KAPITEL 2
Am frühen Abend des Tages, an dem sich Pitt und Gower an die Verfolgung Wrexhams gemacht hatten, die sie über Southampton bis nach Saint Malo führte, saß Victor Narraway in seinem Büro in Lisson Grove. Es klopfte, und auf sein »Herein« trat einer seiner Mitarbeiter ein.
»Ja, Stoker?«, sagte Narraway ungehalten. Er wartete schon eine ganze Weile auf die Informationen, die Pitt von West zu erlangen hoffte, und hatte jetzt keine Lust, mit jemandem zu reden.
Stoker, ein Mann mit schmalem Gesicht und hohem Nasenrücken, schloss die Tür hinter sich, trat an Narraways Schreibtisch und sagte mit ungewöhnlich ernster Miene: »Sir, vor einer aufgegebenen Ziegelei in der Nähe der Cable Road in Shadwell ist am helllichten Tag ein Mann ermordet worden …«
»Sind Sie sicher, dass mich das interessiert?«, fiel ihm Narraway ins Wort.
»Unbedingt, Sir«, gab dieser ohne zu zögern zurück. »Zwei Männer haben den Täter, der dem Opfer die Kehle durchgeschnitten hat, entdeckt, als er das Messer noch in der Hand hielt. Den Angaben der dortigen Polizeiwache nach sieht es so aus, als wären sie ihm nach Limehouse gefolgt, und von da …«
Ungeduldig fiel ihm Narraway ins Wort: »Ich erwarte Informationen über eine ausgedehnte Aktion sozialistischer Revolutionäre, bei der es unter Umständen zu Bombenanschlägen kommen kann.« Mit einem Mal überlief ihn ein kalter Schauer. »Also verscho…«
»West, Sir«, sagte Stoker. »Der Mann, dem man die Kehle durchgeschnitten hat, war unser Informant West. Die beiden Verfolger Pitt und Gower. Sie haben den Täter allem Anschein nach mindestens bis Limehouse verfolgt, möglicherweise sogar noch über die Themse hinweg bis zum Bahnhof. Von da aus kann er sich natürlich an jeden beliebigen Ort im Lande abgesetzt haben. Mehr haben wir nicht erfahren. Niemand hat angerufen.«
Narraway spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Beinahe empfand er diese Mitteilung als Erleichterung. Wo zum Teufel steckte dieser Pitt? Warum hatte er nicht zumindest angerufen? Selbst wenn er dem Täter im Nachtzug nach Schottland auf den Fersen blieb, hätte er an einem der Bahnhöfe kurz aussteigen und sich bei seiner Dienststelle melden können.
Dann kam ihm ein anderer Gedanke: und wenn der Täter nach Dover oder zu einem anderen Hafen geflohen war – Folkestone, Southampton …? Von einem Schiff aus würde Pitt nicht anrufen können. Das wäre eine denkbare Erklärung für sein Schweigen.
»Aha. Vielen Dank, Stoker«, sagte er.
»Sir.«
»Sagen Sie vorerst niemanden etwas davon.«
»Jawohl, Sir.«
»Noch einmal danke. Sie können gehen.«
Nachdem Stoker die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Narraway mehrere Minuten reglos sitzen. Der Mord an West bedeutete einen schweren Schlag, denn jetzt würden sie nichts von dem erfahren, was ihnen der Mann hatte mitteilen wollen. In jüngster Zeit hatte es wieder einmal Hinweise auf bevorstehende Aktionen von Radikalen gegeben. Notorische Unruhestifter kamen und gingen öfter als sonst, und eine gewisse Unruhe lag in der Luft. Zwar waren all diese Anzeichen Narraway bestens vertraut, doch er kannte den Zweck nicht, auf den sich diese Aktivitäten richteten. Es gab so viele Möglichkeiten: ein Anschlag konnte einem Minister oder einem Großindustriellen gelten, aber auch, und das wäre besonders unangenehm, einem ausländischen Würdenträger oder Potentaten auf englischem Boden. Ebenso war es möglich, dass man beabsichtigte, irgendein wichtiges Wahrzeichen zu sprengen. Er hatte Pitt den Auftrag gegeben, zu ermitteln, was jene Radikalen im Schilde führten. Vielleicht gelang ihm das ja auch noch, aber ohne West würde sich das deutlich schwieriger gestalten.
Selbstverständlich war das nicht alles. Gerüchte und Drohungen gab es immer. Ständig lagen Argwohn und Verrat in der Luft. Der Sicherheitsdienst hatte die Aufgabe, solchen Anzeichen nachzugehen, bevor etwas geschah, um zumindest das größte Übel zu verhüten.
Sollte Pitt aber dem Mörder Wests bis nach Schottland oder, schlimmer noch, über den Ärmelkanal gefolgt sein, ohne dass er Narraway das mitteilen konnte, dürfte er auch keine Zeit gehabt haben, seine Frau von seiner Lage in Kenntnis zu setzen. Das bedeutete, dass Charlotte im Haus in der Keppel Street auf ihn wartete und sich mit jeder Stunde mehr ängstigte.
Narraway sah auf die kunstvoll gearbeiteten Zeiger der Standuhr an einer der Wände seines Büros. Es war Viertel vor sieben. Zwar wäre Pitt an einem gewöhnlichen Tag jetzt bereits zu Hause, doch würde seine Frau wohl erst in einer oder zwei Stunden anfangen, sich Sorgen zu machen.
Er stellte sich vor, wie sie in der Küche das Abendessen zubereitete, wahrscheinlich allein. Die Kinder saßen vermutlich an den Hausaufgaben für den nächsten Tag. Er konnte sich Charlotte mühelos vorstellen – genau gesagt stand ihm ihr Bild ständig vor Augen.
Manch einer hätte sie nicht als schön bezeichnet, weil ihr Gesicht nicht dem landläufigen Ideal entsprach, weder niedlich war noch in irgendeiner Weise Beschützerinstinkte weckte. Solche Gesichter langweilten Narraway. Schönheit war seiner Ansicht nach eine sehr persönliche Sache, hatte mit Geschmack zu tun, mit der Fähigkeit, über das Augenfällige hinaus Elemente von Leidenschaften oder Träumen zu erkennen, in denen sich das Wesen eines Menschen zeigte.
Bei Charlotte hatte er eine Herzenswärme und ein Lachen kennengelernt, die er nie vergessen würde. Das war ihm nur allzu deutlich bewusst, denn er hatte es versucht. Mitunter fuhr sie vor Zorn auf, weil sie viel zu impulsiv reagierte, und seiner Ansicht nach schätzte sie Situationen häufig unzutreffend ein, doch an ihrem Mut und ihrer Willenskraft konnte es nicht den geringsten Zweifel geben.
Jemand musste ihr mitteilen, dass sich ihr Mann auf die Fährte von Wests Mörder gesetzt hatte – ach, es wäre wohl besser, den Mord nicht zu erwähnen. Er würde ihr sagen, dass er sich einem Mann an die Fersen geheftet hatte, der wichtige Informationen liefern konnte, und möglicherweise genötigt gewesen war, ihm über den Ärmelkanal zu folgen. Dabei habe er keine Gelegenheit gehabt, sie anzurufen oder auf andere Weise davon in Kenntnis zu setzen. Natürlich hätte Narraway Stoker zu ihr schicken können, aber sie kannte den Mann nicht und außer ihm selbst auch sonst niemanden im Hauptquartier von Lisson Grove. Es war ein Gebot der Höflichkeit, ihr diese Mitteilung selbst zu überbringen, zumal es für ihn kein großer Umweg war. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, bedeutete es doch einen ziemlichen Umweg, aber trotzdem dürfte es so das Beste sein.
Obwohl Pitt anfänglich nicht die geringste Vorstellung von der Arbeitsweise des Sicherheitsdienstes gehabt hatte und Narraway ihn in politischen Fragen gelegentlich für ein schlichtes Gemüt hielt, war er einer der besten Männer, die je für ihn gearbeitet hatten. Seine Rechtschaffenheit, die in Narraways Augen geradezu sein Kennzeichen war, brachte Narraway bisweilen zur Verzweiflung. Pitt war zusammen mit dem Sohn des Gutsbesitzers aufgewachsen und unterrichtet worden, für den sein Vater als Wildhüter tätig war, selbstverständlich ohne auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene wie dieser zu stehen. Die Bildung, die ihm dort zuteil geworden war, hatte ihn zu einem Mann von edler Denkart gemacht, dessen menschliches Mitgefühl und gelegentlich aufflammenden Zorn über Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft Narraway bewunderte. Es erstaunte ihn selbst, dass er Pitt vor dem Neid derer in Schutz nahm, die er aufgrund seiner Fähigkeiten überflügelt hatte, obwohl sie lange vor ihm in den Sicherheitsdienst eingetreten waren. Jetzt musste Narraway unbedingt Charlotte mitteilen, dass ihr Mann unter Umständen längere Zeit fortbleiben würde. Er räumte seinen Schreibtisch auf, schloss sorgfältig alle vertraulichen Papiere ein, verließ das Gebäude und winkte auf der Straße einer Droschke, deren Kutscher er Pitts Adresse nannte.
Er erkannte die Besorgnis in Charlottes Augen, kaum dass sie ihm geöffnet hatte. Ihr war sofort klar, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Die Empfindung, die er wahrnahm, erfüllte ihn mit Neid. Die Zeit, da sich jemand auf ähnliche Weise um ihn besorgt gezeigt hatte, lag lange zurück.
»Ich bedaure, Sie stören zu müssen«, sagte er mit steifer Förmlichkeit. »Heute ist bei uns nicht alles nach Plan gelaufen. Ihr Mann hat sich genötigt gesehen, mit seinem Mitarbeiter Gower einen mutmaßlichen Verschwörer zu verfolgen, ohne dass sie Gelegenheit hatten, jemanden darüber zu informieren. «
Der Ausdruck von Besorgnis wich aus Charlottes Augen, und mit ihrer üblichen Freundlichkeit fragte sie: »Wo ist er?«
Er beschloss, mehr Sicherheit in seine Worte zu legen, als er empfand. Auch wenn es denkbar war, dass sich Wests Mörder nach Schottland abgesetzt hatte, hielt Narraway es für wahrscheinlicher, dass ihn seine Flucht über den Ärmelkanal geführt hatte, und so sagte er: »In Frankreich. Verständlicherweise hatte er auf der Fähre keine Möglichkeit zu telefonieren, und davor hat er vermutlich nicht gewagt, den Mann aus den Augen zu lassen, weil er ihm sonst hätte entwischen können. Es tut mir leid.«
Sie lächelte. »Es ist sehr aufmerksam von Ihnen, eigens zu kommen, um mir das zu sagen. Ich muss zugeben, dass ich angefangen hatte, mir Sorgen zu machen.«
Der Aprilabend war kalt, ein scharfer Wind brachte den Geruch nach Regen mit sich. Von der Vortreppe aus sah Narraway das Licht im Haus, spürte die Wärme, die herausdrang. Er tat einen Schritt zurück. Ihn ängstigten seine Gedanken, die Verlockung, die seinen Puls beschleunigte.
»Dazu besteht kein Anlass«, sagte er rasch. »Gower ist ein erstklassiger Mann und spricht recht gut Französisch. Ganz davon abgesehen dürfte es dort wärmer sein als hier.« Er lächelte. »Außerdem isst man dort sehr gut.« Charlotte war gerade dabei gewesen, das Abendessen vorzubereiten. Wie ungeschickt von ihm, dieses Thema anzusprechen! Zum Glück stand er so weit im Dunkeln, dass sie nicht sehen konnte, wie er rot wurde. Jeder Versuch, diesen Tritt ins Fettnäpfchen ungeschehen zu machen, wäre plump gewesen, daher war es besser, die Sache stillschweigend auf sich beruhen zu lassen. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas von ihm höre. Falls der Mann, dem sie folgen, nach Paris weiterzieht, wird es für die beiden unter Umständen nicht ganz einfach sein, mit mir in Kontakt zu bleiben, aber machen Sie sich bitte um Ihren Mann keine Sorgen.«
»Vielen Dank, ich weiß jetzt, dass das nicht nötig ist.«
Ihm war klar, dass das eine höfliche Lüge war. Natürlich würde sie sich Sorgen machen. Vor allem würde sie ihn vermissen. Zwar gehört zur Liebe stets die Möglichkeit des Verlusts, doch die mit der Abwesenheit des geliebten Menschen einhergehende Leere war weit schlimmer.
Er nickte ganz leicht und verabschiedete sich. Als er ging, kam es ihm vor, als lasse er das Licht hinter sich zurück.
Um die Mitte des nächsten Vormittags bekam Narraway das von Pitt in Saint Malo aufgegebene Telegramm. Sogleich ließ er ihm so viel Geld anweisen, dass es für ihn und Gower mindestens zwei Wochen lang reichen würde. Kaum hatte er die Anweisung abgeschickt, hielt er sie für zu großzügig. Möglicherweise war sie ein Maßstab dafür, wie sehr es ihn erleichtert hatte, Pitt in Sicherheit zu wissen. Überrascht merkte er, wie schwer es ihm gefallen war, die Sorge von sich fernzuhalten. Er würde noch einmal das Haus in der Keppel Street aufsuchen müssen, um Charlotte mitzuteilen, dass sich ihr Mann gemeldet hatte.
Nach der Mittagspause kam Charles Austwick in Narraways Büro und schloss die Tür hinter sich. Er war ein recht gut aussehender, wenn auch unauffälliger Endvierziger, dessen blondes Haar sich zu lichten begann. Mit seiner Intelligenz und Tüchtigkeit hatte er sich offiziell die Position als Narraways Stellvertreter erarbeitet, doch hatte es sich so ergeben, dass Pitt diese Funktion de facto ausübte. Austwick sah Narraway so bemüht direkt an, als sei ihm etwas unangenehm und er versuche das nicht deutlich werden zu lassen. Er war dafür bekannt, dass er nie offen zeigte, was er empfand oder dachte.
»Eine schwierige Situation ist eingetreten, Sir«, sagte er und nahm unaufgefordert Platz. »Es tut mir leid, aber ich muss das ansprechen.«
»Dann tun Sie das, statt lange um den heißen Brei herumzureden !«, sagte Narraway ein wenig heftig. »Also, worum dreht es sich?«
Austwicks Gesicht spannte sich so an, dass seine Lippen wie ein schmaler Strich aussahen.
»Um Informanten«, sagte er. »Sie erinnern sich doch an Mulhare?«
Die einen winzigen Augenblick lang aufblitzende Befriedigung in Austwicks blassen Augen ließ erkennen, dass das, was er zu sagen hatte, mit Narraway selbst zu tun hatte, mit einem wunden Punkt seines Vorgesetzten. Voll Trauer erinnerte sich Narraway an den Iren Mulhare, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um zu tun, was er für seine Pflicht hielt, indem er den Engländern Informationen zuspielte. Das war so gefährlich gewesen, dass er Irland mitsamt seinen Angehörigen hätte verlassen müssen, um nicht der Rache seiner Landsleute zum Opfer zu fallen, und Narraway hatte dafür gesorgt, dass man ihm das dazu nötige Geld zur Verfügung stellte.
»Selbstverständlich«, sagte er gelassen. »Hat man seine Mörder ermittelt? Leider wird dies Wissen niemandem mehr etwas nützen.« Er wusste, dass seine Stimme bitter klang. Er hatte Mulhare gut leiden können und ihm zugesichert, dass ihm nichts geschehen werde.
»Die Sache ist ziemlich verzwickt«, gab Austwick zurück. »Er hat das Geld nicht bekommen und konnte Irland deshalb nicht verlassen.«
»Doch, er hat es bekommen«, widersprach Narraway. »Ich habe das selbst in die Wege geleitet.«
»Genau das ist der springende Punkt«, sagte Austwick und rückte seinen Stuhl ein wenig auf dem Teppich zurecht.
Es ärgerte Narraway, dass man ihn an diesen Fehlschlag erinnerte; Mulhares Tod war ein herber Verlust, der ihn stets schmerzen würde. »Wenn Sie mir nicht sagen können, wer ihn umgebracht hat, warum vergeuden Sie dann Ihre und meine Zeit mit dem Fall, statt sich um Ihre laufende Arbeit zu kümmern?«, fragte er schroff. »Sofern Sie nichts zu tun haben sollten, finde ich bestimmt etwas für Sie. Pitt und Gower werden eine Weile nicht ins Büro kommen, und irgendjemand muss Pitts laufende Arbeit übernehmen.«
»Ach?« Austwick verbarg seine Überraschung nur mühsam. »Das habe ich gar nichts gewusst. Niemand hat mir etwas davon gesagt.«
Narraway sah ihn kalt an, ohne auf den unausgesprochenen Vorwurf einzugehen.
Austwick holte tief Luft. »Wie gesagt«, nahm er den Faden erneut auf, »es tut mir sehr leid, dass wir uns wieder mit der Sache befassen müssen. Man hat Mulhare verraten …«
»Das ist uns bekannt, zum Kuckuck!« Narraway hörte den Ärger in seiner Stimme. »Man hat seine Leiche aus der Bucht von Dublin gefischt.«
»Er hat das Geld nie bekommen«, wiederholte Austwick.
Narraway presste seine Hände unter dem Tisch fest zusammen, so dass Austwick es nicht sehen konnte.
»Ich habe die Zahlung selbst in die Wege geleitet.« Das stimmte, doch hatte er aus guten Gründen, die er Austwick nicht mitzuteilen gedachte, dafür gesorgt, dass es den Empfänger auf verschlungenen Wegen erreichte.
»Aber Mulhare hat es nie bekommen«, gab Austwick zurück. In seiner Stimme schienen sich unterschiedliche Empfindungen zu vermengen. »Wir haben inzwischen festgestellt, wohin es gegangen ist.«
Narraway war verblüfft.
»Nämlich wohin?«
»Ich weiß nicht, wo es sich im Augenblick befindet«, gab Austwick zurück, »aber es ist auf eins Ihrer Konten hier in London gegangen.«
Narraway erstarrte. Mit erschreckender Klarheit begriff er, was Austwick von ihm wollte, und er hatte eine undeutliche Vorstellung davon, was geschehen war. Austwick vermutete – oder war gar überzeugt –, dass Narraway das Geld für sich abgezweigt und mit voller Absicht zugelassen hatte, dass man Mulhare fasste und umbrachte. Kannte ihn der Mann so wenig? Oder war das ein Ergebnis seines schon lange gehegten Grolls? Ging das auf sein Bestreben zurück, Narraways Stelle einzunehmen, um die vergleichsweise unumschränkte Macht ausüben zu können, die diesem zu Gebote stand?
»Ja, und von dort ist es weitergegangen«, sagte er zu Austwick. »Wir mussten es ein wenig hin und her schieben, damit es sich nicht ohne weiteres zum Sicherheitsdienst zurückverfolgen ließ.«
»Sicher«, stimmte Austwick gequält zu. »Es ist an verschiedene Stellen gegangen. Der Haken ist aber, dass es zum Schluss zurückgekehrt ist.«
»Zurück? Es ist an Mulhare gegangen«, korrigierte ihn Narraway.
»Nein, Sir, das ist es nicht. Es ist an eins Ihrer Sonderkonten zurückgegangen, und zwar eines, von dem wir angenommen hatten, es sei inzwischen aufgelöst«, sagte Austwick. »Und da liegt es immer noch. Wenn es bei Mulhare angekommen wäre, hätte er Dublin verlassen und wäre noch am Leben. Es ist in der Tat mehrfach hin und her geschoben worden, so dass man seine Herkunft kaum noch feststellen konnte, ganz, wie Sie gesagt haben, aber am Schluss ist es da gelandet, von wo es überwiesen wurde, nämlich auf Ihrem Konto.«
Narraway holte Luft, um das zu bestreiten, sah aber in Austwicks Augen, dass das sinnlos sein würde. Ganz gleich, wer das Geld dorthin überwiesen hatte, Austwick war fest überzeugt, dass Narraway selbst dahintersteckte, oder er tat zumindest so, als glaube er das.
»Ich war das nicht«, sagte Narraway, nicht weil er annahm, mit dieser Erklärung etwas ändern zu können, sondern weil er nicht bereit war, für etwas geradezustehen, was er nicht getan hatte. »Verrat« war kein Begriff, den er leichtfertig verwendete, doch es bestand kein Zweifel daran, dass man Mulhare verraten hatte, und das war ihm in tiefster Seele zuwider. »Ich habe es an Terence Kelly weitergeleitet, mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, dass Mulhare es bekam. Aus leicht einsehbaren Gründen konnte ich es nicht direkt an Mulhare überweisen – ebenso gut hätte ich ihm eine Zielscheibe auf die linke Brustseite malen können.«
»Können Sie das beweisen, Sir?«, fragte Austwick in höflichem Ton.
»Natürlich nicht!«, fuhr ihn Narraway an. Stellte sich der Mann absichtlich begriffsstutzig? Er wusste genauso gut wie Narraway, dass man bei solchen Transaktionen keine Spuren hinterlassen durfte, die als Beweis dienen konnten. Was auch immer er jetzt zu seiner Rechtfertigung beweisen könnte, hätte sich jeder Beliebige zunutze machen können, um Mulhare das Genick zu brechen.
»Sie werden einsehen, dass damit die ganze Sache fragwürdig erscheint«, sagte Austwick in halb entschuldigendem Ton und mit ausdruckslosem Gesicht. »Es dürfte sich sehr empfehlen, Sir, irgendeinen Beweis dafür zu finden, dass es sich so verhält, wie Sie sagen, damit man die Angelegenheit als erledigt betrachten kann.«
Narraways Gedanken jagten sich. Er hatte einen genauen Überblick über alles, was sich auf den von ihm geführten Bankkonten befand, sowohl den dienstlichen als auch den privaten. Austwick hatte gesagt, man habe das bewusste Konto für aufgelöst gehalten. Narraway aber hatte absichtlich einen geringen Betrag darauf stehen lassen für den Fall, dass er es noch einmal brauchen konnte. Das war eine Frage der Zweckmäßigkeit gewesen. Seines Wissens nach hatte es auf diesem Konto eine ganze Zeit lang keinerlei Bewegungen gegeben.
»Ich sehe mir das Konto an«, sagte er mit kalter Stimme.
»Ein guter Gedanke, Sir«, stimmte Austwick zu. »Vielleicht finden Sie dabei auch eine Erklärung dafür, warum das Geld an Sie zurückgegangen ist, und einen Beweis für den Grund, aus welchem der arme Mulhare es nie bekommen hat.«
Schlagartig begriff Narraway, dass diese Worte Austwicks keine Anregung waren, sondern eine ernst gemeinte und kaum verhüllte Drohung. Mit einem Mal erfasste ihn die Sorge, dass seine Stellung im Sicherheitsdienst gefährdet sein könnte. Ihm war klar, dass er sich im Laufe der Jahre auf seinem Weg an die Spitze der Organisation Feinde gemacht hatte, und erst recht, seit er sie leitete. In dieser Position hatte man immer wieder harte Entscheidungen zu treffen, mit denen zwangsläufig nicht jeder einverstanden war. Opfer mussten gebracht werden, und zwar sowohl in Bezug auf Ideale als auch auf Menschen. In seinem Beruf hatte man es mit dem Auf und Ab geschichtlicher Ereignisse zu tun, da war kein Platz für Sentimentalität.
Er hatte Pitt aufgenommen, als man diesen mit Hilfe einer gegen ihn gerichteten Intrige aus seiner Führungsposition in der Hauptstadtpolizei hinausgedrängt hatte. Seine Absicht war es gewesen, dem Mann damit einen Gefallen zu tun, da er eine Familie zu ernähren hatte. Anfangs war er mit Pitt, der weder für die speziellen Bedürfnisse des Sicherheitsdienstes ausgebildet war noch dessen Aufgaben alle vollständig akzeptierte, nicht recht zufrieden gewesen. Doch Pitt hatte alles Erforderliche rasch gelernt, und da er die Eigenschaften eines außergewöhnlichen Kriminalisten besaß, nämlich Beharrlichkeit und Vorstellungsvermögen, hatte sich Narraways Einschätzung von Pitts Leistungen bald geändert, zumal dieser über ein Maß an Integrität verfügte, das er rückhaltlos bewunderte.
Obwohl Narraway nach dem Grundsatz lebte, menschliche Gefühle aus dem beruflichen Umfeld herauszuhalten, konnte er Pitt gut leiden.
Aus all diesen Gründen hatte er ihn vor dem Neid und der Kritiksucht seiner Kollegen geschützt. Einerseits hatte Pitt seine herausgehobene Position mittlerweile mehr als verdient, und zum anderen dachte Narraway nicht daran, sich in seine Entscheidungen hineinreden zu lassen. Inzwischen gestand er sich ein, dass es teilweise auch um Charlottes willen geschehen war. Wenn Pitt nicht zu seiner Abteilung gehörte, gäbe es für ihn keinen Vorwand, sie wiederzusehen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er schließlich zu Austwick, »sobald ich etwas mehr über das Problem erfahren habe, das uns gegenwärtig beschäftigt. Man hat einen unserer Informanten ermordet, was die Aufgabe zusätzlich erschwert.«
Austwick erhob sich. »Sehr wohl, Sir. Das dürfte ein guter Gedanke sein. Ich denke, je früher Sie die Gemüter in Bezug auf die Angelegenheit beruhigen können, desto besser. Ich würde vorschlagen, noch vor Ende dieser Woche.«
»Immer vorausgesetzt, dass die Umstände das zulassen«, gab Narraway kühl zurück.
Wie sich herausstellte, ließen die Umstände es nicht zu. Schon früh am nächsten Morgen wurde Narraway zur Berichterstattung bei seinem politischen Vorgesetzten Sir Gerald Croxdale ins Innenministerium beordert – dem Einzigen, dem gegenüber er zu vollständiger Rechenschaft verpflichtet war.
Croxdale war ein farbloser Mann von Anfang fünfzig, dem es mit seiner beharrlichen Art erstaunlich rasch gelungen war, in hohe Regierungsämter aufzusteigen, obwohl er weder von einem der einflussreicheren Kabinettminister in erkennbarer Weise gefördert worden war, noch je im Unterhaus eine große Rede gehalten oder einen Gesetzesantrag eingebracht hatte. Er schien ganz und gar auf eigenen Füßen zu stehen. Sofern er anderen einen Gefallen schuldete oder Dankesschulden einforderte, tat er das so unauffällig, dass nicht einmal Narraway davon wusste. Er hatte nie bemerkenswerte politische Aktionen angestoßen, aber auch, und das war wahrscheinlich sehr viel wichtiger, keine erkennbaren Fehler gemacht. In Politikerkreisen wurde sein Name voller Achtung genannt.
Zwar hatte Narraway an ihm nie Anzeichen der Art von Leidenschaft bemerkt, die ehrgeizige Männer antreibt, doch war ihm der rasche Aufstieg des Mannes in den Sphären der Macht nicht entgangen, was ihm einen gewissen widerstrebenden Respekt abnötigte.
»’n Morgen, Narraway«, sagte Croxdale, als dieser sein großes Arbeitszimmer betrat, und wies auf einen wuchtigen braunen Ledersessel. Croxdale war hochgewachsen, breitschultrig und massig. Auch wenn man ihn nicht im herkömmlichen Sinne als gut aussehend bezeichnen konnte, wirkte sein Gesicht doch durchaus eindrucksvoll. Er sprach mit leiser Stimme und lächelte wohlwollend. Wie üblich trug er einen unauffällig gut geschnittenen Anzug und auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe. Seinem ganzen Auftreten nach hätte er ohne weiteres der nachgeborene Sohn einer der großen Familien des Landes sein können.
Narraway erwiderte die Begrüßung und nahm Platz. Er beugte sich leicht im Sessel vor, um Croxdale seine Aufmerksamkeit zu signalisieren.
»Üble Geschichte, das, der Mord an Ihrem Informanten West«, begann dieser. »Sicher hätte der Ihnen eine ganze Menge über das berichten können, was die militanten Sozialisten zur Zeit planen.«
»Ja, Sir«, gab Narraway bedrückt zurück. »Pitt und Gower sind nur um wenige Sekunden zu spät gekommen. Sie haben West noch gesehen, aber der war schon wegen irgendetwas in Panik geraten und hatte sich davongemacht. Sie haben ihn auf dem Hof einer Ziegelei in Shadwell eingeholt, wenige Augenblicke, nachdem man ihn umgebracht hatte. Der Mörder stand noch über ihn gebeugt.« Er spürte die Hitze seiner Wangen, während er das sagte. Wirklich ärgerlich, dass seine Männer dem Täter so nahe gewesen waren, ohne die Tat verhindern zu können. Eine Minute früher, und West wäre nicht nur noch am Leben, sondern sie hätten auch all seine Informationen. Er empfand das zum Teil als persönliches Versagen, denn für den Fall, dass dahinter Unfähigkeit seiner Leute stand, fiel das seiner Ansicht nach auch auf ihn selbst zurück. Er sah Croxdale in die Augen, ohne den Blick abzuwenden. Es war nicht seine Art, nach Ausreden zu suchen, weder offen noch versteckt.
Mit einem Lächeln lehnte sich Croxdale zurück und schlug seine langen Beine übereinander. »Das war Pech – aber man kann nun einmal nicht immer Glück haben. Es war eine beachtliche Leistung Ihrer Männer, dass sie dem Mörder auf den Fersen geblieben sind. Wie sieht die Lage inzwischen aus?«
»Ich habe von Pitt zwei Telegramme aus Saint Malo bekommen. Wrexham, also der Mörder, scheint im Haus eines dort ständig lebenden Briten mehr oder weniger untergetaucht zu sein. Interessanterweise haben sie dort auch andere weithin bekannte sozialistische Aktivisten gesehen.«
»Wen?«
»Pieter Linsky und Jacob Meister«, erklärte Narraway.
Croxdale richtete sich ein wenig auf und fragte mit angespanntem Gesicht: »Tatsächlich? Dann ist vielleicht noch nicht alles verloren.« Er senkte die Stimme. »Meinen Sie immer noch, dass größere Aktionen bevorstehen könnten?«
»Unbedingt«, sagte Narraway, ohne zu zögern. »Meiner Ansicht nach dürfte der Mord an West jeden Zweifel daran ausgeräumt haben. Er hätte uns gesagt, worum es geht, und wahrscheinlich auch, wer dabei seine Hand im Spiel hat.«
»Verflucht! Sie müssen unbedingt dafür sorgen, dass Pitt und der andere an Ort und Stelle bleiben. Wie heißt der noch?«
»Gower.«
»Also, auch Gower. Stellen Sie den beiden so viel Geld zur Verfügung, wie sie brauchen. Ich sorge dafür, dass niemand Einwände dagegen erhebt.«
»Ja«, sagte Narraway. Croxdales letzte Worte erstaunten ihn, denn er hatte in Bezug auf die ihm zugewiesenen Gelder stets freie Hand gehabt und nach Gutdünken darüber verfügen können.
Croxdale spitzte die Lippen und beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Das ist nicht selbstverständlich, Narraway«, sagte er mit bedeutungsvoll gehobener Stimme. »Wir haben uns mit der Verwendung Ihnen für frühere Fälle zur Verfügung gestellter Gelder beschäftigt, wie Sie vermutlich wissen werden. « Er schlang seine Finger ineinander, sah einen Augenblick auf seine Hände und hob dann rasch den Blick wieder. »Es sind im Zusammenhang mit Mulhares Tod einige unangenehme Fragen gestellt worden, und ich fürchte, wir werden Antworten darauf finden müssen.«
Narraway war überrascht. Er hatte nicht gewusst, dass die Sache schon so weit oben angekommen war, bevor er auch nur eine Möglichkeit gehabt hatte, sich damit zu beschäftigen und seine Schuldlosigkeit zu beweisen. Ob Austwick dahintersteckte? Der Teufel mochte ihn holen!
»Das versteht sich von selbst«, sagte er. »Ich habe seinerzeit bestimmte Kontobewegungen geheim gehalten, um Mulhare zu schützen. Man hätte ihn sofort umgebracht, wenn bekannt geworden wäre, dass er Geld aus England bekommen hat.«
»Ist denn nicht genau das passiert?«, fragte Croxdale betrübt.
Einen Augenblick lang dachte Narraway daran, das zu bestreiten, doch es war nicht seine Art, nach Ausflüchten zu suchen. Es gab in seinem Leben genug Belastungen, und er war nicht bereit, sich vor Croxdale seiner moralischen Verantwortung zu entziehen. »Doch, leider.«
»Wir haben den Mann im Stich gelassen, Narraway«, sagte Croxdale. In seiner Stimme lag Trauer.
»Ja.«
»Wie ist es dazu gekommen?«, fasste Croxdale nach.
»Man hat ihn verraten.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht. Sobald die Sache mit der sozialistischen Bedrohung ausgestanden ist, werde ich mich darum kümmern und zusehen, dass ich es herausbekomme, sofern das in meinen Kräften steht.«
»Zweifeln Sie etwa daran?«, fragte Croxdale freundlich. »Haben Sie keine Vorstellung davon, wer hier in London dahinterstecken könnte?«
»Nein.«
»Aber Sie haben gesagt, man habe den Mann verraten«, beharrte Croxdale. »Ich nehme an, Sie haben das Wort mit Bedacht gewählt. Bereitet Ihnen das keine Sorgen? Wem können Sie bei Problemen trauen, die Irland betreffen? Von denen haben wir weiß Gott mehr als genug.«
»In erster Linie muss unser Augenmerk gegenwärtig den sozialistischen Revolutionären auf dem europäischen Kontinent gelten, Sir.« Auch Narraway beugte sich ein wenig weiter vor. »Wir müssen mit ausgedehnter Gewalttätigkeit rechnen. Leute wie Linsky, Meister, la Pointe, Corazath sind allesamt rasch mit Schusswaffen und Sprengstoff bei der Hand. In ihren Augen sind ein paar Tote kein zu hoher Preis für mehr Gleichheit aller Menschen und ein höheres Maß an Freiheit. Natürlich immer vorausgesetzt, dass es sich nicht um Tote auf ihrer Seite handelt«, fügte er trocken hinzu.
»Und erscheint Ihnen das wichtiger als Verrat in Ihren eigenen Reihen?«, erkundigte sich Croxdale sichtlich erstaunt. Er ließ die Frage zwischen ihnen stehen. Es war klar, dass er eine Antwort darauf erwartete.
Auch wenn Narraway Mulhares Tod als tragisch empfunden hatte, hielt er dessen Aufklärung doch für weniger dringend als die Notwendigkeit, etwas gegen das drohende Unbekannte zu unternehmen. Er wusste, mit wie großer Umsicht er die Herkunft des Geldes verschleiert hatte, denn er kannte die Menschen, vor denen Mulhare Angst gehabt hatte. Er wusste nicht, auf welche Weise jemand es fertiggebracht hatte, das Geld zurück auf sein Konto zu leiten, wie jetzt behauptet wurde. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, wer dahinterstecken konnte, und ihm war nicht klar, ob es sich dabei um das Ergebnis von Unfähigkeit oder um eine absichtliche Manipulation handelte, die darauf abzielte, ihn als Dieb hinzustellen.
»Ich bin noch nicht sicher, ob es sich wirklich um Verrat handelt, Sir. Vielleicht habe ich das Wort vorschnell benutzt«, sagte er mit betont gleichmütiger Stimme, ohne verhindern zu können, dass sie ein wenig rau klang. Er hoffte, dass Croxdales Ohren weniger empfindlich waren als seine eigenen und er nichts davon mitbekam.
Dieser sah ihn aufmerksam an. »Und was wäre dann das richtige Wort?«
»Unfähigkeit«, gab Narraway zur Antwort. »Wir haben die Herkunft des Geldes mit größter Sorgfalt verschleiert, damit niemand von Irland aus es zu uns zurückverfolgen konnte. Jede einzelne der Transaktionen sieht aus wie ein gewöhnlicher Überweisungsvorgang bei einem Handelsgeschäft.«
»Jedenfalls haben Sie das bisher angenommen. Trotzdem ist Mulhare umgebracht worden. Wo befindet sich das Geld gegenwärtig ?«
Narraway hatte gehofft, ihm das nicht sagen zu müssen, aber vielleicht war es von Anfang an unvermeidlich gewesen. Unter Umständen wusste Croxdale das auch bereits, und seine Frage war nichts als eine ihm bewusst gestellte Falle. »Austwick hat mir gesagt, dass es sich auf einem Konto befindet, das ich schon längere Zeit nicht mehr benutzt habe«, gab er zur Antwort. »Ich weiß nicht, durch wen es dorthin gelangt ist, werde das aber feststellen.«
Croxdale schwieg eine Weile. »Das tun Sie bitte, und zweifellos werden Sie unwiderlegliche Beweise vorlegen. Es eilt, Narraway. Wir brauchen Sie und Ihre Fähigkeiten für diese verfluchte Sozialistengeschichte. Es sieht ganz so aus, als ob die Sache ernst wäre.«
»Ich kümmere mich um das Geld, sobald wir die Pläne von Wests Mördern in Erfahrung gebracht und sie vereitelt haben«, gab Narraway zurück, während ihn ein kalter Schauer überlief. »Mit etwas Glück bekommen wir unter Umständen sogar einige der Leute zu fassen und können sie hinter Schloss und Riegel bringen.«
Croxdale hob den Blick und sah ihn scharf an. Mit einem Mal war er nicht mehr der liebenswürdige Herr, der wie ein tapsiger Bär wirkte; er kam ihm eher vor wie ein Tiger, dessen innere Anspannung sich hinter äußerlicher Gelassenheit verbarg. »Glauben Sie etwa, dass sich diese Leute von ihrem Vorhaben abhalten lassen, sobald es auf ihrer Seit eine Handvoll Märtyrer gegeben hat? Da hätte ich mich in Ihnen aber sehr getäuscht. Idealisten gedeihen umso besser, je mehr Opfer für ihre Sache gebracht werden müssen, und wenn das in aller Öffentlichkeit geschieht und dramatisch verläuft, ist ihnen das gerade recht.«
»Das ist mir bekannt.« Die Geringschätzung seiner Urteilskraft durch Croxdale ärgerte ihn. »Ich denke nicht im Traum daran, denen den Gefallen zu tun und ihnen Märtyrer zu liefern. Ehrlich gesagt denke ich auch nicht daran, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Reformen und eines gewissen Maßes an Veränderungen zu bestreiten. So etwas aber muss in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Menschen im Lande geschehen, man darf es ihnen auf keinen Fall durch eine Handvoll Fanatiker aufzwingen. Bei uns ist es immer wieder zu Veränderungen gekommen, aber Schritt für Schritt. Man sehe sich nur die Geschichte der Revolutionen des Jahres 1848 an. Damals war England das einzige größere Land Europas, in dem es keine Aufstände gegeben hat. Und wo waren zwei Jahre später all die Idealisten, die auf die Barrikaden gestiegen waren? Wo waren all die um einen so hohen Blutzoll errungenen Freiheiten geblieben? Jede einzelne von ihnen war dahin, und jedes der alten Regimes saß wieder fest im Sattel.«
Croxdale sah ihn unverwandt an. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er dachte.
»Bei uns hat es keinen Aufstand gegeben«, fuhr Narraway fort, etwas leiser, aber nach wie vor mit Nachdruck. »Weder Tote noch großartige Ansprachen, lediglich allmählichen gewachsenen Fortschritt. Gewiss, das ist langweilig, entbehrt womöglich auch jeden Heldentums, verläuft aber dafür auch unblutig und, wichtiger noch, ist von Dauer. Wir leben nicht unter einer früheren Tyrannei, und unsere Regierung ist eigentlich gar nicht so schlecht.«
»Danke«, sagte Croxdale trocken.
Narraway bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln, was bei ihm selten war. »Gern geschehen, Sir.«
Croxdale seufzte. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Es tut mir leid, Narraway, aber Sie müssen diese üble Geschichte um den Verbleib des für Mulhare bestimmten Geldes unverzüglich aufklären. Austwick übernimmt einstweilen die Sache mit den Sozialisten, bis Sie damit fertig sind. Ich brauche unwiderlegliche Beweise dafür, dass ein Dritter das Geld auf Ihr Konto geleitet hat und Sie erst in dem Augenblick davon erfahren haben, als Ihnen Austwick das mitgeteilt hat. Außerdem brauchen wir den Namen des oder der dafür Verantwortlichen, denn immerhin ist mit dieser Geschichte einer der besten Leiter des Sicherheitsdienstes lahmgelegt worden, den wir im letzten Vierteljahrhundert hatten. Das aber ist Landesverrat und zugleich gegen die Königin gerichteter Hochverrat. «
Narraway brauchte einen Augenblick, um zu erfassen, was Croxdale damit gesagt hatte. Er saß regungslos da, umklammerte mit kalten Fingern die Sessellehnen, als müsse er sich im Gleichgewicht halten. Er holte Luft, um aufzubegehren, sah dann aber an Croxdales Gesicht, dass dieser Versuch sinnlos sein würde. Die Entscheidung war getroffen, und sie war endgültig. Er saß in der Falle und hatte nicht einmal gemerkt, wie er hineingegangen war. Jetzt hielt sie ihn fest wie das Fangeisen das Bein eines Tieres.
»Tut mir leid, Narraway«, sagte Croxdale ruhig. »Im Augenblick genießen Sie weder das Vertrauen der Regierung Ihrer Majestät noch das Ihrer Majestät. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Sie so lange von Ihrer Aufgabe zu entbinden, bis Sie Ihre Schuldlosigkeit beweisen können. Mir ist bewusst, dass Ihnen das ohne Zugang zu Ihrem Büro und ohne Zugriff auf die dort befindlichen Unterlagen schwerer fallen wird, aber Ihnen muss auch klar sein, dass ich nicht anders vorgehen kann. Sofern Sie Zugang zu den Dokumenten hätten, gäbe Ihnen das zugleich die Möglichkeit, sie zu verändern, zu vernichten oder welche hinzuzufügen.«
Narraway war benommen. Es war, als habe man ihm einen Schlag vor den Kopf versetzt. Mit einem Mal bekam er kaum noch Luft. Die Situation war grotesk. Er war Leiter des Sicherheitsdienstes, und der für ihn zuständige Minister teilte ihm aus heiterem Himmel mit, dass er vorerst seines Amtes enthoben sei. Der Mann hatte diese einsame Entscheidung getroffen, sie ihm mitgeteilt, und damit war der Fall erledigt.
»Tut mir leid«, wiederholte Croxdale. »Das ist eine eher unglückliche Art, mit der Sache umzugehen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Natürlich können Sie nicht nach Lisson Grove zurück.«
»Was?« Die Frage entfuhr Narraway und machte ihn verwundbarer, als er gewollt hatte. Er ärgerte sich über sich selbst, aber es war zu spät. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, das zu überspielen, ohne die Dinge zu verschlimmern.
»Sie können nicht in Ihr Büro zurück«, sagte Croxdale, um Geduld bemüht. »Zwingen Sie mich nicht, die Angelegenheit aufzubauschen.«
Narraway erhob sich und merkte entsetzt, dass er leicht schwankte, als habe er getrunken. Er hätte gern etwas gesagt, was ihm einen würdevollen Abgang verschaffte, und zwar mit gefasster Stimme, in der keinerlei Gemütsbewegung mitschwang. Er atmete ein und stieß die Luft langsam wieder aus.
»Ich werde feststellen, wer Mulhare ans Messer geliefert hat«, sagte er mit leicht belegter Stimme. »Und auch, wer mir das angetan hat.« Er überlegte noch, ob er hinzufügen sollte, dass er es erst dann wieder für vertretbar halte, in den Sicherheitsdienst zurückzukehren, unterließ es aber, weil ihm das kleinlich erschien. »Guten Tag.«
Draußen auf der Straße sah alles genauso aus wie bei seiner Ankunft: eine Droschke hielt neben dem Gehsteig, hier und da sah man ein halbes Dutzend Männer in Anzügen mit gestreiften Hosen.
Er machte sich auf den Weg, ohne so recht zu wissen, wohin er ging. Er hatte jeden Richtungssinn verloren und dachte mit einem Gefühl unendlicher Leere an die Möglichkeit, dass das zum Dauerzustand werden könnte. Er war achtundfünfzig Jahre alt und noch vor einer halben Stunde einer der mächtigsten Männer im Lande gewesen, auch wenn das kaum jemandem bekannt war. Man hatte ihm unumschränktes Vertrauen entgegengebracht, er hatte das Leben anderer Menschen in Händen gehalten, die Geheimnisse der Nation gekannt; die Sicherheit gewöhnlicher Männer und Frauen hatte von seiner Urteilskraft und seinem Geschick abgehangen.
Jetzt aber war er ein Mann ohne Ziel und ohne Einkommen, auch wenn ihm der letzte Punkt keine unmittelbaren Sorgen bereitete, denn der von seinem Vater ererbte Landbesitz ermöglichte ihm ohne weiteres einen angemessenen Lebensstil, wenn auch kein Schwelgen im Luxus. Er hatte keine Verwandten mehr, und mit zunehmender Beklemmung kam ihm zum Bewusstsein, dass er zwar Bekannte, aber keine wirklichen Freunde besaß. Das hatte sein Beruf in den Jahren, in denen seine Macht immer mehr angewachsen war, unmöglich gemacht. Es waren zu viele Geheimnisse zu wahren gewesen, und er hatte gar nicht vorsichtig genug sein können.
Es wäre lächerlich und sinnlos, sich jetzt dem Selbstmitleid hinzugeben. Wenn er so tief sank, was hätte er da Besseres verdient? Er musste sich zur Wehr setzen. Offenbar hatte ihm jemand das mit voller Absicht eingebrockt, denn andernfalls ergäbe die ganze Geschichte keinen Sinn. Zu seinem Bedauern konnte er sich ohne weiteres von rund zwei Dutzend Menschen vorstellen, dass sie ihm das aus einer ganzen Reihe von Gründen angetan hatten. Der Einzige, auf dessen Hilfe er hätte zählen können, war Pitt – der aber jagte in Frankreich sozialistische Reformer, die von Gewalttat und Umsturz träumten.
Mit raschen Schritten ging er Whitehall entlang, ohne nach rechts und nach links zu sehen, wobei er vermutlich, ohne es zu merken, an Menschen vorbeikam, die er kannte. Keinen von ihnen würde es stören, dass er sie nicht zur Kenntnis nahm. Wenn seine angeblich vorläufige Amtsenthebung erst einmal allgemein bekannt war, würden sie wahrscheinlich erleichtert sein. Mit ihm war nicht leicht auszukommen, und sogar Menschen mit außerordentlich vertrauensseligem Gemüt neigten dazu, unlautere Motive hinter seinen Entscheidungen und allem zu wittern, was er tat; Geheimnisse zu vermuten, die es in Wirklichkeit nicht gab.
Auf Whitehall folgte Parliament Street, dann bog er nach links ab und ging weiter, bis er die Themsebrücke von Westminster erreichte, von der aus er über das vom Wind gepeitschte Wasser nach Osten blickte.
Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sein Büro aufzusuchen, um dort die Papierberge auf der Suche nach Unregelmäßigkeiten und Zahlen, die nicht zueinander passten, zu sichten. Damit blieb es ihm verwehrt, Dinge zu finden, die ihm einen Hinweis darauf hätten liefern können, wo er den Feind zu suchen hatte, der aus Habgier, Hass oder weil er zwei Herren diente, Verrat an Mulhare und damit zugleich an ihm geübt hatte.
Dann kam ihm ein noch weit entsetzlicherer Gedanke. War Mulhare womöglich nur zufällig zum Opfer geworden, während in Wahrheit das eigentliche Ziel des Komplotts er selbst war?
Während sich diese Frage in seinem Kopf immer deutlicher abzeichnete, begann er sich voll Bitterkeit zu fragen, ob er die Antwort darauf wirklich wissen wollte. Wer mochte das sein, dem er vertraut und in dem er sich so schrecklich getäuscht hatte?
Er merkte, dass Hass in ihm aufstieg, doch er mahnte sich, ihm nicht nachzugeben. Ein gewisses Maß an Wut war in Ordnung – das weckte die Kräfte, die nötig waren, um sich zur Wehr zu setzen, nicht den Mut zu verlieren oder müde zu werden. Es half, die Leere zu überwinden, die darauf zurückging, dass er unvermittelt auf sich allein gestellt war.
Er überquerte die Brücke, nahm am anderen Ufer der Themse eine Droschke und ließ sich nach Hause fahren.
Nachdem er sich dort einen Schluck Macallan eingegossen hatte, sein Lieblings-Single-Malt-Whisky, ging er zum Tresor und nahm die wenigen Papiere heraus, die er zum Fall Mulhare im Hause aufbewahrte. So gründlich er sie durchlas, er konnte ihnen nichts entnehmen, was er nicht bereits wusste. Neu war für ihn lediglich, dass das für Mulhare bestimmte Geld binnen zwei Wochen ohne sein Wissen auf das Konto zurückgebucht worden war, von dem es seinen Ausgang genommen hatte, ohne dass ihm die Bank Mitteilung davon gemacht hätte.
Noch kurz vor Mitternacht saß er da und starrte die Wand an, ohne etwas zu sehen. Mit einem Mal riss ihn ein Geräusch aus seiner Versunkenheit. Es kam von den Fenstertüren, die auf den Garten gingen, und klang wie ein Anklopfen. Es konnte kein Zweig sein, der dagegenschlug, sondern musste von den Fingerknöcheln eines Menschen verursacht worden sein. Einen Augenblick lang erstarrte er, dann stand er auf. Die Geschwindigkeit, mit der er das tat und sich vom Licht und vom Fenster fortbewegte, zeigte ihm, wie angespannt er war.
Es klopfte erneut, und er sah zu dem Schatten hin, der sich vor dem Fenster abzeichnete. Undeutlich konnte er das Gesicht eines Mannes erkennen, der sich völlig still hielt, als wolle er erkannt werden. Einen Augenblick kam Narraway der Gedanke, es könne sich um Pitt handeln, doch sogleich verwarf er ihn wieder. Erstens befand sich Pitt in Frankreich, und zweitens war der Mann draußen kleiner.
Er musste sich konzentrieren, nachdenken. Durch den unvermuteten Schlag, den man ihm versetzt hatte, war er wie betäubt. Von einem Augenblick auf den anderen hatte man ihm nahezu alles genommen, woran ihm lag. Seinen Lebensinhalt, die Achtung anderer, wenn nicht sogar sein Selbstwertgefühl, und darüber hinaus einen großen Teil seiner Lebensfreude.
Der Mann vor dem Fenster konnte nur Stoker sein. Das hätte er sich gleich denken müssen. Mit einem Mal kam er sich lächerlich vor, wie er dort im Schatten stand, als habe er Angst. Er trat an die Doppeltür, die zum Garten führte, und öffnete sie weit.
Stoker kam herein. Seine Haare waren vom Nieselregen nass; er schien ein ganzes Stück zu Fuß gegangen zu sein. Das hoffte Narraway und auch, dass er mehrfach die Droschke gewechselt hatte, um eventuellen Beschattern das Leben schwer zu machen. Dann sah er, dass Stoker einen großen dicken Umschlag unter seiner Jacke verborgen hielt.
»Was tun Sie hier?«, fragte er ihn mit ruhiger Stimme und schloss die Vorhänge. Bis dahin hatte es keinen Grund dafür gegeben, und er hatte den Anblick des Gartens im Dämmerlicht genossen, den Vögeln und dem allmählichen Zunehmen der Dunkelheit zugesehen, wahrgenommen, wie sich gelegentlich Blätter in der leichten Brise bewegten.
»Ich hab Ihnen einige Papiere mitgebracht, die Ihnen vielleicht nützen können, Sir«, gab Stoker mit gleichmütig klingender Stimme zurück, wobei er ihn unverwandt ansah. Seine Körperhaltung war angespannt und zeigte Narraway, dass dem Mann bewusst war, welche Gefahr er damit auf sich nahm.
Narraway nahm den Umschlag entgegen, warf einen Blick auf die Papiere und blätterte sie rasch durch, um zu sehen, worum es sich handelte. Mit einem Mal stockte ihm der Atem, und seine Finger wurden starr. Es waren Unterlagen über einen zwanzig Jahre zurückliegenden Fall in Irland. Die Erinnerung daran überwältigte ihn aus einer Reihe von Gründen, und es überraschte ihn zu sehen, wie deutlich ihm plötzlich alles wieder vor Augen stand.
Es war, als habe er die Menschen, um die es ging, erst vor wenigen Tagen gesehen. Er konnte sich an den Geruch des Torffeuers in dem Zimmer erinnern, in dem er bis weit in die Nacht mit Kate über den geplanten Aufstand gesprochen hatte. Er war beinahe sogar noch imstande, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, mit dem er ihr klarzumachen versucht hatte, dass das Vorhaben der Iren auf jeden Fall fehlschlagen und in seinem Gefolge noch mehr Tod und Bitterkeit mit sich bringen werde.
Mit einer Genauigkeit, die ihn nach wie vor schmerzte, konnte er sich an ihren Blick erinnern, an den Lichtschein, den die Lampe auf ihre Haut warf, den Klang ihrer Stimme, wenn sie seinen Namen aussprach – und an sein Schuldgefühl.
Vor seinem inneren Auge sah er die Wut Cormac O’Neils, auf die Gram gefolgt war, und er verstand beides. Alle hatten Grund gehabt, Narraway zu hassen. Doch so lebhaft ihm die Dinge auch vor Augen standen, sie lagen zwanzig Jahre zurück.
Er hob den Blick zu Stoker. »Warum bringen Sie mir das?«, fragte er. »Der Fall ist erledigt. Es ist eine alte Geschichte.«
»Der Ärger mit Irland ist nie zu Ende«, gab Stoker schlicht zurück.
»Wir haben hier jetzt aber dringendere Probleme«, hielt ihm Narraway vor. »Und möglicherweise auch auf dem europäischen Festland.«
»Sozialisten?«, sagte dieser trocken. »Die haben immer was zu meckern.«
»Es ist weit mehr als das«, teilte ihm Narraway mit. »Es sind Fanatiker. Es handelt sich um eine Art neue Religion, die sie mit einem missionarischen Eifer verbreiten, als gehe es um eine heilige Sache. Ganz wie das Christentum in seinen Anfängen hat auch sie ihre Apostel und ihre Dogmen – außerdem ihre Sekten, die sich alle miteinander über die Frage in den Haaren liegen, welches der wahre Glaube ist.«
Stoker sah verwirrt drein, als halte er das für unerheblich, auch wenn es der Wahrheit entsprach.
»Sie halten sich gegenseitig alle miteinander für Ketzer«, sagte Narraway bitter, »und deshalb bekämpfen die einen die anderen ebenso sehr wie jeden Außenstehenden.«
»Gott sei Dank«, sagte Stoker mit Nachdruck.
»Wenn wir dann sehen, dass sich Jünger verschiedener Glaubensrichtungen insgeheim treffen und zusammenarbeiten, wissen wir, dass es sich um eine ungeheuer wichtige Sache handeln muss, die für eine Weile die Kluft zwischen ihnen überbrückt hat.« Narraway hörte die Schärfe in seiner eigenen Stimme und erkannte in Stokers Augen, dass er ihn jetzt verstanden hatte.
Langsam stieß Stoker die Luft aus.
»Wie viel wissen wir über das, was die vorhaben, Sir?«
»Ich ahne es nicht im Entferntesten«, gab Narraway zu. »Im Augenblick liegt die ganze Sache auf Pitts Schultern.«
»Und auf Ihren«, sagte Stoker. »Wir müssen unbedingt die Geschichte mit dem Geld aufklären, Sir, damit Sie wieder nach Lisson Grove zurückkönnen.«
Während Narraway Luft holte, um zu antworten, spürte er, wie ihn mit einem Mal eine sonderbare Mischung der unterschiedlichsten Gefühle erfüllte: tiefe Überzeugung, Furcht, Hilflosigkeit und der Eindruck, etwas verloren zu haben. Worte waren außerstande, das auszudrücken.
Stoker wies auf die von ihm mitgebrachten Papiere. »Wir können es uns nicht leisten zu warten«, sagte er eindringlich. »Ich habe im Hinblick auf Informanten, Geld und Irland so viel durchgesehen, wie ich konnte, um festzustellen, was dahinterstecken könnte. Den Fall hier halte ich für den wahrscheinlichsten. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass auch jemand anders kürzlich diese Akte herausgekramt hat.«
»Woran wollen Sie das gemerkt haben?«
»An der Art, wie sie zurückgestellt worden ist.«
»Unordentlich?«
»Nein, im Gegenteil – alles war geradezu übertrieben genau geordnet.«
Jetzt fürchtete Narraway um Stoker. Mit seinem Verhalten setzte der Mann seine Anstellung aufs Spiel, und wenn man ihm auf die Schliche kam, konnte man auch ihm den Prozess wegen Hochverrats machen. Allerlei Möglichkeiten schossen Narraway durch den Kopf, unter anderem der Verdacht, es könnte sich um eine Falle handeln, die man ihm stellte. Doch auf die Gefahr hin, dass es sich so verhielt, wollte er die Akte studieren, allerdings nicht in Stokers Gegenwart. Für den Fall, dass dessen Handlungsweise auf Ergebenheit seinem Vorgesetzten gegenüber fußte oder auch nur auf Anstand und Wahrheitsliebe, wollte er vermeiden, dass Stoker die damit verbundene Gefahr auf sich nahm. Es wäre besser für beide, nicht dabei ertappt zu werden.
»Woher haben Sie die?«, fragte er.
Stoker sah ihn mit dem Anflug eines Lächelns an. »Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen, Sir.«
Narraway erwiderte das Lächeln. »Damit ich es nicht weitersagen kann«, folgerte er.
Stoker nickte. »Das auch, Sir.«
Die Art, wie ihn Stoker immer wieder mit »Sir« anredete, gefiel ihm in sonderbarer Weise, als sei er immer noch derjenige, der er am Vormittag gewesen war. War ihm die Achtung anderer so wichtig? Wie erbärmlich!
Er schluckte hart und sog die Luft ein. »Lassen Sie mir das da. Gehen Sie nach Hause, wo jeder Sie vermutet. Holen Sie es wieder ab, sobald das ohne Gefahr möglich ist.«
»Tut mir leid, Sir, aber das muss vor Morgengrauen wieder an Ort und Stelle sein«, gab Stoker zur Antwort. »Genau genommen je früher, desto besser.«
»Ich brauche sicher die ganze Nacht, um das zu lesen und mir Notizen zu machen«, hielt Narraway dagegen, doch noch während er das sagte, war ihm klar, dass der Mann Recht hatte. Es war zu gefährlich, diese Dokumente auch nur einen Tag aus Lisson Grove zu entfernen, denn wenn ihr Fehlen erst einmal entdeckt war, würde es keine Möglichkeit mehr geben, sie an Ort und Stelle zurückzubringen. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hatte, würde sie bei Narraway vermuten und als Nächstes festzustellen versuchen, wer sie ihm zugespielt hatte. Er hatte kein Recht, Stoker auf diese törichte Weise zu gefährden oder gar zugrunde zu richten. Damit würde er ihm die Ergebenheit schlecht lohnen, falls die dessen Triebfeder gewesen war. Unter Umständen gab es ja auch andere Gründe für seine Handlungsweise, doch Narraway hielt sich lieber an die Annahme, dass es sich um Ergebenheit handelte. Er konnte es sich nicht leisten, etwas anderes zu vermuten.
»Ich sehe zu, dass ich sie noch vor dem Morgengrauen ganz durchgehen kann«, versprach er. »Drei Uhr. Sie können dann wiederkommen und sie abholen. Auf die Weise haben Sie die Möglichkeit, noch vor Tagesanbruch ins Büro zu gehen und wieder zu verschwinden. Oder Sie können sich oben in meinem Gästezimmer hinlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Das wäre wohl auch klüger, denn dann würden Sie niemandem über den Weg laufen.«
Stoker rührte sich nicht. »Ich bleibe lieber hier, Sir. Ich verstehe mich zwar ziemlich gut darauf, nicht gesehen zu werden, aber es dürfte das Beste sein, das Risiko gar nicht erst einzugehen. «
Narraway nickte. Offensichtlich hatte Stoker begriffen, welche Gefahr er auf sich nahm. Das war wohl auch ganz gut so, denn man sollte seine Feinde nie unterschätzen. Er selbst begann erst nach und nach zu erfassen, wie mächtig der Gegner sein musste, mit dem er es zu tun hatte.
»Im Obergeschoss gleich hinter der Treppe links«, sagte er. »Da finden Sie alles, was Sie brauchen.«
Stoker dankte ihm und ging, wobei er die Tür geräuschlos hinter sich zuzog.
Narraway drehte das Gas für den Glühstrumpf etwas weiter auf, setzte sich in den bequemen Sessel am Kamin und begann zu lesen.
Die ersten Seiten beschäftigten sich mit dem Fall Mulhare und der Zusage, dass dieser für seine Mitarbeit einen großen Geldbetrag bekommen würde. Letzterer war nicht so sehr als Belohnung gedacht, sondern sollte ihm die Möglichkeit geben, Irland zu verlassen und statt nach Amerika, wie man wohl allgemein annehmen würde, nach Südfrankreich zu gehen, weil die Wahrscheinlichkeit geringer war, dass ihn seine Feinde dort suchten.
Aufgrund von Austwicks Mitteilung war es Narraway inzwischen schmerzlich bewusst, dass Mulhare das Geld nicht bekommen hatte, weshalb er in Irland geblieben und umgebracht worden war. Nur war Narraway nach wie vor unbekannt, wieso das Geld seinen Empfänger nicht erreicht hatte. Er wusste genau, dass er es von einem seiner eigenen Konten weitergeleitet hatte, allerdings unter einem anderen Namen, damit niemand merkte, dass es von ihm und damit vom Sicherheitsdienst kam. Kein Ire wollte, dass man es an die große Glocke hängte, wenn er aus dieser Quelle finanziert wurde.
Narraway hatte das Geld ausgezahlt, genauer gesagt, alle dafür nötigen Formulare ausgefüllt und sich vergewissert, dass es angewiesen wurde. Jetzt war es auf unerklärliche Weise zurückgekehrt.
Er hatte sich für dies umständliche Verfahren entschieden, um Mulhare zu schützen, und jetzt sah es ganz so aus, als habe sich jemand in den Kreislauf des Geldes eingeschaltet, um das genaue Gegenteil zu bewirken, nämlich, dass Mulhare in Irland blieb und getötet wurde, wie es dieser von Anfang an befürchtet hatte.
Die übrigen Unterlagen bezogen sich auf einen zwanzig Jahre zurückliegenden Fall, den Narraway am liebsten vergessen hätte. Zu jener Zeit waren die Wogen von Gewalttat und Leidenschaftlichkeit noch höher gegangen als sonst.
Damals war Charles Stewart Parnell, ein Mann von feuriger Beredsamkeit, der dank seiner Abkunft aus dem protestantischen Establishment Irlands beste Beziehungen bis hinauf in die höchsten Gesellschaftskreise hatte, gerade ins Unterhaus gewählt worden. Darüber hinaus war er ein äußerst aktives Mitglied im Rat der Liga für die irische Selbstbestimmung gewesen. Er hatte eine harte Linie vertreten und der Erreichung dieses Ziels sein ganzes Leben untergeordnet. Mit einem Mal hatte es wieder Hoffnung gegeben, dass es für Irland nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft eine Möglichkeit geben würde, dies Joch endlich abzuschütteln und sich erneut selbst zu regieren. Die Freiheit lockte, und die Menschen hätten die entsetzliche Zeit der durch die Kartoffel-Missernte verursachten Hungersnot vergessen können.
Selbstverständlich hatte Narraway im Jahre 1875 noch nicht den Sicherheitsdienst geleitet, sondern war im Außendienst tätig gewesen. Man hätte den drahtigen und kräftigen Mann von Mitte dreißig mit seinem raschen Verstand, beträchtlichen Charme und trockenen Humor dank seiner schwarzen Haare und nahezu schwarzen Augen ohne weiteres für einen Iren halten können. Sofern jemand das tat, wie in jenem bewussten Fall, unternahm er nichts, um den Irrtum richtigzustellen.
Damals hatte ein gewisser Cormac O’Neil die Sache der Iren verfochten, ein Grübler mit einem Naturell so finster wie eine Herbstlandschaft voll plötzlich auftretender Schatten und am Horizont dräuender Gewitter. Er liebte die Geschichte seines Landes, vor allem die mündlich überlieferte und in alten Liedern unsterblich gemachte. Auch wenn ihm klar war, dass die Hälfte davon wohl auf Erfindung beruhte, glaubte er an gefühlsbetonte Wahrheiten, an den Kummer im kollektiven Gedächtnis des irischen Volkes – kurz, er sehnte sich nach allem, was er nicht haben konnte.
Während Narraway diese Dinge ins Gedächtnis kamen, erinnerte er sich zugleich mit Bedauern und voll Schuldgefühl an Cormacs Bruder Sean und noch lebhafter an dessen Frau Kate. Die schöne Kate, so lebendig, so tapfer, so vernünftig und zugleich so blind den gefährlichen Empfindungen anderer gegenüber, die sich gekränkt fühlten.
In der Stille seines mit typisch englischen Erinnerungsstücken angefüllten Londoner Heims kam es ihm jetzt vor, als liege Irland am anderen Ende der Welt. Kate und Sean lebten nicht mehr. Narraway hatte gewonnen, und der von den Iren geplante Aufstand war ohne Blutvergießen auf beiden Seiten in sich zusammengebrochen. Nichts Spektakuläres hatte stattgefunden, das Ganze war einfach sacht dahingeschwunden wie ein Wintertag mit der Abenddämmerung. Darin hatte Narraways Sieg bestanden, und niemand hatte je davon erfahren.
Auch Charles Stewart Parnell lebte nicht mehr. Vor dreieinhalb Jahren, im Oktober 1891, war er einer Lungenentzündung erlegen. Durch eine sich über Jahre hinziehende wilde und verhängnisvolle Affäre mit der Gattin eines Parteifreundes, Hauptmann O’Shea, die in ganz England für Aufsehen gesorgt hatte, war er zwischen alle Stühle geraten und hatte sich damit politisch ins Abseits manövriert.
Der Traum von der Selbstbestimmung Irlands hatte sich nach wie vor nicht erfüllt, und geblieben war nichts als Groll.
Ein Schauer überlief Narraway in seinem warmen, vertrauten Wohnzimmer, in dessen Kamin die letzte Glut noch glomm und wo die Gaslampen einen goldenen Lichtschimmer auf ihn und seine Umgebung warfen. Die Kälte in seinem Inneren ließ sich durch diese Annehmlichkeiten nicht vertreiben und auch nicht durch Worte, Gedanken oder Bedauern.
Ob Cormac O’Neil noch lebte? Es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. In dem Fall dürfte er jetzt Mitte fünfzig bis knapp sechzig Jahre alt sein. Er konnte durchaus hinter dieser Geschichte stecken, denn er hatte nach dem fehlgeschlagenen Aufstand, nach Seans und Kates Tod, weiß Gott mehr Grund, Narraway zu hassen, als jeder andere Mensch auf der Erde.
Aber warum hätte er mit seiner Vergeltung zwanzig Jahre warten sollen? Wenn nun Narraway einem Unfall zum Opfer gefallen oder eines natürlichen Todes gestorben wäre, was ohne weiteres möglich war, hätte das Cormac O’Neil um seine Rache gebracht.
Konnte ihn in der Zwischenzeit etwas gehindert haben? Eine Krankheit, die ihn geschwächt hatte? Nicht zwanzig Jahre lang. War er im Gefängnis gewesen? Bestimmt hätte Narraway davon erfahren, wenn es sich um eine Tat gehandelt hätte, die eine so lange Haft rechtfertigte. Außerdem gab es sogar aus dem Gefängnis heraus Möglichkeiten, mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen.
Unter Umständen hatte dieser Fall doch nichts mit der Vergangenheit zu tun. Oder galt die auf diese Weise verübte Rache gar nicht Narraway als Person, sondern England? Hatte Cormac möglicherweise begriffen, dass auch Narraway wie sie alle lediglich für das eigene Land und seine eigenen Überzeugungen eintrat? Immerhin war es denkbar, dass der Sicherheitsdienst gerade in diesem Augenblick am verwundbarsten war, da man Narraway daraus entfernt und seine Arbeit in Misskredit gebracht hatte. War das, worum es jetzt ging, für Cormac nur ein zusätzlicher Nebeneffekt, ein eleganter Schlenker, der dem Ganzen Pfiff verlieh? Hatte es mit der von den anarchistischen Reformern Europas geplanten sozialistischen Revolution zu tun, mit der sie die alte Ordnung mitsamt ihrer Korruption und ihrer Ungleichheit hinwegfegen wollten, und zwar auf die einzige Weise, die ihrer Ansicht nach funktionieren würde, nämlich mit Gewalt? Er legte die Papiere wieder zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Dann blieb er still im Dunkeln sitzen und dachte eine Weile über das alles nach.
Mühelos konnte er die alten Erinnerungen wachrufen. Er ging wieder an der Seite Kates in der Stille des Herbstes durch reifbedecktes rotes und gelbes Laub, das unter ihren Füßen leise brach. Sie hatte keine Handschuhe bei sich, und so hatte er ihr seine geliehen. Er spürte in der Erinnerung, wie seine Hände vor Kälte schmerzten. Sie hatte ihn deshalb ausgelacht, mit fröhlich lächelnden Augen, während sie bittere Späße darüber gemacht hatte, dass englische Wolle die Hände Irlands wärmte.
Bei ihrer Rückkehr in den Gasthof waren Sean und Cormac da gewesen, und sie hatten miteinander am offenen Torffeuer Roggenwhiskey getrunken. Er konnte sich noch an den Torfgeruch erinnern, wie auch daran, dass Kate gescherzt hatte, wie gut es sei, dass er keinen Wodka haben wolle, da Kartoffeln zu knapp seien, als dass man sie zur Schnapsherstellung vergeuden dürfte.
Er hatte darauf keine Antwort gegeben. Noch dreißig Jahre nach der großen Hungersnot hatte das Land damals unter deren Folgen gelitten. Nichts, was er hätte sagen können, wäre geeignet gewesen, das herunterzuspielen.
Es gab auch noch andere Erinnerungen, und sie alle hatten mit heftigen Gefühlsaufwallungen, Treubruch und Bedauern zu tun. Hatte nicht der Herzog von Wellington einmal gesagt, es gebe nichts Schlimmeres als eine gewonnene Schlacht – außer einer verlorenen? Oder etwas in der Art.
Hatte der damals von Narraway erstattete Bericht der Wahrheit entsprochen? Natürlich war er geschönt gewesen, von allen menschlichen und leidenschaftlichen Elementen befreit – aber alles, was für den Sicherheitsdienst von Bedeutung war, hatte der Wahrheit entsprochen, und er hatte eine hinreichende Menge an Informationen enthalten.
Dann kam ihm ein Gedanke. In einem Punkt stimmte etwas möglicherweise nicht ganz. Er stand auf, drehte das Gaslicht erneut heller und nahm die Blätter wieder aus dem Umschlag. Er las sie noch einmal von Anfang bis Ende, wie auch die von seinem damaligen Vorgesetzten Buckleigh angebrachten Randnotizen. Beim ersten Lesen hatte er sich nicht mit ihnen beschäftigt, weil er genau wusste, was darin stand, und er daran nicht erinnert werden wollte. Man hatte seine Entstellung der Wahrheit zu jener Zeit nur allzu bereitwillig geglaubt, wobei er sich hauptsächlich gewisser Auslassungen schuldig gemacht hatte. Da er die Operation in Buckleighs Auftrag durchgeführt hatte, war diesem nichts anderes übriggeblieben, als den Bericht zu akzeptieren, wie er war. Vom Standpunkt der Moral musste man auch ihm Vorwürfe machen.
Narraway fand, was er befürchtet hatte: Man hatte etwas hinzugefügt, nur ein oder zwei Wörter. Jemandem, der Buckleighs Art zu formulieren nicht kannte, wäre das nie aufgefallen. Die Handschrift sah völlig gleich aus, doch die hinzugefügten Wörter änderten den Sinn der Aussage. Zwar nur ein wenig, aber es genügte, um Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Buckleigh das in Narraways Bericht Enthaltene uneingeschränkt geglaubt hatte. An einer Stelle war lediglich ein Fragezeichen hinzugefügt worden, das ursprünglich nicht dagestanden hatte, an einer anderen hatte, wer auch immer das geschrieben hatte, eine Wendung benutzt, die Buckleigh nie aus der Feder gekommen wäre. Er hätte nie im Leben geschrieben » Wo hat er das her?«, sondern mit seinem geradezu pedantisch korrekten Satzbau grundsätzlich » Woher hat er das?«.
Von wem stammten diese Zusätze – und wann waren sie eingefügt worden? Bei der Frage nach dem Warum gab es für Narraway nicht den geringsten Zweifel: Jemand wollte die Rolle, die er bei der Geschichte gespielt hatte, als zwielichtig hinstellen, die alten Geister heraufbeschwören und erneut zum Leben erwecken. Vielleicht war das der entscheidende Faktor gewesen, der Croxdale dazu veranlasste hatte, ihn von seinem Amt zu suspendieren. Für so etwas genügten Zweifel, vorausgesetzt, sie waren hinreichend schwerwiegend. In solchen Fällen wartete man nicht auf Beweise, die womöglich nie kamen.
Er las die Papiere ein weiteres Mal durch, einfach, um sich zu vergewissern, dass er keinem Irrtum aufgesessen war, dann legte er sie erneut in den Umschlag zurück und ging nach oben, um Stoker zu wecken, damit dieser möglichst früh, und auf jeden Fall noch vor der Morgendämmerung, aufbrechen konnte.
Er klopfte an die Tür des Gästezimmers, und Stoker meldete sich. Als er die Tür öffnete, stand Stoker bereits neben dem Bett. Im Licht, das vom Treppenabsatz hereinfiel, konnte man deutlich sehen, dass die Decke kaum eingedrückt war. Eine rasche glättende Handbewegung, und es würde aussehen, als sei der Mann nie dagewesen.
Stoker sah Narraway fragend an.
»Ich danke Ihnen«, sagte dieser ruhig. Die Rührung in seiner Stimme war deutlicher zu hören, als er gewollt hatte.
»Allem Anschein nach haben Sie etwas gefunden«, bemerkte Stoker.
»Verschiedenes«, gab Narraway zu. »Jemand hat Buckleighs Randnotizen in meinem Bericht überaus umsichtig bearbeitet und damit ihren Sinn verändert. Zwar nur ganz wenig, aber es genügt, um den angestrebten Zweck zu erreichen.«
Stoker trat auf den Gang, und Narraway gab ihm den Umschlag. Stoker schob ihn so unter seine Jacke, dass man ihn nicht sehen konnte, kniffte ihn aber nicht und schob ihn auch nicht in den Hosenbund. Er wollte auf keinen Fall, dass er an den Rändern beschädigt wurde – auch dies ein Hinweis auf das Risiko, das er mit diesem Unternehmen auf sich genommen hatte. Er sah Narraway in die Augen.
»Austwick ist an Ihre Stelle getreten, Sir.«
»Schon?«
»Ja, Sir. Da Mr Pitt gegenwärtig in Frankreich ist, haben Sie in Lisson Grove keine Freunde mehr, jedenfalls keine, die bereit sind, etwas für Sie aufs Spiel zu setzen. Die Parole heißt ganz offensichtlich ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹«, sagte er mit finsterer Miene. »Ich fürchte, es gibt auch niemanden mehr im Hause, der Mr Pitt helfen würde, falls er in Schwierigkeiten geriete.«
»Das ist mir klar«, sagte Narraway, der zutiefst unglücklich darüber war, dass er Pitt nicht mehr vor Neid und Missgunst derer bewahren konnte, die schon lange im Sicherheitsdienst tätig waren, als Narraway ihn eingestellt hatte.
Stoker zögerte, als wolle er noch etwas sagen, unterließ es dann aber. Er nickte schweigend und ging nach unten ins Wohnzimmer. Dort tastete er sich, ohne Licht zu machen, zu den Fenstertüren vor, öffnete sie und glitt hinaus in den Wind und die Dunkelheit.
Narraway schloss die Türflügel hinter ihm und ging wieder nach oben. Er entkleidete sich und ging zu Bett, lag aber lange wach und starrte die Decke an. Er hatte die Vorhänge offen gelassen, und ganz allmählich wichen mit der Frühlingsnacht die Schatten an der Decke. Man konnte es kaum sehen, es war gerade so viel, dass man merkte, draußen zeigte sich Licht.
Es war noch keine zwei Tage her, dass Austwick zu ihm ins Büro gekommen war. Narraway hatte kaum auf das geachtet, was der Mann zu sagen hatte: Er war ihm lästig gewesen, nichts weiter. Dann hatte Croxdale ihn kommen lassen, und alles war anders geworden. Die Situation kam ihm so vor, als gehe er eine steile Treppe hinab, nur um festzustellen, dass die unterste Stufe fehlte, so dass er mit rudernden Armen ins Leere stürzte – und weit und breit war nichts, woran er sich hätte festhalten können.
So blieb er bis Tagesanbruch liegen. Mit einem Schmerz, der ihn überraschte, machte er sich klar, einen wie großen Teil seiner selbst er verloren hatte. Es war seine Gewohnheit, morgens früh aufzustehen, ganz gleich, ob er geschlafen hatte oder nicht. Die Pflicht war eine unerbittliche Gebieterin, doch mit einem Mal erkannte er, dass sie überdies eine den Menschen treu ergebene beständige Begleiterin war, die zu schätzen wusste, was sie taten. Sie war nie bedeutungslos.
Ohne sie fühlte er sich nackt und bloß. Wie sehr mochte er es dann erst in den Augen anderer sein! Er war es gewohnt, dass man ihn nicht besonders gut leiden konnte. So war das nun einmal bei Menschen, die viel Macht hatten und viele Geheimnisse kannten. Aber noch nie war es vorgekommen, dass er nicht gebraucht wurde.