir, aber wie sollen wir vorgehen?«
»Vorerst einmal müssen wir den Großen Alb töten. Und ich habe auch schon eine Idee, wie wir das schaffen können.«
Sadagar hustete wieder und hielt sich die Nasenlöcher zu. Langsam gewöhnte er sich an den furchtbaren Anblick der im Wasser treibenden Riesen.
»Nicht auszudenken, wenn sie plötzlich alle lebendig würden«, hauchte er.
»Du sagst es, mein Freund. Lass uns gehen.«
»Erzähl mir deinen Plan.«
»Warte, ich werde ihn allen erzählen. Außerdem muss ich mir noch einige Dinge dazu überlegen.«
*
Der Große Alb wimmerte vor Schmerzen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt Schmerzen gehabt hatte. Aber er konnte sich überhaupt an kaum etwas erinnern; alles lag so weit zurück.
Verwirrt starrte er seine verletzte Hand an, dann die Wunden an seinen Beinen und Füßen. Die Wunden an der Stirn und der Brust schmerzten ihn kaum.
Er taumelte auf eine der stinkenden Quellen zu und warf sich einfach hinein. Sofort spürte er die belebende, erfrischende Wirkung des Wassers. Behaglich brummend ließ er sich im heißen Wasser treiben.
Soweit er sich zurückerinnern konnte, lebte er in diesem Tal und bewachte seine schlafenden Brüder und Schwestern, denen er täglich ein wenig des lebensnotwendigen Wassers zuführte.
Irgendwann in der fernen Vergangenheit hatte er den Auftrag erhalten, eine Straße zu bauen, die das Tal der Götter mit dem Tal der Riesen verbinden sollte. Dabei halfen ihm die wilden Bergstämme, die ihn fürchteten und anbeteten.
Seine Tage waren einsam gewesen, doch er sehnte sich nicht nach Gesellschaft, wahrscheinlich war er auch deshalb für diese Aufgabe ausgewählt worden. Undeutlich konnte er sich daran erinnern, dass er eine zwingende Stimme gehört hatte, die ihm Befehle erteilte, denen er sich nicht entziehen konnte.
Erst vor ein paar Tagen hatte er die Stimme wieder vernommen, zuerst ganz leise, dann immer deutlicher. Sie war in seinem Kopf gewesen. »Hörst du mich, Großer Alb? Hörst du mich?« Ein leises Wispern nur, sanft und eindringlich.
»Ja, ich höre dich.«
»Gut, Großer Alb. Ist die Straße der Götter fertig?«
»Nein, noch nicht. Es wird noch Jahrhunderte dauern.«
»Du warst langsam, Alb. Zu langsam. Ich werde dich bestrafen. Hörst du mich?«
»Ja, ich höre dich.«
»Das Böse hat gesiegt. Die Mächte des Lichtes werden sterben. Und du wirst mir dabei helfen.«
»Ja, ich werde dir helfen. Was soll ich tun.«
»Weck deine Brüder und Schwestern auf! Wiederhole meinen Befehl!«
»Ich werde meine Brüder und Schwestern aufwecken.«
»Es wird einige Tage dauern, bis sie wach sind. Überstürze nichts, Alb! Handle gewissenhaft und vorsichtig! Ich werde dir bald sagen, was du und deine Geschwister für mich tun müsst. Ihr werdet Furcht und Schrecken unter den Menschen verbreiten und dadurch zur allgemeinen Verwirrung beitragen.« Die Stimme in seinem Kopf lachte dröhnend. »Ich melde mich wieder, Großer Alb.« Da war das Lachen wieder, doch es wurde leiser und verstummte dann.
Sofort war er darangegangen, den Befehl auszuführen. Er hatte die Zufuhr des Wassers langsam verstärkt, und es würde nur mehr einen halben Tag dauern, bis seine Geschwister aus dem langen Schlaf erwachten.
Der Große Alb wurde unruhig und setzte sich im heißen Wasser auf.
Der Königstroll! dachte er und an die schlammbedeckten Gestalten, die ihm die Schmerzen bereitet hatten und jetzt verschwunden waren.
Ruckartig sprang er aus der Quelle und stieß ein wütendes Trompeten aus. Er würde den Troll und die anderen Zwerge töten. Und diesmal würde er sich nicht überraschen lassen. Kichernde Geräusche kamen aus den Schneckenhäusern an seinem Kopf. Er bückte sich und sammelte ein paar große Steine, die er auf seine verletzte Hand legte. Einige größere Brocken drückte er mit dem Unterarm an seinen Leib.
Ich werde sie töten. Ich werde alle töten, dachte er.
Vorsichtig kehrte er zu seiner Höhle zurück, doch er konnte den Troll und seine Gefährten nirgends sehen. Misstrauisch blickte er sich um.
*
»Ich werde den Großen Alb besiegen«, sagte der Kleine Nadomir mit fester Stimme.
»Und wie willst du das anstellen?« erkundigte sich Nottr wenig beeindruckt.
»Die Mächte des Lichtes gehorchen mir«, behauptete der Gnom feierlich. »Ich kann das Tageslicht, aber auch Feuerschein und das Restlicht der Nacht beherrschen.« »Wie nützt dir das?« fragte Olinga neugierig.
»Ich kann mit dem gebündelten Licht Blitze werfen!«
»Wirf mal einen Blitz!« bat Sadagar.
»Nicht jetzt«, wehrte der Troll ab. »Das wäre nur eine unnötige Kraftvergeudung. Ja, meine Fähigkeit geht sogar so weit, dass ich auf dem Licht reiten und große Entfernungen überbrücken kann.«
»Das glaube ich dir nicht«, zweifelte Olinga.
»Ich werde es dir beweisen, Ungläubige. Hört mir zu! Der Große Alb wird sicher zurück in seine Höhle kommen. Ich werde mich im Eingang verstecken. Mein Zauberblitz wird ihn blenden. Dann werde ich ihn von der Höhle fortlocken. Und ihr verfolgt ihn. Kommt, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, denn der Alb kann jeden Moment auftauchen.«
Nadomir hockte sich tief in den Schatten, während sich die anderen in die Höhle zurückzogen. Sie mussten nicht lange warten, bis der Riese erschien. Er sah sich forschend um, zögerte aber, die Höhle zu betreten.
Der Troll richtete sich vorsichtig auf. Dann stellte er sich so, dass er die tief stehende Sonne gut sehen konnte, denn von ihr wollte er sich die Kraft für seine Magie holen.
Der Alb kam langsam näher.
Einen Augenblick lang schloss der Troll die Augen und sammelte all seine Kräfte, dann sprang er ins Sonnenlicht und schlug die Augen auf.
Der Riese stieß ein wütendes Trompeten aus, ergriff mit der unverletzten Hand einen Steinbrocken.
Ein gelbes Licht war plötzlich vor Nadomirs Augen, das einen kurzen Moment sein Gesicht einhüllte. Mit einem donnernden Knall fuhr ein Blitz aus diesen glühenden Augen und raste auf den Riesen zu, der die Steine fallen ließ und sich die Hände schützend vor den Kopf halten wollte. Doch er hatte zu spät reagiert. Der magische Lichtblitz traf sein Gesicht und blendete ihn. Der Riese heulte auf, presste sich die Hände vors Gesicht und taumelte hin und her.
Nadomir riss die Arme hoch und fiel rücklings zu Boden. Auch er hatte sich beide Hände aufs Gesicht gepresst. Seine Beine zuckten.
»Was ist, Nadomir?« fragte Sadagar besorgt und kniete neben dem Gnomen nieder.
»Meine Augen brennen«, stöhnte er. »Ich habe zu viel Kraft in den Blitz gelegt.«
Als er die Hände vom Gesicht nahm, merkte Sadagar, dass es schwarz war, wie von Ruß.
»Hilf mir hoch, Sadagar. Der Riese lebt noch. Ich will ihn für meine Zwecke benutzen.«
Sadagar hob ihn hoch. Der Gnom nickte dankbar und lief hinaus ins Freie. »Hier bin ich, dummer Alb!« kreischte er mit überschnappender Stimme.
Der Riese blieb stehen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Nadomir lief eine Geröllhalde hoch. »Hier bin ich, Alb!«
Der geblendete Riese folgte ihm. Er stolperte über ein paar Steine, stand aber sofort wieder auf.
»Komm doch, fass mich, Alb!«
Der mammutköpfige Riese trompetete seine Wut und seine Schmerzen laut hinaus. Obwohl er nichts sehen konnte, folgte er dem Gnomen. Die anderen hielten sich zurück.
»Was hat er vor?« fragte Olinga leise.
»Ich ahne es«, flüsterte Sadagar. »Er will den Alb höher den Berg hinauflocken. Da er nichts sehen kann, wird er einige der Kanäle und Wasserbrücken zerstören. Aber folgen wir ihm.«
»Beeile dich, Alb. Sonst erwischst du mich nicht.«
Das tierische Schreien des Riesen wurde immer durchdringender. Er war anscheinend nur noch von einem Gedanken beherrscht: den Gnomen zu töten.
Er stolperte über ein paar der Holzleitungen und riss sie aus den Verankerungen. Er achtete nicht auf das kochende Wasser, das über seinen Körper spritzte.
»Hier bin ich«, kicherte der Gnom. Der Riese zertrampelte ein paar Kanäle, dann fiel er nieder, rappelte sich hoch und bekam einen der ausgehöhlten Baumstämme zu fassen, durch den das Wasser strömte. Rasend vor Wut, hob er den Baumstamm hoch und schleuderte ihn nach Nadomir, der spielerisch auswich. Der schwere Stamm krachte auf einen Aquädukt, und ein Teil der Brücke fiel in sich zusammen.
»Du hast mich nicht getroffen, Alb«, spottete der Troll.
Nun drehte der Alb völlig durch. Blindwütig riss er Baumstämme aus den Halterungen und schleuderte sie dorthin, wo er den Gnomen vermutete.
Ein Stützpfeiler des Aquädukts begann zu wanken und neigte sich bedrohlich zur Seite.
Nadomir kletterte die Brücke hoch. »Hörst du mich, armer Alb?«
Blitzschnell eilte Nadomir über die Brücke. Keinen Augenblick zu früh. Wieder schleuderte der Riese einen Baumstamm hoch. Der Pfeiler pendelte hin und her, dann bekam er Risse, und die riesigen Steinbrocken schmetterten auf die Geröllhalde und rutschten talwärts, genau auf den Riesen zu. Er hörte das Krachen der in sich zusammenstürzenden Brücke und wollte fliehen, doch er schaffte es nicht. Die Steinlawine erfasste ihn, begrub ihn und riss ihn mit sich. Staubwolken stiegen in den Himmel. Dann war es still.
»Du hast es geschafft!« brüllte Sadagar erfreut. »Der Große Alb ist tot!«
Nun brüllten alle begeistert durcheinander.
Stolz wie ein König stieg der Gnom zu ihnen herunter.
»Die Wasserzufuhr zur Höhle ist ebenfalls unterbrochen«, jubelte Nadomir. »Die Riesen werden alle sterben.«
Sadagar zog den Gnomen an sich, dann reichte er ihn an Olinga weiter, die ihm einen Kuss auf das geschwärzte Gesicht drückte.
*
Sie hatten in einer der warmen Quellen gebadet. Nun saßen sie vor der Höhle um ein loderndes Feuer, tranken Wasser und aßen die Reste ihrer Vorräte.
»Ich bin nun der alleinige Herrscher über die Götterberge«, sagte Nadomir nachdenklich. »Hier kann ich eine Insel des Lichts erschaffen, auch wenn die übrige Welt in der Finsternis versinkt.«
»Und was wirst du tun, Nadomir?«
Der Gnom blickte nachdenklich ins Feuer.
Sadagar lehnte sich zurück und schloss die Augen halb. Duprel Selamy lag neben ihm und schnarchte. Xogra saß zwischen Tordo und Aravo und war sich anscheinend nicht schlüssig, welchem der beiden sie die Freuden ihres Schoßes gewähren sollte. Die handgreiflichen Zärtlichkeiten der beiden jungen Männer schienen ihr sehr zu gefallen.
Olinga und Nottr waren vor einiger Zeit in der Dunkelheit verschwunden, aber die Geräusche, die Sadagar hörte, waren eindeutig. Nun haben sich die beiden doch noch gefunden, dachte er versonnen.
»Ich habe dich getäuscht, Sadagar«, sagte der Gnom und blickte ihn durchdringend an. »Ich habe mich dir gegenüber als der Kleine Nadomir ausgegeben, der ich aber nicht bin.«
Sadagar setzte sich überrascht auf. »Aber weshalb hast du das getan?«
»Du glaubtest so stark an den Kleinen Nadomir, deshalb gab ich mich für ihn aus.«
»Und wer bist du wirklich?« fragte Sadagar zutiefst enttäuscht.
»Ein Troll«, sagte der Kleine lächelnd. »Sei nicht traurig, mein Freund. Sadagar ist auch nur ein Scheinname. Und was man mit den Augen sieht, ist auch nicht die wahre Natur der Dinge. So, wie das Auge außerstande ist, die Wirklichkeit zu erfassen, so ist auch die Sprache Gorgan unfähig, die Dinge beim wirklichen Namen zu nennen. Nur die Magie kann die wahren Werte bezeichnen, darum ist sie so mächtig. Deshalb ist die Magie die höchste, die schlichtweg vollkommene Wissenschaft.«
»Das verstehe ich nicht, Nado... Wie soll ich dich nun nennen?«
»Nenne mich ruhig weiterhin Nadomir. Mir gefällt der Name. Vielleicht wirst du irgendwann einmal meine Worte verstehen, Sadagar. Ich will dir helfen, denn du hast mir geholfen. Was kann ich für dich tun? Welche Pläne verfolgst du?«
»Ich habe eine Verabredung, die ich gern einhalten würde.«
»Ich bringe dich aus den Bergen heraus. Wohin willst du?«
»Mein Ziel ist der Koloss von Tillorn.«
»Was willst du denn beim Monument des Lichtboten?« fragte der Troll verblüfft.
»Den Sohn des Kometen treffen!«
Schweigend stand der Troll auf und verschwand in der Dunkelheit. Sadagar sah ihm verwirrt nach.