13. Wieder ein anderer

Aus dem Bus steigt eine sonntäglich gekleidete ältere Dame mit einem Wildblumenstrauß im Arm. Langsam und gebeugt trippelt sie durch das Tor des Münchener Waldfriedhofs. Ich konsultiere meinen Lageplan, und als ich wieder aufblicke, ist sie im Gehölz verschwunden. Ich folge dem Kiesweg, doch kaum habe ich die ersten Schritte getan, öffnet der Himmel seine Schleusen. Unter dem Dach einer Roteiche suche ich Schutz vor dem herabprasselnden Regen. Ihre alten Äste knarren und ächzen im Wind, und durch ihre Blätter rauscht ein Strom dunkler Erinnerungen und Phantasien.

Eine halbe Ewigkeit bleibe ich in diesem unheimlichen Szenario gefangen, bis der Regen ebenso schlagartig nachlässt und ich meinen Weg in den Wald fortsetzen kann. Unter seinem grünen Dach weicht meine Anspannung allmählich einem Gefühl der Geborgenheit und Ruhe. Leises Vogelgezwitscher ist zu hören. Steinerne Engel wachen über jeden meiner Schritte. Langsam erschließt sich mir die Schönheit dieses Ortes.

Der Waldfriedhof in einem Münchener Außenbezirk, einer der ersten seiner Art weltweit, ist nicht nach dem üblichen Schema aufgebaut. Statt effizient gerasterter Grabstellen gibt es hier labyrinthische Parkwege und Orte der Ruhe. Grabsteine und Gruften fügen sich organisch in die Landschaft ein, wie auch der Tod unauflöslich Teil der Natur ist. Dieser Ort gehört ebenso sehr den Lebenden wie den Toten.

Der Kiesweg führt mich zu einem kleinen, mit einer Sandsteinmauer abgegrenzten Familiengrab. Unter einem Mauervorsprung hängt, wie in vielen bayerischen Haushalten, ein Kruzifix. In Frakturschrift ist der Name Dr. Heinrich Ernst Göring, »kaiserlich deutscher Ministerresident«, in den Stein gemeißelt; direkt darunter steht seine Frau Franziska Göring, geborene Tiefenbrunn. Und ganz unten am Fuß des Grabsteins entdecke ich schließlich ihren Sohn: Albert Göring, Ingenieur, geboren am 9. März 1895, gestorben am 20. Dezember 1966. Nirgendwo sonst kann ich ihm so nahe sein, dem Mann, den ich nie kennenlernen durfte und doch so gut kenne.

Ich bin hierhergekommen, um ihm meine Reverenz zu erweisen und um Lebewohl zu sagen. Drei Jahre lang bin ich mit ihm um die Welt gereist, als Schüler, der den Spuren seines Lehrers folgt. Mit ihm habe ich verrauchte Cabarett-Klubs und Künstlercafés kennengelernt. Er hat mit mir im Zentrum einer aufgebrachten Wiener Menschenmenge am Boden gekniet und für die alten jüdischen Frauen das Pflaster geschrubbt. Ich habe seine ungläubige Wut erlebt, als seine zivilisierten Mitmenschen zu Schlägern und Verbrechern wurden, Hermanns Büro vor mir gesehen, in dem über Leben und Tod entschieden wurde. Alberts angstverzerrtes Gesicht, wenn ihm die Gestapo auf den Fersen war. Seine Zigarettenspitze und seine Filmstarqualitäten. Und seine Liebe zum Kaffee – der Duft einer guten, starken Tasse Kaffee wird mich mein Leben lang an Albert Göring erinnern.

Dennoch kommt es mir falsch und ungerecht vor, dass es nur diesen einen Erinnerungsort für Albert Göring gibt. Anders als für Oskar Schindler und Raoul Wallenberg wurde für ihn kein Baum in Yad Vashem gepflanzt. Es gibt kein Museum, das uns von seinen Taten erzählt. Dieses Eckchen moosbewachsenen Sandsteins ist das einzige Bauwerk, das ihm gewidmet ist.

Das Unwetter hat sich verzogen; es fegt jetzt über das Stadtzentrum hinweg und hinterlässt einen weißblauen Himmel und den frischen Duft nach Regen über dem Göring’schen Familiengrab. Über Tannennadeln und nasses Laub trete ich näher heran und stelle fest, dass etwas fehlt. Nirgends findet sich ein Hinweis auf das bekannteste Mitglied der Familie.

Am 15. September 1946 wurde Hermann Görings Leiche am Boden seiner Zelle in Nürnberg gefunden. Manche vertreten die Ansicht, er habe die Kapsel mit Kaliumzyanid, mit der er Selbstmord beging, schon seit seiner Verhaftung in einer Cremedose mit sich geführt; andere haben einen der Wärter als Mithelfer unter Verdacht. Als Hermann Göring zum Tode verurteilt wurde, wollte er wie ein Soldat vor ein Erschießungskommando treten. Dieser Wunsch wurde ihm verweigert. Göring sollte wie seine Mittäter hängen, doch kurz vor dem Termin mit dem Henker spielte er seine letzte Trumpfkarte aus. Sein lebloser Körper, dem ein Auge wie von einem eingefrorenen Zwinkern halb offen stand, wurde in den Exekutionsraum gebracht. Viele verdutzte, rote Gesichter blickten ihm entgegen, und das röteste gehörte Colonel Burton C. Andrus, dem Gefängniskommandanten, der so stolz auf seine umfassenden Vorbeugungsmaßnahmen gegen Selbstmord gewesen war. Noch im Tod hatte Hermann Göring einen Volltreffer gelandet. Dann, kurz nach Mitternacht, wurde Görings Leiche zusammen mit denen anderer NS-Größen in ein Münchener Krematorium gebracht. Seine Asche wurde am selben Tag in den kaum drei Meter breiten Conwentzbach255 gestreut. Von dort floss sie in die Isar, durch Münchens Innenstadt und den Englischen Garten, ostwärts durch das ländliche Bayern, bis sie vielleicht in die Donau gespült und von ihr durch Wien und Bratislava, Budapest und Belgrad ins Schwarze Meer getragen wurde.

Ich beuge mich zu der grün angelaufenen kupfernen Grabplatte hinunter, die mit kreuzförmigen Messingbolzen verankert ist, und kratze ein wenig Schmutz beiseite. Nach und nach kommt das eingravierte Porträt eines Soldaten mit Tropenhelm und Gewehr zum Vorschein. Das muss der Reichskommissar Heinrich Göring sein, wie er im Namen des Kaisers die Grenzen Deutsch-Südwestafrikas erweiterte. Sein Abbild wird zu beiden Seiten von einer kaum mehr leserlichen Inschrift flankiert, die in Fraktur das Familienmotto der Görings zum Ausdruck bringt. Links ist zu lesen: »Wir sind nicht von denen, die da weichen«, und rechts steht: »sondern von denen, die da glauben.«

Bei diesem Anblick verstehe ich unmittelbar, warum Albert und Hermann Göring, als sie beim Begräbnis ihres Vaters vor eben diesem Grabmal standen, Tränen der Reue in die Augen traten. Zu spät erkannten sie, was für ein großer Mann ihr Vater gewesen war. Auch sie wollten die Tradition ihrer Vorväter würdig vertreten. Sie wollten der Stolz ihres Vaters und ihrer Familie sein. Und gingen dabei so unterschiedliche Wege: Hermanns endete in einem schlammigen Rinnsal in München, während Alberts Weg zu diesem Grabmal zurückführte und sich in die Leben derer einschrieb, denen er begegnete – auch in meins.

Albert Görings Selbstlosigkeit und der Mut, den er in finsteren Zeiten bewies, haben wenig Anerkennung erfahren; es gibt keine Orden und Auszeichnungen in seinem Namen. Ganz im Gegenteil, seine Taten wurden zur bloßen Fußnote in der Lebensgeschichte seines Bruders degradiert. Wer sich jedoch die Mühe macht, den Wegen zu folgen, die er uns aufgezeigt hat, und die Lebensgeschichten derer nachzuzeichnen, denen er half, entdeckt die Umrisse eines eindrucksvollen, wenn auch ungewöhnlichen Familienstammbaums. Seine Verästelungen sind nicht durch Erblinien verbunden, sondern durch das Wirken eines Menschen, der das Überleben der Familienmitglieder sicherstellte: Albert Göring. Auf meiner Reise habe ich Ärzte und Regisseure kennengelernt, Wissenschaftler und Politiker, Geschäftsgründer und Musiker, Adlige und Universitätsprofessoren, die alle mit Albert in Berührung gekommen sind.

Zu Lebzeiten wurde Albert Göring als Außenseiter abgestempelt, als Nationalsozialist, Frauenheld, Kriegsverbrecher und Lebemann, doch die Nachwelt sieht ihn anders: als Patriarchen einer weltumspannenden Familie, die aus hunderten Überlebenden und ihren Nachfahren besteht. Allmählich begreife ich, dass dieses Grab, dieser Abschied nicht das Ende ist.

 

Nichts geht verloren in dieser Welt,

es hat nur immer wieder ein anderer.