Rahman zog hinüber auf die rechte Spur. Der Starenkasten am Ende der Severinsbrücke fiel ihm zu spät ein. In dem Moment als er aufs Bremspedal trat, reflektierte die regennasse Fahrbahn schon den roten Blitz der Kamera. Der nachfolgende Wagen fuhr fast auf ihn auf.
Im Rückspiegel sah Rahman das Aufblenden von zwei Scheinwerfern und das hämische Grinsen des Fahrers, der es nur ihm zu verdanken hatte, dass er selbst nicht geblitzt worden war. "Bescheuerter Schweinefresser!", brabbelte Rahman seine Standardbeleidigung für Deutsche vor sich hin. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Fahrzeug, dem sein Interesse galt.
Durch die aufgewirbelte Gischt der vor ihm Fahrenden, sah er, dass der Wagen auf die linke Spur wechselte. Er durfte den Abstand nicht zu groß werden lassen. Andererseits wollte er auch nicht zu nah heranfahren, um keinen Verdacht zu erregen.
Der Wagen bog in Richtung Kalk ab, fuhr am Polizeipräsidium vorbei, hinein in das Parkhaus der Köln Arkaden. Rahman blieb ihm auf den Fersen.
"Hey Kölle du ming Stadt am Rhing", dröhnte es aus dem Oval des Rhein-Energie-Stadions. Die Fans des 1.FC Köln zogen zu Tausenden aus ihrem Fußballtempel. Der heftige Regen konnte der Freude über den Sieg ihrer Mannschaft keinen Abbruch tun.
Usama pilgerte nicht mit den anderen hinüber zur Straßenbahnhaltestelle sondern blieb vor dem Nordeingang des Stadions stehen. Als eine Gruppe von FC-Anhängern jubelnd an ihm vorüberging, verzog er keine Miene. Er trug eine FC-Mütze und einen FC-Schal, wusste aber nicht einmal, gegen wen "seine" Mannschaft gespielt hatte. Für ihn war wichtig, gegen wen sie am Mittwoch spielen würde und nur deshalb war er da.
Als Usama den Bus der Gastmannschaft aus der Tiefgarage kommen sah, registrierte er die Uhrzeit. Seine Augen verfolgten den Bus, der langsam an ihm vorbeirollte. Dann schweifte sein Blick forschend über das Stadiongelände: Die bis kurz nach Spielende massiv präsente Polizei war abgezogen; die mobilen Getränke- und Würstchenbuden wurden von ihren Eigentümern dichtgemacht. Auch die Krankenwagen fuhren weg. Abgesehen von einigen Taxen befanden sich keine Fahrzeuge mehr auf den Zufahrtswegen.
Usama spürte ein Vibrieren in der Hosentasche. Er zog sein iPhone heraus. Das Display zeigte Rahmans Namen und den Hinweis, dass der Akku fast leer war. Usama verzog verärgert das Gesicht und nahm das Gespräch an. "Mach’s kurz Rahman. Ich habe vergessen meinen Akku aufzuladen", sagte er auf Arabisch.
"Er hat sich wieder mit ihm getroffen. Danach ist der Typ wie beim letzten Mal im Polizeipräsidium verschwunden", sagte Rahman ebenfalls auf Arabisch.
Über Usamas Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln: "Ich hab's gewusst! Wir treffen uns in der Touba. Dort können wir alles Weitere besprechen."
"Ich muss aber vorher noch den Lieferwagen bei meinem Vater abgeben", sagte Rahman.
"Kein Problem. Bis ich hier weg bin, dauert's auch noch 'ne Weile ", sagte Usama.
Der junge Mann mit dem leicht hinkenden Gang wollte offensichtlich mit ihm fahren.–Tonis geschultes Auge erkannte fast immer, ob jemand, der in seine Richtung kam, ein Taxi suchte oder nicht. Er ballte triumphierend die rechte Hand und nickte dem jungen Mann zu, als der Blickkontakt zu ihm aufnahm.
Usama stieg hinten ein: "Zum Hansaring!"
"Und, zufrieden mit dem FC?", versuchte Toni eine Unterhaltung anzukurbeln.
"Ja", war Usamas kurze Antwort.
Toni startete den nächsten Versuch: "Was für ein Sauwetter." Im Rückspiegel begegnete er dem unfreundlichen Blick seines Fahrgastes. Aber vielleicht konnte der mit diesen stechenden grünen Augen nicht anders schauen? Wie auch immer, Toni entschied sich, ihn in Ruhe zu lassen.
An einer Stelle des Weges hatte sich eine riesige Pfütze gebildet. Als das Taxi sie durchfuhr, ergoss sich das Wasser in einem breiten Schwall nach beiden Seiten. Toni sah den gelben Anorak zu spät. Der Mann stand unter einem Baum direkt neben der Straße. Sein Körper war von dem dicken Stamm verdeckt worden. Von vorn hatte es ausgesehen, als würde dort nur ein Fahrrad gegen den Baum gelehnt stehen.
Toni stoppte, ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und rief dem Mann eine Entschuldigung hinüber. Seine Worte wurden mit einem wütenden Starren beantwortet.
Toni suchte die Unterstützung von seinem Fahrgast: "Ich habe den hinter dem Baum gar nicht gesehen."
"Der hat Pech gehabt", sagte Usama. "Fahren Sie weiter. Ich hab's eilig!"
Toni zuckte verständnislos mit den Schultern. Dann trat er aufs Gas, um die auf Grün schaltende Ampel noch zu schaffen. Doch die Autos kamen nur langsam voran wegen des Rückstaus auf der Hauptstraße. Die Ampel war wieder rot, als das Taxi die Kreuzung erreichte.
Als die Ampel wieder auf Grün schaltete und sie anfuhren, klopfte jemand heftig an die Scheibe der Beifahrertür. Toni sah den gelben Anorak und verdrehte genervt die Augen.
"Du hast mich total nass gespritzt!", schrie der Mann mit hoher, sich überschlagender Stimme. Beim Verfolgen des Taxis hatte ihm der Fahrtwind die Kapuze vom Kopf gerissen. Mit seiner Glatze und dem üppigen Haarkranz, sah er aus wie Clown Ferdinand. Der Mann zeigte empört auf seine braune Cordhose und die Schuhe: "Alles pitschnass!"
Toni ließ die Scheibe herunter. Er biss sich auf die Lippen, um seinen Lachdrang zu unterdrücken: "Ich habe Ihnen gesagt, dass es mir leid tut. Mehr als entschuldigen, kann ich mich nicht."
Der Mann, dem nicht entging, dass Toni ihn als Witzfigur betrachtete, winkte energisch ab: "Ihr scheiß Taxifahrer seid doch alle gleich!"
Usama ließ seine Scheibe ebenfalls herunter und mischte sich ein: "Der Mann hier hat sich entschuldigt. Also lassen Sie uns weiterfahren."
"Was willst du scheiß Kanake? Mit dir hat keiner geredet! Scher dich dahin zurück wo du hergekommen bist ..." Die Schimpftirade des Mannes ging im Hupkonzert der nachfolgenden Fahrzeuge unter.
Toni gab Gas. "Machen Sie sich nichts draus. Das ist ein Arschloch", sagte er zu seinem Fahrgast.
Der fluchte in einer für Toni unverständlichen Sprache vor sich hin.
Der Mann im gelben Anorak indessen wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen und fuhr hartnäckig weiter meckernd neben dem Taxi her. "Fünfhundertneunzig! Ich habe deine Taxinummer, du Schwein! ... Das hat ein Nachspiel!", hörte Toni ihn schreien, als er das Fenster wieder hoch ließ und sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Im Rückspiegel sah er, wie das nachfolgende Fahrzeug, das ebenfalls noch die grüne Ampel kriegen wollte, den Mann fast über den Haufen fuhr. Er schwankte und eierte auf seinem Drahtesel hin und her, fing sich aber gerade noch. Toni registrierte mit Erleichterung, dass die nächste Ampel grün war.
"Dürfen nur Taxis direkt aufs Stadiongelände fahren?"
Toni schaute erstaunt in den Innenspiegel. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn sein unfreundlicher Fahrgast ansprechen würde: "Bis Mitte der zweiten Halbzeit steht immer einer vom Sicherheitsdienst an der Schranke und lässt niemanden rein der keinen V.I.P. Ausweis hat. Aber sobald der weg ist, können wir reinfahren."
Usama nickte nachdenklich: "Also könnte ich theoretisch mit meinem Privatwagen aufs Gelände fahren?"
Toni zuckte mit den Schultern: "Wie gesagt, ab Mitte der zweiten Halbzeit steht niemand mehr an der Schranke. Also wen kümmert's, wer da reinfährt? … Warum wollen Sie das wissen?"
"Vielleicht lass ich mich beim nächsten Mal von meinem Kumpel abholen. Dann spar ich mir das Geld fürs Taxi", sagte Usama.
Toni schmunzelte: "Das ist schlecht für uns Taxifahrer. Dann werde ich Ihnen besser keine Tipps mehr geben."
Als Abdul die Wohnungstür öffnete, war er überrascht, dass Usama jemanden mitgebracht hatte. Er ließ sich aber nichts anmerken und begrüßte seinen Freund mit einer herzlichen Umarmung.
Usama deutete auf seinen Begleiter: "Das ist Rahman. Wir kennen uns seit der Schulzeit."
Obwohl Abdul alles andere als ein Hänfling war, wirkte er gegen den fast zwei Meter großen und breit gebauten Rahman, der beim Eintreten instinktiv den Kopf einzog, eher schmächtig.
Das Apartment bestand aus einem geräumigen Zimmer mit Kochnische. Den größten Teil des Bodens bedeckte ein kostbarer Perserteppich. "Nehmt Platz!", sagte Abdul und deutete auf das weiße Ledersofa. "Was kann ich euch anbieten? ... Tee?"
"Tee wäre nicht schlecht", sagte Usama.
Rahman machte mit einer Geste deutlich, dass er nichts wollte.
Abdul bereitete den Tee zu, stellte die Gläser auf den Couchtisch und nahm gegenüber von seinen Gästen in einem Sessel Platz. Usama schlürfte etwas von dem heißen Tee und dachte nach. Dann begann er zu sprechen: "Wie gesagt, Rahman ist ein alter Freund. Wir können hier offen reden."
Abdul musterte Rahman: "Kann es sein, dass ich dich schon mal irgendwo gesehen habe?"
Rahman schüttelte als Antwort mit dem Kopf.
"Kann er nicht sprechen?", fragte Abdul irritiert.
Usama schmunzelte: "Mach dir nichts draus. Er ist kein Mann von vielen Worten, aber absolut zuverlässig und vertrauenswürdig. Vielleicht hast du ihn beim Freitagsgebet in der Moschee mal gesehen."
"Das kann sein", sagte Abdul und gab sich mit der Erklärung hinsichtlich Rahmans seltsamen Verhaltens zufrieden.
"Du verstehst sicherlich, dass man heutzutage nicht vorsichtig genug sein kann", sagte Usama. "Viele behaupten Gotteskrieger zu sein, spionieren aber in Wirklichkeit für die Ungläubigen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Spitzel seit dem 11. September in die Unis eingeschleust worden sind." Usama lächelte seinen Gastgeber an: "Aber bei dir habe ich keine Zweifel."
Abdul lächelte zurück.
Rahman zeigte keine Regung.
"Hast du sie?", fragte Usama.
Abdul nickte. Er stand auf, ging hinüber zu seinem Schreibtisch und kam mit einem kleinen Lederbeutel in der Hand zurück. Er legte den Beutel auf den Tisch und setzte sich wieder.
Usama öffnete den Beutel und ließ lächelnd einen Teil des Inhalts auf seine linke Handfläche rinnen. Er starrte fasziniert auf die kleinen, kegelförmigen Edelsteine, die in blauen, braunen und roten Facetten funkelten.
"Es sind genau fünfzig Brillanten", sagte Abdul.
"Und dein Vater hat das nicht gemerkt?", fragte Usama.
Abdul zuckte mit den Schultern: "Irgendwann wird er's merken. Aber wen interessiert das."
Usama schmunzelte und tat die kostbaren Steine vorsichtig zurück in den Lederbeutel. Er nahm einen Schluck aus seinem Teeglas, dachte nach und begann erneut zu sprechen: "Ihr beide, also Rahman und du, müsst die Sache allein durchziehen."
Abdul schaute ihn erstaunt an: "... Okay."
"Es gibt eine kleine Planänderung", sagte Usama.
Auf Abduls Gesicht machte sich Enttäuschung breit: "Ich ... ich dachte, wir ziehen das gemeinsam durch."
"Das tun wir auch", sagte Usama. "Wir werden ZWEI Anschläge durchführen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht." Er beugte sich nach vorn, um den Effekt von dem, was er sagte, zu verstärken: "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Rhein-Energie-Stadion ein gutes Ziel ist."
Abdul runzelte die Stirn: "Wieso soll das besser sein als die Domplatte?"
"Weil dort am Mittwoch der 1.FC Köln gegen eine zionistische Fußballmannschaft spielt", sagte Usama. Er setzte sich wieder aufrecht hin und ließ die Nachricht auf Abdul einwirken.
Der kniff die Augen zusammen und drückte mit einem Pfiff seine Bewunderung aus: "Das wär' der Hammer! Aber ... wir kriegen den Sprengstoff doch erst am Wochenende."
"Und genau deshalb müssen wir improvisieren. Ich habe zuhause ein paar Fässer mit Düngemittel", sagte Usama.
Abduls verständnisloser Blick verriet, dass er den Zusammenhang nicht verstand.
"Ich erkläre dir das jetzt, so gut man es einem Laien erklären kann", sagte Usama. "Ammoniumnitrat explodiert beim plötzlichen Erhitzen oder durch Initialzündung. Mit ein paar Zusätzen versehen, z.B. Aluminiumgrieß oder Heizöl, lässt sich die Sprengkraft noch erhöhen. Und genau dieses Ammoniumnitrat befindet sich in hoher Konzentration in dem Düngermittel."
Abdul nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.
"Gib mir mal was zu schreiben!", sagte Usama.
Abdul stand auf und holte Papier und Stift von seinem Schreibtisch.
Usama zeichnete, drehte das Blatt so, dass Abdul besser sehen konnte und erklärte die Skizze mit Hilfe seines Zeigefingers: "Das ist das Stadion." Sein Zeigefinger folgte einer kurzen Linie: "Das ist die Route des Mannschaftsbusses." Sein Zeigefinger tippte hart auf ein X: "Und hier, auf dem Weg von der Tiefgarage zum Westausgang, etwa in Höhe der Fahrstühle hoch zum VIP-Bereich, wird die Explosion erfolgen ... Es geht um die Vernichtung dieser zionistischen Fußballmannschaft. Was zusätzlich in die Luft fliegt ist eine Zugabe." Usama schaute Abdul entschlossen in die Augen.
Der erwiderte seinen Blick: "Das ist der helle Wahnsinn. So was hat es in Köln noch nicht gegeben."
"In ganz Deutschland nicht", sagte Usama. "Wir sind die Ersten. Aber viele werden uns folgen."
"Wie soll das ablaufen? Willst du die Ladung fernzünden?", fragte Abdul.
Usama schüttelte den Kopf: "Ich werde den Bus entweder rammen oder nebenher fahren und dann die Explosion auslösen."
Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann fuhr Usama fort: "Für die andere Sache braucht ihr mich nicht. Der Plastiksprengstoff den wir von den Russen kriegen ist leicht zu handhaben. Ich habe Rahman genau erklärt was zu tun ist."
"Wir werden dir nachfolgen", versprach Abdul. "Aber trotzdem–glaubst du nicht, dass das alles ein bisschen schnell geht? Der Plan ist ausgezeichnet. Und so eine Gelegenheit bietet sich auch nicht jeden Tag. Aber hast du alles sorgfältig bedacht?"
"Das habe ich. Es gibt kein Zurück mehr!" Die Tonlage in Usamas Stimme sagte, dass das Thema ausdiskutiert war. Er erhob sich, steckte das Säckchen mit den Brillanten ein und reichte Abdul die Hand: "Danke für den Tee und danke für die Brillanten. Dass du sie besorgt hast, ist der Beweis dafür, dass du ein Gotteskrieger bist."
Abdul umarmte Usama. Während der Umarmung zwinkerte er Rahman zu. Der Riese nickte und stand ebenfalls auf. Die drei bewegten sich in Richtung Wohnungstür: Usama, Abdul, Rahman, in dieser Reihenfolge. Vor der Wohnungstür blieb Usama stehen, drehte sich um und schaute Abdul ins Gesicht: "Wer ist eigentlich der Mann, den du samstags immer in den Köln-Arcaden triffst?" Er fragte, als sei es ihm gerade eingefallen.
Abdul zwängte sich flink an Rahman vorbei zurück ins Zimmer. Der Riese versuchte ihn zu packen, doch Abdul war schneller. Er war aber nicht schnell genug, um sein Vorhaben auszuführen. In dem Moment, als er sich mit der Pistole, die er aus einer Schublade holte, umdrehte, wurde sie ihm aus der Hand geschlagen.
Rahman nahm Abdul in einen Ringergriff und hob ihn hoch. Die Umklammerung war so fest, dass Abdul kaum atmen konnte. Seine Versuche sich frei zu strampeln und Rahman mit dem Hinterkopf einen Schlag zu versetzen scheiterten kläglich und sahen lächerlich aus.
Usama kam langsamen Schrittes zurück ins Zimmer. Er umschiffte den umgestoßenen Glastisch und den Ledersessel. Er hob die Pistole auf, musterte sie und schmunzelte nachdenklich. Schließlich gab er Rahman mit einer Geste zu verstehen, Abdul herunter zu lassen. Die Rollenverteilung zwischen den beiden war glasklar: Usama war der Chef und der große, kräftige, urig aussehende Rahman derjenige, der jeden Befehl ohne Zögern ausführte.
Usama trat an Abdul heran und lächelte. Es war offensichtlich, wie sehr ihm dieses Spiel gefiel. Er fuchtelte mit der Pistole vor Abduls Gesicht herum: "Wolltest du uns mit der hier erschießen?"
Abdul atmete schwer. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn.
"Für wie blöd hältst du mich eigentlich?" Usama wartete. Als keine Antwort kam, fuhr er fort: "Und dein Name bedeutet ‘Diener Allahs’ ... Du solltest dich schämen. Spionierst deine eigenen Leute für die Ungläubigen aus–was für ein Abschaum!"
"Der Abschaum seid Ihr", sagte Abdul mit bebender Stimme. "Ihr seid eine Schande für jeden aufrechten Moslem. Ihr tötet unschul–"
Weiter kam er nicht, denn Rahman zog die "Schraubzwinge" an.
Usama riss seine Regenjacke und das Hemd, das er darunter trug hoch und drehte sich zur Seite. Seine entblößte Hüfte und sein halber Rücken waren von Brandnarben bedeckt: "Siehst du das! Siehst du das‽ Das waren die verdammten Zionisten!" Der Speichel spritzte ihm beim Schreien aus dem Mund. "
Abdul rang nach Luft.
Usama gab Rahman ein Zeichen, den Griff etwas zu lockern. Er ging ganz nah an Abdul heran: "Diese Schweine haben einfach eine Rakete auf unser Haus abgefeuert. Nur weil mein Vater für die Rechte unseres Volkes gekämpft hat ... Allah hat mich überleben lassen, damit ich meine Familie räche."
"Du bist wahnsinnig!", sagte Abdul mühevoll mit hochrotem Kopf.
"Und du bist nur noch ein paar Sekunden von der Hölle entfernt", erwiderte Usama.
Abdul mobilisierte die ihm verbliebenen Kräfte und trat mit beiden Beinen zu. Usama taumelte zurück, ließ die Pistole fallen und fand sich auf dem Teppich neben dem umgestürzten Couchtisch wieder. Als er aufstehen wollte, blieb er mit seiner Regenjacke am Tischbein hängen. Aus seinen Augen sprach die reine Wut. Doch nur einen Moment lang; dann fasste er sich wieder. Er befreite seine Jacke von dem Tischbein, stand auf und ging ruhig auf Abdul zu: "Bevor ich dich in die Hölle schicke, wüsste ich noch gern, wann Ihr uns hochnehmen wolltet?"
Abdul wollte als Antwort auf den Boden spucken. Doch es blieb beim Versuch, weil ihm Rahmans eiserne Umklammerung wieder die Luft abdrückte.
Usama ging hinüber zur Kochnische. Er zog eine Schublade heraus und kramte darin herum. Dann kam er mit einer Geflügelschere in der Hand zurück.
Abdul nutzte verzweifelt den ihm verbliebenen Spielraum und bewegte seine Hände ruckartig hin und her. Doch es war ein Leichtes für Usama, einen seiner beiden kleinen Finger zu greifen und die Geflügelschere anzusetzen. In dem Moment, als Abdul den scharfen Stahl an seinem Finger spürte, drückte sein Gesicht nur noch Angst aus. Er hörte auf zu zappeln.
"Ich hatte gefragt, wann Ihr uns hochnehmen wolltet."
"Sobald ein konkreter Plan festgestanden hätte", sagte Abdul mit zittriger Stimme.
"Werde ich beschattet?"
"Nein. Ich sollte erst vollwertiges Mitglied der Zelle werden und mehr Informationen sammeln", sagte Abdul.
"Sind die Brillanten echt?"
"Sie sind echt, glaub's mir."
Usama überlegte einen Moment. Dann legte er seine linke Hand auf Abduls Mund. Sein Gesicht zuckte, gleichzeitig war ein Knacken zu hören. Abduls Schmerzensschrei war nicht lauter als ein gedämpftes Gurgeln. Sein kleiner Finger, fast am Ansatz abgetrennt, fiel auf den Boden.
Abduls Blick wurde glasig. Usama nahm die Hand von seinem Mund, trat zurück und griff in seine Hosentasche. Es folgte eine blitzschnelle Handbewegung. Etwas schwirrte durch die Luft und Abdul stöhnte auf. Blut rann aus seinem Mund. Rahman legte ihn auf dem Teppich ab. Er zuckte noch einige Male, dann blieb er regungslos liegen.
Usama zog das Messer, das bis zum Anschlag in Abduls Bauch steckte, heraus. "Sooft ihre Haut gar ist vom Feuer, geben wir ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe schmecken", murmelte er feierlich vor sich hin.
Unzählige Menschen waren unterwegs, um sich zu amüsieren, einen Partner zu suchen oder den Stress der Arbeitswoche hinter sich zu lassen. Unter ihnen noch viele FC-Anhänger. Nach stundenlangem feiern, waren ihre Kehlen heiser und der Alkoholspiegel im Blut so hoch, dass es manchem schwer fiel, geradeaus zu laufen.
Auf dem Hohenzollernring herrschte in beide Richtungen starker Verkehr. Viele Autos mussten immer wieder bremsen, weil jemand ein- oder ausparkte oder Betrunkene achtlos die Fahrbahn überquerten. Sicherheitskräfte patrouillierten in Sechsertrupps. Sie trugen gelbe Warnwesten mit der Aufschrift "Polizei" und "Ordnungsamt". Aus den Bars und Klubs schallten dumpfe Rhythmen. Vor den Eingängen standen die Leute Schlange und die Türsteher sortierten diejenigen aus, deren Gesichter ihnen nicht passten.
Der Taxistand am Friesenplatz war voll besetzt. Die Wagen standen Stoßstange an Stoßstange bis hinunter zur Bismarckstraße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Krankenwagen mit Blaulicht. Zwei Sanitäter versorgten ein Mädchen, das einen "Schwächeanfall" erlitten hatte. Ein anderes Mädchen stand daneben. Sie war barfuß und redete hysterisch mit ihren High Heels fuchtelnd auf die Sanis ein. Die beruhigten sie und versicherten, dass alles nur halb so schlimm sei und ihre Freundin bald wieder auf den Beinen sein würde.
Einige Meter weiter stand ein Abschleppwagen mit eingeschaltetem Warnlicht. Der Fahrer war damit beschäftigt einen aufgemotzten BMW mit einer elektrischen Seilwinde auf die Ladefläche seines Lkw zu ziehen. Die Politessen, die ihn angefordert hatten, gaben Daten in ihre elektronischen Geräte ein.
Zwei junge Männer liefen aufgeregt auf den Mann vom Abschleppdienst zu. "Eh, Alter! Das ist mein Auto! Lad den sofort wieder ab!", sagte einer der beiden im Befehlston. Er hatte lange, schwarze, nach hinten gegelte Haare.
"Das kostet 66,68", sagte der Mann, ohne in seiner Arbeit innezuhalten.
"Ich hör wohl nicht richtig, Alter!", sagte der mit dem gegelten Haar.
Der Mann vom Abschleppdienst setzte seine Arbeit unbeeindruckt fort.
Der Begleiter des Fahrzeugbesitzers versuchte es in einem moderateren Ton: "Eh, Kollege. Kannst du nicht mal ein Auge zudrücken? Wir haben hier gerade mal fünf Minuten gestanden. Ich schwöre."
Ein Motorradpolizist, bisher nicht sichtbar weil vom Abschleppwagen verdeckt, ging auf die beiden zu: "Das waren nicht nur fünf Minuten ... Sie können den Abschleppdienst sofort bezahlen, dann bleibt der Wagen hier und Sie bezahlen nur 66 Euro 68 für die Leerfahrt, plus Knöllchen natürlich. Oder Sie lassen ihn fahren und holen Ihren Wagen später bei der Firma Colonia in der Matthias-Brüggen-Straße ab. Das kostet dann 94 Euro plus 7 Euro 40 pro Tag, plus Knöllchen."
"Das ist voll die Abzocke!", sagte der mit dem gegelten Haar.
"Absolut nicht", widersprach der Polizist. "Hätten Sie sich an die Verkehrsbestimmungen gehalten, wäre Ihnen das hier erspart geblieben." Er deutete mit der Hand in Richtung Friesenplatz: "Die ganze Seite bis da vorn hin ist ab 23 Uhr für Taxen reserviert. Die stehen jetzt alle da drüben und blockieren die rechte Spur."
"Diese Brückenstraße, wo ist das denn, Mann?", fragte der mit dem gegelten Haar.
"Ich bin nicht Ihr Mann, dass das klar ist", sagte der Ordnungshüter autoritär. Dann fuhr er freundlich fort und korrigierte sein jugendliches Gegenüber: "Matthias-Brüggen-Straße–die ist im Gewerbegebiet Köln-Ossendorf."
Die folgende Tuschelei der beiden jungen Männer fand auf Türkisch statt und endete mit "Verdammter Mist!" Dann wandte sich der Besitzer des BMW an den Mann vom Abschleppdienst: "Eh, Alter! Was kostet das?"
"Immer noch 66 Euro und 68 Cent."
"Okay, lad ihn wieder ab! Ich gehe rüber zum Automaten Geld ziehen."
Die Flüche, die der junge Mann ausstieß, als er sich entfernte, quittierte der Polizist mit einem Lächeln: "Tja, dass Kölle teuer ist, müsste sich inzwischen rumgesprochen haben."
Ein Streifenwagen mit Blaulicht bahnte sich den Weg durch die Blechkarawane auf den Ringen. Lautes Bremsenquietschen war zu hören. Ein Taxi kam gerade noch rechtzeitig vor einem Pärchen in FC-Fanklamotten zum Stehen. "Ihr habt Rot!", brüllte der Taxifahrer aus dem Fenster und zeigte auf die Ampel.
"Willst du uns überfahren, du Arschloch!", giftete der Mann zurück. Ihm war anzusehen, dass er seit Spielende Unmengen von Kölsch in sich hineingeschüttet hatte. "Das gibt 'ne Anzeige! Ich–"
"Komm Schatz! Ist doch nichts passiert", sagte seine Frau und zog ihn weiter, als er eine Diskussion mit dem Taxifahrer beginnen wollte.
Der Mann ging widerwillig mit, konnte sich eine Drohung in Richtung Taxifahrer aber nicht verkneifen: "Ich merk' mir deine Taxinummer!"
"Besoffenes Schwein!", rief der Taxifahrer und fuhr weiter.
Toni und Billy saßen in dem Taxi, das die Spitze am Taxistand innehatte. Sie schauten amüsiert zu, wie der Mann von seiner Frau aufgefangen wurde, als er über den Bordstein stolperte.
"Ich glaube, du hast Fahrgäste", sagte Toni und öffnete die Wagentür als die beiden auf das Taxi zukamen.
"Der Typ ist hacke-dicht. Hoffentlich kotzt der mir nicht die Bude voll", sagte Billy.
Statt einzusteigen blieben die beiden neben dem Taxi stehen. Der Mann durchsuchte seine Hosentaschen, dann winkte er ab: "Ach, lass uns laufen. Ich hab keine Knete mehr." Er torkelte weiter, während seine Frau ihn stützte.
"Doch nicht!", sagte Toni, schloss die Tür und nahm wieder eine bequeme Sitzposition ein.
"Wenn die bis dahin zu Fuß gehen können, wär's sowieso 'ne Scheißfahrt gewesen", sagte Billy ohne Bedauern. Er zupfte an seinem blonden Musketierbart und summte ein paar Takte von Billie Joe Spears' "Country Girl", das aus seinem Radio dudelte, mit. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm den Faden des unterbrochenen Gesprächs wieder auf: "Und ab wann fährst du dann tagsüber?"
"Sobald ich einen zuverlässigen Nachtfahrer gefunden habe", sagte Toni.
"Dann sehen wir uns gar nicht mehr", sagte Billy.
"Es sei denn, du wechselst auch zur Tagschicht", sagte Toni.
Billy schüttelte den Kopf. Dabei schwangen seine langen, welligen, blonden Haare, die unter seinem Stetson herabfielen, hin und her. "Nee, da kann man keine vernünftigen Bräute kennenlernen", sagte er grinsend.
In diesem Moment war ein Piepsen zu hören und das Taxidisplay leuchtete auf. In Laufschrift erschien eine Notrufmeldung. Der nervende Ton verstummte erst, als Billy mit seinem beringten Zeigefinger auf einen Knopf des Displays drückte: "Die Zentrale sollte diejenigen, die Fehlalarm auslösen, mal richtig blechen lassen. Was meinst du, wie schnell die sich das abgewöhnen. Dreißig Euro–"
Ein erneutes Piepen des Displays unterbrach die Offenbarung von Billys Bußgeldkatalog. Er drückte sofort verärgert weg: "Und jetzt blockiert der Kerl den Sprachkanal, weil er nicht weiß, wie der Alarm ausgeschaltet wird! ... Ehrlich, heutzutage lassen die jeden Idioten den Taxischein machen. Manche sprechen nicht mal Deutsch. Ich kapiere nicht, wie die die Prüfung geschafft haben." Billy zog an seiner Zigarette und blies den Rauch kopfschüttelnd aus. Dann schaute er auf seine goldene, locker sitzende Armbanduhr und ein Grinsen huschte über sein Gesicht: "Ich hab 'ne Hammerfrau kennengelernt."
Toni warf ihm einen gelangweilten Blick zu: "Die Polin? Das hast du mir schon erzählt."
Billy schüttelte den Kopf und seine Haare flogen wieder hin und her: "Das ist vorbei. Die wollte mich nur ausnutzen."
Toni drehte schnell den Kopf zur Seite. Es gelang ihm mit einem Husten seinen Lachanfall zu kaschieren.
Billy fuhr indessen schwärmerisch fort: "Ich hab sie zweimal gefahren. 'Ne echt tolle Frau. Sie arbeitet im Magic. Traumfigur ... Die besten Titten von Kölle." Er malte mit den Händen zwei enorme Kurven in die Luft. "Ich hole sie in 'ner Viertelstunde ab und bring sie nach Hause. Aber vielleicht machen wir ja unterwegs irgendwo halt ..." Er zwinkerte Toni zu: "Du weißt schon, was ich meine."
"Klar." Toni nickte. Er wusste, was Billy meinte.
"Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich dich beneide?", sagte Billy nach einer kurzen Pause.
Toni tippte sich überrascht auf die Brust: "Mich?"
"Ja, dich. Du bist mit 'ner Klassefrau verheiratet, hast ein schönes Haus. Ich meine, was will man mehr?"
Toni schaute seinen Kollegen ernst an und schüttelte kaum merklich den Kopf: "Ich habe auch meine Probleme."
"Was kannst du schon für Probleme haben?", sagte Billy.
Ein erneuter aber anders gearteter Signalton unterbrach die Diskussion. Beide schauten aufs Display.
"Scheiße!", sagte Billy. "Das wird zu knapp für mich. Wenn das 'ne längere Fahrt ist, schaffe ich es nicht pünktlich zum Magic."
"Nimm an. Ich übernehme die Fahrt", sagte Toni.
Billy drückte die Bestätigungstaste und das Piepen verstummte.
Toni las laut die Adresse vom Display ab: "Touba, Restaurant, Hamburger Str. 12."
"Das ist hinten am Hansaring", sagte Billy. "Die haben 'ne geile Kellnerin. Wenn ich die sehe, muss ich danach immer zu Dr. Müllers Sexshop fahren."
Toni lachte und stieg aus: "Dann viel Spaß mit deiner neuen Flamme!" Trotz der versteckten Ironie, meinte er es ernst.
"Danke! Den werden wir haben", sagte Billy grinsend.
In dem Moment als Toni die Tür zuschlug, wollte ein Fahrgast hinten einsteigen. Billy drehte sich um: "Ich kann Sie nur mitnehmen, wenn's 'ne kurze Fahrt ist."
"Zülpicher Platz?", fragte der Mann.
Billy nickte: "Ist genau meine Richtung."
"Komisch, letztens bin ich mit jemandem gefahren, der hat sich tierisch aufgeregt, weil die Strecke zu kurz war", sagte der Fahrgast und schüttelte verständnislos den Kopf.
Als Toni im Rückspiegel eine Lücke ausmachte, gab er Gas, zwängte sich hinein, wendete ungeachtet der durchgezogenen Linie direkt vor der Ampelkreuzung und brauste, begleitet von einem Hupkonzert, in Richtung Hansaring davon. Sekunden später sah er im Rückspiegel Blaulicht und das "Stopp/Polizei" blinkende Dachzeichen eines Streifenwagens. Er verzog missmutig das Gesicht und kam der Aufforderung zum Halten nach. Sein Gesichtsausdruck hellte sich auf, als er die Beamten im Rückspiegel auf seinen Wagen zukommen sah.
"Ziemlich rasante Fahrweise", sagte der Jüngere der beiden streng.
"Ich hab's wirklich eilig, Steffen!", wandte Toni sich an den älteren Beamten, die Frage des jüngeren ignorierend.
"Mensch, Toni! Wie geht's?", sagte der Angesprochene. Aus seinem Ton ließ sich die reine Wiedersehensfreude heraushören.
Der irritierte jüngere Beamte, trat zur Seite und beobachtete die Begrüßungsszene.
"Wir haben uns ja ewig nicht gesehen–alles klar bei dir?", fragte Steffen.
"Ich kann nicht klagen", sagte Toni.
"Und Sonia?"
"Der geht’s auch gut."
"Grüß sie von mir ... Was macht die Familienplanung?"
"Wir haben uns erst mal einen Hund angeschafft", sagte Toni.
Steffen schmunzelte: "Für das Andere habt Ihr ja noch genügend Zeit." Er wurde ernster: "Ich find’s schade, dass du nicht mehr bei uns bist ... Aber ich kann dich verstehen. Ich konnte auch nachvollziehen, dass du damals deine Ruhe haben wolltest."
Die Fröhlichkeit verschwand für einen Moment aus Tonis Gesicht. Da er nichts sagte, entstand eine unangenehme Pause. Steffen beendete sie indem er ihm neckisch auf den Oberarm boxte: "Siehst fit aus!" Dann griff er mit beiden Händen an seinen sichtbaren Bauchansatz: "Ich alter Sack komme zu nichts mehr, muss mich aber mal wieder aufrappeln." Er schirmte den Mund mit der Hand ab, beugte sich näher an Tonis Ohr und flüsterte: "Die wollen die Fitnesstests wieder verschärfen."
Beide lachten.
"Fährst du nur nachts?"
Toni nickte. Dann zeigte er auf seine Uhr: "Ich muss, Steffen. Hab einen Auftrag."
"Klar doch!", sagte Steffen und reichte ihm die Hand durch das heruntergelassene Fenster: "Wollen wir nicht mal wieder was zusammen machen? Ich habe Karten für das Freundschaftsspiel am Mittwoch."
"Gegen wen geht's?", fragte Toni.
"Irgend 'ne israelische Mannschaft. Die sind nicht schlecht, haben ein paar Brasilianer", versuchte Steffen ihm die Sache schmackhaft zu machen.
Toni überlegte: Ein Ligaspiel wäre okay. Doch auf ein Freundschaftsspiel gegen eine Mannschaft von der er noch nie etwas gehört hatte, war er nicht scharf. Andererseits war es eine Möglichkeit seine alte Freundschaft mit Steffen aufzufrischen. Und Sonia ging auch gern zum FC ...
Steffen bemerkte seine Unentschlossenheit und sagte: "Ruf mich einfach bis übermorgen an und gib mir Bescheid." Dann hob er scherzhaft drohend den Zeigefinger: "Und denk dran. Wenden auf den Ringen ist verboten! ... Ich bin nicht jede Nacht unterwegs."
Toni zwinkerte ihm zu: "Alles klar. Ruhige Schicht noch!"
"Wünsch ich dir auch!" Steffen klopfte grüßend aufs Wagendach und ging.
Der junge Beamte nickte Toni einen Abschiedsgruß zu und folgte seinem Kollegen.
Toni schaltete das Radio ein, um die Gedanken an früher schnell wieder aus dem Kopf zu bekommen. Als er vor der "Touba" aus dem Wagen stieg, kam ein Pärchen aus dem Restaurant. "Sind Sie frei?", fragte die Frau.
"Haben Sie aus der Touba bestellt?", fragte Toni zurück.
"Nein", sagte der Mann, "aber–" Weiter kam er nicht, denn die Frau boxte ihm den Ellbogen in die Seite. "Idiot!", zischte sie und wandte sich an Toni: "Wir haben bestellt."
Toni sah die beiden skeptisch an und ging auf die Restauranttür zu.
"Eh! Was ist jetzt‽ Wir sind dir wohl nicht gut genug!", rief die Frau ihm hinterher
Der Mann winkte ab: "Lass den Wichser ... Komm! Es gibt noch genug andere Taxifahrer die Geld verdienen wollen."
Als Toni eintrat, schlug ihm Lärm und der Geruch von orientalischem Essen entgegen. Die Gaststätte war proppenvoll. Das Publikum bestand aus jungen Leuten jeglicher Nationalität. An einigen Tischen wurden Wasserpfeifen geraucht.
Toni ging auf den Mann hinter der Bar zu. Es dauerte einen Moment bis er dessen Aufmerksamkeit erlangte und ihm mitteilen konnte, dass das bestellte Taxi da war.
Der Mann nickte und wandte sich an die Kellnerin, als die mit einem Tablett voller leerer Gläser zurückkam: "Für wen war das Taxi, Maria?"
"Die beiden an der Drei. Ich sage Bescheid!" Sie warf Toni einen freundlichen Blick zu. Sie hatte lange, kastanienbraune Haare, die wie Seide glänzten und ganz dunkle Augen. Doch der sinnliche Mund war ihr markantestes Merkmal: Die Oberlippe war genauso voll und wohlgeformt wie die Unterlippe. Toni dachte unwillkürlich an Billy und daran wie der zu Dr. Müllers Sexshop fuhr ...
Er ging zurück zu seinem Wagen und wartete. Nach wenigen Minuten wurden die hinteren Türen geöffnet. Die Fahrgäste stiegen ein. Toni machte das Radio leiser und grüßte, ohne sich umzudrehen.
"Den Beifahrersitz ganz nach vorn!", sagte einer der beiden.
Toni führte die Anweisung aus. Von dem angeregten Gespräch der Männer, verstand er kein Wort, da es in einer fremden Sprache geführt wurde.
"Dieser Messerwurf geht mir nicht aus dem Kopf. Das war einfach brillant", sagte Rahman, der immer noch unter dem Eindruck des Erlebten stand. Er hatte gewusst, dass sein bester Freund Experte im Umgang mit Messern war. Aber an diesem Tag hatte er ihn zum ersten Mal in tödlicher Aktion gesehen.
"Das ist reine Übungssache", sagte Usama.
"Wo soll's hingehen?", fragte Toni höflich dazwischen.
"Wenn du die Bauchschlagader triffst, verblutet der Typ innerlich und ist praktisch auf der Stelle tot." Usama unterbrach seine Ausführung, um dem Taxifahrer das Fahrziel zu nennen. "In die Südstadt!", sagte er auf Deutsch. Dann setzte er seine Unterhaltung mit Rahman fort: "Ich glaube, das Messer ist überhaupt die perfekte Waffe. Eine Pistole macht Krach und es bleibt ein Projektil zurück. Abgesehen davon ist sie sowieso die Waffe der Feiglinge." Er holte sein Messer aus der Hosentasche: "Ich lobe mir das hier. Die Scheide ist mit einem Clip in der Hosentasche befestigt. Ich kann es jederzeit blitzschnell rausziehen." Er wiegte das schwarze nur aus Metall bestehende Messer liebevoll auf seiner Handfläche: "Neunzehn Zentimeter und 150 Gramm." Usama klappte die Mittelarmlehne herunter und setzte sich bequemer hin.
"Genickbruch ist aber auch eine gute Methode", sagte Rahman.
"Ja schon, aber ich wollte diesem Schwein in die Augen sehen", sagte Usama. Er steckte das Messer wieder ein: "Keine Sorge, du bekommst noch deine Chance. Das hier war nur der Anfang." Er holte den Lederbeutel mit den Brillanten aus einer Tasche seiner Regenjacke und betrachtete ihn nachdenklich: "Ich traue diesem Verräterschwein nicht. Es ist besser, die Steine noch mal prüfen zu lassen. Mit den Russkis ist nicht zu spaßen."
"Halten Sie am Chlodwigplatz", hörte Toni eine Stimme von hinten.
Am Chlodwigplatz, hörte er eine arabische Abschiedsformel und sah im Innenspiegel, wie sich die beiden mit Wangenküssen voneinander verabschiedeten. Der Große stieg aus.
"Es geht weiter nach Marienburg. Bonner runter, am McDonald's links rein und immer geradeaus", gab Usama die Richtung an. Dann herrschte Schweigen bis er an einer Kreuzung stopp sagte.
"Das sind 17,20", sagte Toni.
Usama schaute skeptisch auf das Taxameter: "Wieso ist das so teuer? Ich bin die Strecke schon mal gefahren, da habe ich nur 15 Euro bezahlt."
"Vor zwei Monaten gab's eine Tariferhöhung", sagte Toni.
Usama nahm die Erklärung zur Kenntnis und reichte Toni widerwillig das Geld. Der gab ihm, ohne sich richtig umzudrehen, das Wechselgeld. Usama stieg aus und schlug grußlos die Tür zu.
Toni beobachtete, wie er wegging, dabei fiel ihm der eigenartige Gang auf. Er fuhr weiter. Als das Taxameter ansprang, erinnerte er sich an die neueingebauten Sitzkontakte: Sobald die Mittelarmlehne heruntergeklappt war, wurde der Laserstrahl unterbrochen, genau so, als ob da ein Fahrgast sitzen würde. Daran musste er sich noch gewöhnen. Er stoppte, schnallte sich ab und streckte sich nach hinten, um die Mittelarmlehne hochzuklappen. Dann fuhr er weiter. An der nächsten Straßenecke stand eine winkende Gestalt.
Usama atmete tief durch. Er war ein paar hundert Meter vorher ausgestiegen, um sich noch etwas die Beine zu vertreten. Die frische Luft nach all dem Qualm in der Touba und die Ruhe nach der Aufregung des Tages taten ihm gut. Er hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist, einen Menschen zu töten.
Als er in die Taschen seiner Regenjacke griff, stutzte er. Er tastete seine Hosentaschen ab. Der kleine Lederbeutel war weg und sein iPhone auch.
Er sah die Bescherung, als er seine Jacke im Schein einer Laterne begutachtete: Die rechte Tasche war eingerissen. Das musste passiert sein, als er nach Abduls Tritt an dem Tischbein hängen geblieben war. Verdammt! Er ging den Weg zurück bis zu der Stelle, an der er aus dem Taxi gestiegen war und suchte den Bürgersteig ab–vergeblich.
Er eilte nach Hause. Vom Hof aus sah er, dass im Wohnzimmer ein bläuliches Licht flimmerte. Das bedeutete, sein Onkel war noch wach und saß vor dem Fernseher. Usama hoffte, dass er davor eingeschlafen war, denn er hatte keine Lust und vor allem keine Zeit, mit ihm zu sprechen. Er öffnete leise die Haustür und schlich auf Zehenspitzen zur Treppe. Eine Stufe knarrte. Wenige Sekunden später ging die Wohnzimmertür auf.
"Ich habe auf dich gewartet", sagte der Onkel. "Was war heute Nachmittag? Wir wollten doch miteinander sprechen."
"Ich musste was Wichtiges erledigen", sagte Usama.
Der Onkel schaute seinen Neffen skeptisch an: "Muss ich mir Sorgen um dich machen?"
Usama schüttelte den Kopf: "Mit mir ist alles in Ordnung."
Der Onkel blickte forschend durch die Gläser seiner rahmenlosen Brille: "Du hattest gesagt, nach der Pilgerreise würde sich alles ändern. Bisher habe ich davon noch nichts gemerkt ... Ich möchte fast sagen, es ist schlimmer geworden. Du kapselst dich immer mehr ab." Sein Ton wurde weicher: "Früher hast du mir immer von der Uni erzählt. Aber jetzt reden wir überhaupt nicht mehr miteinander."
"Es ist alles in Ordnung–wirklich", versicherte Usama.
Der Onkel schüttelte den Kopf: "Wenn man im zehnten Semester Chemie studiert und noch nicht einmal eine Zwischenprüfung gemacht hat, kann nicht alles in Ordnung sein." Er wartete auf eine Reaktion seines Neffen. Doch die kam nicht. "Geh jetzt!", sagte er schließlich. "Das Gespräch ist aufgeschoben, nicht aufgehoben."
Usama betrat sein Zimmer, klappte eilig sein Macbook auf, loggte sich in sein iCloud-Konto ein und klickte das Icon "mein iPhone suchen". Sekunden später war das Gerät geortet: ein grüner Punkt in der Kölner Innenstadt. In der Hoffnung, dass der Akku noch genügend Power hatte um einen Warnton auszusenden, klickte er die Option "Ton abspielen". Er ortete das Handy erneut, diesmal allerdings erfolglos. Der nun graue Punkt auf der Karte zeigte lediglich die Position des iPhones bei der vorherigen Ortung an und die Information "Gerät getrennt".
Usama klappte wütend das Macbook zu. Der Akku seines Handys war aufgebraucht und somit jegliche Chance dahin, den Fahrer durch Ortung ausfindig zu machen. Er überlegte einen Moment. Dann wählte er vom Festnetz aus *31* und die Nummer vom Taxiruf Köln: "Ich hatte vorhin ein Taxi von der Touba und habe da drin mein iPhone verloren."
"Wissen Sie die Taxinummer?", fragte eine weibliche Stimme.
"Nein, aber es war eine Bestellung", sagte Usama. Er hörte das Klicken einer Computertastatur.
"Da haben wir's! 1.36 Uhr, Hamburger Straße 12, Restaurant Touba. Ich schicke eine Nachricht an den Fahrer raus. Haben Sie schon versucht, Ihr Handy selbst anzurufen?"
"Das bringt nichts, weil der Akku leer ist", sagte Usama.
"Sie haben Ihre Nummer unterdrückt. Die brauch ich aber um Sie informieren zu können, wenn der Kollege sich meldet", sagte die Dame.
"Ich rufe Sie an", sagte Usama.
"Wie Sie wollen. Aber bitte nicht vor Ablauf einer halben Stunde."
"Es, hick ... gibt ja das alte deutsche Sprichwort, ehrlich, hick ... währt am längsten", sagte der Mann und hob schlaumeierisch den Zeigefinger: "Ich sag dir eins: Alles, hick ... Quatsch! Mit Ehrlichkeit kommst du nicht weit! Hick ..."
"Du musst die Luft anhalten, bis dreißig zählen und dann runterschlucken", sagte Toni.
"Das probiere ich jedes Mal.–Klappt aber nie", sagte der Mann. "Okay, ich versuch's noch mal."
Für dreißig Sekunden herrschte Ruhe, dann ein Schlucken und ein tiefes Luftholen. "Ich glaube, das hat geklappt", sagte der Mann und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Beim Anzünden brauchte er einige Versuche um sie mit der Flamme zu treffen.
Toni klappte den Aschenbecher auf.
Der Mann winkte ab: "Ich nehme den Großen!" Er lachte über seinen Witz und versuchte, die Asche aus dem halb geöffneten Fenster abzustreifen. Dabei fiel ihm der Glimmstängel aus der Hand. "Oh! Wo ist sie denn hin?", sagte er und tastete seinen Schoß ab.
Toni blickte verärgert zu ihm hinüber: "Heb das verdammte Ding auf! Ich will hier keine Brandlöcher haben."
Der Mann beugte sich nach unten, suchte und fand die Zigarette: "Nix passiert." Er lachte und deutete auf das Taxameter: "Kannst die Uhr ruhig ausmachen." Er zwinkerte Toni zu: "Dann kannst du dir das Geld selbst einstecken. Kriegt dein Chef sowieso nicht mit."
"Erstens kann ich das Taxameter nicht ausmachen wegen der Sitzkontakte und zweitens bin ich mein eigener Chef", sagte Toni.
Der Mann wandte sich ihm erstaunt zu: "Das ist dein Taxi? Du siehst so jung aus."
"Manchmal täuscht der Eindruck", sagte Toni.
Der Mann las das Schild am Armaturenbrett: "'Taxiunternehmen Jakobs. Es fährt Sie A. Jakobs.'–Tatsächlich. Ich dachte du bist ein Student, der sich was dazuverdient. Wofür steht das A? Andreas?"
"Anton", sagte Toni.
"Und wie lange fährst du schon Taxi?"
"Schon viel zu lange", sagte Toni.
"Macht's dir keinen Spaß?", fragte der Mann.
"Die Taxikonzession ist 'ne Hinterlassenschaft von meinem Vater. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich selbst irgendwann mal fahre."
"Was hast du denn gelernt", fragte der Mann.
Toni schaute misstrauisch zu ihm hinüber.
"Ich will dich nicht aushorchen ... nur ein bisschen Konversation betreiben", sagte der Mann und zog an seiner Zigarette. Er schwieg eine Weile. Dann versuchte er erneut eine Unterhaltung in Gang zu bringen: "Wieso hast du Sitzkontakte, wenn's dein eigener Wagen ist?"
"Ich will einen Fahrer anheuern. Und damit der mich nicht bescheißen kann, hab ich die einbauen lassen."
Der Mann machte eine triumphierende Geste: "Siehst du! Genau wie ich's dir eben gesagt habe. Auf dieser Welt bescheißt jeder jeden. Nur so kommt man vorwärts." Er konzentrierte sich auf die Straße: "Noch fünfzig Meter, dann kannst du mich rausschmeißen."
Toni fuhr rechts ran und bremste.
"Oder bescheißt du das Finanzamt nicht?", sagte der Mann, während er sein Portemonnaie suchte.
Toni beantwortete die Frage mit einem Schmunzeln. "7,40!", sagte er und drückte das Taxameter aus.
Der Mann gab ihm einen Zehner: "Stimmt so!" Er kramte weiter in seinem Portemonnaie und gab Toni eine Visitenkarte: "Du bist in Ordnung, Andreas! Wenn du mal was brauchst, melde dich. Ich kann alles besorgen–sogar 'ne Panzerfaust." Er imitierte das Abfeuern des Geschosses: "Bäng!" Dann stieß er die Tür auf und hievte sich aus dem Wagen.
Toni las die schlichte Visitenkarte: Der Typ hieß Franz Wickert und war "Einzelhändler". Er wollte die Karte aus dem Fenster werfen, doch dann entschied er sich um und legte sie in die Ablage.
Usama ging in seinem Zimmer auf und ab. Irgendwann ließ er sich auf die Couch fallen und machte den Fernseher an. Nach einer Weile schaltete er den Fernseher wieder aus und ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Ein beeindruckendes Poster beherrschte die gegenüberliegende Wand. Es zeigte den riesigen, mit schwarzer, goldbestickter Seide verhüllten Granitquader der Kaaba, umgeben von hunderten in Weiß gekleideten Gläubigen. Darunter stand in goldener Schrift "Es gibt keinen Allah außer Allah".
Dieser Anblick wirkte beruhigend auf ihn. Er dachte an seine Pilgerfahrt nach Mekka. Es waren die schönsten Tage seines Lebens gewesen. Er dachte an die leuchtenden Farben des Paradieses, an die Gärten der Wonne, an den Genuss von Früchten, Fleisch, Milch, Honig und Wein, der nicht berauscht, und es erfüllte ihn mit Freude. Schon bald würde er dort sein. Er würde Goldschmuck tragen und Gewänder aus Brokat und Seide und sich von Jungfrauen verwöhnen lassen. Es würde weder Geschwätz noch Lüge oder Sünde geben. Niemand würde mehr traurig sein. Er sah, wie er die Bewohner der Hölle verspottete: Diejenigen, die während ihres Erdenlebens auf ihn und seine Glaubensbrüder herabsahen und nun auf Ewigkeit die schlimmsten Qualen erleiden würden …
Usama schaute auf die Uhr. Die halbe Stunde war vorüber. Er nahm das Telefon und wählte.
"Taxiruf Köln, Guten Morgen!" Es war die gleiche Frauenstimme.
"Ich rufe noch mal wegen meinem iPhone an", sagte Usama.
"Ich habe mehrere Anfragen rausgeschickt. Aber der Fahrer hat sich noch nicht gemeldet", sagte die Frau.
Usama schnalzte verärgert mit der Zunge: "Können Sie mir nicht die Handynummer von dem Mann geben? Dann kann ich ihn direkt anrufen."
"Tut mir leid", sagte die Frau freundlich aber entschieden. "Wir haben hier nicht die Handynummern von allen Taxifahrern. Und selbst wenn, dürfte ich die nicht rausgeben."
"Was ist mit der Taxinummer?", fragte Usama.
"Die kann ich Ihnen geben", sagte die Frau. "Sagen Sie mir bitte noch mal, um welche Fahrt es ging."
Usama gab ihr die Daten. Dann hörte er wieder das Klappern der Computertastatur.
"Das ist die Drei-sieben-sieben", sagte die Frau. "Ich kenne den Fahrer persönlich. Das ist ein ganz lieber Mensch. Wenn Sie Ihr iPhone wirklich in seinem Taxi liegen gelassen haben, wird der es auf alle Fälle zurückgeben. Vielleicht hat er schon Feierabend gemacht und meldet sich deshalb nicht. Ich schicke aber vorsichtshalber noch eine Nachricht raus. Wollen Sie mir nicht doch Ihre Nummer geben, damit ich Sie gegebenenfalls zurück–"
Usama unterbrach das Gespräch. Er hatte die Information, die er brauchte. "Drei-sieben-sieben", murmelte er vor sich hin und schrieb die Nummer auf.
Toni gähnte und schaute auf die Uhr. Es ging auf drei zu. Die Nachtschicht war zwar noch nicht vorüber, doch angesichts der Tatsache, dass er schon seit dem Nachmittag unterwegs war, dachte er daran, Feierabend zu machen.
Ein Würgen ließ ihn besorgt in den Innenspiegel schauen. Hinten saß ein Pärchen. Der Kopf der Frau lehnte kraftlos an der Schulter ihres Begleiters. Ein Zucken ging durch ihren Körper, als sie abermals ihren Brechreiz unterdrückte.
"Sagt mir rechtzeitig Bescheid, wenn sich hier jemand übergeben muss! Dann fahr ich rechts ran", sagte Toni.
"Musst du?", fragte der Mann.
Die Frau öffnete ihre Augen einen Spalt und wischte sich träge mit einem Taschentuch über den Mund: "Es geht schon."
"Hoffentlich", sagte Toni skeptisch. "Mir hat hier mal jemand alles vollgebrochen. Können Sie sich vorstellen, was das für'ne Schweinerei war? Der Wagen hat drei Tage später noch gestunken."
Eine Nachricht erschien auf dem Display: "Taxi 377 bitte bei der Zentrale melden–Fundsache". Toni kam nicht dazu die Meldung zu lesen, denn just in diesem Moment begann die Frau erneut zu würgen.
Er bremste scharf, sprang aus dem Wagen und riss die Tür hinten links auf, ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Ein Fahrzeug fuhr hupend vorbei. Die Frau hielt sich den Mund mit dem Taschentuch zu. In dem Moment, als sie es wegnahm, schoss ein Schwall heraus. Toni konnte gerade noch zur Seite springen. Er schaute angewidert zu, wie sich die Frau, halb aus dem Wagen hängend, übergab.
Der Mann stieg ebenfalls aus und entschuldigte sich bei Toni: "Ist mir wahnsinnig peinlich. Ich gebe Ihnen ein gutes Trinkgeld."
Im Wageninneren erschien erneut die Nachricht auf dem Display: "Taxi 377 bitte dringend bei der Zentrale melden–Fundsache".
Als die Frau sich entleert hatte, hielt Toni ihr ein Tempotaschentuch hin. Sie bedankte sich lallend mit hervorgequollenen Augen und wischte sich Mund und Hände sauber. Der Mann griff Toni an den Arm: "Eh, ist mir echt peinlich. Ich gebe Ihnen ein gutes Trinkgeld", versicherte er abermals.
"Ist ja gut!", sagte Toni und befreite sich genervt von seinem Griff. "Können wir weiterfahren? Ich will Feierabend machen."
Die Frau nickte gequält.
Usama ging an der Hand seines Vaters durch das Gassengewirr seiner Heimatstadt. Er roch die allgegenwärtigen orientalischen Düfte und hörte den Ruf des Muezzins. Sein Vater führte ihn durch die Bir-Zeit Universität und die Al-Tireh und erzählte von der goldenen Ära der islamischen Welt, von den wissenschaftlichen Errungenschaften der islamischen Gelehrten, von einer Zeit, als diejenigen die heute verächtlich auf die Moslems herabblicken, noch in Höhlen hausten.
Der Vater schwor seinen Sohn darauf ein, diesen übermächtigen Feind zu bekämpfen–mit allen Mitteln. Er sagte, dass es unter den Ungläubigen keine Unschuldigen gäbe. Dass sie mit Angst und Schrecken übersät werden müssten, damit sie endlich verstünden, dass es auf dieser Welt nur einen Weg gibt: den Weg des Propheten Mohammed ...
Usama war sofort wach als der durchdringende Ton des Weckers erklang. Obwohl er nur kurz geschlafen hatte, fühlte er sich frisch und ausgeruht. Er zog ein weißes Gewand über und krempelte die Hosenbeine hoch. Dann ging er zu dem kleinen Tisch, der sich in einer Ecke seines Zimmers befand. Darauf standen eine Schüssel und eine Karaffe. Er füllte die Schüssel mit dem Wasser aus der Karaffe. Er sprach die Basmala "Im Namen Allahs, des Erbarmungsvollen, des Allerbarmers!" und begann mit der Waschung für das Frühgebet. Er wusch seine Hände, spülte Mund und Nase aus, wusch die Arme bis zu den Ellbogen, bestrich ein Viertel seines Kopfes mit Wasser und wusch sich die Füße bis zu den Knöcheln. Wie vorgeschrieben sprach er dabei die Basmala und wiederholte jede Aktion zweimal.
Nach Durchführung dieser rituellen Reinigung ging er in die Mitte des Zimmers. Er stellte sich auf den Gebetsteppich, senkte den Kopf und wendete sich dem Poster mit der Kaaba zu. Die Hände emporgehoben bis auf Höhe der Ohren, sprach er die Worte der ersten Sure des Korans: "Allah ist groß und erhaben!" Er nahm die Hände wieder herunter und begann zu beten: "Im Namen Allahs, des sich Erbarmenden, des Barmherzigen! Preis sei Allah, dem Herrn der Welten, dem sich Erbarmenden, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts. Dir allein dienen wir, und dich allein bitten wir um Hilfe! Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du gnädig bist, nicht derer, denen du zürnst und nicht der Irrenden!"
Dann sprach er die Worten der 112. Sure: "Im Namen Allahs, des sich Erbarmenden, des Barmherzigen! Er ist Allah, der Einzige, Allah, der Unabhängige und von allen Angeflehte. Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt, und keiner ist ihm gleich!"
Usama ging zum Ruku' über und berührte mit den Händen seine Knie: "Preis und Dank sei Allah, dem Allerhabenen!" Er richtete sich wieder auf, stand still und sprach weiter: "Allah erhört den, der ihn lobpreist!"
Er kniete nieder und berührte mit der Stirn, den Handflächen und den Spitzen der großen Zehen gleichzeitig den Boden: "Preis und Dank sei meinem Herrn, dem Allerhabenen!"
Usama hob den Kopf kurz hoch, um dann mit der zweiten Sajda fortzufahren. Während Stirn, Handflächen und große Zehen wieder gleichzeitig den Boden berührten, sagte er erneut: "Preis und Dank sei meinem Herrn, dem Allerhabenen!"
Er hob den Kopf aus der Sajda, verharrte einen Moment und stand auf zur zweiten Rakah: "Mit Allahs Hilfe stehe ich auf und knie nieder!" Wie bei der ersten Rakah, sprach er die erste und die 112. Sure des Korans.
Dann hob er die Hände bis in Höhe des Gesichts zum Bittgebet: "Allah, gib mir Wohles in dieser Welt und in jener und bewahre mich vor der Pein des Feuers."
Es folgten wieder Ruku' und Sajda, genau wie bei der ersten Rakah. Dann hob er den Kopf, ruhte auf den Knien und begann mit der Bezeugung. Zuerst sagte er 33 mal "Preis sei Allah!", 33 mal "Lob sei Allah!" und 33 mal "Allah ist der Größte!" und dann dreimal: "Ich bezeuge, dass es keinen Allah gibt, außer Allah! O Allah, segne Muhammed und seine Familie!"
Weiterhin kniend sprach er zum Abschluss das Salam: "Sei mit dir, oh Prophet der Segen und die Gnade Allahs! Friede sei mit uns allen rechtschaffenen Dienern Allahs! Friede sei mit euch und die Gnade und der Segen Allahs!"
Usama erhob sich und ging hinüber in die andere Ecke seines Zimmers. Er setzte sich im Schneidersitz vor die kahle Wand und blickte in die Videokamera, die vor ihm aufgebaut war. Er räusperte sich und schaltete die Kamera mit der Fernbedienung ein:
"Mein Name ist Usama Khalidi. Ich bekenne mich zu dem Anschlag auf das zionistische Fußballteam. Ich rufe all meine Glaubensbrüder auf, meinem Beispiel zu folgen, so lange bis die Feinde des Islams besiegt sind. Wir müssen sie mit Angst und Schrecken übersähen, bis sie sich nicht mehr aus ihren Häusern wagen ..."
Als Toni die Schlafzimmertür öffnete, kam Benni hechelnd und vor Wiedersehensfreude quiekend auf ihn zu. Toni streichelte ihn, mahnte jedoch zur Ruhe, weil das Frauchen schlief. Benni verstand und legte sich wieder neben das Ehebett auf Sonias Seite.
Toni ging leise auf seine schlafende Frau zu. Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und schmunzelte als er das Buch über Hundeerziehung neben ihrem Kopfkissen liegen sah. Er strich ihr zärtlich über die Haare und betrachtete im Halbdunkel ihr hübsches Gesicht. Als er ihr über die Wangen strich, wurde sie wach. Sie schob seine Hand weg und drehte sich auf die andere Seite. Toni gab ihr einen Kuss auf den Nacken, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf: "Lass mich schlafen."
Er blieb noch einen Moment sitzen. Dann stand er auf und verließ das Zimmer. Benni folgte ihm.
Toni holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann ging er ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und starrte vor sich hin. Sein Gedankenfluss wurde unterbrochen, als Benni ihn anstupste. Der Hund saß vor ihm auf dem Boden und schaute ihn mit treuen Augen an. Toni beugte sich nach unten und streichelte ihn: "Ich wünschte, ich wäre du.–Und weißt du warum? Weil du nämlich keine Sorgen hast."
Benni bewegte den Kopf hin und her und fixierte ihn mit seinen schwarzen Augen, als ob er aufmerksam zuhören würde.
Toni nahm einen erneuten Schluck aus der Bierflasche und griff nach der Fernbedienung. Dann streckte er sich auf dem Sofa aus. Benni tat es seinem Herrchen gleich und legte sich ebenfalls hin.
Toni schaltete von einem Kanal zum nächsten. Auf den Privaten lief überall Sexwerbung. Er führte immer mal wieder nachdenklich die Bierflasche zum Mund.
Irgendwann waren Geräusche im Flur zu hören. Die Toilettenspülung ging. Dann stand Sonia im Türrahmen. Sie trug nur einen Slip. Die festen Brüste, das wohlgeformte Becken, das ihre schmale Taille so zur Geltung brachte, diese Beine! Toni schluckte, als sie auf ihn zukam.
Sie hob wie selbstverständlich seine Beine hoch und setzte sich ans Fußende des Sofas. Dann nahm sie ihm die Bierflasche aus der Hand und trank einen Schluck. Toni schaute sie erstaunt an: "Keine Angst um die Figur?"
"Nicht bei einem Schluck", sagte sie und gab die Flasche zurück. Sie deutete auf den Fernseher: "Musst du dir das anschauen?"
"Ich guck da gar nicht hin. Hab nur hin und her geschaltet.–Aber abgesehen davon: sind doch alles hübsche Frauen, nett anzusehen."
Sonia blickte ihn an: "Hübscher als ich?"
Toni stellte die Bierflasche ab, richtete sich auf und zog sie an sich. Er küsste sie und sie ließ es geschehen. "Von denen ist keine auch nur halb so schön wie du", flüsterte er.
Plötzlich schlang Sonia ihre Arme um ihn und küsste ihn zärtlich zurück. "Ich habe solche Angst, dass das alles unsere Ehe kaputtmacht", sagte sie mit versöhnlicher Stimme.
Toni schaute sie liebevoll an: "Nichts wird unsere Ehe kaputtmachen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe."
"Davon habe ich in letzter Zeit nicht viel gemerkt", sagte Sonia. "Wir sehen uns kaum noch wegen diesen verdammten Nachschichten. Du hattest gesagt, du willst das nur für drei, vier Monate machen. Jetzt geht das schon über ein Jahr so. Du igelst dich total ein. Wir führen überhaupt keine richtige Ehe mehr." Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Ich habe immer versucht, mich in dich hineinzuversetzen, dich zu verstehen. Und bis zu einem bestimmten Punkt habe ich dich auch verstanden. Aber dann konnte ich nicht mehr ... Ich will meinen alten Toni zurückhaben."
Toni wischte ihr die Tränen von den Wangen und blickte sie schuldbewusst an: "Ich weiß, dass ich eine Menge Fehler gemacht habe."
"Du musst endlich aufhören mit dieser Selbstzerfleischung!", sagte Sonia. "Du trägst keine Schuld am Tod dieses Jungen. Du hast vorschriftsmäßig gehandelt, das haben dir alle bescheinigt."
Benni beobachtete die beiden aufmerksam. Er schien zu verstehen, dass es sich um ein äußerst wichtiges Gespräch handelte.
Tonis Lippen bewegten sich, als ob er etwas sagen wollte. Doch er schwieg. Für einen Moment herrschte Stille. Dann atmete er tief durch und sagte: "Ich habe Sitzkontakte ins Taxi einbauen lassen."
Sonia schaute ihn fragend an: "Das heißt?"
"Das heißt, ich werde einen Nachtfahrer einstellen", sagte Toni.
Sonia sah ihn ungläubig an: "Dann ist das mit den Nachtschichten vorbei?"
Toni nickte.
Sonia umarmte und drückte ihn ganz fest: "Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren. Allein der Gedanke hat mich fertig gemacht."
"Weißt du was?", sagte Toni. "Morgen werde ich nicht fahren. Wir machen uns einen richtig schönen Nachmittag. Und am Mittwoch gehen wir zum FC. Ich habe Steffen getroffen. Der hat Tickets und uns eingeladen."
Sonia küsste ihn wieder: "Darauf freu ich mich. Wir haben so lange nichts mehr zusammen unternommen." Sie griff erneut nach der Bierflasche und bemerkte, dass Benni sie beobachtete. "Hier gibt's nichts zu sehen, Benni", sagte sie scherzhaft.
Der Hund quittierte das mit einem Seufzer.
"Mach Platz!"
Benni lag fast schneller auf dem Boden, als Sonia den Befehl ausgesprochen hatte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und lobte ihn. "Das haben wir die letzten Tage geübt. Jetzt hat er's drauf." Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und stellte sie ab. "Aber jetzt will ich mal sehen, was du noch so drauf hast!", sagte sie und fuhr mit der Hand unter Tonis T-Shirt.
Der schaute ihr forschend ins Gesicht: "Weißt du, was ich an dir am meisten liebe?"
"Was denn?", fragte Sonia, in Erwartung eines Riesenkompliments.
"Deine Sommersprossen!" Als er sie küssen wollte, boxte sie ihm neckisch in die Seite: "Duuu!"
Beide lachten.
*