Siebzehn

Friedrich-Engels-Allee, 19.25 Uhr

»Gib mir einen Tipp«, bettelte Stefan, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. Durch das offene Seitenfenster wehte ein lauwarmer Fahrtwind ins Innere seines heiß geliebten Käfers. Reflexartig fiel das Licht der tiefstehenden Sonne durch die Zweige der alten Bäume, die in diesem Teil der Straße ein grünes Dach über der Fahrbahn bildeten. »Ich will wissen, wie du an die Adresse des Jungen im Bunker kommen willst.«

»Keine Chance.« Heike schüttelte lachend den Kopf und spielte mit einer ihrer blonden Strähnen. Sie zog das Handy aus dem Rucksack, der zwischen ihren Knien im Fußraum stand. »Ich bin eine gute Journalistin und weiß immer, wie ich an meine Informationen komme.« Sie zwinkerte Stefan zu und strich den Saum ihres luftigen Sommerkleids glatt. Prompt erwischte sie sich bei der Frage, ob Jörn das Kleid mit dem dünnen, anschmiegsamen Stoff auch gefallen hätte. Als sie spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten, tippte sie eine Nummer auf der Tastatur ihres Handys, die sie von Jörn Lichtenfelds Karte ablas.

»Das, was du machst, grenzt ganz bestimmt an die Verletzung des Datenschutzes«, maulte Stefan. Seine Hände ruhten auf dem großen dünnen Lenkradkranz des Käfers. Der Motor im Heck von Clemens blubberte zufrieden. Heike lauschte dem Freizeichen, während rechts das Polizeipräsidium vorbeiflog. Nach dem dritten Tuten meldete er sich. »Heike«, rief er erfreut. »Schön, dass du anrufst. Es ist ein so schöner Abend, und ich frag mich gerade, wir könnten vielleicht zusammen etwas trinken gehen?«

»Ich fürchte, das muss warten«, erwiderte Heike schnell und bemühte sich um einen sachlichen Klang in der Stimme. »Du hast mir doch berichtet, dass der junge Mann, der im Bunker erschossen wurde, eine Freundin hat. Ich benötige dringend ihre Adresse.«

»Du willst mir die Butter vom Brot nehmen?« Er lachte, doch es klang nicht böse. »Lass uns das zusammen angehen, Heike.«

»So lange kann ich nicht warten.«

»Du hast es wirklich eilig, die Story an den Sender zu verkaufen«, stellte Jörn fest.

»Das ist es nicht.« Heike sah Stefans fragenden Blick im Augenwinkel und starrte angestrengt aus dem Beifahrerfenster. »Sie ist in Gefahr, fürchte ich.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Nicht am Telefon. Ich werde dir alles erzählen, sobald ich weiß, dass es ihr gut geht.«

Er schwieg einige Sekunden und schien nachzudenken. Schließlich seufzte Jörn am anderen Ende der Leitung, »Sie wohnt am Sedansberg, nicht weit vom Bunker entfernt, in dem sich die Sauerei abgespielt hat.« Jörn Lichtenfeld nannte Heike die Anschrift von Mirja Blums Wohnung. Sie bedankte sich und drückte eilig den roten Knopf. Das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie das Handy in den Rucksack zurücksteckte. »Und?« Stefan grinste sie an. »Bist du jetzt schlauer?«

»Ja.« Heike diktierte ihm die Adresse von Mirja Blum, und Stefan freute sich, dass sie auf dem richtigen Weg waren, denn der Käfer rollte auf das Zentrum von Barmen zu. »Woher hast du das gewusst?«, fragte er verdutzt. »Ich meine, du wusstest von Anfang an, dass ich in Richtung Barmen fahren sollte.«

»Ich wusste es wirklich nicht«, beteuerte Heike und log nicht einmal. »Vielleicht sollten wir kurz im Sender vorbeischauen und sehen, ob sich schon etwas Neues ergeben hat.«

Stefan ersparte sich eine Antwort. Er wusste, dass es sinnlos war, Heike auszubremsen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Das geschwungene, metallische Kunstobjekt des Bildhauers Tony Cragg auf dem Grünstreifen glänzte in der Sonne. I'm alive hatte er es genannt - Stefan bezeichnete das Kunstwerk, das im Rahmen der Ausstellung Sichtweisen seit 2007 auf der ehemaligen Straßenbahntrasse stand, gerne flapsig als »Spermium on the run«. Nachdem sie das Opernhaus passiert hatten, hielt er sich auf der linken Fahrspur, um an der großen Kreuzung am Alten Markt links abzubiegen. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Sedanstraße, und zwei Minuten später krabbelte Clemens die steile Straße hinauf. Stefan fand eine freie Parklücke hinter einem giftgrün lackierten Audi A 4 und lästerte über dessen Farbe.

Doch Heike hörte ihm nicht mehr zu. Etwas in ihr sagte ihr, dass sie keine Zeit verlieren durften. Sie war bereits ausgestiegen und trieb auch Stefan zur Eile an. Er folgte ihr zum Eingang des gesuchten Mietshauses und blickte an der Fassade des sanierten Altbaus empor. Das Haus wirkte mit seiner Stuckfassade und den Erkern fast verspielt inmitten der eher nüchtern anmutenden Häuserzeile. »Hier soll es sein?«

»Blum, Mirja Blum heißt sie.« Mit einem Blick auf das Klingelschild stellte Heike fest, dass sich Mirja Blums Wohnung offenbar unter dem Dach befand. Sie klingelte. Als sich nichts tat, legte sie den Daumen noch einmal auf die Klingel. Gleichzeitig hörte sie im Treppenhaus Schritte. Jemand rannte die Treppe herunter, Stimmen wurden laut. Durch die geschlossene Haustür konnte Heike nichts von dem verstehen, was drinnen gesprochen wurde. Sie presste ihr Gewicht gegen die Tür, um sie aufdrücken zu können, falls Mirja Blum oben den Türdrücker betätigte. Obwohl der Öffner nicht brummte, schwang die Tür plötzlich nach innen auf, und Heike verlor das Gleichgewicht, um in das kühle Treppenhaus zu taumeln. Weit kam sie nicht, denn sie lief zwei Männern in die Arme. Einer der beiden zögerte nicht lange - er packte sie hart an den Schultern und schubste sie zur Seite. Heike schimpfte und beschwerte sich über den rauen Umgang, während sie vergeblich versuchte, an einer halbhoch vertäfelten Wand Halt zu bekommen und stürzte. Stefan, der hinter Heike gestanden hatte und ihr ins Haus gefolgt war, lief den Männern ebenfalls in die Arme. Er fluchte wild, als ihm das Gleiche widerfuhr, und protestierte, bevor er sich um seine Freundin kümmerte. Die Männer überhörten seinen lautstarken Protest und stürmten aus dem Haus. Es vergingen keine zehn Sekunden, und vor dem Haus dröhnte ein Motor auf, dann entfernte sich ein Wagen mit quietschenden Reifen.

Durch das Fenster neben der Tür zum Hinterhof drang das warme Sonnenlicht in den Flur.

Heike rieb sich mit schmerzverzerrter Miene einen Ellenbogen.

»Hast du dir weh getan?«, fragte Stefan besorgt und half ihr auf die Beine.

Heike nickte. »Nein, was rede ich denn da? Es geht mir gut.« Sie schenkte ihm ein verunglücktes Lächeln. »Diese brutalen Halbaffen. Das wird bestimmt ein blauer Fleck.«

Stefan konnte sich eine witzelnde Bemerkung nicht verkneifen. »Wie schrecklich.«

»Können wir jetzt?« Heike deutete ins Treppenhaus nach oben. »Vor uns liegt ein weiter und beschwerlicher Weg.«

»Den ich mit einem Krüppel zurücklegen muss«, stänkerte Stefan und fing sich einen sanften Hieb in die Seite ein. Dann traten sie den Weg ins Dachgeschoss an. Dort angekommen, erschien es ihnen, als würden sie vor eine heiße, unsichtbare Wand prallen. Die Hitze des Tages stand noch unter dem ausgebauten Dachgeschoss des Hauses. »Warum steht die Wohnungstür offen?«, flüsterte Heike verwundert, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Stefan stöhnte. »Weil du geklingelt hast vielleicht?«

»Sie hat nicht geöffnet.« Heike trat an die Tür und klopfte an. »Hallo? Frau Blum, sind Sie da?« Drinnen rührte sich etwas. Doch mehr als ein Stöhnen war nicht zu hören.

»Da ist was passiert«, stellte Stefan fest und stieß die Tür weit auf. Sie schlug an die dahinterliegende Wand und pendelte sanft zurück. Stefan setzte einen Fuß über die Schwelle. Das Erste, was ihm im halbdunklen Flur auffiel, war das hier herrschende Chaos. Jemand hatte sich an der Kommode zu schaffen gemacht und den Inhalt der kleinen Schubläden auf dem Fußboden verteilt. »Einbrecher«, raunte Stefan Heike zu und legte einen Finger auf die Lippen.

»Das waren garantiert diese Kerle, denen wir unten im Flur in die Arme gerannt sind«, flüsterte Heike. »Möglich. Ich hoffe nur, dass da niemand mehr drin ist, der uns eins überbrät.«

»Ich rufe die Polizei.« Dann fiel Heike auf, dass ihr Rucksack im Käfer lag. Und darin befand sich ihr Handy. »Meins liegt zu Hause«, murmelte Stefan betroffen. Heike winkte ab und murmelte leise: »Vergiss es. Komm, wir sehen nach.«

Ohne auf Stefans Protest zu achten, drängte sie sich an ihm vorbei und fand sich im Chaos wieder. Es sah schrecklich aus, und offenbar hatten die Einbrecher nichts an seinem Platz gelassen. Bilder lagen auf dem Boden, die Scherben der Rahmen knirschten unter den Sohlen ihrer leichten Sommerschuhe. Der Schlüsselkasten hing nur noch an einem Haken, die Klappe stand offen und die sich darin befindlichen Schlüssel hingen schräg nach unten. Als sie den Kopf nach links wandte, fielen Heike die Spuren der Verwüstung auch im Wohnzimmer auf. Es gab eine halbhohe Regalschrankwand. Bücher, CDs und Dekorationsartikel hatten die Einbrecher auf dem Fußboden verteilt, dabei war kaum etwas heil geblieben. Ein großer Fernseher lag verkehrt herum auf dem Boden und war sicherlich zu Bruch gegangen.

»Frau Blum, sind Sie da?«, rief Stefan nun in die Wohnung.

Als Antwort erhielt er ein Ächzen. Er folgte dem Geräusch und stand in einem völlig verwüsteten Wohnzimmer. Zwischen der Couch und dem niedrigen Wohnzimmertisch lag eine zusammengekrümmte Gestalt, die in einen weißen Frottee-Bademantel gehüllt war. Die langen, schwarzen Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, und ein dicker, leuchtender Bluterguss zierte ihren rechten Wangenknochen. Unter dem Tisch lag eine leere Sektflasche. Der Inhalt hatte sich auf dem Teppich ausgebreitet. Stefan ging neben der offensichtlich benommenen Frau in die Hocke. »Sind Sie verletzt?«          

Sie antwortete mit einem stummen Kopfschütteln und ließ sich von Heike und Stefan aufhelfen. Kraftlos sank sie auf das Sofa und stierte ins Nichts. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, als könnte sie das, was ihr passiert war, nicht glauben. Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte sie zu Stefan und Heike auf.   

»Wie kommen Sie hier herein?« Ihre Stimme klang brüchig und war nichts als ein Hauch.

»Die beiden Männer sind herausgestürmt, als wir ins Haus wollten«, erklärte Stefan. Er beschrieb die beiden mit wenigen Worten.

Mirja Blum nickte. »Ja«, sagte sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Das waren sie wohl.« Dann blickte sie sich ungläubig im Zimmer um. »Was wollen die von Alexander?«

»Das wissen wir leider auch nicht«, erwiderte Heike mitfühlend. »Deshalb sind wir eigentlich auch hergekommen - in der Hoffnung, dass Sie uns einen entscheidenden Tipp geben können.«

»Sind Sie von der Polizei?« Die junge Frau wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres flauschigen Bademantels ab.

Heike schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben - mein Name ist Heike Göbel, und das da«, sie zeigte auf Stefan, der einen hilflosen Eindruck machte, »ist mein Kollege Stefan Seiler. Wir sind von der Wupperwelle.«

»Ich kenne Sie.« Nun huschte der Ansatz eines Lächelns um Mirja Blums Lippen. »Die Wupperwelle ist mein Lieblingssender. Nie hätte ich gedacht, dass Sie mal in meiner Wohnung stehen.« Sie ließ den Blick durch das Zimmer kreisen. »Beziehungsweise, dass Sie in dem stehen, was von meiner Wohnung übriggeblieben ist.«

»Worauf hatten es die Täter denn abgesehen?«, unternahm Stefan einen Versuch, das Gespräch in eine sachliche Richtung zu lenken.

»Wenn ich das wüsste.« Mirja blickte mit tränenverschleiertem Blick zu ihren Besuchern auf. »Die Typen haben immer von irgendwelchen Unterlagen gesprochen, die hier in der Wohnung sein sollen. Aber ich weiß nicht, was sie gemeint haben.«

»Vielleicht wüsste Ihr Freund eine Antwort darauf«, tippte Stefan und fing sich für die Bemerkung einen giftigen Blick von Heike ein.

»Wahrscheinlich. Er hat mir irgendetwas verschwiegen und hat mit diesen Leuten scheinbar Geschäfte gemacht, und ich habe überhaupt keinen Plan, worum es geht.« Heike blickte Stefan an. »Wir müssen Ulbricht anrufen.«

»Kommissar Ulbricht?«, fragte Mirja Blum. Stefan nickte. »Sie kennen ihn?«

»Er ist der Leiter der Mordkommission, die das Schwein sucht, das meinen Freund erschossen hat.«

»Mein Handy liegt unten im Auto«, murmelte Heike. »Nehmen Sie mein Telefon - wenn es noch funktioniert. Zuletzt hat es in der Ladestation im Flur gesteckt.« Stefan ging in den fast rechteckigen Flur und suchte in den Trümmern das schnurlose Gerät. Nachdem er es gefunden hatte, wählte er die Nummer des Polizeipräsidiums und ließ sich mit Kommissar Ulbricht verbinden.    

 

Sedanstraße, 19.55 Uhr:

»Ich hätte mir denken können, dass es überall da Ärger gibt, wo Sie sich herumtreiben«, grummelte Ulbricht, als er Mirja Blums Wohnung betrat. Er war kurz nach dem Team der Kriminalwache eingetroffen und hatte den Kollegen Jupp Bock nur mit einem knappen Kopfnicken begrüßt. Eigentlich hatte er ins Bett gewollt, um das Schlafdefizit der letzten Stunden auszugleichen. Noch immer hatte er sich nicht getraut, Kontakt zu Wiebke aufzunehmen. Allerdings fehlte ihm noch eine Telefonnummer. Er beschloss, Heinrichs zu bitten, weiter zu recherchieren. Damit war der Junge wenigstens zu etwas zu gebrauchen. Der Feierabend war jedenfalls vorbei, bevor er begonnen hatte. Wie sollte er sich da um seine privaten Probleme kümmern?

Der Anruf der Kollegen hatte ihn auf dem Heimweg erreicht. So hatte er auf der Heckinghauser Straße gewendet, wäre dabei fast mit einem LKW kollidiert und hatte sich auf den Weg zu Mirja Blums Wohnung gemacht. Heike ging nicht auf den schroffen Ton des Ersten Kriminalhauptkommissars ein. Sie bedachte ihn mit einem zuckersüßen Lächeln. »Charmant wie immer«, stellte sie fest. »Wir freuen uns auch, Sie zu sehen.« Er ging nicht auf ihr Geplänkel ein. »Vielleicht hätte ich Sie doch besser verhaften lassen sollen, als Sie sich mit diesem Rapper im Bunker herumgetrieben haben.«

»Verraten Sie mir, welches Geheimnis dieser Bunker birgt?«, fragt Heike. »Warum reagieren alle Menschen augenblicklich so allergisch auf diesen alten Kasten?«

»Das liegt wohl daran, dass sich dort ein Tötungsdelikt ereignet hat und wir den Mörder suchen.« Ulbricht fingerte sich eine Zigarette aus der zerknautschten Packung und klemmte sie sich zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden.

»Das heißt, Sie haben noch keine heiße Spur?«, mischte sich nun auch Stefan in die eigenartige Konversation ein.

Ulbricht bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. »Was soll das werden? Ein verdammtes Interview?« Blöde Fragen hatten ihm gerade noch gefehlt. »Wenn Sie gern ein Statement abgeben würden, können wir eines daraus machen«, brummte Stefan. Offenbar hatte der Reporter befürchtet, dass es mal wieder Ärger geben würde.

Ulbricht war noch nie begeistert davon gewesen, wenn die Journalisten vor ihm den Tatort erreichten und ihn mit Fragen löcherten. Daraus hatte er auch niemals einen Hehl gemacht. Den Umstand, dass Heike und Stefan von dem Überfall auf Mirja Blum nichts gewusst hatten, als sie hier hergekommen waren, ignorierte er. »Wir wussten gar nicht, dass Sie jetzt auch Überfälle bearbeiten«, erlaubte sich Heike eine Spitze. »Sind Sie nicht für Tötungsdelikte zuständig?«

»Raub, Erpressung und Einbrüche sind meine Abteilung«, bemerkte Bock, der das Gespräch einigermaßen amüsiert verfolgt hatte. »Ich bin beim KK 14«, fügte er dann hinzu. »Aber der Kollege Ulbricht ermittelt in einem Tötungsdelikt, und wie Sie offensichtlich wissen, handelt es sich bei der Mieterin der Wohnung um die Freundin unseres Opfers. Deshalb ist es nicht außergewöhnlich, dass die Kriminalkommissariate zusammenarbeiten.«

»Ich hätt es nicht besser sagen können«, brummte Ulbricht und riss sich ein Streichholz an, mit dem er sich die Zigarette anzündete und die Luft in Mirja Blums Wohnung verpestete. Prompt verschluckte er sich am Rauch und erlitt einen mittelschweren Hustenanfall. Er überlegte, ob er sich nicht doch endlich das Rauchen abgewöhnen sollte. Wahrscheinlich war er längst ein Fall für den Arzt. Doch der Besuch beim Medizinmann musste warten. Er wandte sich an die beiden Radioreporter. »Dann erzählen Sie mir bitte mal, was Sie hier zu suchen hatten, als Sie Frau Blum in diesem Tohuwabohu antrafen.«

Mirja Blum reichte Ulbricht einen kleinen gläsernen Aschenbecher.

»Wir recherchieren für einen Radiobeitrag, bei dem es um das Bernsteinzimmer geht«, eröffnete Heike ihm. Augenblicklich lagen die Blicke aller Anwesenden auf ihr. Mirja Blum hatte sich schnell einen bequemen Hausanzug übergezogen. Die Personenbeschreibungen der beiden Täter hatte sie Bock bereits gegeben, und er hatte einen Zeichner angefordert, der Phantombilder der beiden anfertigen sollte. Doch offenbar war der Mann aufgehalten worden, und sie schien sich in ihrer eigenen Wohnung fremd und überflüssig zu fühlen. Nun stand sie eingeschüchtert bei der Gruppe und sagte kein Wort. Sogar die beiden Spurensicherer hatten beim Wort »Bernsteinzimmer« die Arbeit unterbrochen. Stille war eingekehrt. Die Luft in der verwüsteten Wohnung schien plötzlich elektrisch aufgeladen zu sein. Ein Funke hätte genügt, und alles wäre explodiert, da war Stefan sich sehr sicher. Er warf Heike einen gequälten Blick zu, der »ich wusste, dass das die falsche Bemerkung war« sagen sollte. Doch sie hielt seinem Blick stand, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf Norbert Ulbricht richtete. Dieser blickte sie starr an, dann zuckte es in seinen Mundwinkeln, und er lachte. »Das Bernsteinzimmer?«, polterte er los. »Sind Sie jetzt völlig durchgedreht? Ich war froh, dass man nicht mehr jeden Tag neuen Mist über diese Geschichte in der Zeitung lesen musste, und jetzt fangen Sie wieder damit an?« Er schüttelte den Kopf. »Frau Göbel, langsam weiß ich wirklich nicht mehr, woran ich bei Ihnen bin. Soll ich Ihre Aussage so in mein Einsatztagebuch schreiben?« Er klopfte die Asche mit dem rechten Zeigefinger ab und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, wir machen unseren Beruf und sagen Ihnen ja auch nicht, wie Sie Ihren machen sollen«, konterte Heike trotzig. Ulbricht wollte etwas erwidern, hatte den Mund schon geöffnet, dann brach er ab und blickte sich zu seinen Kollegen um, die wie zur Salzsäule erstarrt einen Halbkreis um ihn gebildet hatten. »Was glotzt ihr so dämlich?«, blaffte er sie an. »Seid ihr schon fertig mit der Arbeit? Dann können wir ja abhauen hier.« Er deutete auf Heike. »Ich vernehme hier gerade eine Zeugin, also - ab an die Arbeit, bevor ich durchdrehe!« Die Männer tummelten sich. 

»Wobei das Bernsteinzimmer ja streng genommen nicht in deine Abteilung fällt«, grinste Jupp Bock. »Kunstraub ist Sache des KK 14.«

»Auch gut«, bellte Ulbricht. Er legte den Zeigefinger der rechten Hand an die Schläfe und wandte sich zum Gehen. »Dann habt ihr die Sache ja sicher bald im Griff, und ich kann Schluss machen für heute.« Im Türrahmen angekommen, drehte er sich auf dem Absatz um. Sein Gesicht hatte eine tiefrote Färbung angenommen, seine Augen blitzten auf. »Sagt mal, seit ihr jetzt alle total bescheuert? Macht eure Arbeit, sonst gibt es Ärger. Und lasst mich gefälligst meinen Job tun - ich werde jetzt mit meinem Verhör fortfahren«, er blickte zu Bock hinüber, »wenn es recht ist.«

Jupp Bock verzog den Mund und wandte sich ab, um ein paar Worte mit dem Team der Spurensicherung zu wechseln. »Übrigens gibt es keine verräterischen Fingerabdrücke«, rief er Ulbricht zu. »Die Täter haben Handschuhe getragen. Wie auch beim Mord im Bunker, da war nämlich auch nichts zu finden. Und wie beim Mord an Trautler.«

»Schön, dass wir alle im Erzählkreis davon hören«, blaffte Ulbricht und packte Heike am Arm, um sie in die ebenfalls völlig verwüstete Küche der Wohnung zu ziehen. Stefan schenkte er keine Beachtung mehr. Das Geschirr war bei dem Überfall zu Bruch gegangen, und bei jedem Schritt knirschte es unter ihren Füßen. »Das alles haben Sie eben nicht gehört«, redete Ulbricht auf Heike ein. »Ist das klar?«          

»Sie wollen mir einen Maulkorb auferlegen?« Heike hob eine Augenbraue. »Die Sache mit der Pressefreiheit muss ich Ihnen aber jetzt nicht noch mal erklären, oder?«   

»Ich kann mich auch bei Herrn Eckhardt über Sie beschweren, vielleicht wird er dann endlich vernünftig und legt Sie an die Leine. Dann machen Sie ab morgen den Wetterbericht«, zischte Ulbricht.

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Heike gab sich trotzig. Es ging ihr gegen den Strich, wenn man sie ausbremste. Der Umstand, dass Eckhardt und Ulbricht seit Jahren befreundet waren, machte die Sache allerdings nicht gerade leichter. Und so beschloss sie, zunächst kleine Brötchen zu backen.

»Also«, sagte sie in einem versöhnlichen Ton. »Was ist dran an der Bernsteinzimmer-Geschichte?« Ulbricht, dessen Gesichtsfarbe sich wieder einigermaßen normalisiert hatte, rang sich ein Grinsen ab. »Selbst wenn ich es Ihnen sagen wollen würde — ich dürfte es nicht. Ich habe keine Lust auf unnötigen Ärger, nicht mehr in meinem Alter. Halten Sie sich vom Bunker fern und stecken Sie Ihre Nase nicht überall hinein, mehr verlange ich gar nicht.«

»Zwei Menschen sind gestorben, und es ist mir daran gelegen, dass Sie den oder die Mörder schnell dem Haftrichter vorführen können«, erwiderte Heike. »Ich bin auf Ihrer Seite, und Herr Seiler ist es auch. Das sollten Sie inzwischen kapiert haben, Herr Hauptkommissar.« Nun lächelte sie den alten Brummbär an. »Und wenn am Ende noch eine schöne Geschichte für die Wupperwelle dabei herumkommt, umso besser.«

»Sie sind unverbesserlich«, ächzte Ulbricht und schüttelte den Kopf.

»Also — wie weit sind Sie bei Ihren Ermittlungen, und wie können wir Ihnen helfen?«

»Vieles deutet daraufhin, dass es sich — Sie haben es eben selbst gehört - um die Täter handelt, auf dessen Konto auch der Mord an Trautler geht. Dass die Männer auch den Freund der jungen Frau umgebracht haben, ist brisant. Sie scheinen etwas zu suchen.« Im Hintergrund begann Mirja Blum bei dem Wort »umgebracht« zu schluchzen.

»Und sie weiß nichts?«, raunte Heike dem Kommissar zu.

»Nein.« Kopfschütteln. »Und ich glaube ihr. Ich werde den Verdacht nicht los, dass ihr Freund in eine dumme Sache verwickelt war, die er nicht alleine durchgeführt hat. Offensichtlich gehörte er einer Organisation an.«

»Organisiertes Verbrechen?« Heikes Augen wurden groß. »Wir können es nicht ausschließen.«

»Na, herzlichen Glückwunsch.«

»Sie sagen es.« Ulbricht zuckte mit den Schultern. Dann beugte er sich zu Heike herunter. »Und denken Sie daran: Ich will nichts von dem, was ich Ihnen gesagt habe, im Radio hören.«

»Das verspreche ich Ihnen.«

»Schön.«

Heike konnte sich täuschen, aber sie glaubte den Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht zu erkennen. Ulbricht fuhr fort: »Und jetzt sind Sie dran. Was hatten Sie hier zu suchen?«

»Wir wollten Mirja Blum fragen, ob sie eine Erklärung für das geheimnisvolle Treffen ihres Freundes im Bunker hat. Offenbar ist das aber wohl nicht der Fall, und dieser Alexander scheint einige Dinge vor seiner Freundin geheimgehalten zu haben.« Heike machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr. »Oder er war an einer großen Sache beteiligt, an einer ganz großen Sache.«

»Das Wort Bernsteinzimmer kann ich nicht mehr hören«, brummte Ulbricht, als in seiner Manteltasche die Tatort-Melodie ertönte. Er murmelte eine Entschuldigung, während er nach dem Handy suchte. Als er Heikes Grinsen sah, fügte er hinzu: »Hat Heinrichs mir so eingestellt.« Er ließ Heike stehen, und sie widmete sich Mirja Blum. »Haben Sie Freunde, bei denen Sie übernachten können?«

»Warum?« Die junge Frau wirkte verwirrt. Man sah ihr an, dass sie mit den schrecklichen Ereignissen, die über sie hereinbrachen, völlig überfordert war. »Hier können Sie unmöglich schlafen«, erwiderte Heike sanft und deutete auf das Chaos. »Abgesehen davon, dass ich an Ihrer Stelle Angst hätte, dass die Männer noch einmal zurückkommen. Ich will Ihnen keine unnötige Angst machen, aber es ist zu befürchten, dass die beiden äußerst brutal sind. Dass sie von der Schusswaffe Gebrauch machen, wissen wir ja bedauerlicherweise.«

»Ja.« Sie nickte, und ihre katzenhaften, grünen Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Sie haben recht«, sagte sie leise. »Ich werde eine Freundin anrufen. Sie hat sicherlich das Sofa frei für mich, wenn ich ihr erzähle, was passiert ist.«

»In Ordnung«, nickte Heike erleichtert. Stefan gesellte sich zu den beiden Frauen. Er nickte Mirja Blum zu und strich aufmunternd über ihren Unterarm. In manchen Momenten war er schlecht im Sprechen, daran änderte auch sein Beruf nichts.

»Ich muss los«, eröffnete Ulbricht ihnen, als er das Telefonat beendet hatte. »Es hat eine Verhaftung gegeben«, setzte er an Heike gewandt nach. »Die Kollegen haben Jörg Trautlers Handy ausgewertet. Den letzten Anruf konnten sie noch nicht zurückverfolgen — er wurde mit unterdrückter Rufnummer abgegeben. Das ist kein großes Problem, aber der Umstand, dass es sich bei dem Telefon, mit dem sich seine Mörder bei ihm gemeldet haben, um ein als gestohlen gemeldetes Prepaid-Handy handelt, macht die Sache kompliziert. Aber wir bleiben dran. Es ist noch ein anderer Mann in der Anrufliste des Dezernenten aufgetaucht.« Ulbricht machte es spannend. »Den vorletzten Anruf in seinem Leben erhielt Jörg Trautler von einem gewissen Heinrich Große. Im letzten Jahr hat er sich als zweifelhafter Bernsteinzimmer-Forscher einen Namen gemacht.«

»Oh nein, nicht Große«, stöhnte Heike.

»Sie kennen ihn?« Ulbricht forschte in Heikes Gesicht.

»Natürlich, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich an einem Beitrag über den Verbleib des Bernsteinzimmers arbeite«, erwiderte Heike aufgebracht. »Große ist ein sehr integrer Mann, der lange Zeit im Stadtarchiv am Haspel gearbeitet hat.«

»Was nichts daran ändert, dass wir ihn mit einem Tötungsdelikt in Verbindung bringen«, konterte Ulbricht unbeeindruckt. Er wandte sich zum Gehen. Mirja, Heike und Stefan folgten ihm in den Flur. Dort angekommen, drehte sich Ulbricht noch einmal um. »Sollte an dieser verdammten Bernstein-Spinnerei tatsächlich etwas dran sein, hätte er ein Motiv: Habgier ist ein nicht zu unterschätzendes Mordmotiv. Das sollten auch Sie wissen, Frau Göbel.« Dann war er draußen.    

 

Kaiserstraße, 20.10 Uhr

Der alte Mann griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab. Wie immer hatte er die Nachrichten gesehen, doch die Ereignisse der Welt prallten heute an ihm ab. Immer neue Schreckensmeldungen aus Japan, immer wieder Unruhen im Nahen Osten. Es war zum Verzweifeln. Und dennoch gab es andere Dinge, die Gustav Blum an diesem Abend mehr beschäftigten. Blum ließ sich in die Lehne seines alten Ohrensessels fallen und schüttelte den Kopf. Nachdenklich starrte er ins Leere und knibbelte mit dem Zeigefinger über das vergilbte Klebeband, mit dem er die Fernbedienung nach einem Sturz vom Tisch provisorisch geklebt hatte.

Als vor dem Fenster eine Schwebebahn vorbeirumpelte und der Lichtschein der Bahn ins Zimmer fiel, erwachte er aus den trüben Gedanken. Der Junge war tot, ermordet worden. Im Bunker, so hatten sie es im Radio gesagt. Also hatte sich Alexander nicht mit seinem Wissen aus dem Staub gemacht. Er hatte um das Geheimnis, das er mit dem alten Mann teilte, gekämpft. Und den Kampf verloren. Gustav Blum seufzte. Der alte Mann wusste nicht, ob Alexander sein Geheimnis mit ins Grab genommen hatte oder ob seine Mörder nun alles wussten. Das wäre sicherlich fatal. Unruhe packte Blum. Er legte die geklebte Fernbedienung auf der Lehne des Sessels ab und erhob sich schwerfällig. Die verdammte Hüfte machte ihm Probleme, und so hinkte er ein paar Schritte durch die Wohnung. Natürlich gab er sich die Schuld am Tod von Alexander. Er hatte den Jungen anscheinend ins offene Messer rennen lassen. Warum hatte er nicht einkalkuliert, dass es auch andere Menschen gab, die sich das weltberühmte Bernsteinzimmer unter den Nagel reißen wollten? Eigentlich war er kein naiver Mann. Aber er hatte dem Jungen vertraut. Wahrscheinlich hatte er geplaudert und so das Interesse von zweifelhaften Freunden geweckt. Ja, so musste es gewesen sein. Doch die Ahnung war kein Wissen, und er suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Gustav Blum wusste, dass seine Enkelin litt. Sie hatte ihren Freund verloren, ihren ersten richtigen Freund. Die beiden waren ein hübsches Paar gewesen, und Mirja hatte ihrem Opa sogar von einer romantischen Hochzeit vorgeschwärmt. So hatte er seine Enkelin noch nie erlebt. Sie hatte ihr Abitur machen wollen, danach ein Studium und eine steile Berufskarriere. Doch seitdem sie Alexander kannte, hatte sie ihr Leben grundlegend umgekrempelt. Sie hatte von einem Leben an der Seite des jungen Russen geträumt. Dieser Traum war nun zerplatzt wie eine Seifenblase. Blum stand am Fenster und blickte hinaus in den Abend. Auf der Kaiserstraße herrschte nicht viel Verkehr um diese Zeit. Im Haus gegenüber brannte Licht hinter einigen Fenstern; und er sah das bläuliche Flimmern eines Fernsehers. Selbstzweifel plagten ihn. Er musste seiner Enkelin reinen Wein einschenken. Morgen würde er sie besuchen. Morgen.

Und er schmiedete einen Plan. Es war an der Zeit, die Vergangenheit zu vergessen und an Morgen zu denken. Das Wissen um das verdammte Bernsteinzimmer war zu einem tödlichen Fluch geworden. Ein junger Mann war gestorben, seine Enkelin sicherlich am Boden zerstört. Er hatte es noch nicht gewagt, sie anzurufen. Zu groß war die Unsicherheit, denn er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, wenn sie weinte. Anlügen wollte er sie auf gar keinen Fall.    

 

Polizeipräsidium, 20.30 Uhr

»Wie oft soll ich Ihnen sagen, dass ich für die Tatzeit ein Alibi habe?« Heinrich Großes Augen waren gerötet. Er hockte vornübergebeugt auf einem der wackligen Stühle in Ulbrichts Büro. »Als es Trautler an den Kragen ging, habe ich friedlich geschlafen, das wird Ihnen meine Frau bestätigen können. Und wenn ich nachts aufgestanden wäre, dann wäre sie aufgewacht, sie hat nämlich einen sehr leichten Schlaf, meine Johanna.« Dann fuchtelte der Historiker aufgebracht mit den Händen in der Luft herum. »Außerdem - welches Motiv sollte ich haben, meinen Verbündeten im Rathaus zu ermorden?«       

»Wie wäre es mit Habgier?« Ulbricht verschränkte die Hände hinter dem Kopf und betrachtete den Forscher nachdenklich. Dass der Mann, der das Achte Weltwunder ausgerechnet hier in Wuppertal suchte, nun vor seinem Schreibtisch saß, hätte er nie für möglich gehalten. Und dennoch gab es einige Punkte, die darauf hindeuteten, dass Heinrich Große mit den beiden Morden in Verbindung stand. Nur das Wie musste er noch klären. Ulbricht richtete sich auf eine lange Nacht ein. Der Umstand, dass er im Besitz eines Waffenscheins war und angeblich keine Pistole besaß, machte die Sache auch nicht eben leichter. »Sie haben mit Trautler zusammengearbeitet, er hat Ihnen die Türen sämtlicher Bunker und Tunnel im Stadtgebiet geöffnet, damit Sie nach dem Bernsteinzimmer suchen konnten, so haben Sie es selber erzählt. Was, wenn Sie den Schatz längst gefunden haben? Wenn Sie ihn noch verborgen halten, weil Sie sich vorstellen, dass die Stadt Besitzansprüche stellen wird, wenn Sie das Bernsteinzimmer in einem Gebäude der Stadt finden? Dann bleibt weniger für Sie übrig, denn Sie müssten alles mit der Stadt Wuppertal teilen. Also räumen Sie Ihren engsten Vertrauten aus dem Weg und warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist, bevor Sie den Schatz bergen und damit Ihren Lebensabend versüßen.«    

»Das … das ist eine Unverschämtheit«, schnaufte Große außer sich. »Wie stellen Sie sich das vor? Ich geistere eine Zeitlang durch die Medien, gelte als der verrückte Kerl, der sich vorgenommen hat, das Bernsteinzimmer hier in Wuppertal zu finden. Man konnte in der Vergangenheit in den Zeitungen lesen, dass ich danach suche. Und dann taucht es nicht auf, aber ich verhökere das Bernsteinzimmer in seinen wertvollen Einzelteilen? Glauben Sie ernsthaft, dass der Oberbürgermeister dann nicht fragen würde, wo ich das Zimmer gefunden habe?« Heinrich Große schüttelte den Kopf. »Wenn das Bernsteinzimmer irgendwo auftaucht, wird man mich damit in Zusammenhang bringen und forschen. Würde ich mit dem Verkauf des Zimmers Geld verdienen, wäre es eine Frage der Zeit, bis einige Behörden bei mir anklingeln, glauben Sie nicht?« Ulbricht tauschte einen Blick mit Heinrichs, der schweigend auf der Fensterbank im Rücken seines Chefs hockte und dreinschaute, als ginge ihn die Sache nichts an. Ulbricht hatte nach dem Überfall auf Mirja Blum die Wohnung des toten Alexander Koljenko öffnen und durchsuchen lassen. Er hätte darauf wetten können, dass sich hier das verbarg, was die Russen in der Wohnung der jungen Frau gesucht hatten. Doch die Kollegen, die die Wohnung des Toten durchsucht hatten, mussten ihn enttäuschen. Nichts, was man hätte verwenden können, um den Fall aufzuklären. Ulbricht hasste es, auf der Stelle zu treten. Und der Umstand, dass die beiden Reporter der Wupperwelle schon wieder in dem Fall mitmischten, passte ihm nicht. Ulbricht schluckte seine Wut herunter und widmete Heinrich Große die ganze Aufmerksamkeit. »Was haben Sie denn mit Trautler besprochen, als Sie ihn angerufen haben?«, fragte er.

Sekundenlang herrschte Schweigen im Raum, und die Kommissare überlegten, ob es daran lag, dass sich der Historiker erst eine Ausrede für das Telefonat mit dem Dezernenten zurechtlegen musste.

»Ich habe ihn davon unterrichtet, dass ich Spuren in einem Bunker gefunden habe, die darauf hindeuten, dass sich dort jemand zu schaffen gemacht hat.«

»Moment, Moment!« Heinrichs rutschte von der Fensterbank und trat auf Heinrich Große zu. »Heißt das, Sie waren in letzter Zeit wieder unterwegs, um nach dem Bernsteinzimmer zu suchen?«

»Ich habe den Traum nie aufgegeben«, erwiderte Große leise. »Ich war es nur satt, mich nach außen hin zum Affen zu machen. Deshalb war ich auch nicht mehr bereit, mich der Öffentlichkeit zu stellen. Entgegen meiner Auffassung habe ich mich gestern mit einer Journalistin getroffen, die sich für die aktuellen Entwicklungen rund um das Bernsteinzimmer interessierte.«

»Heike Göbel von der Wupperwelle«, mutmaßte Ulbricht.

»Ja, woher wissen Sie…«

»Ich bin Polizist«, erwiderte Ulbricht schnell. Er hatte nicht vor, dem Forscher seine Informationsquellen zu verraten, schon gar nicht, wenn sie auf Vermutungen aufbauten. Aber er war lange genug Polizist, um eins und eins zusammenzählen zu können. Sie hatte ihm in der Wohnung von Mirja Buhm davon berichtet, Große im Rahmen ihrer Recherchen kennen gelernt zu haben. »Können wir kurz unter vier Augen sprechen?«, mischte sich Brille Heinrichs nun ein.

Der grauhaarige Historiker erhob sich. »Natürlich. Ich warte draußen auf dem Gang.« Er verließ das Büro. Ulbricht blickte ihm nach, bis sich die Tür hinter Große geschlossen hatte. »Und nun?«, fragte er dann an seinen Assistenten gewandt. »Er war es nicht.«

Das Wissen können wir sicherlich auf Ihre langjährige Erfahrung zurückführen«, brummte Ulbricht ironisch. »Nein, aber er war es nicht.« Heinrichs ging nicht auf die spitze Bemerkung seines Vorgesetzten ein. »Es stinkt ihm gewaltig, dass es offenbar Menschen gibt, die seinem Geheimnis auf der Spur sind. Und wie es sich anhört, sind diese Menschen der Sache näher, als es Heinrich Große lieb ist.«

»Sie meinen, er hat es nicht gern, wenn er die Arbeit mit der Suche nach dem Bernsteinzimmer macht und andere die Lorbeeren an seiner Stelle ernten und sich daran bereichern?« Ulbricht schob nachdenklich die Unterlippe vor.

Heinrichs nickte und rückte sich die blau gerahmte Brille zurecht. »So ist es.«

»Dann wäre es ihm doch zuzutrauen, dass er sowohl den jungen Russen als Konkurrenten, aber auch Trautler als Mitwisser umgebracht hat, oder?«

Heinrichs dachte kurz nach und seufzte dann. »Aber er hat ein Alibi. Zumindest für die Tatzeit, in der Trautler in den Barmer Anlagen erschossen wurde.«

»Bleibt zu klären, ob er auch eines für den Mord an Koljenko hat«, erwiderte Ulbricht.

»Das lässt sich herausfinden.« Heinrichs grinste blöde, aber Ulbricht war zu müde, um ihn für seine Überheblichkeit zu rügen.

Sein Assistent durchquerte das Büro, öffnete die Tür und rief »Herr Große, kommen Sie bitte« in den Flur. Schritte näherten sich, und kurz darauf erschien der Forscher im Raum. Er nickte den beiden Beamten zu und setzte sich wieder auf den Stuhl. »Und?«, fragte er. »Was hat Ihre Besprechung ergeben?«

Ulbricht ging nicht darauf ein. »Wo waren Sie vorgestern in der Zeit zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr?« Heinrich Große dachte wieder kurz nach. »In der Stadt«, sagte er dann. »In Elberfeld, um genau zu sein.«

»Hat man Sie dort gesehen?«, setzte Heinrichs nach, während er wieder den Platz auf der Fensterbank in Ulbrichts Rücken einnahm.

Nun schmunzelte Große. Er nickte. »Wahrscheinlich haben mich mehrere tausend Menschen dort gesehen.« Ulbricht wandte sich seufzend zu Heinrichs um. Diese Frage hätte er sich sparen können. Er übernahm die Befragung. »Ich nehme an, Sie waren alleine unterwegs?«

»Ja.«

»Und was haben Sie in der Stadt getan?«

»Was tut man schon in der City?« Große lachte amüsiert. »Einkaufen oder Shopping, wie man das heute nennt. Erst Rathausgalerie, dann quer durch die Stadt und danach in die City Arkaden. Ach, da fällt mir ein, wahrscheinlich hat mich der Zuckerfritz gesehen - und Mina Knallenfalls. Sie stehen ja den ganzen Tag in der Fußgängerzone herum.« Beim Zuckerfritz handelte es sich um eine Bronzefigur, die seit 1979 auf dem Elberfelder Kerstenplatz stand. Bei der Nachbildung des Wuppertaler Originals handelte es sich um Fritz Poth, eine volkstümliche Gestalt aus dem 19. Jahrhundert. Ähnlich war es bei Mina Knallenfalls - sie hatte hingegen nie gelebt. Die Figur war eine Erfindung des Wuppertaler Mundartdichters Otto Hausmann aus dem Jahr 1870. Seit Ende der 1970er Jahre wachte ihre Statue unweit des Döppersbergs über das Geschehen in der Fußgängerzone. Beide Figuren waren Schöpfungen der Bildhauerin Ulle Hees und aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken.

»Ihre blöden Scherze können Sie sich sparen«, grollte Ulbricht. »Sollte es Ihnen noch nicht klar sein, dass wir hier in zwei Tötungsdelikten ermitteln, bei denen Sie in beiden Fällen eine Rolle spielen?«

»Wissen Sie«, sagte Heinrich Große gedehnt. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen, und es ist Ihre Aufgabe, einen oder sogar mehrere Mörder zu finden. Sollten Sie mich des zweifachen Mordes bezichtigen, müssen Sie mir das erst mal nachweisen.«

Heinrichs trat an Ulbrichts Schreibtisch und nahm einen Schnellhefter an sich, in dem er blätterte. »Hier steht, dass Sie im Besitz eines Waffenscheins sind.« Er blickte Große an, der nicht widersprach. »Haben Sie auch eine Schusswaffe?«

»Nein.« Der Forscher schüttelte energisch den Kopf. »Ich hatte zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren mal eine Pistole, die ich dann aber veräußert habe. Damals hatte ich mir die Waffe zugelegt, um mich sicherer zu fühlen. Inzwischen ist die Kriminalitätsrate aber derart angestiegen, dass man Angst haben muss, die Waffe bei einem Einbruch in falsche Hände zu verlieren. Deshalb habe ich die Pistole verkauft.«

»Für die Aufbewahrung gibt es spezielle Schränke«, wandte Heinrichs ein.

»Die ich nicht benötige, weil ich keine Waffe mehr besitze. Punkt.« Heinrich Große wurde langsam ärgerlich. »Hören Sie, wollen wir uns über die gesetzeskonforme Aufbewahrung von Schusswaffen in Privathaushalten unterhalten, oder wollen Sie einen Mörder finden?«

»Ich will es kurz machen«, mischte sich Ulbricht jetzt ein, dessen Ungeduld stieg. »Gibt es jemanden, der bezeugen kann, dass Sie in der betreffenden Zeit einkaufen waren? Eine Verkäuferin, einen Bekannten, den Sie zufällig getroffen haben? Oder vielleicht haben Sie einen Einkauf getätigt und den Kassenbon aufbewahrt? Anhand der Zettel könnten wir Datum und Uhrzeit des Kaufes zuordnen und Sie wären entlastet. Gibt es irgendetwas, mit dem Sie uns helfen können?«

Große sank in sich zusammen. Der stattliche Mann schüttelte den Kopf, während er seine Schuhspitzen anstarrte. »Nein«, murmelte er dann leise. »Nichts dergleichen, fürchte ich.«

Ulbricht tauschte einen Blick mit Heinrichs und erhob sich. »Dann tut es mir leid«, sagte er. »Aber wir werden Sie hierbehalten müssen.«       

Heinrichs griff zum Telefon und ordnete die Abholung von Große an. Es war ihm gleich, ob der Mann über Nacht in eine der hauseigenen Arrestzellen gesteckt wurde oder ob man ihn zur Untersuchungshaft in die JVA zum Simonshöfchen brachte. Für ihn stand plötzlich fest, dass Heinrich Große an den Morden von Alexander Koljenko und Jörg Trautler beteiligt war. Es war nur ein Gefühl, und es musste mit dem Teufel zugehen, wenn er sich diesmal irrte.