3. Teil
DUNKLE ZEITEN
».. .draußen in der Stadt, mit zwei Häuten.
Leder und Fleisch.
Drei, wenn man die Vorhaut mitzählt. Und alle sind heute nacht ausgegangen, um angefaßt zu werden, Yessir!
Alle sind bereit, heute nacht gerieben und liebkost und geliebt zu werden, Yessir!«
CHARLES KYD
Hanging by a thread
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XI
Der Ort der Pirsch
l
Während Lori nach Shere Neck zurückfuhr, das Radio ohrenbetäubend laut gestellt, um ihre eigene Existenz zu bestätigen und zu verhindern, daß sie abschweifte, wurde sie mit jeder Meile überzeugter, daß sie trotz aller Versprechen nicht imstande sein würde, das Erlebnis vor Sheryl zu verheimlichen. War es nicht überdeutlich in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme? Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch als grundlos. Entweder konnte sie besser verheimlichen, als sie gedacht hatte, oder Sheryl war nicht so sensibel. Wie auch immer, Sheryl stellte nur die oberflächlichsten Fragen über Loris neuerlichen Besuch in Midian, bevor sie selbst von Curtis sprach.
»Ich möchte, daß du ihn kennenlernst«, sagte sie, »nur um sicherzugehen, daß ich nicht träume.«
»Ich fahre nach Hause, Sheryl«, sagte Lori.
»Aber sicher nicht heute abend. Es ist spät.«
Sie hatte recht; es war schon so spät am Tage, daß Lori nicht mehr an die Heimfahrt denken konnte. Und sie hatte auch keinen plausiblen Grund, Sheryls Einladung abzulehnen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
»Du wirst dir nicht wie das fünfte Rad am Wagen vor-kommen, das verspreche ich dir«, sagte Sheryl. »Er hat gesagt, daß er dich kennenlernen möchte. Ich habe ihm alles von dir erzählt. Nun... nicht alles. Aber genug, du weißt schon, wie wir uns kennengelernt haben.« Sie machte ein hilfloses Gesicht. »Sag, daß du mitkommen wirst«, bat sie.
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»Ich komme mit.«
»Großartig! Ich werde ihn sofort anrufen.«
Während Sheryl telefonierte, duschte Lori. Binnen zwei Minuten erhielt sie Nachricht von den Plänen für den Abend.
»Wir treffen uns um acht in einem Restaurant, das er kennt«, polterte Sheryl. »Er wird sogar noch einen Freund für dich auftreiben...«
»Nein, Sheryl...«
»Ich glaube, er hat nur Spaß gemacht«, lautete die Antwort. Sheryl erschien unter der Badezimmertür. »Er hat einen merkwürdigen Humor«, sagte sie. »Weißt du, wenn man nicht sicher ist, ob jemand einen Witz macht oder nicht? So ist er.«
Großartig, dachte Lori, ein gescheiterter Komödiant.
Aber es hatte etwas unbestreitbar Tröstliches, zu Sheryl und ihrer kindlichen Leidenschaft zurückzukehren. Ihr endloses Gerede von Curtis – das Lori nicht mehr vermittelte als das Straßenmalerporträt eines Mannes; nur Oberfläche, keinerlei Einsichten – war die perfekte Ablenkung von Gedanken an Midian und seine Enthüllungen. Der Spätnachmittag war so sehr von Heiterkeit und den Ritualen erfüllt, sich auf einen Abend in der Stadt vorzubereiten, daß sich Lori einmal sogar fragte, ob das, was auf dem Friedhof geschehen war, keine Halluzination gewesen sein konnte. Aber sie hatte Beweise, die ihre Erinnerungen bestätigten: den Schnitt neben dem Mund, den der schnappende Ast erzeugt hatte. Es war ein winziges Zeichen, aber der heftige Schmerz hielt sie davon ab, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Sie hatte Midian besucht. Sie hatte den Gestaltveränderer in den Armen gehalten, und sie hatte auf der Treppe der Gruft gestanden und in ein so umfassendes Miasma hinabgesehen, daß es den Glauben eines Heiligen hätte verderben können.
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Die unheilige Welt unter dem Friedhof war zwar von Sheryl und ihren Wildfangroma nzen so weit entfernt wie die Nacht vom Tag, aber deshalb nicht weniger wirklich.
Mit der Zeit würde sie diese Wirklichkeit einsehen und einen Platz für sie finden müssen, obwohl sie sämtliche Vernunft und sämtlicher Logik widersprach. Vorläufig würde sie sie nur in der Erinnerung behalten, mit dem Schnitt als Wächter, und die Freuden des vor ihr liegenden Abends genießen.
2
»Es ist ein Witz«, sagte Sheryl, als sie vor dem Hudson Bay Sunset standen. »Habe ich dir nicht gesagt, daß er den sonderbarsten Humor hat?«
Das Restaurant, das er ihnen genannt hatte, war vor mehreren Wochen völlig niedergebrannt, wie man dem Zustand der Schlacke entnehmen konnte.
»Bist du sicher, daß du die richtige Adresse hast?«
fragte Lori. Sheryl lachte.
»Ich sage dir, das ist einer seiner Witze«, sagte sie.
»Dann haben wir jetzt gelacht«, sagte Lori. »Und wann bekommen wir etwas zu essen?«
»Er beobachtet uns wahrscheinlich«, sagte Sheryl, deren Heiterkeit etwas gezwungen wirkte.
Lori sah sich nach einer Spur des Voyeurs um. Zwar gab es auf den Straßen einer Stadt wie dieser normalerweise nichts zu fürchten, nicht einmal am Samstagabend, aber die Gegend war alles andere als vertrauenserweckend.
Alle anderen Geschäfte in dem Viertel waren geschlossen
– einige für immer –, die Gehwege waren in beide Rich-107
tungen völlig verlassen. Keine Umgebung, wo sie verweilen wollte.
»Ich sehe ihn nicht«, sagte sie.
»Ich auch nicht.«
»Was machen wir jetzt?« fragte Lori und bemühte sich nach besten Kräften, jede Spur Gereiztheit aus ihrer Stimme herauszuhalten. Wenn sich Curtis der Schöne so einen Spaß vorstellte, dann mußte man an Sheryls gutem Geschmack zweifeln; aber wer war sie schon, sich ein Urteil anzumaßen, hatte sie doch einen Psychopathen geliebt und verloren.
»Er muß hier irgendwo sein«, sagte Sheryl hoffnungs-voll. »Curtis?« rief sie und stieß die versengte Tür auf.
»Warum warten wir nicht hier draußen auf ihn, Sheryl?«
»Er ist wahrscheinlich da drinnen.«
»Das Haus könnte gefährlich sein.«
Ihr Flehen blieb ungehört.
»Sheryl.«
»Ich kann dich hören. Alles klar.« Sie war bereits im Dunkel des Hauses verschwunden. Der Gestank von verbranntem Holz und Stoff stach Lori in die Nase.
»Curtis?« hörte sie Sheryl rufen.
Ein Auto mit schlecht eingestelltem Motor fuhr vorbei.
Der Beifahrer, ein vorzeitig kahl gewordener junger Mann, lehnte sich zum Fenster heraus.
»Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke«, rief Lori zurück; sie war nicht sicher, ob die Frage Kleinstadthöflichkeit oder Anmache war. Wahrscheinlich letzteres, entschied sie, während das Auto beschleunigte und weiterfuhr, die Leute waren überall gleich. Ihre Stimmung, die sich sprunghaft verbessert hatte, seit sie wieder in Sheryls Gesellschaft war, schlug rasch in Verdrossenheit um. Es gefiel ihr nicht, auf dieser 108
einsamen Straße zu stehen, während der letzte Rest Tageslicht erlosch. Die Nacht, die immer ein Ort der Versprechen gewesen war, gehörte zu sehr der Brut, die sogar ihren Namen für sich selbst genommen hatte. Warum auch nicht? Letztendlich war jegliche Dunkelheit nur eine einzige Dunkelheit. In eben diesem Augenblick würden sie in Midian mit dem sicheren Wissen, daß ihnen das Licht der Sterne nichts anhaben konnte, die Türen der Mausoleen aufschieben. Sie erschauerte bei dem Gedanken.
Sie hörte einen Automotor in einer Seitenstraße aufheu-len, dröhnen, dann das Quietschen von Bremsen. Kamen die guten Samariter noch einmal her, um sich umzusehen?
»Sheryl?« rief sie. »Wo bist du?«
Der Witz, wenn es ein Witz gewesen war, und nicht Sheryls Irrtum – hatte längst sein fragwürdiges bißchen Humor verloren. Sie wollte ins Auto einsteigen und fahren, zurück zum Hotel, wenn es sein mußte.
»Sheryl? Bist du da?«
Aus dem Gebäudeinneren drang Gelächter; Sheryls gurgelndes Gelächter. Lori argwöhnte eine Mitwisserschaft an diesem Fiasko und trat durch die Tür, um nach den Witzbolden zu suchen.
Das Lachen ertönte erneut, dann verstummte es, als Sheryl sagte:
»Curtis«, in einem Tonfall gespielter Indigniertheit, der zu weiterem albernem Gelächter verkam. Also war der große Liebhaber doch hier. Lori spielte mit dem Gedanken, wieder auf die Straße zu gehen, ins Auto einzusteigen, und sie ihren verdammten dummen Spielchen zu überlassen.
Aber der Gedanke an einen Abend allein im Hotelzimmer, wo sie neuerlichem Partylärm lauschen mußte, trieb sie durch den Hindernisparcours verbrannter Möbelstücke.
Hätten die hellen Bodenkacheln das Licht von der Straße nicht reflektiert und zum Gitter der Dachbalken hochge-109
worfen, hätte sie wahrscheinlich nicht riskiert, weiter zu gehen. Aber sie konnte vor sich vage einen Türbogen sehen, durch den Sheryls Lachen geklungen hatte. Darauf ging sie zu. Es war völlig still geworden. Sie beobachteten jeden ihrer zögernden Schritte. Sie konnte ihre wachsa-men Blicke spüren.
»Kommt schon, Leute«, sagte sie. »Der Scherz ist vorbei. Ich habe Hunger.«
Keine Antwort. Sie hörte hinter sich, auf der Straße, die Samariter rufen. Rückzug war nicht ratsam. Sie ging weiter und trat durch den Bogen.
Ihr erster Gedanke war: Er hatte nur eine halbe Lüge erzählt; dies war ein Restaurant. Ihre Erkundung hatte sie in eine Küche geführt, in der das Feuer wahrscheinlich seinen Anfang genommen hatte. Auch dieser Raum war weiß gekachelt, die Oberflächen waren rußbeschlagen, aber immer noch hell genug, daß das gesamte Innere, das groß war, seltsam erleuchtet wurde. Sie stand unter der Tür und betrachtete das Zimmer. Der größte Herd stand in der Mitte, über ihm hingen immer noch reihenweise funkelnde Küchenutensilien, die ihren Sehbereich ein-schränkten. Die Witzbolde mußten sich auf der anderen Seite des Hindernisses verstecken; es war das einzige Versteck, das der Raum bot.
Trotz ihrer Angst spürte sie hier ein Echo unvergessener Versteckspiele. Das erste Spiel, weil es das einfachste ist. Wie sehr es ihr gefallen hatte, sich von ihrem Vater erschrecken, suchen und finden zu lassen. Wenn er nur jetzt auch hier versteckt wäre, dachte sie, und darauf warten würde, sie in den Arm zu nehmen. Aber er war schon vor langer Zeit an Kehlkopfkrebs gestorben.
»Sheryl?« sagte sie. »Ich gebe auf. Wo bist du?«
Noch während sie sprach, führten ihre Schritte sie zu einem der Mitspieler, und da hörte das Spiel auf.
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Sheryl versteckte sich nicht; es sei denn, der Tod wäre ein Versteck gewesen. Sie lehnte an dem Herd, die Dunkelheit um sie herum war zu feucht, um ein Schatten zu sein; ihr Kopf war nach hinten gesunken, das Gesicht aufgeschlitzt.
»Großer Gott.«
Hinter Lori ein Geräusch. Jemand kam, um nach ihr zu suchen. Zu spät, sich zu verstecken. Sie würde erwischt werden. Aber nicht von liebenden Armen, nicht von ihrem Vater, der das Monster spielte. Dies war das Monster selbst.
Sie drehte sich um, um das Gesicht zu sehen, bevor er sie umbrachte, aber es war eine Nähkästchenpuppe, die auf sie zukam: Reißverschluß als Mund, Knöpfe als Augen, alles auf weißes Leinen genäht und so eng um den Kopf des Monsters gebunden, daß Speichel einen dunklen Fleck um seinen Mund herum bildete. Das Gesicht bekam sie nicht zu sehen, wohl aber die Zähne. Diese hielt er über den Kopf, funkelnde Messer, die Klingen fein wie Grashalme, die herniederstießen, um ihr die Augen auszustechen. Sie warf sich aus ihrer Reichweite heraus, aber er war innerhalb weniger Augenblicke wieder hinter ihr her, der Mund hinter dem Reißverschluß rief ihren Namen.
»Bringen wir es hinter uns, Lori.«
Die Klingen kamen wieder auf sie zu, aber sie war schneller. Die Maske schien es nicht eilig zu haben; er näherte sich ihr mit gemessenen Schritten, und seine Selbstsicherheit war obszön.
»Sheryl hat es richtig gemacht«, sagte er. »Sie stand einfach da und ließ es geschehen.«
»Scher dich zum Teufel.«
»Vielleicht später.«
Er strich mit einer Klinge über die Reihe aufgehängter Töpfe, erzeugte Quietschen und Funken.
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»Später, wenn du kälter bist.«
Er lachte, der Reißverschluß klaffte.
»Darauf kann man sich freuen.«
Sie ließ ihn reden, während sie überlegte, welche Fluchtmöglichkeiten ihr offenstanden. Keine gute Nachrichten. Der Notausgang war von verkohlten Balken versperrt; ihr einziger Ausweg war der Torbogen, durch den sie hereingekommen war, und zwischen ihm und ihr stand die Maske und wetzte die Zähne.
Er kam wieder auf sie zu. Keine Spötteleien mehr; die Zeit zu reden war vorbei. Während er sich ihr näherte, dachte sie an Midian. Sie hatte seine Schrecken sicher nicht überlebt, um sich von einem einsamen Psycho zerstückeln zu lassen.
Zum Teufel mit ihm!
Während die Messer auf sie zuglitten, zog sie eine Pfanne vom Regal über dem Herd und riß sie hoch, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Sie traf ins Zentrum. Ihre Kraft schockierte sie. Die Maske strauchelte und ließ eine von ihren Klingen fallen. Aber hinter dem Leinen war kein Laut zu hören. Er wechselte lediglich das verbliebene Messer von der rechten in die linke Hand, schüttelte den Kopf, als wollte er sein Singen beenden, und kam hastig wieder auf sie zu. Sie hatte kaum Zeit, die Pfanne zu ihrer Verteidigung zu heben. Die Klinge glitt daran ab und in ihre Hand. Einen Augenblick kamen weder Schmerzen noch Blut. Dann aber beides im Überfluß, und die Pfanne fiel ihr aus den Händen und vor die Füße. Jetzt gab er einen Laut von sich, einen gurrenden Laut, und die Haltung seines Kopfes zeigte, daß er das Blut betrachtete, das aus der Wunde rann, die er ihr beigebracht hatte.
Sie sah zur Tür und schätzte die Zeit, die sie brauchen würde, um vor ihm dorthin zu kommen. Doch bevor sie handeln konnte, begann die Maske ihre letzte Annähe-112
rung, Das Messer war nicht erhoben. Und auch seine Stimme nicht, als er sprach.
»Lori«, sagte er. »Wir müssen miteinander reden.«
»Bleiben Sie mir verdammt vom Leibe.«
Zu ihrem Erstaunen gehorchte er ihrem Befehl. Sie nutzte die wenige Zeit, um sein anderes Messer vom Boden aufzuheben. Sie war mit der unverletzten Hand weniger geübt, aber er war ein großes Ziel. Nun könnte sie zustechen, am besten mitten ins Herz.
»Damit habe ich Sheryl getötet«, sagte er. »Ich an Ihrer Stelle würde das weglegen.«
Der Stahl lag glitschig in ihrer Handfläche.
»Ja, das hat die kleine Sheryl aufgeschlitzt, von einem Ohr zum anderen«, fuhr er fort. »Und jetzt sind Ihre Fingerabdrücke überall darauf. Sie hätten Handschuhe anziehen sollen, so wie ich.«
Der Gedanke, was das Messer angerichtet hatte, ekelte sie, aber sie wollte es nicht fallen lassen und unbewaffnet dastehen.
»Sie könnten natürlich immer noch Boone die Schuld geben«, sagte die Maske. »Der Polizei sagen, daß er es getan hat.«
»Woher wissen Sie von Boone?« sagte sie. Hatte Sheryl nicht geschworen, sie hätte ihrem Schwärm nichts gesagt?
»Wissen Sie, wo er ist?« fragte die Maske.
»Er ist tot«, antwortete sie.
Das verneinte das Nähkästchengesicht mit einem Kopfschütteln.
»Nein, ich fürchte nicht. Er stand auf und wandelte.
Gott allein weiß, wie. Aber er stand auf und wandelte.
Können Sie sich das vorstellen? Der Mann war mit Kugeln vollgepumpt. Sie haben das Blut gesehen, das er vergossen hat...«
Er hat uns die ganze Zeit beobachtet, dachte sie. Er ist uns 113
gleich am ersten Tag nach Midian gefolgt. Aber warum?
Den Sinn dessen begriff sie nicht; warum?
»...das viele Blut, die vielen Kugeln, und trotzdem wollte er nicht tot liegenbleiben.«
»Jemand hat den Leichnam gestohlen«, sagte sie.
»Nein«, lautete die Antwort. »So war es nicht.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Gute Frage. Kein Grund, warum Sie keine Antwort darauf bekommen sollten.«
Seine Hand griff zum Gesicht und zog die Maske ab.
Darunter befand sich Deckers lächelndes und schwitzendes Gesicht.
»Ich hätte meine Kamera mitbringen sollen«, sagte er.
»Ihr Gesichtsausdruck.«
Sie konnte sich nicht verstellen, obwohl es ihr mißfiel, ihn zu erheitern. Sie sperrte schockiert den Mund auf, wie ein Fisch. Decker war Curtis, Sheryls Mister Right.
»Warum?« wollte sie wissen.
»Warum was?«
»Warum haben Sie Sheryl getötet?«
»Aus demselben Grund, weshalb ich alle anderen getö-
tet habe«, sagte er leichthin, als hätte ihn die Frage nicht weiter bedrückt. Dann todernst: »Aus Spaß natürlich. Aus Vergnügen. Wir haben uns viel über das Warum unterhalten, Boone und ich. Haben tief gegraben, wissen Sie; haben versucht zu verstehen. Aber wenn man der Sache wirklich auf den Grund geht, mache ich es einfach, weil es mir Spaß macht.«
»Boone war unschuldig.«
»Ist unschuldig, wo immer er sich versteckt. Und das ist ein Problem, weil er den wahren Sachverhalt kennt, und er könnte eines Tages jemanden finden und von der Wahrheit überzeugen.«
»Sie möchten ihn also aufhalten?«
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»Würden Sie das nicht tun? Nach all der Mühe, die ich mir gemacht habe, damit er als Schuldiger stirbt. Ich habe ihm sogar selbst eine Kugel verpaßt, und trotzdem steht er auf und wandelt.«
»Sie haben mir gesagt, er sei tot. Sie waren sicher.«
»Die Leichenhalle wurde von innen aufgeschlossen.
Haben sie Ihnen das nicht gesagt? Seine Fingerabdrücke waren auf der Klinke, seine Fußabdrücke auf dem Boden: Haben sie Ihnen das gesagt? Nein, natürlich nicht. Aber ich sage es Ihnen. Ich weiß es. Boone lebt. Und Ihr Tod wird ihn aus seinem Versteck locken, da bin ich ganz sicher. Er wird sich zeigen müssen.«
Während er sprach, hob er langsam das Messer.
»Und sei es nur, um zu trauern.«
Plötzlich kam er auf sie zu. Sie pflanzte das Messer, das Sheryl getötet hatte, zwischen sich und ihn. Das verlang-samte ihn, aber er blieb nicht stehen.
»Könnten Sie es wirklich tun?« sagte er zu ihr. »Ich glaube nicht. Und ich spreche aus Erfahrung. Die Leute sind zimperlich, selbst wenn ihr Leben auf dem Spiel steht.
Und dieses Messer wurde schon an der armen Sheryl stumpf gemacht. Sie müßten wirklich bohren, um eine Spur in mir zu hinterlassen.«
Er sprach beinahe verspielt, während er immer noch näherkam. »Ich würde aber gerne sehen, wie Sie es versuchen«, sagte er. »Würde ich wirklich gerne. Würde gerne sehen, wie Sie es versuchen.«
Sie sah aus dem Augenwinkel, daß sie sich gestapelten Tellern genähert hatte, die sich nur Zentimeter von ihrem Ellbogen entfernt befanden. Sie fragte sich, ob sie ihre Zeit genug verschaffen konnten, zur Tür zu gelangen. Bei einem Kampf Messer gegen Messer mit diesem Wahnsinnigen würde sie zweifellos verlieren. Aber noch konnte sie ihn überlisten.
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»Los doch. Versuchen Sie es. Töten Sie mich, wenn Sie können. Für Boone. Für den armen, verrückten Boone...«
Als die Worte zu Gelächter wurden, warf sie die verletzte Hand um den Tellerstapel, zog ihn heran und schleuderte die Teller vor Decker auf den Boden. Ein zweiter Stapel folgte, dann ein dritter; Porzellanscherben flogen in alle Richtungen. Er wich einen Schritt zurück, die Hände schnellten vors Gesicht, um es zu schützen, und sie nutzte die Chance, solange sie sich noch bot, und raste zum Durchgang. Sie war schon im Restaurant selbst, bevor sie seine Verfolgung hörte. Bis dahin hatte sie aber soviel Vorsprung, daß sie die Tür ins Freie erreichen und sich nach draußen auf den Gehweg werfen konnte. Dort drehte sie sich sofort zu der Tür herum, durch die er kommen würde, aber er hatte nicht die Absicht, ihr ins Licht zu folgen.
»Schlaues Flittchen«, sagte er aus der Dunkelheit.
»Aber ich erwische dich. Wenn ich Boone habe, komme ich dich erledigen. Du kannst deine Atemzüge bis dahin zählen.«
Sie wich, ohne einen Blick von der Tür zu lassen, den Gehweg entlang zum Auto zurück. Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie immer noch die Mordwaffe trug und ihr Griff so fest war, daß sie fast angeklebt zu sein schien. Sie hatte keine andere Wahl, als sie mitzunehmen und, zusammen mit ihren Beweisen, der Polizei zu übergeben. Als sie beim Auto war, machte sie die Tür auf, stieg ein und nahm den Blick erst von dem ausgebrannten Gebäude, nachdem sie die Verriegelung betätigt hatte. Dann warf sie das Messer vor dem Beifahrersitz auf den Boden, ließ den Motor an und fuhr davon.
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3
Die Möglichkeiten, die sie hatte, liefen auf folgendes hinaus : die Polizei oder Midian. Eine Nacht der Verhöre, oder eine Rückkehr zum Friedhof. Entschied sie sich für ersteres, würde sie Boone nicht warnen können, daß Decker hinter ihm her war. Aber angenommen, Decker hätte gelogen und Boone hätte die Kugeln nicht überlebt?
Sie würde nicht nur vom Schauplatz eines Verbrechens fliehen, sondern sich überdies in Reichweite der Nachtbrut begeben, und das vollkommen sinnlos.
Gestern hätte sie sich noch entschieden, zum Gesetz zu gehen. Sie hätte sich darauf verlassen, daß sein Vorgehen sämtliche Geheimnisse aufklären würde; daß sie ihre Geschichte glauben und Decker der Gerechtigkeit überant-worten würden. Aber gestern hatte sie auch noch geglaubt, daß Tiere Tiere waren, und Kinder Kinder; sie hatte gedacht, daß nur die Toten in der Erde lebten, und daß sie dort ihren Frieden hatten. Sie hatte gedacht, Doktoren, Ärzte würden heilen; und daß, wenn einem Wahnsinnigen die Maske abgenommen würde, sie sagen würde: »Aber natürlich, das ist das Gesicht eines Wahnsinnigen.«
Alles war falsch; alles war so falsch. Die gestrigen Überzeugungen waren vom Winde verweht. Alles konnte wahr sein.
Boone konnte noch am Leben sein.
Sie fuhr nach Midian.
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XII
Oben und unten
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Auf dem Highway wurde sie von Visionen heimgesucht
– Nachwirkungen des Schocks und des Blutverlusts ihrer verbundenen, aber verletzten Hand. Wie Schnee wehte es gegen die Windschutzscheibe helle Flocken, für die das Glas kein Hindernis war und die heulend an ihr vorbeisausten. Der Traumzustand wurde schlimmer, sie sah Gesichter auf sich zufliegen und lebende, Föten gleiche Kommata, die flüsterten, während sie vorbeitorkelten. Das Schauspiel beunruhigte sie nicht, ganz im Gegenteil. Es schien ein Szenario zu bestätigen, das ihr halluzinierender Verstand ausgearbeitet hatte: daß sie, wie Boone, ein auserwähltes Leben führte.
Nichts konnte ihr ein Leid zufügen, heute nacht nicht.
Die Hand mit der Schnittwunde war inzwischen so taub, daß sie das Lenkrad nicht mehr halten konnte, daher mußte Lori einhändig und mit überhöhter Geschwindigkeit auf der unbeleuchteten Straße fahren, aber das Schicksal hatte sie nicht Deckers Angriff überleben lassen, nur um sie auf dem Highway umzubringen.
Wiedervereinigung lag in der Luft. Darum kamen die Visionen, rasten in die Scheinwerfer und hüpften über das Auto, wo sie zu weißem Lichterregen zerplatzten. Sie hießen sie willkommen.
In Midian.
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2
Einmal sah sie in den Rückspiegel und glaubte, ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern hinter sich zu sehen, aber als sie noch einmal hinsah, war es verschwunden.
Vielleicht war es nie dagewesen. Vor ihr lag die Stadt, deren Häuser von ihren Scheinwerfern geblendet wurden. Sie fuhr durch die Hauptstraße bis zur Friedhofs-pforte.
Die vereinten Wirkungen von Blutverlust und Erschöp-fung hatten jegliche Furcht vor diesem Ort gedämpft.
Wenn sie die Bosheit der Lebenden überstehen konnte, dann konnte sie sicher auch die Toten überleben, oder ihre Gefährten. Und Boone war dort; diese Hoffnung hatte sich zur Gewißheit erhärtet, während sie fuhr. Boone war dort, und sie würde ihn endlich in die Arme nehmen können.
Sie stolperte aus dem Auto und wäre beinahe flach aufs Gesicht gefallen.
»Steh auf«, sagte sie zu sich.
Die Lichter kamen immer noch auf sie zu, obwohl sie sich nicht mehr bewegte, aber inzwischen waren alle Spuren von Einzelheiten verschwunden.
Nur noch die Helligkeit war da, und ihre Heftigkeit drohte, die ganze Welt fortzuspülen. Da sie wußte, daß der völlige Zusammenbruch kurz bevorstand, schleppte sie sich zum Tor und rief Boones Namen. Sie bekam auf der Stelle eine Antwort, aber nicht die, die sie erhofft hatte.
»Er ist hier?« sagte jemand. »Boone ist hier?«
Sie klammerte sich an das Tor, drehte den bleischweren Kopf und sah Decker in der Gischt des Lichts wenige Meter von ihr entfernt stehen. Hinter ihm sein unbeleuch-119
tetes Auto. Ihr wurde selbst in ihrem benommenen Zustand klar, wie sehr sie manipuliert worden war.
Decker hatte sie entkommen lassen, weil er wußte, sie würde seinen Gegner aufsuchen.
»Dummkopf!« sagte sie zu sich.
»Nun, ja. Aber was sollten Sie schon tun? Sie haben zweifellos gedacht, Sie könnten ihn retten.«
Sie hatte weder Kraft noch Denkvermögen, dem Mann Widerstand zu leisten. Sie ließ das stützende Tor los und taumelte in den Friedhof.
»Boom!« rief sie. »Boone!«
Decker verfolgte sie nicht hastig; er hatte keinen Grund dazu. Sie war ein verwundetes Tier, das nach einem anderen verwundeten Tier suchte. Sie schaute hinter sich und sah, wie er im Licht der Straßenlampe seine Pistole überprüfte. Dann stieß er das Tor weiter auf und machte sich an die Verfolgung.
Durch die platzenden Lichter in ihrem Kopf konnte sie kaum die Wege sehen. Sie war wie eine Blinde, schluchzte und stolperte und war nicht einmal mehr sicher, ob Decker vor oder hinter ihr war.
Er würde sie jeden Augenblick erledigen. Eine Kugel, und ihr auserwähltes Leben wäre vorbei.
3
Die Brut unter der Erde hörte ihre Ankunft, da ihre Sinne für Panik und Verzweiflung geschärft waren. Sie kannten auch den Gang des Jägers; sie hatten ihn schon zu oft hinter sich selbst gehört. Jetzt warteten sie, bedauerten die Frau in ihren letzten Augenblicken, waren aber zu 120
sehr um ihre Zuflucht besorgt, um sie zu gefährden. Es gab wenig genug Verstecke, in denen die Monströsen ihren Frieden finden konnten. Sie würden ihr Erbe nicht für ein Menschenleben aufs Spiel setzen.
Dennoch schmerzte es sie, ihr Flehen und ihre Rufe zu hö-
ren. Und für einen in ihrer Mitte waren die Laute fast uner-träglich.
»Laßt mich zu ihr gehen.«
»Das kannst du nicht. Du weißt, daß du es nicht kannst.«
»Ich kann ihn töten. Wer soll denn erfahren, daß er je hier war?«
»Er wird nicht alleine hier sein. Andere werden vor der Mauer warten. Vergiß nicht, wie er zu dir gekommen ist.«
»Ich kann sie nicht sterben lassen.«
»Boone! Bitte, Gott...«
Es war schlimmer als alles, was er bisher durchgemacht hatte: Sie nach ihm rufen zu hören und zu wissen, Midians Gesetz verbot ihm zu antworten.
»Hört sie doch an, um Gottes willen!« sagte er. »Hört sie doch an.«
»Du hast ein Versprechen gegeben, als wir dich aufgenommen haben«, erinnerte Lylesburg ihn.
»Ich weiß. Ich verstehe.«
»Das scheint mir nicht so. Die Versprechen wurden nicht leichtfertig verlangt, Boone. Brich sie, und du hast kein Zuhause mehr. Gehörst nicht zu uns. Und nicht zu ihnen.«
»Ihr verlangt von mir, ich soll ruhig mit anhören, wie sie stirbt.«
»Dann halt dir die Ohren zu. Es wird bald vorbei sein.«
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4
Sie hatte keine Luft mehr, seinen Namen zu rufen. Einerlei. Er war nicht hier. Und wenn, dann war er tot in der Erde, und verdorben. Unfähig, Hilfe zu geben oder zu nehmen.
Sie war allein, und der Mann mit der Pistole war hinter ihr her.
Decker holte die Maske aus der Tasche, die Knopfmaske, hinter der er sich so sicher fühlte. Oh, wie oft war sein Stolz während der ermüdenden Tage mit Boone, als er ihm Zeitpunkte und Orte der Morde beigebracht hatte, die er erben sollte, beinahe übergeschäumt und hatte danach verlangt, die Verbrechen für sich zurückzufor-dern. Aber er brauchte den Sündenbock dringender als den schnellen Kitzel eines Geständnisses, um den Argwohn im Zaum zu halten. Boones Eingeständnis der Verbrechen wäre natürlich nicht das Ende gewesen. Mit der Zeit hätte die Maske wieder angefangen, mit ihrem Besitzer zu sprechen, hätte verlangt, in Blut gebadet zu werden, und die Morde hätten wieder angefangen. Aber erst wenn sich Decker einen anderen Namen und ein anderes Revier zugelegt haben würde, wo er seine Praxis hätte errichten können. Diese sorgfältigen Pläne hatte Boone vereitelt, aber er würde keine Möglichkeit bekommen, zu erzählen, was er wußte. Dafür würde Knopfgesicht sorgen.
Decker streifte die Maske über. Sie roch nach seiner Erregung. Kaum hatte er eingeatmet, bekam er einen Steifen. Nicht den kleinen Sex-Steifen, sondern den Tod-Steifen; den Mord-Steifen. Er schnupperte selbst durch den dicken Stoff von Unterwäsche und Hosen die Luft für 122
ihn ab. Der Maske war es einerlei, daß seine Beute weiblich war; er bekam den Mord-Steifen bei allen. Er hatte zu seiner Zeit schon Hitze für alte Männer empfunden, die sich in die Hosen pißten, während sie vor ihm niedersanken, manchmal für Mädchen, manchmal für Frauen; selbst Kinder.
Knopfgesicht betrachtete die ganze Menschheit mit denselben Kreuzstich-Augen.
Diese hier, die Frau vor ihm in der Dunkelheit, bedeutete der Maske nicht mehr als alle anderen. Wenn sie anfingen, in Panik zu geraten und zu bluten, waren sie alle gleich. Er folgte ihr mit gelassenen Schritten; das gehörte zu Knopfgesichts Markenzeichen, der Gang des Henkers. Und sie floh vor ihm, ihr Flehen wurde von Rotz und Keuchen erstickt. Sie hatte keine Luft mehr, um nach ihrem Helden zu rufen, aber sie betete zweifellos noch, daß er zu ihr kommen würde. Armes Flittchen. Wußte sie denn nicht, daß sie sich niemals sehen ließen? Er hatte schon gehört, wie sie alle gerufen worden waren, wie sie angefleht worden waren, wie Handel mit ihnen geschlossen wurden; mit den Heiligen Vätern und Müttern, den Helden, den Fürsprechern; keiner hatte sich je sehen lassen.
Aber ihr Leid würde bald vorbei sein. Ein Schuß ins Genick, um sie zu Fall zu bringen, und dann würde er mit dem Messer, dem schweren Messer, ihr Gesicht bearbei-ten, wie er es mit allen machte. Hin, her; hin, her, wie die Fäden seiner Augen, bis nur noch rohes Fleisch übrig war.
Aha! Sie stürzte. Zu müde, um noch weiter zu laufen.
Er machte den Stahlmund von Knopfauge auf und sprach zu dem gestürzten Mädchen...
»Sei still«, sagte er. »So geht es schneller.«
Sie versuchte ein letztes Mal aufzustehen, aber ihre Beine versagten den Dienst vollkommen, und die weiße Flut war praktisch völlig verzehrend geworden. Sie drehte den 123
Kopf benommen in die Richtung, aus der Deckers Stimme gekommen war, und sah in einem Wellental zwischen zwei weißen Wogen, daß er die Maske wieder aufgezogen hatte. Sein Gesicht war der Kopf des Todes.
Er hob die Pistole...
Sie spürte ein Beben im Boden unter ihr. War es möglicherweise das Geräusch eines Schusses? Sie konnte die Pistole nicht mehr sehen, nicht einmal Decker. Eine letzte Woge hatte ihn fortgespült. Aber ihr Körper spürte, wie die Erde bebte, und sie hörte durch das Heulen in ihrem Kopf jemanden den Namen des Mannes rufen, den sie hier zu finden gehofft hatte.
Boone!
Sie hörte keine Antwort – vielleicht erfolgte keine –, aber der Ruf ertönte wieder, wie um ihn in die Erde zurückzubeordern.
Bevor sie die letzte Kraft aufbringen konnte, um den Sturz zu verhindern, gab ihr unverletzter Arm unter ihr nach, und sie fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Knopfauge schritt auf sein Opfer zu und war enttäuscht, daß die Frau nicht bei Bewußtsein sein würde, um seinen letzten Segen zu hören. Er sprach im endgültigen Augenblick gerne ein paar Worte der Einsicht; Worte, die er sich nie zurechtlegte, die aber wie Poesie aus dem Reißverschlußmund kamen. Manchmal lachten sie über seine Predigt, und das rief Grausamkeit in ihm hervor. Aber wenn sie weinten, was sie häufig taten, dann nahm er das gnädig auf und gewährleistete, daß der letzte Augenblick, der allerletzte, schnell und schmerzlos war.
Er kickte die Frau auf den Rücken, um zu sehen, ob er sie aus ihrem Schlaf wecken konnte. Ja, blinzelnd öffneten sich ihre Augen ein wenig.
»Gut«, sagte er und richtete die Pistole auf ihr Gesicht.
Als er spürte, wie Weisheit über seine Lippen kommen 124
wollte, hörte er das Knurren. Es lenkte seinen Blick einen Moment von der Frau ab. Von irgendwo war ein lautloser Wind aufgekommen, der die Bäume schüttelte. Im Boden unter seinen Füßen erfolgte ein Aufschrei.
Die Maske war unbeeindruckt. Auf Friedhöfen spazie -
renzugehen, stellte ihr nicht ein einziges Nackenhaar auf.
Sie war der Neue Tod, heute das Gesicht von morgen: Was konnten sie ihr schon antun?
Er lachte über die Melodramatik. Warf den Kopf zurück und lachte.
Die Frau zu seinen Füßen fing an zu stöhnen. Zeit, sie zum Schweigen zu bringen. Er zielte auf ihren offenen Mund.
Als ihm klar wurde, welches Wort sie mit den Lippen formte, teilte sich das Dunkel vor ihm, und das Wort trat aus seinem Versteck.
»Boone«, sagte sie.
Er war es.
Er trat aus dem Schatten der wogenden Bäume und war genauso gekleidet, wie die Maske ihn in Erinnerung hatte, in ein schmutziges T-Shirt und Jeans. Aber seine Augen verströmten einen Glanz, an den sich die Maske nicht erinnerte; und er ging – trotz der Kugeln, die er abbekommen hatte – wie ein Mann, der in seinem ganzen Leben keinen Schmerz gekannt hat.
Geheimnis genug. Aber es kam noch mehr. Noch während er hervortrat, fing er an, sich zu verändern, er atmete eine Rauchwolke aus, die sein Fleisch nahm und durch ein Fantasiegebilde ersetzte.
Dies war der Sündenbock; und doch wieder nicht. So sehr nicht. Die Maske sah zu der Frau hinab, ob auch sie dieselbe Vision hätte, aber sie war bewußtlos geworden.
Er mußte dem glauben, was ihm die Kreuzstich-Augen zeigten, und die zeigten ihm das Grauen.
125
Licht und Dunkelheit wogten über die Muskeln von Boones Armen und Hals; seine Finger wurden größer; verwirrende Bruchstücke schienen sich hinter der Rauchwolke, die er ausgeatmet hatte, in seinem Gesicht zu bewegen und eine verborgene Form in seinem Kopf zu beschreiben, der sich Muskeln und Knochen anpaßten.
Und aus dem Wirrwarr drang eine Stimme. Es war nicht die Stimme, an die sich die Maske erinnerte. Nicht die von Schuld gedämpfte Stimme eines Sündenbocks. Es war ein Wutschrei.
»Sie sind ein toter Mann, Decker!« schrie das Monster.
Die Maske haßte diesen Namen, dieses Decker. Der Mann war nichts weiter als eine alte Flamme, mit der er ab und zu gefickt hatte. In einer Hitze wie dieser, wenn der Mord-Steife so stark war, konnte sich Knopfauge kaum erinnern, ob Dr. Decker lebte oder tot war.
Dennoch nannte ihn das Monster bei diesem Namen.
»Haben Sie gehört, Decker?« sagte es.
Balg, dachte die Maske, mißgebildeter, halb abgetriebe-ner Balg. Er richtete die Pistole auf Boones Herz. Er hatte aufgehört, Verwandlungen zu atmen und stand vollkommen vor seinem Widersacher, wenn man ein Ding, das auf der Platte eines Schlächters geboren worden war, je vollkommen nennen konnte. Es war eine lächerliche Gestalt, die Mutter eine Wölfin, der Vater ein Clown. Kein Segen für das da, beschloß die Maske. Nur Speichel auf seinem hybriden Gesicht, wenn es tot am Boden lag.
Er feuerte ohne einen weiteren Gedanken. Die Kugel riß ein Loch in die Mitte von Boones T-Shirt und in das verwandelte Fleisch darunter, aber die Kreatur grinste nur.
»Das haben Sie schon einmal versucht, Decker«, sagte Boone. »Lernen Sie denn niemals dazu?«
»Ich bin nicht Decker«, antwortete die Maske und feuerte 126
noch einmal. Neben dem ersten Loch entstand ein zweites, aber aus keinem floß Blut.
Boone näherte sich der Pistole. Keine letzten sterbenden Schritte, sondern ein unablässiges Näherkommen, in dem die Maske ihren eigenen Henkersgang erkannte. Er konnte den Schmutz der Kreatur sogar durch den Stoff vor seinem Gesicht riechen. Er war bittersüß und machte ihn bis in den Magen übel.
»Seien Sie still«, sagte das Monster.
»So geht es schneller.«
Der gestohlene Gang war eine ausreichende Beleidi-gung, aber die Reinheit ihrer Worte aus diesem unnatürlichen Hals zu hören, trieb die Maske zur Weißglut. Er schrie gegen das Tuch und richtete die Pistole auf Boones Mund. Aber bevor er die anmaßende Zunge herausschie -
ßen konnte, streckte Boone die aufgedunsenen Hände aus und ergriff die Pistole. Noch während sie ihr entrissen wurde, betätigte die Maske den Abzug und feuerte auf Boones Hand. Die Kugeln schössen den kleinen Finger weg. Der Gesichtsausdruck verfinsterte sich vor Mißver-gnügen. Er riß der Maske die Pistole aus der Hand und warf sie weg. Dann griff er nach seinem Verstümmler und zog ihn dicht an sich.
Angesichts des bevorstehenden Endes teilten sich die Maske und ihr Träger. Knopfauge glaubte nicht, daß er jemals sterben könnte. Decker schon. Seine Zähne knirschten gegen den Käfig vor seinem Gesicht, als er zu flehen anfing.
»Boone... Sie wissen nicht, was Sie tun.«
Er spürte, wie sich die Maske vor Wut über seine Feigheit über seinem Gesicht zusammenzog, aber er sprach dennoch weiter und versuchte, den gelassenen Tonfall zu finden, mit dem er, wie er sich kannte, diesen Mann einmal beruhigt hatte.
127
»Sie sind krank, Boone.«
Flehe nicht, hörte er die Maske sagen. Wage es nicht zu flehen.
»Und Sie können mich heilen, nicht?« sagte das Monster.
»O ja«, antwortete Decker. »Ganz sicher. Lassen Sie mir nur ein wenig Zeit.«
Boones verletzte Hand streichelte die Maske.
»Warum verstecken Sie sich hinter diesem Ding?« fragte er.
»Es zwingt mich, mich zu verstecken. Es zwingt mich.«
Die Wut der Maske kannte keine Grenzen. Sie kreischte in Deckers Kopf, als sie hörte, wie er seinen Herrn und Meister verriet. Wenn er die heutige Nacht überlebt, wür-de sie die gräßlichsten Wiedergutmachungen für diese Lügen verlangen. Morgen würde er sie mit Freuden be-zahlen. Aber er mußte die Bestie überlisten, wenn er so lange überleben wollte.
»Sie müssen sich ebenso wie ich fühlen«, sagte er.
»Hinter dieser Haut, die Sie tragen müssen.«
»Ebenso?« sagte Boone.
»Gefangen. Zum Blutvergießen gezwungen. Sie wollen ebenso wenig Blut vergießen wie ich.«
»Sie verstehen nicht«, sagte Boone. »Ich bin nicht hinter diesem Gesicht. Ich bin dieses Gesicht.«
Decker schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Ich glaube, irgendwo sind Sie immer noch Boone.«
»Boone ist tot. Boone wurde vor Ihren Augen niedergeschossen. Erinnern Sie sich. Sie haben selbst Kugeln abgefeuert.«
»Aber Sie haben überlebt.«
»Nicht lebend.«
Deckers Körper hatte gezittert. Jetzt hörte er auf. Jeder 128
Muskel in seinem Körper wurde starr, als ihm die Erklä -
rung für diese Geheimnisse klar wurde.
»Sie haben mich den Monstern in die Arme getrieben, Decker. Und ich bin eins geworden. Nicht Ihre Art von Monster. Nicht von der Art ohne Seele.« Er zog Decker sehr dicht an sich, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von der Maske entfernt. »Ich bin tot, Decker. Ihre Kugeln können mir nichts mehr anhaben. Ich habe Midian in den Adern. Das bedeutet, meine Wunden werden immer heilen. Aber Sie...«
Die Hand, die die Maske streichelte, packte jetzt den Stoff.
»...Sie, Decker...wenn Sie sterben, dann sind Sie tot.
Und ich will Ihr Gesicht sehen, wenn das passiert.«
Boone zog an der Maske. Sie war festgebunden und löste sich nicht. Er mußte die Krallen in den Stoff schlagen und sie aufreißen, um das schwitzende Gesicht darunter zu entblößen. Wie viele Stunden hatte er dieses Gesicht angesehen und an jedem Flackern der Zustimmung ge-hangen? Soviel vergeudete Zeit. Dies war die wahre Natur des Heilers; verloren und schwach und weinend.
»Ich hatte Angst«, sagte Decker. »Das verstehen Sie doch, oder nicht? Sie hätten mich gefunden und bestraft.
Ich brauchte jemand, dem ich die Schuld unterschieben konnte.«
»Sie haben sich den falschen Mann ausgesucht.«
»Mann?« sagte eine leise Stimme aus der Dunkelheit.
»Du nennst dich einen Mann?«
Boone ließ sich verbessern. »Monster«, sagte er.
Darauf folgte Lachen. Dann:
»Nun, wirst du ihn umbringen oder nicht?«
Boone sah von Decker zu dem Sprecher, der auf einem Grab saß. Sein Gesicht bestand nur aus vernarbtem Gewebe.
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»Erinnert er sich an mich?« fragte der Mann Boone.
»Ich weiß nicht. Erinnern Sie sich?« wollte Boone von Decker wissen. »Sein Name ist Narcisse.«
Decker sah ihn nur an.
»Auch einer von Midians Stamm«, sagte Boone.
»Ich war nie sicher, ob ich hierher gehöre«, überlegte Narcisse. »Erst als ich die Kugeln aus meinem Gesicht entfernte. Ich dachte, alles wäre ein Traum.«
»Angst«, sagte Boone.
»Die hatte ich. Du weißt, was sie mit natürlichen Menschen machen.«
Boone nickte.
»Also bring ihn um«, sagte Narcisse. »Iß seine Augen aus den Höhlen, sonst werde ich es für dich tun.«
»Erst wenn ich ein Geständnis von ihm habe.«
»Geständnis...« sagte Decker, der beim Gedanken an einen Ausweg die Augen aufriß. »Wenn Sie das wollen, dann sagen Sie es doch.«
Er kramte in seiner Jackentasche, als suchte er nach einem Kugelschreiber.
»Was, zum Teufel, nützt ein Geständnis?« sagte Narcisse. »Glaubst du, jetzt wird dir noch jemand vergeben?
Sieh dich doch an!«
Er sprang von dem Grab herunter.
»Hör zu«, flüsterte er, »wenn Lylesburg herausbe-kommt, daß ich hier oben war, wirft er mich hinaus. Gib mir nur seine Augen, der alten Zeiten wegen. Der Rest gehört dir.«
»Lassen Sie nicht zu, daß er mich anrührt«, flehte Decker Boone an. »Was Sie wollen... volles Geständnis
...alles. Aber halten Sie ihn mir vom Leib!«
Zu spät; Narcisse griff bereits nach ihm, mit oder ohne Boones Zustimmung. Boone versuchte, ihn mit der freien Hand abzuhalten, aber der Mann war zu sehr auf Rache 130
aus, um sich abhalten zu lassen. Er drängte sich zwischen Boone und seine Beute.
»Sieh dich ein letztes Mal um«, grinste er und hob die krallenbewehrten Daumen.
Aber Deckers Suchen war nicht ausschließlich von Panik bestimmt gewesen. Als sich die Krallen seinen Augen näherten, zog er das große Messer aus dem Versteck in seiner Tasche und stieß es dem Angreifer in den Bauch. Er hatte seine Kunst lange und ernst studiert. Der Schnitt, den er Narcisse verpaßte, war ein Ausweideschnitt, den er von den Japanern gelernt hatte: tief in die Eingeweide, und dann Richtung Nabel hochziehen, wobei die Klinge mit beiden Händen gegen den Druck des Fleisches ge-stemmt wurde. Narcisse schrie auf – aber mehr wegen Erinnerungen an Schmerz als aufgrund der Schmerzen selbst.
Decker zog das große Messer mit einer einzigen anmu-tigen Bewegung heraus; er wußte aus Studien, daß der wohlverpackte Inhalt folgen würde. Er irrte sich nicht.
Narcisses Eingeweide rollten sich auf und fielen wie eine Schürze auf die Knie ihres Besitzers. Die Verletzung – die einen lebenden Menschen sofort gefällt hätte – machte Narcisse jedoch lediglich zum Clown. Er klammerte sich an Boone und heulte vor Ekel, als er seine hervorquellen-den Gedärme sah.
»Hilf mir«, brüllte er. »Ich falle auseinander.«
Decker nutzte den Augenblick. Er floh zum Tor, während Boone festgehalten wurde. Einen weiten Weg mußte er nicht zurücklegen. Als Boone sich von Narcisse befreit hatte, konnte der Gegner schon ungeweihte Erde sehen.
Boone nahm die Verfolgung auf, aber bevor er sich dem Tor nur halb genähert hatte, hörte er Deckers Autotür zuschlagen und den Motor anspringen. Der Doktor war entkommen. Verdammt, entkommen!
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»Was, zum Teufel, fange ich jetzt damit an?« hörte Boone Narcisse schluchzen. Er wandte sich vom Tor ab.
Der Mann hatte die Schlingen seiner Eingeweide zwischen den Händen wie ein Strickzeug.
»Geh nach unten«, sagte Boone gleichgültig. Es hatte keinen Sinn, Narcisse wegen seiner Einmischung zu verfluchen. »Jemand wird dir helfen«, sagte er.
»Ich kann nicht. Sie werden wissen, daß ich hier oben war.«
»Glaubst du, das wüßten sie nicht längst?« antwortete Boone. »Sie wissen alles.«
Er machte sich wegen Narcisse keine Gedanken mehr.
Die auf dem Weg liegende Gestalt beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. In seiner Gier auf Decker hatte er Lori vollkommen vergessen.
»Sie werden uns beide hinauswerfen«, sagte Narcisse.
»Möglich«, sagte Boone.
»Was sollen wir nur tun?«
»Geh einfach nach unten«, sagte Boone ergeben. »Sag Mister Lylesburg, ich hätte dich vom rechten Weg abgeführt.«
»Hast du das?« sagte Narcisse. Dann freundete er sich mit dem Gedanken an und sagte: »Ja, ich glaube, das hast du.«
Er trug seine Eingeweide hinkend fort.
Boone kniete neben Lori nieder. Ihr Geruch machte ihn benommen; ihre weiche Haut unter seinen Handflächen war beinahe überwältigend.
Sie lebte noch; ihr Puls war trotz der Verletzungen, die sie aus Deckers Händen empfangen haben mußte, kräftig.
Als er in ihr sanftes Gesicht sah, mißfiel ihm über alle Maßen der Gedanke, sie könnte aufwachen und ihn in der Gestalt sehen, die er durch Peloquins Biß geerbt hatte. In Deckers Gegenwart hatte er sich voller Stolz als Monster 132
bezeichnet: um seine Nachtbrut-Persönlichkeit vorzuführen. Aber jetzt, als er die Frau ansah, die er geliebt hatte, und die ihn seiner Menschlichkeit und Zerbrechlichkeit wegen wieder geliebt hatte, schämte er sich.
Er atmete ein, seine Willenskraft machte Fleisch zu Rauch, den seine Lungen in den Körper zurücksogen. Es war ein Vorgang, der in seiner Mühelosigkeit so leicht war wie seine Natur. Wie schnell er sich an alles gewöhnt hatte, was er einst wundersam genannt hätte.
Aber er war kein Wunder, nicht verglichen mit dieser Frau. Die Tatsache, daß sie genügend Glauben besessen hatte, mit dem Tod auf den Fersen nach ihm suchen zu kommen, war mehr als sich jeder natürliche Mann erhof-fen konnte; und für einen wie ihn wahrhaftig ein Wunder.
Ihre Menschlichkeit erfüllte ihn mit Stolz auf das, was er gewesen war und immer noch vorgeben konnte zu sein.
Daher hob er sie in seiner menschlichen Gestalt auf und trug sie zärtlich nach unten.
133
XIII
Das prophetische Kind
Lori lauschte den wütenden Stimmen.
»Du hast uns betrogen!«
Die erste gehörte Lylesburg.
»Ich hatte keine andere Wahl!«
Die zweite Boone.
»Also wurden Midian deiner edlen Gefühle wegen aufs Spiel gesetzt?«
»Decker wird es keinem erzählen«, antwortete Boone.
»Was soll er sagen? Daß er versucht habe, ein Mädchen umzubringen, und ein Toter habe ihn daran gehindert?
Seien Sie vernünftig.«
»Demnach bist du jetzt der Experte. Ein paar Tage hier, und du schreibst das Gesetz. Tu das anderswo, Boone.
Nimm die Frau und geh.«
Lori wollte die Augen aufmachen und zu Boone gehen, wollte ihn beruhigen, bevor sein Zorn ihn dazu verleitete, etwas Dummes zu sagen oder zu tun. Aber ihr Körper war taub. Nicht einmal die Gesichtsmuskeln gehorchten ihren Anweisungen. Sie konnte nur still daliegen und dem erbitterten Streit zuhören.
»Ich gehöre hierher«, sagte Boone. »Ich bin einer der Nachtbrut.«
»Nicht mehr.«
»Ich kann dort draußen nicht leben.«
»Wir haben es getan. Wir sind jahrhundertelang in der natürlichen Welt Risiken eingegangen, und sie hat uns beinahe ausgerottet. Und jetzt kommst du daher und ver-nichtest fast unsere einzige Hoffnung zu überleben.
Wenn Midian entdeckt wird,
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seid ihr – du und die Frau – dafür verantwortlich. Denk auf deinen Reisen darüber nach.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Dann sagte Boone:
»Laß es mich wiedergutmachen.«
»Zu spät. Das Gesetz macht keine Ausnahmen. Auch der andere muß gehen.«
»Narcisse ? Nein. Ihr werdet ihm das Herz brechen. Er hat sein halbes Leben darauf gewartet, hierher zu kommen.«
»Die Entscheidung wurde getroffen.«
»Von wem? Von dir? Oder von Baphomet?«
Als sie diesen Namen hörte, verspürte Lori ein Schau-dern. Das Wort hatte keine Bedeutung für sie, aber für die anderen in der Nähe offenbar schon. Sie hörte ein Flüstern um sich herum hallen; wiederholte Ausdrücke, Worten der Verehrung gleich.
»Ich verlange, mit ihm zu sprechen«, sagte Boone.
»Unmöglich.«
»Wovor hast du Angst? Die Macht über deinen Stamm zu verlieren? Ich möchte Baphomet sehen. Wenn du mich aufhalten möchtest, versuch es jetzt.«
Als Boone die Herausforderung aussprach, schlug Lori die Augen auf. Sie sah ein Dachgewölbe über sich, wo sie zuletzt Himmel gesehen hatte. Es war jedoch mit Sternen bemalt, freilich mehr Feuerwerk als Himmelskörper; Feu-erräder, die Funken schleuderten, während sie sich am steinernen Firmament drehten. Sie neigte den Kopf ein wenig. Sie war in einer Gruft. Rings um sie herum standen Särge aufrecht an die Wände gelehnt. Links eine Ansammlung dicker Kerzen, deren Wachs fettig war, und ihre Flammen so schwach wie sie selbst. Rechts von ihr saß Babette mit überkreuzten Beinen auf dem Boden und betrachtete sie eingehend. Das Kind war völlig in Schwarz gekleidet, ihre Augen fingen das Kerzenlicht auf und beruhigten sein Flackern. Sie war nicht hübsch. Dazu war 135
ihr Gesicht zu ernst. Nicht einmal das Lächeln, das sie Lori schenkte, als sie diese erwachen sah, konnte die Traurigkeit aus ihren Zügen vertreiben. Lori bemühte sich nach Kräften, den Willkommensausdruck zu erwidern, war aber nicht sicher, ob ihre Gesichtsmuskeln gehorchten.
»Er hat uns schlimmes Leid zugefügt«, sagte Babette.
Lori ging davon aus, daß sie Boone meinte. Doch die nächsten Worte des Kindes belehrten sie eines Besseren.
»Rachel hat es sauber gemacht. Jetzt brennt es nicht mehr.«
Sie hob die rechte Hand. Diese war um Daumen und Zeigefinger verbunden.
»Bei dir auch nicht.«
Lori nahm alle Willenskraft zusammen und hob die rechte Hand von der Seite. Sie war genauso verbunden.
»Wo... ist Rachel?« fragte Lori, die ihre Stimme selbst kaum hören konnte. Babette hörte die Frage jedoch deutlich.
»Irgendwo in der Nähe«, sagte sie.
»Könntest du sie für mich holen?«
Babettes ewiges Stirnrunzeln wurde noch düsterer.
»Bist du jetzt für immer hier?« fragte sie.
»Nein«, lautete die Antwort, aber nicht von Lori, sondern von Rachel, die unter der Tür aufgetaucht war, »das ist sie nicht. Sie wird bald wieder fortgehen.«
»Warum?« sagte Babette.
»Ich habe Lylesburg gehört«, murmelte Lori.
» Mister Lylesburg«, sagte Rachel und kam zu Lori her-
über. »Boone hat sein Wort gebrochen, als er nach oben ging, um Sie zu holen. Er hat uns alle in Gefahr gebracht.«
Lori begriff nur einen Bruchteil der Geschichte Midians, aber genug zu wissen, daß die Maxime, die sie erstmals von Lylesburgs Lippen gehört hatte – »was unten ist, bleibt unten« – keine hohle Phrase war. Es war ein Gesetz, das 136
einzuhalten die Bewohner von Midian geschworen hatten, andernfalls verloren sie ihre Heimat hier.
»Können Sie mir helfen?« fragte sie. Sie fühlte sich verwundbar, solange sie auf dem Boden lag.
Aber es war nicht Rachel, die ihr zu Hilfe kam, sondern Babette, die ihre winzige verbundene Hand auf Loris Bauch legte. Ihr Körper reagierte sofort auf die Berührung des Kindes, alle Anzeichen von Taubheit verschwanden augenblicklich aus ihr. Sie erinnerte sich an dasselbe Gefühl, oder ein ähnliches, bei ihrer letzten Begegnung mit dem Kind: das Gefühl übertragener Kraft, das durch sie geströmt war, als sich das Tier in ihren Armen aufge-löst hatte.
»Sie hat Sie sehr ins Herz geschlossen«, sagte Rachel.
»Sieht so aus.« Lori richtete sich auf. »Ist sie verletzt?«
»Warum fragen Sie mich nicht?« sagte Babette. »Ich bin schließlich auch da.«
»Tut mir leid«, sagte Lori betroffen. »Hast du dich auch geschnitten?«
»Nein. Aber ich habe Ihre Schmerzen gespürt.«
»Sie ist emphatisch«, sagte Rachel. »Sie empfindet das, was andere empfinden, besonders wenn sie eine emotio-nale Beziehung zu ihnen hat.«
»Ich wußte, daß Sie hierher kamen«, sagte Babette. »Ich habe durch Ihre Augen gesehen. Und Sie können durch meine sehen.«
»Stimmt das?« fragte Lori Rachel.
»Glauben Sie ihr«, lautet die Antwort.
Lori war nicht sicher, ob sie schon bereit war aufzustehen, aber sie beschloß, ihren Körper dem Test zu unterzie -
hen. Es war leichter als sie erwartet hatte. Sie stand mühelos auf, ihre Glieder waren kräftig, der Kopf klar.
»Würden Sie mich zu Boone bringen?« bat sie.
»Wenn Sie das wollen.«
137
»Er war die ganze Zeit hier, nicht?«
»Ja.«
»Wer hat ihn hierher gebracht?«
»Gebracht?«
»Nach Midian.«
»Niemand.«
»Er war fast tot«, sagte Lori. »Jemand muß ihn aus der Leichenhalle geholt haben.«
»Sie verstehen immer noch nicht, was?« sagte Rachel grimmig.
»Midian? Nein, eigentlich nicht.«
»Nic ht nur Midian. Boone, und warum er hier ist.«
»Er denkt, er gehört zur Nachtbrut«, sagte Lori.
»Gehörte, bis er sein Wort gebrochen hat.«
»Dann gehen wir eben«, antwortete Lori. »Das ist Lylesburgs Wunsch, nicht? Und ich verspüre auch nicht den Wunsch zu bleiben.«
»Wohin wollen Sie gehen?« fragte Rachel.
»Ich weiß nicht. Vielleicht zurück nach Calgary. Es sollte nicht so schwer zu beweisen sein, daß Decker der Schuldige ist. Dann können wir von vorne anfangen.«
Rachel schüttelte den Kopf.
»Das wird nicht möglich sein«, sagte sie.
»Warum nicht? Habt ihr einen vorrangigen Anspruch auf ihn?«
»Er kam hierher, weil er einer von uns ist.«
»Von uns. Was soll das bedeuten?« sagte Lori heftig. Sie hatte die ausweichenden Antworten und Andeutungen satt. »Wer seid ihr schon? Kranke Menschen, die im Dunkeln leben. Boone ist nicht krank. Er ist ein normaler Mann. Ein normaler, gesunder Mann.«
»Ich schlage vor, Sie fragen ihn, wie gesund er sich fühlt«, war Rachels Erwiderung.
»Oh, das werde ich, wenn die Zeit gekommen ist.«
138
Babette blieb von diesem Austausch von Boshaftigke iten nicht unberührt.
»Sie dürfen nicht gehen«, sagte sie zu Lori.
»Ich muß.«
»Nicht ins Licht.« Sie hielt sich heftig an Loris Ärmel fest. »Dorthin kann ich Ihnen nicht folgen.«
»Sie muß gehen«, sagte Rachel, die versuchte, das Kind wegzunehmen. »Sie gehört nicht zu uns.«
Babette hielt sich fest.
»Sie können es«, sagte sie und sah zu Lori auf. »Es ist ganz leicht.«
»Sie will nicht«, sagte Rachel.
Babette sah zu Lori auf.
»Stimmt das?« fragte sie.
»Sagen Sie es ihr«, sagte Rachel, der Loris Unbehagen offenbar tiefe Befriedigung verschaffte. »Sagen Sie ihr, daß sie zu den kranken Menschen gehört.«
»Aber wir leben ewig«, sagte Babette. Sie sah ihre Mutter an. »Oder nicht?«
»Manche von uns.«
»Alle. Wenn wir immer und ewig leben wollen. Und eines Tages, wenn die Sonne erlischt...«
»Genug!« sagte Rachel.
Aber Babette hatte noch mehr zu sagen.
»...wenn die Sonne erlischt und nur noch Nacht ist, werden wir auf der Erde leben. Dann gehört sie uns.«
Jetzt war es an Rachel, sich unbehaglich zu fühlen.
»Sie weiß nicht, was sie sagt«, murmelte die Frau.
»Ich denke, sie weiß es ganz genau«, antwortete Lori.
Babettes Nähe und der Gedanke, daß sie irgendwie mit dem Kind verbunden war, machte sie plötzlich frösteln.
Das bißchen Frieden, das ihr rationaler Verstand mit Midian geschlossen hatte, fiel rasch in sich zusammen. Mehr als alles andere wollte sie von hier fort sein, fort von 139
Kindern, die vom Ende der Welt sprachen, von Kerzen und Särgen und Leben in Gräbern.
»Wo ist Boone?« sagte sie zu Rachel.
»Zum Tabernakel gegangen. Zu Baphomet.«
»Wer oder was ist Baphomet?«
Rachel machte eine rituelle Geste, als Baphomet er-wähnt wurde, sie berührte Zunge und Herz mit dem Zeigefinger. Für sie war das so vertraut und oft durchge-führt, daß Lori bezweifelte, ob sie überhaupt mitbekommen hätte, daß sie es getan hatte.
»Baphomet ist der Täufer«, sagte Rachel. »Der Midian geschaffen hat. Der uns hierher gerufen hat.«
Wieder berührte der Finger Zunge und Herz.
»Würdest du mich zum Tabernakel bringen?« fragte Lori.
Rachels Antwort war schlicht und einfach: »Nein.«
»Dann zeig mir wenigstens die Richtung.«
»Ich bringe Sie hin«, erbot sich Babette.
»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Rachel, und diesmal riß sie die Hand des Kindes so schnell von Loris Ärmel, daß Babette keine Möglichkeit hatte, sich zu wi-dersetzen.
»Ich habe meine Schuld beglichen«, sagte Rachel, »indem ich Ihre Wunde geheilt habe. Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen.«
Sie ergriff Babette und nahm das Kind auf die Arme.
Babette wand sich im Griff ihrer Mutter, damit sie Lori wieder ansehen konnte.
»Ich möchte, daß Sie wunderschöne Sachen für mich sehen.«
»Sei still«, schalt Rachel.
»Was Sie sehen, werde ich sehen.«
Lori nickte.
»Ja?« sagte Babette.
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»Ja.«
Bevor das Kind noch ein weiteres trauriges Wort äußern konnte, hatte Rachel es aus dem Raum getragen und ließ Lori in Gesellschaft der Särge zurück.
Sie warf den Kopf zurück und atmete langsam aus.
Ruhig, dachte sie, sei ruhig. Es ist bald vorbei.
Die gemalten Sterne über ihr machten Kapriolen und schienen sich zu drehen, während sie sie betrachtete. War ihr Aufruhr eine Laune des Künstlers, fragte sie sich, oder sah so der Himmel für die Brut aus, wenn sie aus ihren Mausoleen kamen, um frische Luft zu schnappen?
Besser, es nicht zu wissen. Es war schlimm genug, daß diese Kreaturen Kinder und Kunst hatten; daß sie darüber hinaus auch eine Vision haben könnten, war ein zu gefährlicher Gedanke, den man nicht weiter verfolgen sollte.
Als sie ihnen auf halbem Weg die Treppe in diese unterirdische Welt hinab zum ersten Mal begegnet war, hatte sie um ihr Leben gefürchtet. In einer stillen Ecke ihrer selbst tat sie das immer noch. Nicht, daß ihr das Leben genommen werden, sondern daß es verändert werden würde; daß die Nachtbrut sie irgendwie mit ihren Ritualen und Visionen beeinflussen könnte und sie sie nicht mehr aus ihrem Denken verdrängen könnte.
Je früher sie von hier fort wäre, mit Boone an ihrer Seite, desto früher würde sie wieder in Calgary sein. Dort waren die Straßenlaternen hell. Sie zähmten die Sterne.
Von diesem Gedanken beruhigt, machte sie sich auf die Suche nach dem Täufer.
141
XIV
Tabernakel
Dies war das wahre Midian. Nicht die verlassene Stadt auf dem Hügel; nicht einmal der Friedhof über ihr, sondern dieses Netz von Tunneln und Kammern, das sich wahrscheinlich unter dem gesamten Friedhof verzweigte. Einige der Grüfte wurden ausschließlich von den ungestörten Toten bewohnt; ihre Särge lagen schimmelnd auf Rega-len. Waren dies die ersten Bewohner des Friedhofs, die zur Ruhe gebettet worden waren, bevor ihn die Nachtbrut in Besitz genommen hatte? Oder gehörten sie der Brat an und waren in ihrem Halbleben gestorben, möglicherweise in der Sonne verfallen oder von Verlangen ausgezehrt?
Was auch immer, sie waren in der Minderzahl. Die meisten der Kammern wurden von lebendigeren Seelen bewohnt, und die Unterkünfte wurden von Kerzen oder Lampen erhellt, gelegentlich auch vom Bewohner selbst: einem Wesen, das selbst leuchtete.
Eine solche Wesenheit erblickte sie nur einmal, sie lag in der Ecke ihres Boudoirs auf einer Matratze. Sie war nackt, korpulent und geschlechtslos, der schwammige Körper ein Narrenkleid aus dunkler, öliger Haut und larvenglei-chen Auswüchsen, aus denen Phosphoreszenz troff und das schlichte Bett tränkte. Es schien, als würde jede Tür zu einem ähnlich geheimnisvollen Abschnitt führen, und ihre Reaktionen darauf waren so problematisch wie die Anblicke, die sie hervorriefen. Drehte sich ihr lediglich vor Ekel der Magen um, wenn sie die Stigmatisierten in voller Flut sah, mit ihren scharfzahnigen Anhängseln, die 142
lautstark an ihren Wunden saugten; oder Aufregung, wenn sie die Legende vom Vampir in Fleisch und Blut sehen konnte? Und was sollte sie von dem Mann halten, dessen Körper sich in Vögel verwandelte, als er sah, daß sie ihn beobachtete; oder dem Maler mit dem Hundekopf, der sich von seinem Wandgemälde abwandte und sie bat, seinem Lehrling beim Mischen von Farben zu helfen?
Oder von den Maschinenbestien, die mit Tastzirkelbeinen die Wände hinaufliefen? Nach einem Dutzend Tunneln wußte sie Grauen nicht mehr von Faszination zu unterscheiden. Vielleicht hatte sie das nie gekonnt.
Sie hätte tagelang herumirren und Seltsamkeiten sehen können, hätten Instinkt oder Glück oder beides sie nicht so nahe zu Boone geführt, daß ihr weiteres Eindringen aufgehalten wurde. Lylesburgs Schatten trat vor sie, scheinbar aus einer soliden Mauer.
»Sie dürfen nicht weitergehen.«
»Ich will Boone finden«, sagte sie ihm.
»Sie trifft keine Schuld an allem«, sagte Lylesburg. »Das sehen alle ein. Aber Sie müssen Ihrerseits auch etwas verstehen: Was Boone getan hat, hat uns alle in Gefahr gebracht...«
»Dann lassen Sie mich mit ihm sprechen. Wir werden gemeinsam von hier fortgehen.«
»Das wäre vor einer Weile noch möglich gewesen«, sagte Lylesburg, und die Stimme drang gemessen und befehlsgewohnt wie immer aus seinem Schattenmantel.
»Und jetzt?«
»Ist er außerhalb meines Zugriffs. Und auch außerhalb Ihres. Er hat sich an eine völlig andersartige Macht gewendet.«
Noch während er sprach wurde weiter unten in der Katakombe Lärm laut; ein Getöse, wie Lori es noch nie vernommen hatte. Einen Augenblick war sie sicher, daß 143
ein Erdbeben dafür verantwortlich war, der Laut schien in der Erde um sie herum zu sein und von ihr zu stammen.
Aber als die zweite Woge anfing, hörte sie etwas Animalisches darin: ein Stöhnen des Schmerzes möglicherweise, oder der Ekstase... Das war sicherlich Baphomet – der Midian geschaffen hat, hatte Rachel gesagt. Welche andere Stimme hätte die Substanz des Ortes selbst erschüttern können?
Lylesburg bestätigte ihre Vermutung.
»Damit möchte Boone verhandeln«, sagte er. »Glaubt er jedenfalls.«
»Lassen Sie mich zu ihm.«
»Er hat ihn bereits verschlungen«, sagte Lylesburg.
»Ihn in die Flamme genommen.«
»Das will ic h selbst sehen«, verlangte Lori.
Sie wollte sich keinen Augenblick mehr hinhalten lassen und drängte sich an Lylesburg vorbei, wobei sie mit Widerstand rechnete. Aber ihre Hände sanken in die Dunkelheit, die er trug, und berührten die Wand hinter ihm. Er hatte keine Substanz. Er konnte sie nicht daran hindern, irgendwohin zu gehen.
»Er wird Sie auch umbringen«, hörte sie seine Warnung, während sie dem Geräusch entgegenlief. Es war zwar überall um sie herum, aber sie spürte seinen Ursprung. Mit jedem Schr itt, den sie ging, wurde es lauter und komplexer, Schichten rohen Geräusches, die alle einen anderen Teil von ihr ansprachen: Kopf, Herz, Lenden.
Ein rascher Blick zurück bestätigte, was sie bereits vermutet hatte: Lylesburg unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen. Sie bog um eine Ecke, dann noch eine, und die Untertöne der Stimme vervielfachten sich immer noch, bis sie mit gesenktem Kopf und gebückten Schultern dagegen anlief wie gegen einen Sturm.
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Jetzt lagen keine Kammern mehr am Weg, und daher gab es auch kein Licht. Vor ihr jedoch sah sie ein Leuchten
– veränderlich und kalt, aber so hell, daß es sowohl den Boden beleuchtete, über den sie stolperte, der aus bloßer Erde bestand, als auch den silbernen Frost an den Wänden.
»Boone?« rief sie. »Bist du da, Boone?«
Nach dem, was Lylesburg gesagt hatte, rechnete sie nicht zu sehr mit einer Antwort, aber sie erhielt eine. Seine Stimme drang aus dem Kern von Licht und Ton vor ihr heraus. Aber sie hörte durch das Getöse nur:
»Nicht...«
Was nicht? fragte sie sich.
Nicht näher kommen? Nicht hier zurücklassen?
Sie lief langsamer und rief noch einmal, aber der Lärm, den der Täufer machte, übertönte mittlerweile ihre Stimme, ganz zu schweigen von einer möglichen Antwort. Sie war so weit gegangen, daß sie weiter mußte, auch wenn sie nicht wußte, ob sein Ruf eine Warnung gewesen war oder nicht.
Vor ihr lag der Durchgang zu einem Hang – einem steilen Hang. Sie blieb auf der Kuppe stehen und blinzelte in die Helligkeit. Das war Baphomets Loch, kein Zweifel.
Der Lärm, de n er machte, zerstäubte die Mauern und wehte ihr den Staub ins Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen und wuschen den Schmutz weg, aber es kam immer mehr. Von der Stimme taub und vom Licht blind gemacht, taumelte sie auf der Kuppe der Erhebung und konnte weder vorwärts noch zurück gehen.
Plötzlich verstummte der Täufer, die Schichten seiner Laute starben alle zusammen und vollständig.
Die Stille, die folgte, war erschreckender als der Lärm, der ihr vorangegangen war. Hatte er den Mund zugemacht, weil er wußte, daß er einen Eindringling in seiner 145
Mitte hatte? Sie hielt den Atem an und wagte keinen Laut von sich zu geben.
Am Fuß des Hangs befand sich ein heiliger Ort, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Als sie vor Jahren mit ihrer Mutter in den großen Kathedralen Europas gestanden und Fenster und Altäre betrachtet hatte, hatte sie nicht annähernd die Woge der Erkenntnis verspürt, die sie jetzt überkam. In ihrem ganzen Leben – wachend oder träumend – hatten keine so widersprüchlichen Im-pulse in ihr gekämpft. Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von diesem Ort zu fliehen – wollte ihn verlassen und vergessen; und doch rief er sie auch. Nicht Boones Anwesenheit dort rief sie, sondern der Sog des Heiligen oder Unheiligen oder die beiden in einem; und er würde keinen Widerspruch dulden.
Inzwischen hatten ihre Tränen den Staub aus ihren Augen gespült. Sie hatte keine andere Ausrede mehr als Feigheit, wenn sie blieb, wo sie stand. Sie ging langsam den Hügel hinab. Es war ein Abstieg von etwa dreißig Metern, aber sie hatte nicht mehr als ein Drittel davon zurückgelegt, als auf dem Grund eine vertraute Gestalt sichtbar wurde.
Sie hatte Boone zum letzten Mal oben gesehen, als er herausgekommen war, um sich Decker entgegenzustel-len. In den Sekunden, bevor sie ohnmächtig geworden war, hatte sie ihn gesehen wie nie zuvor: wie einen Mann, der Schmerzen und Niederlagen völlig vergessen hatte.
Jetzt nicht. Er konnte sich kaum aufrecht halten.
Sie flüsterte seinen Namen, und das Wort gewann an Masse, während es auf ihn zu rollte.
Er hörte es und hob den Kopf in ihre Richtung. Nicht einmal in seinen schlimmsten Zeiten, als sie ihn gewiegt und gehalten hatte, um das Grauen fernzuhalten, hatte sie in seinem Gesicht einen solchen Kummer gesehen wie 146
jetzt. Tränen strömten, und sein Gesicht war so runzlig vor Sorge, daß es fast wie das eines Babys wirkte.
Sie ging weiter hinab, und jeder Laut, den ihre Füße erzeugten, jeder winzige Atemzug, den sie machte, wurde von der Akustik des Hangs verstärkt.
Als er sie näherkommen sah, ließ er seine Stütze los, um sie wegzuwinken, aber als er das tat, verlor er den einzigen Halt und stürzte heftig. Sie ging schneller und achtete nicht mehr auf den Lärm, den sie erzeugte. Welche Macht auch immer den Boden der Grube bewohnen mochte, sie wußte, daß Lori da war. Wahrscheinlich kannte sie sogar ihre Geschichte. Lori hoffte in gewisser Weise, daß das so sein würde. Sie hatte keine Angst vor ihrem Urteil. Sie hatte Liebe als Grund für ihr Eindringen; sie kam unbewaffnet und allein. Wenn Baphomet wirklich der Architekt von Midian war, dann würde er Verwundbarkeit verstehen und nichts gegen sie unternehmen. Inzwischen hatte sie sich Boone bis auf fünf Meter genähert. Er versuchte, sich auf den Rücken zu drehen.
»Warte!« sagte sie, weil seine Verzweiflung sie bekümmerte. Aber er sah nicht in ihre Richtung. Als er auf dem Rücken lag, wanderte sein Blick sofort zu Baphomet. Ihr Blick folgte seinem in ein Zimmer mit Wänden aus gefro-rener Erde und einem ebensolchen Boden, letzterer war von einer Ecke zur anderen aufgeplatzt, und aus dem Riß stieg eine Feuersäule empor, die vier- bis fünfmal so groß wie ein Mensch war. Aber es ging bittere Kälte von ihr aus, keine Hitze, und in ihrem Herzen war kein anhei-melndes Flackern. Statt dessen wirbelte sein Innerstes in sich selbst und trug und drehte eine Last, die sie zuerst nicht erkannte, die ihr ekelerfüllter Blick aber rasch inter-pretierte.
In dem Feuer war ein Körper, in einzelne Gliedmaßen zerstückelt, so menschlich, daß sie ihn als Fleisch erkann-147
te, aber eben nicht mehr als das. Wahrscheinlich Baphomets Tun; eine einem Eindringling auferlegte Strafe.
Eben jetzt sprach Boone den Namen des Täufers aus, und sie wappnete sich für den Anblick seines Gesichts. Sie bekam es auch zu sehen, aber von innerhalb der Flamme, als das Wesen dort – nicht tot, sondern lebend; nicht Midians Opfer, sondern sein Schöpfer – im Wirrwarr der Flamme den Kopf drehte und sie ansah.
Das war Baphomet. Dieses zerstückelte und zerschnitte-ne Ding. Als sie sein Gesicht sah, schrie sie. Kein Roman, keine Kinoleinwand, keine Einsamkeit und keine Wonne hatte sie auf den Schöpfer von Midian vorbereiten können. Er mußte heilig sein, wie jedes so extreme Ding heilig sein mußte. Ein Ding jenseits von Dingen. Jenseits von Liebe oder Haß oder ihrer Summe; jenseits des Monströ-
sen oder des Schönen, jenseits deren Summe. Und schließ-
lich jenseits der Fähigkeit ihres Verstandes, es zu begreifen oder zu erfassen. In dem Augenblick, als sie wegsah, hatte sie bereits jeden Bruchteil des Anblicks aus ihrem bewußten Denken verdrängt und dort gespeichert, wo keine Folter und keine Befragung sie jemals wieder zwingen konnten, es anzusehen.
Sie hatte ihre eigene Kraft nicht gekannt, bis ihre Rase-rei, aus der Gegenwart des Dings zu verschwinden, sie Boone auf die Beine zerren und den Hang emporschlep-pen ließ. Er konnte kaum etwas tun, um ihr zu helfen. Die Zeit, die er in Gegenwart des Täufers verbracht hatte, hatte lediglich Restfetzen Kraft in seinen Muskeln gelassen. Lori hatte den Eindruck, als würde es ein Menschen-alter dauern, den Hang hinaufzustolpern, während das eisige Licht der Flamme ihre Schatten wie Prophezeiungen vor sie warf.
Der Gang darüber war verlassen. Sie hatte halb damit gerechnet, daß Lylesburg irgendwo mit solideren Kohor-148
ten auf sie warten würde, aber das Schweigen der Kammer unten hatte sich durch den ganzen Tunnel ausgebreitet. Als sie Boone ein paar Meter vom Kamm des Hangs fortgeschleppt hatte, hielt sie inne, weil ihre Lungen von der Anstrengung brannten, ihn aufrecht zu halten. Er erwachte langsam aus der Benommenheit von Kummer und Entsetzen, in der sie ihn gefunden hatte.
»Kennst du einen Weg hier heraus?« fragte sie ihn.
»Ich glaube schon«, sagte er.
»Du wirst mir etwas helfen müssen. Ich kann dich nicht mehr lange tragen.«
Er nickte, dann sah er zum Eingang zu Baphomets Grube zurück.
»Was hast du gesehen?« fragte er.
»Nichts.«
»Gut.«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie sah, daß einer seiner Finger fehlte, die Verletzung war noch frisch.
Er schien es jedoch gar nicht zu bemerken, daher stellte sie keine Fragen, sondern konzentrierte sich darauf, ihn zum Weitergehen zu ermutigen. In der Nachfolge seiner Hochgefühle war er widerwillig, beinahe mürrisch, aber sie drängte ihn weiter, bis sie eine steile Treppe erreichte, die sie durch eines der Mausoleen in die Nacht hinausführte.
Nach der Enge in der Erde roch die Luft nach Ferne, aber statt zu verweilen und es zu genießen bestand sie darauf, daß sie den Friedhof verließen, und suchte den Weg durch den Irrgarten der Grabmale zum Tor. Dort blieb Boone stehen.
»Das Auto steht gleich außerhalb«, sagte sie.
Er schlotterte, obwohl die Nacht ziemlich warm war.
»Ich kann nicht...« sagte er.
»Kannst was nicht?«
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»Ich gehöre hierher.«
»Nein, gehörst du nicht«, sagte sie. »Du gehörst zu mir.
Wir gehören zusammen.«
Sie stand nahe bei ihm, aber sein Kopf war den Schatten zugewendet. Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und zog seinen Blick zu ihr.
»Wir gehören zusammen, Boone. Darum bist du am Leben. Verstehst du das denn nicht? Nach allem. Nach allem, was wir durchgemacht haben. Wir haben überlebt.«
»So einfach ist das nicht.«
»Das weiß ich. Wir haben beide eine schreckliche Zeit hinter uns. Mir ist klar, daß es nie wieder so wie früher sein kann. Ich möchte auch nicht, daß es so ist.«
»Du weißt nicht...« begann er.
»Dann wirst du es mir erklären«, sagte sie. »Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist. Du mußt Midian vergessen, Boone. Es hat dich bereits vergessen.«
Das Schlottern kam nicht von der Kälte, sondern war ein Vorläufer von Tränen, die jetzt hervorquollen.
»Ich kann nicht gehen«, sagte er. »Ich kann nicht gehen.«
»Wir haben keine andere Wahl«, erinnerte sie ihn. »Wir haben nur einander.«
Der Schmerz seines Leids drückte ihn fast nieder.
»Steh auf, Boone«, sagte sie. »Leg den Arm um mich.
Die Brut braucht dich nicht; sie wollen dich nicht. Ich brauche dich. Boone. Bitte.«
Er richtete sich langsam auf und umarmte sie.
»Fest«, sagte sie zu ihm. »Halt mich fest, Boone.«
Sein Griff wurde fester. Als sie die Hände von seinem Gesicht sinken ließ, um sich zu revanchieren, wanderte sein Blick nicht mehr zum Friedhof zurück. Er sah sie an.
»Wir fahren ins Hotel zurück und holen meine Sachen, 150
ja? Das müssen wir tun. Es sind Briefe dabei, Fotos – eine Menge Sachen, die andere Leute nicht finden sollten.«
»Und dann?« sagte er.
»Dann gehen wir irgendwohin, wo niemand nach dir suchen wird, und versuchen eine Möglichkeit zu finden, deine Unschuld zu beweisen.«
»Ich mag das Licht nicht«, sagte er.
»Dann halten wir uns davon fern«, antwortete sie. »Bis du diesen verfluchten Ort wieder in die richtige Perspektive gerückt hast.«
Sie sah in seinem Gesicht nicht einmal einen Hauch von ihrem Optimismus. Seine Augen glänzten, aber das waren nur die Spuren der Tränen. Der Rest von ihm war so kalt – noch so sehr Teil von Midians Dunkelheit. Das wunderte sie nicht. Nach allem, was diese Nacht und der ihr vorangegangene Tag gebracht hatten, war sie überrascht, daß sie selbst diese Fähigkeit zur Hoffnung in sich hatte. Aber sie war da, kräftig wie ihr Herzschlag, und sie wollte sie nicht von den Ängsten, die die Brut sie gelehrt hatte, verdrängen lassen.
»Ich liebe dich, Boone«, sagte sie, rechnete aber nicht mit einer Antwort.
Vielleicht würde er im Lauf der Zeit reden. Wenn nicht Worte der Liebe, so doch wenigstens Erklärungen. Und wenn er es nicht tat oder nicht konnte, war das auch nicht so schlimm. Sie hatte etwas Besseres als Erklärung. Sie hatte ihn selbst, in Fleisch und Blut. Sein Körper lag fest in ihren Armen. Welchen Anspr uch Midian auch an seine Erinnerungen haben mochte, Lylesburg war vollkommen deutlich gewesen: Es würde ihm niemals gestattet werden, hierher zurückzukehren. Statt dessen würde er nachts wieder neben ihr sein, und allein seine Gegenwart würde kostbarer als jede Zurschaustellung von Leidenschaft sein.
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Mit der Zeit würde sie die Qualen Midians von ihm nehmen, wie sie die selbst auferlegten Qualen seines Wahnsinns von ihm genommen hatte. Darin war sie nicht erfolglos gewesen, wie Deckers Täuschungen sie hatten glauben machen wollen. Boone hatte kein heimliches Leben vor ihr verborgen, er war unschuldig. Wie sie. Sie waren beide unschuldig, und diese Tatsache hatte sie durch diese Nacht der Gefahren in die Sicherheit des Tages gebracht.
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