10
Monk verließ London mit dem letzten Zug nach Dover, um am Morgen das erste Schiff nach Calais zu erwischen und von dort über Paris nach Wien weiterzufahren. Die Reise würde drei Tage und acht Stunden dauern, vorausgesetzt, alles lief glatt, er verirrte sich nicht, und es gab keine Verzögerungen oder mechanischen Defekte. Eine Fahrkarte zweiter Klasse kostete acht Pfund, fünf Schilling und sechs Pence.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Reise ihn fasziniert. Er wäre gefesselt gewesen von der Landschaft, den Städten, durch die er kam, der Architektur der Gebäude und der Kleidung und von dem Verhalten der Menschen. Seine Mitreisenden hätten ihn besonders interessiert, auch wenn er ihre Gespräche nicht verstand und nur das erahnen konnte, was Beobachtung und Menschenkenntnis ihm sagten. Aber er war in Gedanken zu sehr mit dem beschäftigt, was er in Wien herausfinden würde, und versuchte, Fragen zu formulieren, mit deren Hilfe er aus dem Nebel heroischer Erinnerungen ein paar Wahrheiten zu fischen hoffte.
Die Reise schien endlos zu dauern, und er verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Er war mit Fremden in einem gepolsterten Raum aus Eisen gefangen, der durch wechselndes graues Tageslicht und, wenn die Herbstabende hereinbrachen, tiefe Dunkelheit schwankte und ratterte. Manchmal war die Luft klar, manchmal schlug Regen gegen das Fenster und trübte den Blick auf Äcker, Dörfer und Wälder.
Er schlief nur sporadisch. Er fand es schwierig, da es keinen Platz zum Liegen gab, und nach der ersten Nacht
rebellierten seine Muskeln gegen die erzwungene Untätigkeit. Er konnte sich mit niemandem unterhalten, weil alle anderen Passagiere in seinem Wagen nur Französisch oder Deutsch zu verstehen schienen. Er tauschte ein freundliches Nicken und ein Lächeln aus, aber das unterbrach kaum die Monotonie.
Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, sie beschäftigten sich mit der Frage von Erfolg oder Misserfolg, den Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen und verhindern konnten, dass er irgendetwas Nützliches erfuhr, und vor allem mit der Tatsache, dass er nicht nur die Sprache nicht beherrschte, sondern auch überhaupt nichts über ihre Kultur wusste.
Und was wäre ein Erfolg? Wenn er Niemanns Schuld beweisen konnte? Wenn er zumindest etwas fand und zurück nach London bringen konnte, das einen be- gründeten Zweifel weckte? Was, zum Beispiel? Niemand würde sich schuldig bekennen, nicht auf eine Weise, die von Nutzen wäre. Beeidigte Zeugenaussagen über einen Streit, Geld oder Rache? Würde das zusammen mit dem Beweis, dass Niemann in London war, ausreichen?
Und ließ Monk es darauf ankommen, einen Mann zu beschuldigen und womöglich zu verleumden, der unschuldig war?
All das ging ihm in den langen Tagen und unruhigen Nächten immer wieder durch den Kopf, während der Zug Frankreich durchquerte und über die Grenze nach Deutschland fuhr, dann nach Österreich und schließlich durch die Randgebiete ins Zentrum von Wien einlief.
Monk stand auf und sammelte sein Gepäck zusammen. Rücken und Beine taten ihm weh, sein Mund war trocken, und der Kopf schmerzte ihm vor Müdigkeit. Er sehnte sich danach, frische Luft einzuatmen und mehr als ein paar
Schritte machen zu können, ohne an etwas zu stoßen und ohne zur Seite treten zu müssen, um jemanden vorbeizulassen.
Er trat auf den Bahnsteig, wo ihn Dampfwolken und das Rattern und Klappern von Türen empfingen, gerufene Befehle, Begrüßungen, Rufe nach Gepäckträgern. Er griff nach seinem Koffer und machte sich, vollkommen verloren, auf den Weg den Bahnsteig entlang, wobei er auf seine Innentaschen klopfte, um sich zu vergewissern, dass sein Geld und die Briefe von Callandra und Pendreigh noch da waren. Er suchte den Ausgang zur Straße, wo er irgendeine Kutsche zu finden hoffte, deren Kutscher seine Bitte, ihn zur britischen Botschaft zu bringen, verstand.
Als er schließlich auf den Stufen der Botschaft Ihrer Majestät der Königin von England am Hofe von Kaiser Franz Josef von Österreich-Ungarn abgesetzt wurde, war seine Kleidung zerknittert und schmutzig, was er verabscheute, und er war so müde, dass er kaum noch klar denken konnte. Er entlohnte den Kutscher in österreichi- schen Schillingen; und dessen überraschtem Blick nach zu urteilen mit einer weit höheren Summe, als er verdiente. Er stieg, den Koffer in der Hand, die Treppe hoch und wusste, dass er aussah wie ein verzweifelter Engländer, der harte Zeiten durchgemacht hatte und um Hilfe bat.
Monk brauchte noch weitere anderthalb Stunden, bis seine Briefe ihm Gehör bei einem Adjutanten des Botschafters verschafften, der ihm erklärte, dass Seine Exzellenz mindestens die nächsten zwei Tage mit Staats- angelegenheiten beschäftigt sei. Wenn ein Stadtführer und ein Dolmetscher jedoch alles waren, was Monk brauchte, würde man zweifellos etwas für ihn tun können. Er blickte auf Pendreighs Brief, der auf dem Tisch vor ihm lag, und Monk glaubte, in der Miene des Mannes mehr Respekt als Zuneigung zu sehen. Das überraschte ihn nicht. Pendreigh
war ein beeindruckender Mann, vielleicht ein guter Freund, auf jeden Fall aber ein unangenehmer Feind. Das Gleiche hätte man zweifellos von Monk sagen können, denn auch er kannte die Ungeduld und den Wunsch, zu beurteilen und zu urteilen.
»Vielen Dank«, sagte er steif.
»Ich schicke Ihnen morgen früh jemanden«, erwiderte der Adjutant. »Wo wohnen Sie?«
Monk warf einen Blick auf den Koffer und sah dann den Mann wieder an, dabei hob er unmerklich die Augen- brauen. Die Frage war herablassend gemeint gewesen, und beide wussten das.
Der Adjutant wurde ein wenig rot. »Das Hotel Bristol ist sehr gut. Von außen macht es nicht viel her, aber innen ist es sehr schön, besonders wenn Sie Marmor mögen. Das Essen ist ausgezeichnet. Es ist das erste Hotel am Kärntner Ring. Sie sprechen dort ausgezeichnet Englisch und werden Ihnen gerne behilflich sein.«
»Vielen Dank«, sagte Monk freundlich. Er war erleichtert, dass er Callandras und Pendreighs Geld hatte, so dass er sich um die Kosten keine Sorgen machen musste. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn diejenigen, die so freundlich sind, mich zu unterstützen, sich morgen früh um spätestens neun Uhr dort einfinden würden, so dass ich diese äußerst dringende Angelegenheit so bald wie möglich in Angriff nehmen kann. Sie sind zweifellos über den tragischen Tod von Mr. Pendreighs Tochter, Elissa von Leibnitz, informiert, die in dieser Stadt so etwas wie eine Heldin war.« Er war äußerst zufrieden, an dem hochroten Gesicht des Mannes zu sehen, dass dieser das nicht wusste.
»Natürlich«, sagte der Adjutant nüchtern. »Bitte übermitteln Sie der Familie mein Beileid.«
»Selbstverständlich«, murmelte Monk, nahm seinen Koffer und trat hinaus in die kühle Nacht, wo der scharfe Ostwind ihm wie eine Ohrfeige ins Gesicht schlug.
Er war früh aufgestanden, hatte gefrühstückt und wartete in dem prächtigen Marmorfoyer des Hotels bereits ungeduldig, als ein blonder Jüngling von kaum mehr als vierzehn oder fünfzehn Jahren auf ihn zukam. Er war schlank, und sein Gesicht sah frisch aus, was möglicher- weise dem Wetter draußen geschuldet war. Er wirkte eher wie ein Schuljunge denn wie ein Angestellter oder Laufbursche.
»Mr. Monk?«, fragte er mit einem gewissen Eifer, der Monks Eindruck sofort bestätigte. Er war wahrscheinlich von der Botschaft geschickt worden, um ihm zu sagen, dass sein Vater oder sein Bruder Monk am Nachmittag oder, was noch schlimmer wäre, am nächsten Tag zur Verfügung stehen würde.
Monk war ziemlich kurz angebunden. »Ja? Haben Sie eine Nachricht für mich?«
»Nicht ganz, Sir.« Seine blauen Augen blitzten, aber er bewahrte die Selbstbeherrschung. »Mein Name ist Ferdinand Gerhardt, Sir. Der britische Botschafter ist mein Onkel. Ich glaube, Sie brauchen jemanden, der Sie in Wien herumführt und bei Gelegenheit für Sie dolmetscht. Es freut mich, Ihnen meine Dienste anzubieten.« Er stand still und höflich da, eine seltsame Mischung aus einem englischen Schuljungen und einem jungen österreichischen Aristokra- ten. Dass er nicht die Hacken zusammenschlug, war alles.
Monk war wütend. Sie hatten ihm ein Kind geschickt, als hätte er den Wunsch, sich eine Woche die Zeit zu vertreiben und sich die Stadt anzuschauen. Es wäre unverzeihlich, grob zu ihm zu sein, aber er konnte weder
Zeit, noch Callandras Geld mit Müßiggang vergeuden.
»Ich bin mir nicht sicher, inwieweit man Sie informiert hat«, sagte er unwillig. »Aber ich bin nicht hier, um Ferien zu machen. In London wurde eine Frau umgebracht, und ich suche hier in Wien nach Informationen über ihre Vergangenheit und nach Freunden von ihr, die mich möglicherweise zur Wahrheit darüber führen können, was passiert ist. Wenn mir das nicht gelingt, wird ein unschuldiger Mann gehängt werden, und zwar bald.«
Der Junge machte große Augen, gab sich aber Mühe, eine würdevolle Ruhe zu bewahren. »Das tut mir sehr Leid, Sir. Das klingt nach einer schrecklichen Sache. Wo möchten Sie anfangen?«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Monk und versuchte, seine wachsende Verärgerung und Verzweiflung zu verbergen.
Ein paar hübsche Frauen gingen an ihnen vorbei und warfen ihnen neugierige Blicke zu.
Ferdinand stand kerzengerade da. »Fünfzehn, Sir«, sagte er leise. »Aber ich spreche ausgezeichnet Englisch. Ich kann alles übersetzen, was Sie wünschen. Und ich kenne Wien sehr gut.« Seine Wangen hatten sich mit einem rosafarbenen Hauch überzogen.
Monk hatte keine Erinnerung daran, wie es war, fünfzehn zu sein. Er war in einer peinlichen Lage und wütend, und er hatte keine Ahnung, wie er anfangen sollte. »Die Ereignisse, die ich untersuchen muss, haben stattgefunden, als Sie zwei Jahre alt waren!«, sagte er mit zusammen- gebissenen Zähnen. »Was Ihre Fähigkeiten beträchtlich einschränkt, ganz egal, wie ausgezeichnet Ihr Englisch ist!«
Auch Ferdinand war verlegen, aber er gab nicht so leicht auf. Man hatte ihm die Aufgabe eines Erwachsenen übertragen, und er hatte vor, sie ehrenvoll zu erledigen. Er wandte den Blick nicht von Monk ab. »In welchem Jahr
genau, Sir?«
»1848«, erwiderte Monk. »Ich nehme an, Sie haben in der Schule davon gehört.« Es war keine Frage, sondern vielmehr eine bissige Bemerkung.
»Im Grunde nicht sehr viel«, gab Ferdinand mit einem leicht verkniffenen Zug um den Mund zu. »Jeder sagt etwas anderes. Ich würde unheimlich gerne die Wahrheit kennen! Oder zumindest mehr darüber erfahren.« Er warf einen Blick durch das marmorverkleidete Hotelfoyer. Eine kleine Gruppe elegant gekleideter Gentlemen war hereingekommen und unterhielt sich. Zwei Damen saßen auf weich gepolsterten Sesseln und tauschten Klatsch aus, wobei sie sich leicht vorbeugten, um den Abstand, den ihre bauschigen Röcke nötig machten, zu überbrücken.
»Werden Sie eine Weile in Wien bleiben?«, fragte Ferdinand. »Falls ja, sollten Sie sich vielleicht besser Räume drüben in der Josefstadt oder dort in der Nähe suchen. Ist zudem billiger. Dort sitzen die Menschen in Kaffeehäusern und reden über Ideen und … planen den Aufruhr. Zumindest habe ich das gehört«, fügte er schnell hinzu.
Es gab keine Alternative, außer allein herumzulaufen und kaum fähig zu sein, mehr als ein paar Worte zu verstehen, und so nahm Monk mit zähneknirschender Dankbarkeit an. Er beglich seine Hotelrechnung und folgte, den Koffer in der Hand, Ferdinand die Treppe hinunter in die geschäftigen Straßen einer fremden Stadt. Er stand vor einer Aufgabe, die ihm zunehmend hoffnungsloser erschien, und hatte nur eine vage Vorstellung davon, was er tun und wo er anfangen sollte.
»Sie können mich Ferdi nennen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir«, sagte der Junge, der Monk sorgfältig beobachtete, als wäre dieser nicht nur fremd in der Stadt,
sondern jemand, dem die gewöhnlichen Fähigkeiten zum Überleben fehlten, wie etwa den Verkehr zu beobachten, bevor man die Straße überquerte, oder aufmerksam zu sein, damit man nicht von seinem Führer getrennt wurde und sich verlief. Vielleicht hatte er jüngere Geschwister, auf die er gelegentlich aufpassen musste. Mit beträchtlicher Anstrengung übte Monk sich darin, eher amüsiert zu sein als wütend.
Der größte Teil des Vormittags verstrich damit, ein passendes Quartier in einer kleinen Pension in einem weniger teuren Viertel zu finden, wo, wie es schien, Studenten und Künstler lebten.
»Revolutionäre«, informierte Ferdi Monk diskret und achtete darauf, dass sie nicht belauscht wurden.
»Haben Sie Hunger?«, fragte Monk ihn.
»Ja, Sir!«, antwortete Ferdi sogleich, dann sah er unbehaglich drein. Vielleicht gestand ein Gentleman solche Bedürfnisse nicht so bereitwillig ein, aber er konnte es nicht mehr zurücknehmen. »Ich kann aber auch noch eine Weile warten, wenn Sie zunächst ein paar Fragen stellen wollen«, fügte er hinzu.
»Nein, wir essen«, sagte Monk unglücklich. Die ganze Angelegenheit war ein Fehlschlag. Er hatte Callandra glauben lassen, er könnte etwas Nützliches in Erfahrung bringen, dabei überstieg es schon seine Fähigkeiten, eine Scheibe Brot und eine Tasse Tee oder – was sehr viel wahrscheinlicher war – Kaffee zu bestellen!
»Sehr gut«, sagte Ferdi erfreut. »Ich nehme an, Sie haben Geld?«, fügte er hinzu. »Ich fürchte, ich habe nicht sehr viel.«
»Ja, reichlich«, sagte Monk. »Ich denke, es ist nur fair, wenn ich Sie wenigstens zum Essen einlade.«
Ferdi fand ein kleines, ansprechendes Café und fragte, den
Mund voll köstlichem Steak, Monk, wen genau er suche.
»Einen Mann namens Max Niemann«, antwortete Monk ebenfalls mit vollem Mund. »Ich muss zunächst so viel wie möglich über ihn herausfinden, bevor er erfährt, dass ich nach ihm suche.«
Er hatte beschlossen, Ferdi einen angemessenen Teil der
Wahrheit anzuvertrauen. Er hatte kaum etwas zu verlieren.
»Möglich, dass er derjenige ist, der die Frau in London umgebracht hat.« Als er Ferdis Miene sah, wurde ihm klar, dass er nicht das Recht hatte, ihn auch nur der geringsten Gefahr auszusetzen. Vielleicht wäre es seinen Eltern lieber, er würde nichts wissen über ein Thema wie Mord, obwohl diese Überlegung ein wenig spät kam. »Wenn Sie mir helfen wollen, müssen Sie genau das tun, was ich Ihnen sage!«, sagte er ernst. »Wenn Sie zulassen, dass Ihnen auch nur das Geringste geschieht, wird die Wiener Polizei mich ins Gefängnis werfen, und ich finde den Weg nicht mehr hinaus.«
»Das wäre sehr unglücklich«, stimmte Ferdi ihm ernst zu. »Ich schließe daraus, dass das, was wir vorhaben, ein wenig gefährlich ist.«
Es war vollkommen idiotisch. Ganz tief in seinem Innern brach etwas zusammen, und Monk hatte große Mühe zu verhindern, dass die Verzweiflung ihn übermannte.
Ferdi war begeistert und aufmerksam. »Was soll ich jemanden fragen, Sir? Was müssen Sie wirklich wissen, abgesehen davon, wer diese arme Dame umgebracht hat?«
Er hatte nichts zu verlieren. »Sagen Sie, dass ich ein englischer Romanschriftsteller bin, der ein Buch über den Achtundvierziger-Aufstand schreibt«, fing er an, die Idee kam ihm während des Sprechens. »Fragen Sie nach so vielen Geschichten aus erster Hand, wie Sie finden können. Die Namen, um die es mir geht, sind Max
Niemann, Kristian Beck und Elissa von Leibnitz.«
»Sehr wohl!«, sagte Ferdi, und seine Augen strahlten vor
Bewunderung.
Der Rest des Tages bestand zum größten Teil darin, Menschen vorsichtig zu fragen und mehr oder weniger direkt abgewiesen zu werden. Als Monk in seinem neuen Quartier ins Bett ging und in holprigem Deutsch »Vielen Dank« sagte, fühlte er sich verloren und der Sache nicht gewachsen. Er lag im Dunkeln und war sich deutlich bewusst, dass Hester nicht bei ihm war. Sie war in London und vertraute darauf, dass er ein Stück Wahrheit mitbringen würde, mit dem man Kristian verteidigen konnte. Und Kristian lag wach auf seinem schmalen Gefängnisbett. Vertraute er auch darauf, dass Monk etwas fand, den Schlüssel zu der Tragödie? Oder kannte er diesen bereits und vertraute mit gleicher Inbrunst darauf, dass Monk orientierungslos in einer fremden Stadt herumlief, wo die Sprache ein Wirrwar von Lauten war, wo die Menschen eilig ihren Geschäften nachgingen oder vornehm-müßig umherspazierten, aber dazugehörten und verstanden.
Verdammt! Er würde die Vergangenheit aufspüren! Er würde etwas finden, ob es etwas bedeutete oder nicht. Zumindest konnte Max Niemann ihm sagen, wie Kristian damals gewesen war. Aber bevor er sich ihm näherte, wollte er die gleichen Geschichten aus dem Mund anderer Menschen hören, um einschätzen zu können, ob Niemanns Bericht der Wahrheit entsprach. Was er brauchte, war ein weiteres Mitglied der Gruppe von vor dreizehn Jahren, jemanden von Kristians Liste.
Schließlich schlief er mit einem festen Plan im Kopf ein und wachte nicht auf, bis es heller Tag war und er einen Bärenhunger hatte.
Seine Wirtin servierte ihm unter freundlichem Nicken und Lächeln ein ausgezeichnetes Frühstück mit sehr viel mehr reichhaltigem, süßem Feingebäck, als ihm lieb war, dafür aber den besten Kaffee, den er je getrunken hatte. Er sagte ein ums andere Mal: »Danke schön« und erwiderte ihr freundliches Lächeln, und dann machte er sich mit einem frisch geschrubbten und sehr eifrigen Ferdi auf den Weg. Ferdi hatte den ganzen Abend und einen Großteil der Nacht damit verbracht, Berichte über den Aufstand zu lesen, und dabei ein Durcheinander von Tatsachen und Geschichten in sich aufgesogen, die bereits die Patina und die Überhöhung von Legenden angenommen hatten. Er erzählte alles mit großer Begeisterung weiter, während er und Monk nebeneinander die Straße entlang in Richtung des großartigen Parlamentsgebäudes und der dahinter liegenden, kahlen Gärten gingen.
»Es fing eigentlich Mitte März an«, erklärte Ferdi ihm.
»Es gab bereits einen Aufstand in Ungarn, und der dehnte sich bis hierher aus. Natürlich ist Ungarn riesig, wissen Sie? Ungefähr sechs oder sieben Mal so groß wie Österreich! Alle Adligen und Geistlichen mussten sich im Landhaus einfinden. Das ist in der Herrengasse«, er zeigte nach vorne,
»da drüben. Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie möchten. Jedenfalls scheint es, als hätten sie alle möglichen Reformen gefordert, insbesondere Pressefreiheit und die Abdankung von Fürst Metternich. Studenten, Gewerbe- treibende und hauptsächlich Arbeiter erzwangen den Zutritt ins Gebäude. Gegen ein Uhr schossen italienische Grenadiere in die Menge und töteten mindestens dreißig ganz normale Menschen. Ich meine, sie waren keine Krimi- nellen oder Arme oder Verrückte wie die französischen Revolutionäre neunundachtzig, im letzten Jahrhundert.«
Als sie in die Auerstraße kamen und einige Momente warten mussten, bis es eine Lücke im Verkehr gab, starrte
er Monk an.
»Das war die wirklich große Revolution«, fuhr er fort.
»Unsere war innerhalb eines Jahres vorbei.« Er lächelte fast entschuldigend.
»Das meiste ist wieder so wie vorher. Natürlich ist Fürst Metternich weg, aber er war sowieso vierundsiebzig und war schon vor Waterloo dabei!« Seine Stimme wurde höher, als könnte er kaum begreifen, dass jemand so lange lebte.
Monk unterdrückte ein Lächeln.
»Dann wurden überall in der Stadt Barrikaden errichtet«, fuhr Ferdi fort und passte seine Schritte Monk an. »Aber erst die Tatsache, dass Menschen umgebracht wurden, veranlasste die Revolutionäre, sich dafür einzusetzen, dass Metternich ins Exil geschickt wurde.« Ein mitleidiges Lächeln huschte über sein junges Gesicht.
»Ich nehme an, das ist ein bisschen hart, wenn man so alt ist. Jedenfalls«, fuhr er fort, »im Mai vertrieben sie den ganzen Hof aus Wien – Kaiser Ferdinand und die anderen. Sie gingen alle nach Innsbruck. Wissen Sie, in dem Jahr gab es überall Scherereien.« Er blickte Monk an, um sicherzugehen, dass der ihm auch zuhörte.
»Auch in Mailand und Venedig, was uns eine Menge Ärger machte. Sie gehören auch zu uns, obwohl sie italienisch sind. Wissen Sie das?«
»Ja«, antwortete Monk, der sich von seiner Reise nach Venedig daran erinnerte, wie sehr die stolzen Venezianer das österreichische Joch hassten. »Ja, das weiß ich.«
»Wir haben das deutsche Reich im Nordwesten und das russische Reich im Nordosten, und wir sind in der Mitte«, fuhr Ferdi fort, und beschleunigte seinen Schritt, um mit Monks langen Beinen mitzuhalten. »Jedenfalls, im Mai bildeten sie einen Wohlfahrtsausschuss – klingt genau wie
in Frankreich, nicht wahr? Aber bei uns gab es keine Guillotine, und wir haben überhaupt nicht viele Menschen umgebracht.«
Monk war sich nicht sicher, ob Stolz mitklang oder ein leichtes Gefühl der Enttäuschung. »Aber es müssen doch einige gewesen sein!«, erwiderte er.
Ferdi nickte. »O ja! Wir haben da tatsächlich ganze Arbeit geleistet, im Oktober. Sie haben den Kriegsminister gehängt, Graf Baillet de Latour – an einen Laternenpfahl! Das war der Mob! Dann zwangen sie die Regierung und das Parlament, nach Olmütz zu gehen, was in Mähren liegt
– das ist nördlich von hier, in Ungarn.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber es führte alles zu nichts. Die Aristokratie und der Mittelstand – das sind wir, nehme ich an – unterstützten Feldmarschall Prinz Windischgrätz, und der Aufstand wurde ganz niedergeworfen. Ich nehme an, das war, als Ihre Freunde sehr tapfer waren und das taten, was Sie herausfinden wollen.«
»Ja«, gab Monk ihm Recht, betrachtete die belebten, wohlhabenden Straßen mit ihrer prächtigen Architektur und versuchte sich vorzustellen, wie Kristian und Elissa an diesem Ort für eine Reform einer solch riesigen, unangreif- bar mächtigen Regierung gekämpft hatten. Er hatte in allen Richtungen die prächtigen Fassaden der Staats- und Regie- rungsgebäude gesehen, der herrschaftlichen Wohnhäuser und Theater, Museen, Opernhäuser und Galerien. Was für ein revolutionäres Feuer hatte in ihnen gebrannt, dass sie es gewagt hatten, eine solche Macht anzugreifen? Es musste ihnen leidenschaftlich am Herzen gelegen haben, mehr als den meisten Menschen irgendetwas am Herzen lag. Wo fing man überhaupt an, um an den Fundamenten eines so gigantischen Kontrollapparates zu rütteln?
In Ferdis jungem Gesicht sah er, dass es auch ihn gepackt hatte.
»Ich muss die Leute auf meiner Liste finden«, sagte Monk, »die Leute, die damals hier waren und meine Freunde kannten.«
»Sofort!«, antwortete Ferdi, lief ganz rot an vor Glück und Begeisterung und schritt noch schneller aus, so dass nun Monk seinerseits seine Schritte beschleunigen musste, um mit ihm mitzuhalten. »Haben Sie Geld für eine Kutsche?«
An diesem Nachmittag sahen sie Straßen, in denen Barrikaden gewesen waren, und sogar Löcher in Mauern, wo Kugeln eingeschlagen oder abgeprallt waren. Sie aßen in einem der Kaffeehäuser zu Abend, in denen sich junge Männer und Frauen bei Kerzenschein über den gleichen Tisch beugten und Revolutionen planten, eine neue Welt der Freiheit am Horizont, oder vielleicht auch schweigend um den Verlust von Freunden trauerten.
Monk und Ferdi aßen schweigend Suppe und Brot, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren, die überraschend ähnlich waren. Monk dachte über das Band zwischen Menschen nach, die die gleiche Hoffnung teilten, und über die Opfer solcher Zeiten. Konnte irgendetwas, was im langweiligen Leben später geschah, ein solches Band zerreißen? Konnte jemand, der nicht diese Gefahr und Hoffnung geteilt hatte, Einlass in den Kreis finden oder etwas anderes sein als ein Zuschauer?
Das flackernde Kerzenlicht und das Murmeln der Gespräche an den kleinen Tischen um sie herum gaben Monk das Gefühl, es könnte ebenso gut dreizehn Jahre früher sein. Ferdis junges Gesicht, gerötet und von der Kerze mit einem goldenen Schimmer überzogen, hätte eines von ihren Gesichtern sein können. Die Mischung aus Kaffee- und Kuchenduft und dem Geruch nach nassen Kleidern hätte die Gleiche sein können, ebenso wie das Wasser, das an den Fenstern herunterrann und das Licht
der Straßenlaternen verwischte, und das Klatschen des Regens und das kurze Zischen von Kutschenrädern, wenn die Tür auf und zu ging. Außer dass die Träume zerstört waren und die Atmosphäre nicht mehr von Aufregung, Gefahr und Opfern geprägt war, sondern auf behaglichem, starr errichtetem Wohlstand und Gesetzen aufbaute wie vor dieser Zeit, mit den alten Regeln und den alten Vorurteilen. Die Mächtigen waren immer noch mächtig, und die Armen waren immer noch stumm.
Obwohl die Revolution gescheitert war, beneidete Monk Kristian und Max um ihre Vergangenheit. Er hatte keine Ahnung, ob ihm eine Sache je so leidenschaftlich am Herzen gelegen hatte, dass er dafür gekämpft hätte, gestorben wäre, etwas, was ihn in Freundschaft mit anderen verbunden hätte, die tiefstes Vertrauen bedeutete und Leben und Tod überdauerte und stärker war als gemeinsame Herkunft oder Erziehung und einen zum Teil eines Ganzen macht.
Das Einzige, was er je in dieser Richtung erlebt hatte, war, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, mit Hester und dann mit Oliver Rathbone und Callandra. Das war das gleiche Gefühl – der Wille, zu siegen –, weil es über indi- viduellen Schmerz, Erschöpfung oder Stolz hinaus eine Rolle spielte. Es war eine Art Liebe, die sie alle erhöhte.
Monk schob seine leere Tasse weg und stand auf.
»Morgen müssen wir Menschen suchen, die im Mai und im Oktober gekämpft haben«, sagte er, als auch Ferdi sich erhob. »Die auf meiner Liste. Ich kann nicht länger warten. Fangen Sie an, herumzufragen. Erzählen Sie, es sei für irgendwas, aber finden Sie sie.«
Das erste erfolgreiche Gespräch war recht schwierig, weil es von Ferdi mit großer Begeisterung gedolmetscht wurde,
aber notwendigerweise sehr viel langsamer hin und her ging, als wenn Monk nur ein Wort Deutsch verstanden hätte.
»Was für Tage!«, sagte der alte Mann und nippte anerkennend an dem Wein, den Monk bestellt hatte. Sehr zu Ferdis Verdruss hatte er allerdings darauf bestanden, dass dieser Wasser bekam. »Ja, natürlich erinnere ich mich daran. Ist gar nicht so lange her, obwohl einem das jetzt so vorkommt. Abgesehen von den Toten, hat man das Gefühl, es hätte diese Zeit nie gegeben!«
»Kannten Sie viele der Leute?«, fragte Ferdi begierig. Er brauchte keine Begeisterung zu heucheln, sie strahlte aus seinen Augen und zitterte in seiner Stimme.
»Natürlich! Viele von ihnen. Sah die Besten – die, die es überlebten, und die, die es nicht überlebten.« Er rasselte ein halbes Dutzend Namen herunter. »Max Niemann, Kristian Beck, Hanna Jakob, Ernst Stifter, Elissa von Leibnitz. Habe sie nie vergessen. Schönste Frau in ganz Wien, das war sie. Wie ein Traum, eine Flamme in der Dunkelheit jener Tage. So viel Mut wie ein Mann … mehr noch!«
Ferdis Augen strahlten. Er beugte sich mit offenem
Mund vor.
Monk versuchte, misstrauisch zu schauen, aber er hatte Allardyces Bild von Elissa gesehen und wusste, was der alte Mann meinte. Es war nicht die Perfektion des Körpers und auch nicht die Zartheit der Züge, es war die Leidenschaft in ihr, die Kraft ihrer Vision, die sie einzigartig machte. Sie hatte die Macht besessen, andere in ihre Träume hineinzuziehen.
Der alte Mann sah ihn stirnrunzelnd an. Er sprach mit Ferdi, und Ferdi lächelte Monk an. »Er meint, ich soll Ihnen sagen, wenn Sie ihm nicht glauben, sollten Sie andere fragen. Soll ich ihm sagen, dass Sie das gerne tun würden?«
»Ja«, sagte Monk schnell. »Fragen Sie ihn nach Niemann und Beck, aber machen Sie keinen zu eifrigen Eindruck.« Er musste etwas finden, was mit persönlichen Leidenschaften und Neid zu tun hatte, und weniger mit Geschichtslektionen, so feurig diese auch waren.
Ferdi ignorierte seine Ermahnung mit großer Würde. Er wandte sich an den alten Mann, und Monk war genötigt, eine Viertelstunde ihrer angeregten Unterhaltung zuzu- hören, die größtenteils der alte Mann bestritt, bei der Ferdi aber immer aufgeregtere Fragen stellte. Ferdi warf Monk hin und wieder einen kurzen Blick zu, was bedeuten sollte, er solle ihn nicht unterbrechen.
Sobald sie wieder draußen im Regen und den flackernden Lichtern der Gaslaternen waren, wo ihnen der Wind eisig entgegenschlug, erstattete Ferdi Bericht. »Max Niemann war einer der Helden«, sagte er aufgeregt. »Er setzte sich gleich von Anfang an für Reformen ein. nicht wie einige andere, die erst mal die Erfolgschancen einschätzten oder abwarteten, was ihre Freunde und Familie über sie dachten!«
Sie kamen an eine Straßenecke, und eine Kutsche fuhr vorbei und spritzte Schlamm und Wasser auf. Monk machte einen Satz nach hinten, aber Ferdi war zu sehr in seine Geschichte vertieft, um es zu bemerken. Er war nass bis zu den Knien und merkte es nicht einmal. Sobald die Straße frei war, lief er über die Fahrbahn, und Monk beeilte sich, hinter ihm herzukommen.
»Er war auch tapfer«, fuhr Ferdi fort. »Er war draußen auf den Barrikaden, als die Kämpfe losgingen. Elissa von Leibnitz auch. Er hat mir eine Geschichte erzählt, die sich ereignete, als die Kämpfe im Oktober wirklich sehr heftig waren, nachdem sie den Kriegsminister gelyncht hatten und das Militär eingriff. Mehrere junge Männer wurden angeschossen und sind auf der Straße zu Boden gestürzt.
Frau von Leibnitz griff nach einer Waffe und ging raus, schrie und drohte und feuerte auf die Soldaten. Sie wusste, wie sie das machen musste, und hatte keine Angst. Ganz allein trieb sie die Soldaten zurück, bis andere heraus- kriechen und die Verwundeten hinter die Barrikaden schaffen konnten.«
»Wo war Kristian?«, fragte Monk. »Und Max?«
»Max war unter den Verletzten«, erwiderte Ferdi und warf einen Blick zur Seite, um sich zu vergewissern, dass Monk mit ihm Schritt hielt. »Kristian versuchte zu verhindern, dass ein Mann mit einer schrecklichen Wunde verblutete. Mit einer Hand drückte er dem Mann eine Kompresse auf die Schulter, und mit der anderen fuchtelte er in der Luft herum und schrie Elissa hinterher, sie sollte aufhören oder jemand sollte ihr helfen.«
»Aber Elissa wurde nicht verletzt?«
»Anscheinend nicht. Es war eine Frau bei ihnen, die Hanna hieß. Sie ging auch nach vorne und hat geholfen, die verletzten Männer reinzuholen. Und sie hat auch Nach- richten überbracht, durch den Teil der Stadt, den das Militär zurückerobert hatte und in dem ihre eigenen Revolutionäre abgeschnitten waren. Und sie hat Nachrichten zu ihren Verbündeten in der Regierung gebracht.«
»Können wir mit ihr sprechen?«, fragte Monk begierig. Es wäre ein Bericht aus erster Hand von einem Menschen, der die drei gut gekannt hatte. Vielleicht hatte sie mehr von den Beziehungen mitbekommen, von Neid oder Leidenschaft zwischen Kristian und Max.
»Ich habe ihn gefragt«, meinte Ferdi, dessen Miene plötzlich sehr ernst wurde, »Aber er glaubt, sie ist bei dem Aufstand ums Leben gekommen. Er hat mir aber ungefähr sagen können, wo Max Niemann lebt. Er ist inzwischen sehr geachtet. Die Regierung hat nicht vergessen, auf
welcher Seite er stand, als es darauf ankam, und sie kann sich nicht erlauben, alle zu bestrafen, sonst würde alles wieder außer Kontrolle geraten. Zu viele Menschen haben eine sehr hohe Meinung von Max Niemann.« Ferdi fuhr aufgeregt mit der Hand durch die Luft. »Aber das ist nicht alles. Es scheint, als wäre Ihr Freund Herr Beck auch ein ziemlicher Held gewesen, ein richtiger Kämpfer. Nicht nur tapfer, sondern ziemlich klug – eine Art geborener Anführer. Er hatte den Mut, dem Feind die Stirn zu bieten. Besaß ziemlich viel Menschenkenntnis und wusste, wann er bluffen und wie weit er gehen konnte. Er war härter als Niemann und bereit, Risiken einzugehen.«
»Sind Sie sicher?« Das klang gar nicht nach dem Mann, den Monk kennen gelernt hatte. Sicher hatte Ferdi den Alten falsch verstanden. »Beck ist Arzt.«
»Also, ich nehme an, er könnte ihn verwechselt haben, aber er schien sich ganz sicher zu sein!«
Monk stritt nicht mit ihm. Die Füße taten ihm weh, und er war müde und durchgefroren bis auf die Knochen, und es waren immer noch fast zwei Kilometer bis in seine Unterkunft in der Josefstadt. Vorher musste er aber noch eine Kutsche finden, die Ferdi sicher nach Hause brachte. Es war zwar seine Stadt, aber Monk fühlte sich für ihn verantwortlich.
»Wir machen morgen weiter«, sagte er entschlossen,
»und reden mit ein paar anderen Leuten auf der Liste.«
»Einverstanden!«, meinte Ferdi. »Wir finden nichts, was wirklich weiterhilft … nicht wahr?« Er warf Monk einen besorgten Blick zu.
Monk sah das anders. »Noch nicht. Aber wir werden was finden. Vielleicht schon morgen!«
Ferdi war pünktlich am nächsten Morgen wieder da und hatte mit frischem Eifer bereits geplant, wo sie ihre Suche
fortsetzen sollten. Diesmal fanden sie eine charmante Frau, die dreizehn Jahre zuvor in den Zwanzigern gewesen sein musste und jetzt angenehm mollig und wohlhabend war.
»Natürlich kannte ich Kristian«, sagte sie mit einem Lächeln, bat sie in ihr Wohnzimmer, ließ ihnen die Wahl zwischen drei Sorten Kaffee und bot ihnen zarten, köstlichen Kuchen an, obwohl es kaum halb elf war. »Und Max. Was für ein schöner Mann!«
»Kristian?«, fragte Monk schnell, der inzwischen einen Großteil der Unterredung sinngemäß verstand. »Spricht sie von Kristian?«
Aber wie es schien, war es Max, den sie schön fand.
»Nicht Kristian?«, hakte Monk nach.
Nach und nach entlockte Ferdi ihr ein Bild von Max, das ihn ruhiger als Kristian zeigte, mit einem verschrobenen Sinn für Humor und einem starken Sinn für Loyalität. Ja, natürlich war er in Elissa verliebt gewesen, das sah selbst ein Blinder! Aber sie verliebte sich in Kristian, und damit war die Angelegenheit geklärt.
Gab es Eifersucht? Die Frau zuckte die Schultern und sah mit einem kleinen, traurigen und wehmütigen Lachen zu Monk hinüber. Natürlich, aber nur ein Narr kämpft gegen das Unabänderliche. Kristian war der Anführer, der Mann mit den Träumen und dem Mut, Entscheidungen zu fällen und den Preis zu zahlen. Aber das war alles lange her. Sie war verheiratet und hatte vier Kinder. Kristian und Elissa waren nach England gegangen. Max ging es gut, er lebte irgendwo im Neubau-Bezirk, nahm sie an. Wollte Monk lange in Wien bleiben? Wusste er, dass Herr Strauss der Jüngere während des Aufstands zum Kapellmeister der Nationalgarde der Innenstadt ernannt worden war? Nicht? Doch, dem war so. Mr. Monk konnte unmöglich Wien besuchen, ohne sich ein Konzert von Strauss anzuhören.
Das wäre so, als sei man ein Fisch und würde nicht schwimmen. Es hieße, die Natur und den guten Gott verleugnen, der das Glück schuf.
Monk versprach, ihrem Rat zu folgen, dankte ihr für ihre
Gastfreundschaft und drängte Ferdi zum Aufbruch.
Sie trafen noch zwei weitere Menschen von Kristians Liste, und auch diese bestätigten alles, was Monk und Ferdi bis dahin erfahren hatten. Diesen beiden zufolge hatten die Revolutionäre weit gehend in großen Gruppen gearbeitet, und die Gruppe, die Kristian Beck geleitet hatte, hatte aus sieben oder acht Leuten bestanden. Max Niemann, Elissa und Hanna Jakob waren von Anfang an dabei gewesen. Rund ein weiteres halbes Dutzend war gekommen und gegangen. Vier waren umgekommen, zwei auf den Barrikaden, einer im Gefängnis, und Hanna Jakob war in einer Seitengasse gefoltert und erschossen worden, weil sie ihre Kameraden nicht verriet.
Der Himmel war klar, und es wehte ein eisiger Wind, der nach Schnee roch. Sie waren mit kalten Händen in die behagliche Pension zurückgekommen, wo Monk gezwun- gen war, dem schockierten Ferdi zuzuhören, wie er diese Geschichte mit kalkweißem Gesicht wiederholte. Monk war übel.
Sie saßen vor dem Feuer, Reste von Kuchen und Bier auf dem Tisch zwischen ihnen, während der letzte Schimmer des Sonnenlichts auf den oberen Rand der Fenster traf und die frühe Abenddämmerung hereinbrach. Monk versuchte sich vorzustellen, was in Kristian vorgegangen war, als er vor dreizehn Jahren von Hannas Tod erfahren hatte. Hanna war eine von ihnen gewesen, wenige Stunden zuvor hatte sie noch gelebt, und ihr Leben war kostbar wie ihrer aller Leben. Hatte er um diese Jahreszeit irgendwo in einem stillen Zimmer gesessen und an Hanna gedacht, die mitten unter Feinden in einer Gasse starb, schweigend, um die
Übrigen zu retten? Fühlte er sich schuldig, weil er lebte? Was hatten sie getan, um sie zu retten? Oder hatten sie nichts davon gewusst, bis es zu spät war?
»Dr. Beck scheint ein richtiger Aufwiegler gewesen zu sein«, sagte Ferdi, blinzelte heftig und schluckte. »Sie haben ihn wie verrückt respektiert, weil er nie anderen sagte, sie sollten Dinge tun, die er nicht auch selbst zu tun bereit war. Und er dachte stets mehrere Schritte voraus, was seine Entscheidungen nach sich ziehen würden, was sie kosten konnten.« Er senkte den Blick auf den Tisch und sprach leise weiter. »Einen Kommandanten einer Polizeidivision, Graf von Waldmüller, hasste er richtig. Es gab eine Art … Fehde zwischen ihnen. Dieser Graf von Waldmüller war ein großer Verfechter militärischer Disziplin und der Meinung, bestimmte Menschen seien zum Führen geboren und andere nicht. Er war ziemlich streng, und er und Dr. Beck gerieten aneinander, und jeder neue Zusammenstoß machte es nur schlimmer.«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Monk.
»Er wurde bei den Kämpfen im Oktober angeschossen«, erwiderte Ferdi zufrieden. »Auf der Straße. Er führte die Armee gegen die Barrikaden, und Dr. Beck führte den Widerstand an.« Er machte ein reumütiges Gesicht. »Die Revolutionäre verloren natürlich, aber zumindest bekamen sie Graf von Waldmüller. Ich wäre gerne dabei gewesen, um das zu sehen! Ein Leutnant des Grafen fand heraus, wo die Gruppe sich aufhielt, und führte die Truppen zu ihnen.« Er zitterte und griff nach einem neuen Stück Kuchen. »Allerdings zu spät. Elissa von Leibnitz hatte eine Nachricht zu einer der anderen Gruppen gebracht, die zur Verstärkung herbeieilte. Dr. Beck führte sie im Kampf an, und sie waren so tapfer und verhielten sich, als wüssten sie, dass sie siegen würden, und dieser Graf von Waldmüller wich zurück und wurde angeschossen. Verlor,
wie es scheint, ein Bein.« Ferdi grinste plötzlich. »Hat jetzt eins aus Holz. Sie sagten, es sei Dr. Beck gewesen, der auf ihn geschossen hat! Ich weiß, wo Max Niemann wohnt! Sollen wir ihn morgen besuchen?«
»Noch nicht«, sagte Monk nachdenklich. Er war sich be- wusst, dass Ferdi zutiefst enttäuscht war, und wunderte sich, dass Ferdis Vater seinem Sohn erlaubte, einem Mann, den sie nicht persönlich kannten, unbeschränkt zu helfen. Hatten Pendreighs und Callandras Briefe tatsächlich solches Gewicht, dass sie jegliche Besorgnis beschwichtigten?
»Aber Sie wissen alles über ihn!«, drängte Ferdi, beugte sich vor und forderte Monks Aufmerksamkeit. »Was soll ich denn noch herausfinden? Dr. Beck lebt jetzt in England. Er und Elissa von Leibnitz verliebten sich ineinander und heirateten.« Einen Augenblick war seine Miene düster. »Die anderen sind tot. Was stimmt nicht, Mr. Monk? Ist es nicht das, was Sie brauchen?«
»Ich weiß nicht. Es ist ganz sicher nicht das, was ich erwartet habe.« Er hatte nichts erfahren, was darauf hingewiesen hätte, dass Max Niemann nach London gefahren war, um eine alte Liebesaffäre wiederzubeleben, und, als er zurückgewiesen worden war, die Selbstkon- trolle verloren und zwei Frauen umgebracht hatte. Alle Geschichten, die Ferdi ihm erzählt hatte, hatten nur die Bande der Loyalität zwischen den dreien bestätigt, und es schien klar zu sein, das Elissa sich von Anfang an für Kristian entschieden und ihn geheiratet hatte, bevor sie Wien verließen. Wenn Niemann geglaubt hatte, Elissa habe sich anders entschieden, würde Monk unwiderleg- bare Beweise dafür finden müssen, damit es Pendreigh vor Gericht von Nutzen war.
»Was ist mit Becks Freunden, die keine Revolutionäre waren?«, fragte er. »Er muss auch noch andere Menschen gekannt haben. Was ist mit seiner Familie?«
Ferdi setzte sich auf. »Ich finde sie! Das dürfte nicht schwer sein. Ich weiß, wo ich fragen muss. Der Bruder meiner Mutter kennt jeden, und wenn nicht, kann er’s rausfinden. Er ist in der Regierung.«
Monk zuckte zusammen, aber er war bereits über eine Woche von London weg. Er konnte es sich nicht leisten, allzu vorsichtig zu sein. Also erklärte er sich einverstanden.
Sie brauchten weitere strapaziöse, kostbare zwei Tage, um ein Treffen mit Kristians Familie in die Wege zu leiten, und da sie – sehr zu Ferdis Verdruss – ausgezeichnet Englisch sprach, wurde er nicht gebraucht. Monk versprach, ihm alles Interessante zu erzählen, formulierte es sorgfältig, um sein eigenes Urteil herauszuhalten. Er sah Ferdis Gesicht aufleuchten und fühlte sich ganz unerwartet schuldig. Ferdi lauschte nicht seinen sorgfältig gewählten Worten, sondern der ehrlichen Absicht, an die er glaubte. Monk erkannte überrascht, dass er Ferdis Erwartung erfüllen würde. Ferdis Meinung lag ihm sehr am Herzen, und es war ihm egal, wenn er den Fall darstellen musste und Mühe hatte, alles zu erklären … was ihm bei Hester nichts ausmachte. Sie hatte dieses Recht verdient, und zudem war es bequem und oft sehr fruchtbar, seine Gedanken mit ihr zu teilen, selbst wenn sie nur halb oder missverständlich formuliert waren. Es half ihm, eine Sache zu klären, und oft konnte sie einen interessanten Beitrag leisten. Plötzlich wurde ihm jämmerlich klar, wie sehr er sie vermisste.
Der fünfzehnjährige Ferdi, der ihn kaum kannte, war ganz anders. Trotzdem würde er es tun.
Kristians älterer Bruder und dessen Frau lebten in Margareten, einer diskreten, aber offensichtlich wohlhabenden Wohngegend im Süden der Stadt. Monk
hatte die Adresse und hatte inzwischen von Ferdi genug Deutsch aufgeschnappt, um eine Kutsche anzuhalten und dort wie verabredet an einem dämmrigen Nachmittag um fünf Uhr anzukommen.
Er wurde, ähnlich wie in England, von einem Diener hereingebeten und in einen schönen, ziemlich überladenen Salon geführt. Der Raum war viel zu formell, um einem das Gefühl zu geben, dass man sich nach dem Essen um der Behaglichkeit und Privatsphäre willen hierher zurückzog oder um sich mit Gästen oder der Familie zu unterhalten und sich am Abend zu entspannen.
Innerhalb von Minuten gesellten sich Josef und Magda Beck zu ihm. Monk war verblüfft, wie ähnlich Kristian seinem Bruder war. Er hatte die gleiche Statur, etwa die gleiche Größe und einen schlanken, aber kräftigen Körper, einen breiten Brustkorb und saubere, gut manikürte Hände, die er bewegte, während er sprach. Auch sein Haar war dunkel und voll, aber seine Augen besaßen nicht die außergewöhnliche, klare Schönheit wie Kristians. Auch seine Züge hatten nicht Kristians Leidenschaft, und sein Mund war nicht so sinnlich.
Seine Frau Magda war blonder, obwohl ihre Haut immer noch einen olivfarbenen warmen Ton hatte und ihre Augen goldbraun waren. Sie war weniger hübsch als gefällig.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Monk«, sagte Josef steif.
»Ihrem Brief entnahm ich, dass Sie ernste Nachrichten über meinen Bruder haben.« Er klang nicht verblüfft oder besorgt, aber vielleicht waren dies private Gefühle, die er einem Fremden gegenüber nicht offenbaren wollte. Falls Magda anders empfand, dann war sie zu pflichtbewusst, seinem Beispiel nicht zu folgen.
Monk war mit sich übereingekommen, dass Offenheit bis zu einem gewissen Punkt die Taktik war, die am
ehesten zum Ziel führte, und daher Kristian helfen konnte, falls dies möglich war.
»Ja«, sagte er ernst. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie wissen, dass seine Frau vor ungefähr drei Wochen gestorben ist …« Das Entsetzen in ihren Gesichtern verriet ihm, dass sie es nicht gewusst hatten. »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen eine so tragische Nachricht überbringen muss.«
Magda war offensichtlich betrübt. »Das ist schrecklich. Wie geht es Kristian? Ich weiß, dass er sie sehr geliebt hat.«
Er forschte in ihrem Gesicht nach ihren eigenen Gefühlen. Wie gut hatte sie Elissa gekannt? Galt ihr Kummer Kristian oder auch ihrer Schwägerin? Er beschloss, den Rest der Geschichte für sich zu behalten, bis er sich mehr Gewissheit über ihre Beziehung verschafft hatte. »Er ist natürlich sehr schockiert«, antwortete er. »Es geschah so plötzlich und war äußerst schmerzvoll.«
»Es tut mir Leid«, sagte Josef steif. »Ich muss ihm schreiben. Es ist gut, dass Sie es uns gesagt haben.« Er äußerte keine Überraschung, dass Kristian es ihnen nicht selbst mitgeteilt hatte. Das weckte in Monk ein Gefühl der Beklommenheit. Er dachte an seine Schwester Beth in Northumberland und wie selten er ihr schrieb. Er hatte die Verbindung abreißen lassen, zunächst dadurch, dass er den Norden verließ, dann, indem er ihre Briefe nur oberflächlich beantwortete und nichts von sich berichtete außer den nackten Tatsachen. Er hatte keine Gefühle offenbart und weder Freude noch Schmerz mit ihr geteilt, ihr keine Einzelheiten geschrieben, die ein lebendiges Bild seines Lebens vermittelt hätten. Das hatte er so lange betrieben, dass Beth inzwischen nur noch an Weihnachten und Geburtstagen schrieb wie jemand, dem man die Tür zu oft vor der Nase zugeschlagen hat.
Das Gespräch schien beendet zu sein. Sie nahmen an, er
hätte sie nur aufgesucht, um sie von Elissas Tod in Kenntnis zu setzen. Im nächsten Moment würden sie sich höflich von ihm verabschieden. Er musste mehr sagen, um sie zu einer Reaktion zu zwingen. »Es ist nicht so einfach«, sagte er ein wenig abrupt. »Mrs. Beck wurde ermordet, und die Polizei hat Kristian verhaftet.«
Das provozierte jedenfalls die emotionalen Reaktionen, auf die er gehofft hatte. Magda sank, nach Atem ringend, auf das Sofa hinter ihr. Josef wurde kreidebleich und schwankte, ohne seine Frau zu beachten.
»Gütiger Himmel!«, sagte er scharf. »Das ist ja schrecklich!«
»Armer Kristian«, flüsterte Magda und schlug die Hände vors Gesicht. »Wissen Sie, was passiert ist?«
»Nein«, erwiderte Monk nicht ganz wahrheitsgemäß.
»Ich glaube, der Anfang und vielleicht auch das Ende könnten hier in Wien liegen.«
Josef hob den Kopf. »Hier? Aber Elissa war Engländerin, sie leben seit neunundvierzig in London. Warum hier? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Magda sah Monk an. »Aber Kristian hat es nicht getan, oder?«
Es war ein Aufschrei, fast eine Kampfansage. »Ich weiß, dass er sehr leidenschaftlich ist, aber auf den Barrikaden kämpfen, sogar Menschen töten – Fremde … für die Sache größerer Freiheit –, ist doch etwas ganz anderes, als jemanden umzubringen, den man kennt. Ich kann nicht behaupten, wir hätten Kristian je verstanden. Er war immer …« Sie zuckte kaum merklich die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich es erklären soll, ohne einen falschen Eindruck zu vermitteln. Er traf schnelle Entscheidungen, er wusste, was er wollte, er war der geborene Anführer, und andere Männer schauten zu ihm
auf, weil er keine Angst zeigte.«
»Er war ein Hitzkopf«, sagte Josef und sah Monk an, nicht Magda. »Er hörte selten auf die Vernunft, und er hatte keine Geduld. Aber was meine Frau zu sagen versucht, ist, dass er ein guter Mensch war. Die gewalttätigen Dinge, die er getan hat, tat er für ein Ideal, nicht aus Wut oder aus Begierden für sich selbst. Wenn er Elissa umgebracht hat, dann gab es dafür einen Grund, einen, der sich sicher strafmildernd auswirkt. Ich nehme an, das ist das, wonach Sie suchen, obwohl ich bezweifle, dass Sie es tatsächlich hier in Wien finden. Es ist alles zu lange her. Was auch immer sich hier ereignet hat, ist seit langem geklärt oder vergessen.« Er sah Monk an, so dass er den Schatten, der über Magdas Gesicht huschte, nicht bemerkte.
»Kannten Sie einen Mann namens Max Niemann?«, fragte Monk die beiden.
»Ich habe natürlich von ihm gehört«, erwiderte Joseph.
»Er war aktiv bei den Aufständen und hat es seither, glaube ich, weit gebracht. Es gab natürlich Repressalien, aber nicht lange. Niemann überlebte ziemlich gut. Es war klug von Kristian, Österreich zu verlassen, und für seine Frau sicher auch. Sie war« – er zögerte – »in gewissen Kreisen ziemlich berühmt. Aber ganz gleich, es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass jemand wegen ihrer Teilnahme an den Aufständen all die Jahre Rachegefühle gehegt und die weite Reise nach England gemacht hat, um sie umzubringen.« Er runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich versichere Ihnen, das ist wirklich zu unwahrscheinlich, als dass Sie Ihre Zeit damit vergeuden sollten.« Er machte eine Geste mit den Händen.
»Aber natürlich werden wir alles in unserer Macht Stehende tun. Haben Sie Namen, irgendjemanden, den Sie kennen lernen oder über den Sie Erkundungen einziehen möchten? Ich kenne mehrere Männer in der Regierung
und bei der Polizei, die helfen würden, wenn ich sie darum bitte. Wobei es klüger sein könnte, nicht zu erwähnen, dass Kristian selbst verdächtigt wird.«
»Es wäre hilfreich, ein paar andere Geschichten über seine Beteiligung an dem Aufstand zu hören«, sagte Monk und versuchte, sich Verwirrung und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Auch andere Meinungen über Kristian selbst.«
»Sie möchten Zeugenaussagen über seinen Charakter?«, fragte Magda schnell und warf Josef einen Blick zu, dann sah sie wieder Monk an. »Ich bin mir sicher, Vater Geissner wäre dazu bereit, auch nach London reisen, wenn das etwas nützen würde.«
»Vater Geissner?« Einen Augenblick war Monk ratlos.
»Unser Priester«, erklärte sie ihm. »Er ist ein hoch angesehener Mann, obwohl er die Aufstände unterstützt und sogar den Verwundeten auf den Barrikaden die Sakramente gespendet hat. Er wäre der beste Fürsprecher, den ich mir denken kann, und …«
»Absolut!«, stimmte Josef ihr augenblicklich begeistert zu. »Gut gemacht, meine Liebe. Ich weiß nicht, wieso ich nicht gleich an ihn gedacht habe. Ich werde Sie morgen zu ihm bringen, wenn Sie möchten.«
»Vielen Dank.« Monk griff nach der aussichtslosen Chance. Vielleicht konnte der Priester ihm ein klares Bild von Niemann zeichnen. Vielleicht hatte er auch die zarteren Gefühle beobachtet und nicht nur die farbigen Geschichten, die in den dreizehn Jahren entstanden waren und von denen die meisten von mutigen Taten handelten, von Loyalität oder Betrug, vom Tod und von der Wiedereinsetzung der alten Strukturen.
»Wir müssen ihn sowieso aufsuchen, um eine Messe für
Elissas Seele lesen zu lassen«, fügte Magda hinzu und
bekreuzigte sich.
Josef tat hastig dasselbe und senkte einen Moment den
Kopf.
Monk war völlig überrumpelt. Ihm war nicht klar gewe- sen, dass Kristian Katholik war. Eine weitere Dimension, die er nicht in Betracht gezogen hatte. Andererseits wusste er nicht einmal, welchen religiösen Hintergrund er selbst hatte! Er erinnerte sich nicht, ob er als Kind in die Kirche gegangen war. Wenn ein Glaube etwas wert war, dann sollte er doch das ganze Leben durchdringen? Er sollte der Fels sein, auf dem alles andere errichtet war, alle mora- lischen Entscheidungen leiten und in Zeiten der Not den Trost geben, den Menschen stützen, heilen, dem Konflikt eine Bedeutung geben und die Tragödie erträglich machen?
Monk warf noch einmal einen Blick auf Magda Becks rundes, ernstes Gesicht und sah darin das Leuchten einer inneren Gewissheit oder zumindest das Wissen darum, wo diese zu finden war.
Wenn er nach Hause fuhr, musste er dafür sorgen, dass ein Priester Kristian besuchte, sooft dieser es wünschte und es erlaubt war.
»Vielen Dank«, sagte er mit mehr Zuversicht. »Ich würde sehr gerne mit Vater Geissner sprechen.«
»Natürlich.« Josef sah glücklich aus, er hatte etwas
Nützliches tun können.
Monk war gerade im Begriff zu fragen, wo und wann sie sich treffen sollten, und sich dann zu verabschieden, als der Diener die Ankunft von Herrn und Frau von Arpels ankündigte und Josef ihn bat, sie hereinzuführen.
Von Arpels war schlank und hatte dünnes, blondes Haar und ein schmales, ziemlich spitzes Gesicht. Seine Frau war unscheinbar, aber sie hatte eine überraschend angenehme Stimme, sehr tief und ein wenig heiser.
Sie wurden einander vorgestellt, und Josef erzählte ihnen sogleich von Elissas Tod, ohne allerdings auf die näheren Umstände einzugehen. Angemessene Anteilnahme wurde zum Ausdruck gebracht, und die beiden erboten sich, für Elissas Seele zu beten und an der Messe für sie teilzunehmen.
Von Arpels wandte sich an Monk. »Bleiben Sie lange in Wien, Herr Monk? Es gibt eine Menge zu sehen. Waren Sie schon in der Oper? Oder im Konzertsaal? In dieser Saison werden Beethoven und Mozart gegeben, ausgezeichnet. Oder vielleicht eine Fahrt auf dem Fluss? Obwohl es dafür schon ein wenig spät ist. Viel zu kalt. Der Wind kommt von Osten und kann zu dieser Jahreszeit ziemlich beißend sein.«
Frau von Arpels lächelte ihn an. »Vielleicht bevorzugen Sie etwas Leichteres? Einladungen zum Kaffee? Wir können Ihnen die besten und elegantesten Orte nennen … und auch ein paar von denen, die nicht ganz so elegant sind, dafür aber lustiger. Tanzen Sie, Herr Monk?« Ihre Stimme wurde vor Begeisterung ein bisschen höher. »Sie müssen Walzer tanzen! Sie können unmöglich in Wien sein und keinen Walzer tanzen! Herr Strauss hat uns zur Walzerhauptstadt der Welt gemacht! Wenn Sie ihn nicht dirigieren gehört … und bis zum Umfallen getanzt haben, waren Sie nur halb lebendig!«
»Helga, bitte!«, sagte von Arpels schnell. »Herr Monk könnte das zu frivol finden!«
Monk fand, es klang herrlich. Seine Phantasie eilte in so raschen Schritten voraus, dass seine Füße gar nicht mehr nachkamen. Aus Venedig erinnerte er sich, dass er … ziemlich gut tanzen konnte!
»Ich würde schrecklich gerne tanzen gehen«, sagte er aufrichtig. »Aber ich kenne niemanden, und
bedauerlicherweise muss ich nach London zurückkehren, sobald meine Geschäfte hier erledigt sind.«
»Oh, ich kann Sie jemandem vorstellen«, meinte Helga von Arpels ungezwungen. »Ich bin sicher, ich kann sogar dafür sorgen, dass Sie Herrn Strauss vorgestellt werden, wenn Sie möchten.«
»Helga! Um Himmels willen!« Von Arpels energischer Einwurf war fast ein wenig grob. »Herr Monk hat sicher nicht den Wunsch, gesellschaftlich mit Herrn Strauss zu verkehren. Der Mann ist ein ausgezeichneter Musiker, aber er ist Jude! Ich habe dich gewarnt, unpassende Freundschaften zu schließen. Man muss höflich sein, aber man muss auch vorsichtig sein, damit man in Bezug auf seine Loyalitäten und seine Identität nicht missverstanden wird. Sieh dir an, was mit Irma Brandt passiert ist! Es war ganz allein ihre Schuld.«
Die Atmosphäre im Raum schien plötzlich kälter zu werden. Ein Dutzend Fragen schossen Monk durch den Kopf, aber dies waren nicht die Menschen, denen er sie stellen konnte. Helga von Arpels sah verärgert aus. Sie war vor ihren Freunden und einem Fremden in Verlegenheit gebracht worden, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte verbotenes Terrain betreten, darüber war man sich offensichtlich einig. Sie tat Monk Leid, und er war wütend um ihretwillen, gleichzeitig jedoch auch völlig hilflos.
»Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit, Frau von Arpels«, sagte er zu ihr. »Ich werde mich darum bemühen, Herrn Strauss dirigieren zu sehen, selbst wenn ich allein hingehe und nicht tanzen kann. Dann kann meine Phantasie die Erinnerung bewahren.«
Sie versuchte zu lächeln, und in ihren Augen blitzte es auf, eine Anerkennung seines Feingefühls.
Monk dankte Josef und Magda noch einmal, bekam von
ihnen die Adresse von Vater Geissner, und Magda begleitete ihn zur Tür. Draußen in der Halle entließ sie das Mädchen und ging selbst mit ihm zur Treppe.
»Mr. Monk, gibt es sonst irgendetwas, was wir für
Kristian tun können?«
War sie ihm wirklich gefolgt, um ihn dies zu fragen? Es würde nicht lange dauern, bis Josef sie vermisste.
»Ja«, sagte er, ohne zu zögern. »Erzählen Sie mir, was Sie über die Gefühle zwischen Kristian, Elissa und Max Niemann wissen. Er war dieses Jahr mindestens dreimal in London und hat nicht etwa Kristian besucht, sondern Elissa, und zwar heimlich.«
Sie sah kaum überrascht aus. »Er hat sie immer geliebt«, antwortete sie ruhig. »Aber soweit ich weiß, hat sie außer Kristian nie einen anderen Mann auch nur eines Blickes gewürdigt.«
»Sie hat Kristian wirklich geliebt?« Monk wollte sichergehen, selbst wenn ihm das nicht weiterhalf.
»O ja«, sagte sie mit Nachdruck. Ein winziges, trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Sie war neidisch auf dieses jüdische Mädchen, Hanna Jakob, weil auch sie tapfer und eine starke Persönlichkeit war. Auch sie liebte Kristian. Ihr Gesicht verriet es … und ihre Stimme. Max war für Elissa zu mühelos zu erobern, sie musste sich nicht anstrengen, um seine Liebe zu gewinnen.« Sie zuckte kaum merklich die Schultern. »Das, was wir ohne allzu viel Mühe erringen können, wollen wir oft nicht. Wenn man nichts zahlt, ist es womöglich nicht viel wert. Zumindest glauben wir das.«
Man hörte Türen auf und zu gehen.
»Vielen Dank, dass Sie hier waren, um es uns persönlich zu berichten, Mr. Monk«, sagte sie schnell. »Das war äußerst liebenswürdig von Ihnen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Frau Beck«, antwortete er, trat hinaus in den Wind und ging davon, während neue Gedanken seinen Geist beschäftigten.
Ferdi war nicht der Richtige, um ihn nach der Judenfeindlichkeit zu fragen, deren Zeuge Monk im Haus der Becks geworden war, zumal diese für Kristian, Elissa und Max Niemann kaum von Belang war. Ferdi brannte jedoch darauf, alles zu hören, was Monk dort in Erfahrung gebracht hatte, und wollte wissen, ob es Monk half, ein deutlicheres Bild der Menschen zu gewinnen, die für ihn bereits Helden waren. Er stellte eine Frage nach der anderen über Josef und Magda, während er und Monk bei einer heißen Tasse Kakao saßen und zusahen, wie die Lichter angingen, während die Straßen immer dunkler wurden und die Cafés sich mit Menschen füllten. Ohne es zu wollen, rutschte Monk von Arpels’ Kommentar über Strauss heraus. Er sah keine erkennbare Reaktion in Ferdis jungem Gesicht.
»Haben viele Menschen eine solche Einstellung zu
Juden?«, fragte Monk.
»Ja, natürlich. In England etwa nicht?« Ferdi war ver- dutzt. Monk musste einen Augenblick darüber nachdenken. Er bewegte sich nicht in gesellschaftlichen Kreisen, wo er so etwas erlebt hatte. Er war überrascht, als ihm klar wurde, mit wie wenigen Menschen er, im Vergleich zu seinen beruflichen Kontakten, freundschaftlichen Umgang pflegte. Es gab eigentlich nur Rathbone, Callandra und natürlich Kristian. Diese Beziehungen waren stark und unter ungewöhnlichen Umständen entstanden; sie bauten auf ein Vertrauen, das die meisten Menschen niemals aufbringen mussten. Was ihnen fehlte, war jedoch die entspanntere Seite der Freundschaft, die gemeinsamen Bagatellen.
»Ist mir noch nicht untergekommen«, sagte er ausweichend. Er wollte nicht, dass Ferdi wusste, dass seinem Leben solch gewöhnliche Stabilität fehlte. Er wollte eigentlich auch nicht, dass Ferdi erfuhr, dass er früher Polizist war. Ferdi mochte ihn für einen aufregenden Freund halten, aber es war unzweifelhaft eine sozial unterlegene Position. Man rief die Polizei, wenn man sie brauchte, man lud sie nicht zum Essen ein. Und auf keinen Fall erlaubte man der eigenen Tochter, einen Polizisten zu heiraten.
Ferdi wunderte sich. »Gibt es denn in England keine
Juden?«
»Doch, natürlich.« Monk suchte nach einer akzeptablen Antwort. »Einer unserer führenden Politiker ist Jude – Benjamin Disraeli. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich persönlich einen kenne.«
»Persönlich kennen wir auch keine«, meinte Ferdi.
»Aber ich habe natürlich schon welche gesehen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Monk schnell.
»Was?«
»Woher weißt du, dass es Juden waren?«
Jetzt war Ferdi völlig perplex. »Na ja, man weiß es eben, oder nicht?«
»Ich nicht.«
Ferdi wurde rot. »Sie nicht? Meine Eltern schon. Ich meine, man muss höflich sein, aber es gibt bestimmte Dinge, die tut man nicht.«
»Zum Beispiel?«
»Also …« Ferdi war ein wenig unglücklich und schaute in den Rest seines Kakaos. »Man macht natürlich Geschäfte mit ihnen – viele Bankiers sind Juden –, aber man bittet sie nicht zu sich nach Hause oder in seinen
Club oder zu einer ähnlichen Gelegenheit.«
»Warum nicht?«
»Warum nicht? Also … wir sind Christen! Sie glauben nicht an Christus. Sie haben ihn gekreuzigt.«
»Vor eintausendachthundert Jahren«, betonte Monk.
»Das war niemand, der jetzt noch lebt, ob Jude oder sonst was.« Er wusste, dass er unhöflich war. Ferdi wiederholte nur, was man ihm beigebracht hatte. Er war nicht in der Lage, die Gründe dafür zu erforschen, ebenso wenig wusste er, wo in der Geschichte der Gesellschaft er danach suchen sollte oder woher das Bedürfnis nach Glauben und Rechtfertigung kam, um so etwas rational zu erklären. Monk schämte sich, und doch fuhr er fort: »Sehen viele Menschen das so?«
»Alle, die ich kenne«, antwortete Ferdi und verzog das Gesicht. »Zumindest behaupten sie es. Ich nehme an, das ist das Gleiche … nicht wahr?«
Darauf hatte Monk keine Antwort. Diese Haltung der Gesellschaft war eine weitere Facette von Kristians Vergangenheit, die Monk nicht erwartet hatte und die er nicht in Einklang brachte mit dem Mann, den er kannte, oder zu kennen glaubte. Vielleicht teilte Kristian Josefs Standpunkt auch gar nicht.
Monk bestellte Kaffee für sich und Ferdi und vergaß ganz, dass sie vorher Kakao getrunken hatten.
Ferdi lächelte, sagte jedoch nichts.