Fax war rot angelaufen. Sein Atem ging rasch und hart. Aber F'lar fand keine Zeit, seinen knappen Vorteil auszunützen denn sein Gegner sprang wutentbrannt auf und griff an. F'lar brachte mit einem Satz den Tisch zwischen sich und Fax. Er behielt den Baron ständig im Auge, während er seine Schulter abtastete.
Offenbar hatte ihn die Klinge nur gestreift. Er konnte den Arm bewegen.
Plötzlich packte Fax ein paar Knochen, die auf dem Tisch lagen, und schleuderte sie zu F'lar hinüber. Der Drachenreiter wich instinktiv aus, und im nächsten Moment hatte Fax das Hindernis übersprungen. F'lar trat blitzschnell zur Seite, und der Dolch verfehlte ihn um Millimeter. Sein eigenes Messer fuhr tief in den Oberarm des Barons.
Fax schwankte, und der Drachenreiter trat einen Schritt näher. Aber er hatte den Feind unterschätzt. Der Baron versetzte ihm einen wuchtigen Schlag gegen die Rippen, so dass er zu Boden stürzte. F'lar rollte sich zur Seite, als er sah, dass Fax sich mit gezücktem Dolch auf ihn werfen wollte.
Irgendwie kam er wieder auf die Beine. Fax schoss über sein Ziel hinaus und verlor das Gleichgewicht. Mit aller Kraft stieß der Drachenreiter zu.
Sein Messer drang tief in den Körper des Gegners.
Fax fiel auf die Steinplatten und rührte sich nicht mehr.
Ein dünnes Wimmern durchdrang den Schleier der Erschöpfung, der F'lar umgab. Er sah auf. Frauen drängten in den Saal. Eine hielt ein weißes Bündel in den Armen. F'lar verstand nicht gleich, was das alles zu bedeuten hatte. Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen.
Er starrte auf den Toten.
Es hatte ihm keinerlei Vergnügen bereitet, den Mann umzubringen. Er war nur erleichtert, dass er selbst noch lebte. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Seine Rippen schmerzten, und seine linke Schulter brannte. Er stolperte zu dem Mädchen hinüber, das immer noch reglos am Boden lag.
Vorsichtig drehte er sie herum. Ein hässlicher blauer Fleck machte sich auf ihrer Wange breit. Verschwommen nahm er wahr, dass F'nor im Saal das Kommando übernommen hatte.
Der Drachenreiter tastete mit zitternden Fingern nach dem Herzen des Mädchens … Es schlug langsam, aber kräftig.
Die Erleichterung mischte sich mit Ekel. Das Mädchen starrte vor Schmutz, so dass man unmöglich sagen konnte, wie alt sie war. F'lar hob sie auf und trug sie zu seinem Zimmer.
Er wusste, dass F'nor die Situation beherrschte.
Oben angelangt, legte er die Bewusstlose auf sein Bett und machte Licht. Vorsichtig schob er die verfilzten Haarsträhnen zur Seite. Er drehte das Gesicht des Mädchens hin und her Sie hatte schmale, regelmäßige Züge. Auf ihren bloßen Armen zeichneten sich blaue Flecken und Narben ab, aber die Haut war jung und faltenlos. Und er hatte selten so feingliedrige Hände gesehen.
F'lar lächelte.
Ja, sie hatte die Konturen ihrer Hände so geschickt verzerrt,dass er unsicher geworden war. Und sie hatte ihr Äußeres durch Schmutz und Lumpen getarnt. Aber sie war jung.
Jung genug für den Weyr.
Sie konnte nicht aus dem Kreis der Dienerinnen stammen. Zum Glück war sie nicht jung genug, um eine Bastardtochter von Fax zu sein. Stammte sie aus einer heimlichen Verbindung eines Ruatha?
Nein, sie hatte nichts Gewöhnliches an sich. Sie gehörte dem reinen Adel an, und er glaubte fest daran, dass sie eine Ruatha war.
Vielleicht hatte sie durch einen Zufall das Massaker vor zehn Planetendrehungen überlebt und seither auf Rache gesonnen. Weshalb sonst hätte sie Fax dazu gezwungen, auf die Burg zu verzichten?
F'lar konnte sein Glück noch nicht fassen. Er beugte sich über das Mädchen, um ihr die schmutzigen Lumpen vom Körper zu streifen, doch dann zögerte er. Sie war zu sich gekommen und sah ihn aus großen, hungrigen Augen an. Sie zeigte keine Furcht… lediglich Argwohn.
Unmerklich verwandelten sich ihre Züge zu einem hässlichen Zerrbild.
F'lar lächelte.
»Möchten Sie einen Drachenreiter täuschen, Mädchen?« fragte er. Er lehnte sich gegen den geschnitzten Bettpfosten. Erst jetzt merkte er, wie sehr seine Schulter schmerzte.
»Wie heißen Sie, Mädchen, und woher stammen Sie?«
Sie setzte sich langsam auf. Ihre Züge waren nicht mehr verzerrt. Ruhig stützte sie sich ab und musterte ihn.
»Fax?«
»Tot. Wie heißen Sie?«
Ein triumphierendes Leuchten huschte über ihr Gesicht. Sie ließ sich aus dem Bett gleiten und richtete sich hoch auf.
»Dann verlange ich meinen Besitz zurück. Ich bin eine Ruatha. Ich habe Anspruch auf die Burg«, erklärte sie mit fester Stimme.
F'lar betrachtete sie einen Augenblick, begeistert von ihrer stolzen Haltung. Dann warf er den Kopf zurück und lachte.
»Diese Ruine?«
Er ließ seinen Blick über die Lumpen gleiten, die sie trug.
»O nein! Außerdem haben wir Drachenreiter gehört und bezeugt, wie Fax zugunsten seines Sohnes auf Ruatha verzichtete. Soll ich auch das Neugeborene für Sie herausfordern, Lady? Soll ich es mit seinen Windeln erwürgen?«
Ihre Augen blitzten, und sie lächelte hart.
»Es gibt keinen Sohn. Gemma starb, bevor das Kind geboren wurde. Ich habe gelogen.«
»Gelogen?« fuhr F'lar auf.
»Ja«, erwiderte sie höhnisch und warf den Kopf hoch.
»Ich habe gelogen. Das Kind war noch nicht geboren. Ich wollte lediglich sichergehen, dass Sie Fax zum Kampf herausfordern.«
Er packte sie hart am Handgelenk, verärgert, dass er zweimal auf ihre Ränke hereingefallen war.
»Sie haben einen Drachenreiter provoziert? Sie haben ihn zum Töten gezwungen? Während er sich auf der Suche befindet?
»Suche?
Was kümmert mich die Suche?
Ich habe Ruatha wieder! Seit zehn Planetendrehungen warte und plane ich, arbeite und leide ich! Was könnte mir da Ihre Suche bedeuten?«
F'lar konnte die hochmütige Verachtung in ihren Zügen nicht mehr ertragen. Er drehte ihr den Arm auf den Rücken und zog sie dicht zu sich heran, bevor er sie wieder freigab. Sie lachte, wich ihm aus und war aus dem Zimmer gehuscht, bevor er ihr Vorhaben begriff.
Fluchend rannte er durch die Felskorridore. Er wusste, dass sie nur durch den Saal ins Freie gelangen konnte. Als er jedoch dort auftauchte, war sie nirgends zu sehen.
»Ist das Mädchen hier vorbeigekommen?« rief er F'nor zu, der zufällig am Portal stand.
»Nein. Hat sie die Macht?«
»Ja«, erwiderte F'lar zornig.
Wohin war das Mädchen nur gelaufen?
»Und sie ist eine Ruatha!«
»Oho! Wird sie dem Kleinen den Besitz streitig machen?« fragte F'nor und deutete auf die Hebamme, die mit einem weißen Bündel am warmen Kamin saß.
F'lar hatte sich bereits umgedreht, um in den Korridoren weiterzusuchen. Nun blieb er verwirrt stehen. Er starrte den braunen Reiter an.
»Welcher Kleine?«
»Lady Gemmas Sohn«, erwiderte F'nor überrascht.
»Er lebt?«
»Ja. Ein kräftiger Junge, wie die Hebamme sagt, obwohl es sich um eine Frühgeburt handelt. Man holte ihn aus dem Leib der Toten.«
F'lar lachte schallend.
Nun war ihre Lüge Wahrheit geworden! Damit hatte sie bestimmt nicht gerechnet. Im gleichen Augenblick trompetete Mnementh triumphierend, und die anderen Drachen stimmten ein.
»Mnementh hat sie gefangen«, rief F'lar grinsend. Er lief in den Hof hinaus.
Der Bronzedrache saß nicht mehr auf dem Wachtturm. F'lar rief nach ihm. Eine Bewegung ließ ihn zum Himmel sehen. Mnementh setzte in einer eleganten Schleife zur Landung an. Er trug etwas in seinen Klauen. Der Drache erklärte F'lar, dass er sie aus einem der Fenster habe klettern sehen. Da er wusste, dass F'lar sie suchte, hatte er sie einfach vom Fenstersims geholt.
Der Bronzedrache landete und setzte das Mädchen vorsichtig ab. Seine riesigen Klauen formten einen Käfig um sie. Sie stand reglos da, den Blick auf den großen, keilförmigen Kopf gerichtet, der über ihr pendelte.
Der Wachwher zerrte am Ende seiner Kette. Er kreischte vor Angst, Zorn und Hass und schnappte nach F'lar, als dieser auf Lessa zuging.
»Sie haben Mut, Mädchen«, meinte er bewundernd und legte die Hand auf Mnemenths Vorderpfote. Mnementh war äußerst zufrieden mit sich und senkte den Kopf, damit F'lar ihn zwischen den Augen kraulen konnte.
»Wissen Sie auch, dass Sie nicht gelogen haben?«
F'lar konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er musste sich ein wenig an ihr rächen.
Langsam drehte sie den Kopf und sah ihn an. Sie schien keine Angst vor dem Drachen zu haben.
»Das Kind lebt. Und es ist ein Sohn.«
Diesmal konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen. Ihre Schultern sackten müde nach vorn. Doch dann richtete sie sich wieder auf.
»Ruatha gehört mir«, sagte sie leise.
»Ja, und Sie hätten frei darüber verfügen können, wenn Sie sich gleich an mich gewandt hätten.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Was meinen Sie damit?«
»Ein Drachenreiter kann jeden verteidigen, der eine gerechtfertigte Klage vorbringt. Als wir nach Ruatha kamen, Lady, war ich so wütend über Fax, dass ich ihn trotz der Suche sofort zu einem Duell gefordert hätte, wenn er mir einen Grund gegeben hätte.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber das Mädchen hatte versucht, einen Drachenreiter zu steuern, und dafür musste er ihr eine Lehre erteilen.
»Hätten Sie besser auf die Lieder des Harfners geachtet, so wäre Ihnen viel erspart geblieben.
Und…«
F'lars Stimme enthielt eine Schärfe, die ihn selbst überraschte »…Lady Gemma hätte nicht sterben müssen. Die tapfere Frau hat weit mehr unter Fax gelitten als Sie!«
Etwas in ihrer Haltung verriet ihm, dass sie Lady Gemmas Tod bedauerte, dass er sie tief erschüttert hatte.
»Was nützt Ihnen Ruatha jetzt?«
Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf die verfallene Burg und das öde Tal.
»Sie haben gesiegt, aber der Sieg bringt Ihnen keinen Gewinn.«
F'lar seufzte.
»Nun gut. Die Burgen sollen an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgehen. Eine Burg ein Herr! Alles andere widerspricht der Tradition. Aber es ist möglich, dass auch andere nicht mehr an diesen Grundsatz glauben, dass sie von der Gier und dem Machthunger des Barons angesteckt wurden. Wären Sie dann in der Lage, Ruatha zu verteidigen?«
»Ruatha gehört mir!«
»Ruatha!«
F'lar lachte verächtlich.
»Sie könnten Weyrherrin sein!«
»Weyrherrin?« flüsterte sie erstaunt und entsetzt zugleich.
»Ja, Sie kleine Närrin! Ich sagte doch, dass ich mich auf der Suche befinde… und Sie sind mein Ziel!«
Sie starrte seinen ausgestreckten Finger an, als sei er eine gefährliche Waffe.
»Beim Ersten Ei, Mädchen, Sie haben die Macht in sich! Sie bringen es fertig, einen Drachenreiter für Ihre Zwecke einzusetzen, ohne dass er es merkt! Ah, aber es soll nie wieder vorkommen. Von jetzt an bin ich auf der Hut.«
Mnementh brummte zustimmend. Er drehte den biegsamen Hals so, dass eines seiner leuchtenden Augen direkt auf das Mädchen gerichtet war.
Mit einem gewissen Stolz bemerkte F'lar, dass sie bei dem Anblick der riesigen Augen weder zusammenzuckte noch erblaßte.
»Er hat es gern, wenn man ihn über den Augen krault«, meinte F'lar freundlich. Er musste seine Taktik ändern.
»Ich weiß«, erwiderte sie leise und streckte die Hand nach dem Kopf des Drachen aus.
»Nemorth hat ein goldenes Ei gelegt«, fuhr F'lar eindringlich fort. »Und sie ist dem Tode nahe. Diesmal brauchen wir eine starke Weyrherrin.«
»Der Rote Stern?« flüsterte das Mädchen und sah F'lar erschreckt an. Ihre Haltung überraschte ihn, denn bis jetzt hatte sie nicht einmal eine Spur von Angst gezeigt.
»Sie haben ihn gesehen? Sie kennen seine Bedeutung?«
Er sah, dass sie nervös schluckte.
»Er bringt Gefahr …«
Sie warf einen besorgten Blick nach Osten.
F'lar fragte nicht, auf welche Weise sie die drohende Gefahr spürte. Er hatte die Absicht, sie notfalls mit Gewalt in den Weyr zu bringen. Aber natürlich war es besser, wenn sie ihn freiwillig begleitete. Eine aufsässige Weyrherrin war noch gefährlicher als eine dumme. Dieses Mädchen besaß zuviel Macht. Und sie war seit ihrer Jugend an Ränkespiele gewöhnt. Er durfte sie sich nicht zur Feindin machen.
»Er bringt Gefahr für ganz Pern, nicht nur für Ruatha.«
Seine Stimme wurde bittend.
»Und Sie werden gebraucht. Nicht von Ruatha.«
Er machte eine Handbewegung, als sei Ruatha ein Nichts, verglichen mit dem Gesamtbild.
»Ohne eine starke Weyrherrin… ohne Sie… sind wir zum Untergang verurteilt.«
»Gemma sagte, dass alle Bronzereiter gebraucht werden«, flüsterte sie.
Was meinte sie mit dieser Feststellung?
F'lar zog die Stirn kraus.
Hatte sie eine seiner Bemerkungen aufgefangen? Er spürte nur, dass ihre abwehrende Haltung nachließ, und drang weiter in sie.
»Sie haben hier gesiegt. Lassen Sie das Kind…«
Er sah ihr Zusammenzucken und fuhr unerbittlich fort »Gemmas Kind… in Ruatha aufwachsen. Als Weyrherrin haben Sie Befehlsgewalt über ganz Pern, nicht nur über diese Ruine. Führen Sie die Rache nicht zu weit. Sie haben erreicht, was Sie wollten. Fax ist tot.«
Sie sah F'lar nachdenklich an, während sie seine Worte verarbeitete.
»Ich habe nie überlegt, was nach dem Tod des Barons sein würde«, gab sie langsam zu.
Ihre Verwirrung war beinahe kindlich. F'lar hatte bisher noch keine Zeit gefunden, über ihr Handeln nachzudenken. Nun kam ihm allmählich zum Bewusstsein, was für einen unbezähmbaren Charakter sie besaß.
Als Fax ihre Familie ermordete, war sie selbst kaum zehn Planetendrehungen alt gewesen. Aber bereits zu dieser Zeit hatte sie sich ein Ziel gesetzt und es fertig gebracht, der Entdeckung so lange zu entgehen, bis der verhasste Feind besiegt war.
Was für eine Weyrherrin!
Von Ruatha hatte der Weyr schon immer die stärkste Unterstützung erhalten. Im Mondlicht hingegen wirkte Lessa jung und verwundbar.
»Sie können Weyrherrin werden?« wiederholte er mit sanfter Beharrlichkeit.
»Weyrherrin?« flüsterte sie ungläubig und warf einen Blick auf den inneren Hof, den die Mondstrahlen umspielten. F'lar sah, dass sie zitterte.
»Oder tragen Sie lieber Lumpen?« fragte er spöttisch.
»Gefallen Ihnen das verfilzte Haar und die rauhe Haut Ihrer Hände? Schlafen Sie gern im Stroh? Sie sind jung… zumindest nehme ich das an.«
Er gab seiner Stimme einen skeptischen Klang. Lessa betrachtete ihn kühl. Ihre Lippen waren zusammengepresst.
»Haben Sie überhaupt keinen Ehrgeiz?
Der ganze Planet kann Ihnen gehören, und Sie begnügen sich mit diesem kleinen Fleck?«
Er machte eine Pause und fügte mit seiner ganzen Verachtung hinzu: »Das Blut der Ruatha scheint dünner geworden zu sein. Sie haben Angst!«
»Eine Ruatha fürchtet nichts und niemanden!« Sie hatte sich aufgerichtet, und ihre Augen blitzten.
F'lar begnügte sich mit einem schwachen Lächeln.
»Die Hälfte des Geschwaders bleibt hier und bewacht die Burg. Vielleicht bildet sich einer der benachbarten Barone ein, er könne Fax imitieren. Ein Reiter verkündet im Hochland, was geschehen ist.
Ach ja… und L'tol… Lytol soll verständigt werden.«
F'lar lächelte.
»Ich glaube, er gibt einen hervorragenden Verwalter ab, bis der Sohn Gemmas die Burg übernehmen kann.«
Der braune Reiter strahlte, als er begriff, was F'lar im Sinn hatte. Jetzt, da Fax tot war und die Burg unter dem Schutz der Drachenreiter stand, würde sie neu aufblühen.
»Sie war die Ursache für Ruathas Verfall?« fragte er seinen Anführer.
»Und hätte mit ihren Machenschaften beinahe unseren Untergang herbeigeführt«, erwiderte F'lar.
Aber er konnte großzügig sein, denn er hatte die Suche erfolgreich beendet.
»Freue dich nicht zu früh, Bruder«, sagte er rasch, als er F'nors Gesichtsausdruck bemerkte. »Zuerst muss die Gegenüberstellung stattfinden.«
»Ich bringe hier alles in Ordnung. Die Wahl Lytols ist ausgezeichnet«, erklärte F'nor, obwohl er wusste, dass F'lar seine Zustimmung nicht benötigte.
»Wer ist dieser Lytol?« fragte Lessa spitz.
Sie hatte das wirre, verfilzte Haar aus dem Gesicht geschoben. Im Mondlicht bemerkte man den Schmutz nicht so deutlich. F'lar sah den Blick, den F'nor dem Mädchen zuwarf, und er gab dem braunen Reiter mit einer befehlenden Geste zu verstehen, dass er sich um seine Aufgaben kümmern solle.
»Lytol ist ein ehemaliger Drachenreiter«, erwiderte er auf Lessas Frage. »Er hat sein Tier bei einem Unfall verloren. Und er hasst Fax. Unter seiner Leitung wird Ruatha gut gedeihen.«
Er warf ihr einen herrischen Blick zu.
»Oder nicht?«
Sie gab keine Antwort, sondern starrte ihn nur düster an, bis er zu lachen begann.
»Wir fliegen zum Weyr«, erklärte er und reichte ihr die Hand, um sie zu Mnementh zu führen.
Der Bronzedrache hatte den Kopf weit vorgestreckt und beobachtete den Wachwher, der keuchend am Boden lag.
»Oh«, seufzte Lessa und ließ sich neben dem Tier nieder. Es hob langsam den Kopf und winselte erbärmlich.
»Mnementh sagt, dass er sehr alt ist und bald für immer einschlafen wird.«
Lessa nahm den hässlichen Kopf in die Arme, streichelte ihn und kraulte ihn hinter den Ohren.
»Kommen Sie, Lessa von Pern«, sagte F'lar ungeduldig. Er wollte endlich zum Weyr zurückkehren.
Sie erhob sich langsam. »Er hat mich gerettet. Er wusste, wer ich war.«
»Er ist sich darüber im klaren, dass er eine gute Tat vollbracht hat«, versicherte ihr F'lar. Er wunderte sich über ihre plötzliche Sentimentalität.
Er nahm sie an der Hand, um ihr aufzuhelfen und sie zu Mnementh zu bringen.
Im nächsten Augenblick wurde er zu Boden geworfen. Er versuchte auf die Beine zu kommen, aber der überraschende Angriff hatte ihn halb betäubt, und er musste hilflos zusehen, wie der schuppige Körper des Wachwhers in die Luft schnellte, geradewegs auf ihn zu.
Gleichzeitig hörte er Lessas entsetzten Aufschrei und Mnemenths Brüllen. Der Bronzedrache wollte seinen mächtigen Kopf zwischen den Wachwher und F'lar schieben, doch noch vorher rief Lessa drängend: »Nicht töten! Nicht töten!«
Das Knurren des Wachwhers verwandelte sich in ein schmerzerfülltes Winseln. Er vollführte mitten in der Luft ein unglaubliches Manöver, das die beabsichtigte Flugbahn veränderte. Einen Meter von F'lar entfernt landete er mit einem dumpfen Aufprall. Man hörte die Knochen splittern.
Bevor der Bronzereiter sich erheben konnte, kniete Lessa mit verzweifelter Miene neben dem Tier und umarmte es.
Mnementh stieß den Wachwher sanft mit der Schnauze an. Er erklärte F'lar, dass der Wher in Verwirrung geraten sei, als Lessa sich von ihm verabschiedete. Er hatte geglaubt, sie befinde sich in Gefahr, weil sie die Burg ihrer Vorfahren verließ. Als er dann ihren angstvollen Befehl hörte, versuchte er den Fehler wiedergutzumachen… auf Kosten des eigenen Lebens.
»Er hat mich wirklich nur verteidigt«, fügte Lessa mit erstickter Stimme hinzu. Sie räusperte sich. »Er war mein Freund… das einzige Geschöpf, dem ich vertrauen konnte.«
F'lar klopfte ihr ungeschickt auf die Schulter. Der Gedanke, dass jemand auf die Freundschaft eines Wachwhers angewiesen sein könnte, entsetzte ihn.
»Ein wahrhaft treues Tier«, sagte er und blieb geduldig neben ihr stehen, bis das Licht in den grüngoldenen Augen des Wachwhers erlosch.
Und plötzlich klang das hohe, beinahe unhörbare Klagen der Drachen auf, mit dem sie ihre Toten ehrten.
»Aber er war doch nur ein Wachwher«, murmelte Lessa, verwirrt von dem Achtungsbeweis der Drachen.
»Die Drachen tun, was sie für richtig halten«, stellte F'lar trocken fest.
Lessa warf noch einen Blick auf den schuppigen Kopf. Sie ließ ihn sanft zu Boden gleiten, strich über die gestutzten Flügel und öffnete dann das schwere Metallhalsband. Sie warf es mit einer heftigen Bewegung weg.
Dann erhob sie sich und ging mit entschlossenen Schritten auf Mnementh zu, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie trat ruhig auf die erhobene Pfote des Bronzedrachen und schwang sich auf den breiten Nacken des Tieres. F'lar hielt nach den Reitern Ausschau, die ihn zum Weyr begleiten sollten. Die Bewohner der Burg hatten sich in den Großen Saal zurückgezogen. Als seine Leute versammelt waren, schwang er sich hinter Lessa auf Mnementh.
»Halten Sie sich gut an mir fest«, befahl er, als er den Kamm des Drachen umklammerte und das Zeichen zum Aufbruch gab.
Lessas Finger umkrampften seine Arme, als der Bronzedrache senkrecht vom Boden abhob und mit seinen mächtigen Schwingen die Luft aufwirbelte. Nach kurzer Zeit lag die Klippe unter ihnen. F'Iar drehte sich um. Die übrigen Reiter folgten ihm in perfekter Formation.
Er gab Mnementh den Befehl, ins Dazwischen zu tauchen.
Nur ein kurzes Atemstocken verriet die Erregung des Mädchens, als sie sich plötzlich im Dazwischen befand. Selbst F'lar, der an die brennende Kälte und das Schweigen gewöhnt war, empfand jedes Mal von neuem ein Gefühl der Unsicherheit. Aber man blieb höchstens drei Atemzüge lang im Dazwischen.
Mnementh drückte brummend seine Bewunderung über die Ruhe des Mädchens aus. Sie hatte keine Angst gezeigt wie andere Frauen, die oft genug zu schreien begannen. F'lar spürte ihr Herzklopfen, aber das war alles.
Und dann kreisten sie über dem Weyr. Die Flügel Mnemenths glitzerten im hellen Sonnenlicht. Sie waren eine halbe Welt entfernt vom nächtlichen Ruatha.
F'lar spürte Lessas Staunen, als sie über der gewaltigen Steinsenke des Weyr schwebten. In ihren Zügen spiegelte sich Begeisterung wider; sie zeigte nicht die geringste Furcht, obwohl sie mehr als tausend Längen über dem Benden-Gebirge kreisten. Dann, als die sieben Drachen ihren Willkommensschrei ausstießen, huschte ein ungläubiges Lächeln über ihr Gesicht.
Die Drachenreiter flogen in einer weiten Spirale auf den Weyr zu bis auf Mnementh, der es vorzog, sich in gemächlichen Kreisen nach unten zu senken. Die Drachenreiter suchten ihre Wohnhöhlen auf den verschieden hohen Vorsprüngen des Weyrs auf. Auch Mnementh bremste seinen Flug ab und landete elegant auf einem Steinsims. F'lar half dem Mädchen beim Absteigen, und sie warf einen scheuen Blick auf die Felsen, die von Mnemenths Krallen glatt geschliffen waren.
»Hier geht es zu unserem Quartier«, erklärte er, als sie den breiten, gewölbten Korridor betraten.
Sie erreichten die riesige natürliche Höhle, die Mnementh seit seiner Jugend als Lagerstatt diente. F'lar sah sich mit kritischen Augen um. Der Raum war fraglos größer als die meisten Burgsäle, die er während seiner Suche betreten hatte. Aber plötzlich erkannte er, dass er kaum weniger schäbig und verkommen wirkte als der Saal von Ruatha. Gewiss, Benden war einer der ältesten Weyr, so wie Ruatha eine der ältesten Burgen war.
Wie viele Drachen hatten hier in dieser Mulde geschlafen? Wie viele Füße waren über den Felsenpfad zum Schlafgemach und der dahinterliegenden Badehöhle gegangen, in der eine warme Quelle sprudelte?
Doch das alles war keine Entschuldigung. Die Gobelins an den Wänden hatten verwaschene Farben und zeigten an manchen Stellen Löcher. Und die Fettflecken am Boden und auf den Fenstersimsen ließen sich mit Sand ohne weiteres wegscheuern.
Er bemerkte Lessas argwöhnischen Gesichtsausdruck, als er im Schlafgemach stehenblieb.
»Ich muss noch Mnementh futtern«, sagte er. »Sie können also zuerst baden.«
Er beugte sich über eine Truhe und wühlte ein paar saubere Kleider hervor, abgelegte Sachen seiner früheren Gefährtinnen, aber immer noch weitaus besser als die Lumpen, die sie trug.
Das weiße Wollgewand, das sie bei der Gegenüberstellung anziehen würde, faltete er sorgfältig zusammen und legte es beiseite.
Er schob ihr die Kleider und einen Beutel mit Waschkleie zu und deutete auf den Vorhang, der den Baderaum vom Schlafgemach abtrennte.
Dann drehte er sich um und ging hinaus.
Mnementh informierte ihn, dass F'nor Canth fütterte und dass er selbst am Verhungern sei. Boshaft fügte er hinzu, dass sie F'lar misstraute, aber nicht die geringste Scheu vor einem Drachen zeige.
»Weshalb sollte sie auch?« erwiderte F'lar. »Du bist ein Vetter des Wachwhers, der ihr einziger Freund war.«
Mnementh erklärte entrüstet, dass er, ein ausgewachsener Bronzedrache, nicht die geringste Beziehung zu einem dürren, angeketteten, armseligen Wachwher habe.
»Weshalb hast du ihm dann eine Ehre erwiesen, die nur den Drachen gebührt?« erkundigte sich F'lar.
Mnementh entgegnete hochmütig, dass es sich einfach gehörte, das Dahinscheiden eines treuen und selbstaufopfernden Geschöpfes zu beklagen.
Nicht einmal ein blauer Drache könne leugnen, dass der Wachwher von Ruatha die Wahrheit verschwiegen habe, obwohl er selbst, Mnementh, ihn hart bedrängt habe. Zudem habe er die Tapferkeit eines Drachen gezeigt, als er sein Leben aufgab, um einen Fehler wiedergutzumachen. Es sei ganz selbstverständlich, ihm die Drachenehre zu erweisen.
F'lar lachte vor sich hin. Es war ihm wieder einmal geglückt, den Bronzedrachen zu hänseln. Würdevoll glitt Mnementh zum Futterplatz hinunter.
F'lar sprang neben F'nor zu Boden. Die Erschütterung erinnerte ihn wieder an seine Schulterverletzung. Er musste das Mädchen darum bitten, dass sie die Wunde versorgte.
Während Mnementh auf einen fetten Bock zustieß, begrüßte F'nor seinen Bruder.
»Sie können jeden Moment ausschlüpfen«, sagte er. Seine Augen glänzten vor Erregung.
F'lar nickte nachdenklich. Er wusste, dass F'nor noch weitere Neuigkeiten für ihn hatte, aber er wollte den braunen Reiter nicht drängen. Sie sahen beide zu, wie F'nors Canth eine Rehgeiß aus der Herde holte. Der Drache umklammerte das sich wehrende Tier und trug es zu einem Felsvorsprung hinaus, wo er es in aller Ruhe verspeisen konnte.
Mnementh glitt bereits zum zweiten Mal über die Herde. Er suchte sich eine schwere Gans aus und flog mit ihr in die Höhe. Wie immer fühlte F'lar Stolz in sich aufsteigen, wenn er das Spiel der Sonne auf den mächtigen Bronzeschwingen beobachtete. Mnementh bewegte sich mit besonderer Eleganz und Leichtigkeit.
»Lytol war überwältigt von der Berufung«, sagte F'nor. »Er lässt dich grüßen. Ich glaube, er gibt einen guten Verwalter ab.«
»Aus diesem Grunde wurde er ausgewählt«, entgegnete F'lar brummig, obwohl er sich über Lytols Reaktion freute. Das Verwalteramt war kein Ersatz für den Verlust eines Drachen, aber es forderte doch große Verantwortung von dem Mann.
»Im Hochland war man erleichtert über den Tod des Barons«, berichtete F'nor mit einem breiten Grinsen. »Und man trauerte ehrlich um Lady Gemma. Ich bin gespannt, wer die Nachfolge von Fax antritt.«
»Auf Ruatha?« fragte F'lar mit gerunzelter Stirn.
»Nein. Im Hochland und auf den anderen Burgen, die Fax erobert hatte. Lytol wird Ruatha gut absichern und es von seinen eigenen Leuten bewachen lassen. Er versprach, sich zu beeilen, damit unsere Männer bald zum Weyr zurückkehren können.«
F'lar nickte beifällig und erwiderte den Salut von zwei blauen Reitern seines Geschwaders, die ihre Drachen zum Futterplatz brachten. Mnementh kreiste wieder über dem Geflügelhof.
»Er legt Wert auf leichte Kost«, stellte F'nor fest. »Canth dagegen schlingt alles in sich hinein.«
»Die Braunen wachsen langsamer«, meinte F'lar gedehnt und registrierte mit Befriedigung, dass F'nors Augen zornig aufblitzten. Das würde ihn lehren, wichtige Nachrichten zurückzuhalten.
»R'gul und S'lel sind heimgekommen«, verkündete der braune Reiter schließlich.
Die beiden blauen Drachen stürzten sich so wild auf die Herde, dass die Tiere ein Angstgeschrei anstimmten und zu fliehen begannen.
»Die übrigen hat man zurückgerufen«, fuhr F'nor fort. »Nemorth ist bereits steif.«
Dann konnte er sich nicht mehr beherrschen.
»S'lel hat zwei mitgebracht und R'gul fünf. Sie sollen klug sein und schön …«
F'lar schwieg. Er hatte damit gerechnet, dass die beiden eine ganze Reihe von Kandidatinnen herbeischaffen würden. Sollten sie Hunderte bringen! Er, der Bronzereiter F'lar, hatte diesmal die Weyrherrin gefunden. Daran gab es keinen Zweifel.
Verärgert, dass seine Neuigkeiten kaum ein Echo auslösten, erhob sich F'nor.
»Wir hätten noch das Mädchen aus Crom holen sollen und die hübsche …«
»Hübsch?« entgegnete F'lar und zog verächtlich die Brauen hoch. »Hübsch? Jora war hübsch.«
Er spuckte aus.
»K'net und T'bor kommen heim«, erklärte F'nor aufgeregt.
Drachenschwingen peitschten durch die Luft. Die beiden Männer hoben die Köpfe und betrachteten die Geschwader, die vom Westen in einer weiten Spirale auf den Weyr zuflogen.
Mnementh streckte sich und stieß ein lang gezogenes Heulen aus. F'lar rief ihn zu sich, und der Bronzedrache kam, ohne zu protestieren, Nachdem F'lar sich von seinem Bruder verabschiedet hatte, kletterte er auf Mnemenths Nacken und ließ sich in die Felsenhöhle tragen, die ihnen beiden als Wohnung diente.
Mnementh rülpste vor sich hin, als sie über den schmalen Steinsims gingen. Dann suchte er seine Schlafmulde auf und machte es sich bequem. F'lar beugte sich zu ihm herunter und strich ihm beruhigend über die Augenwülste.
Seit jenem Augenblick vor mehr als zwanzig Planetendrehungen, als der Junge F'lar und der eben ausgeschlüpfte Drache einander zum ersten Mal gegenübergestanden hatten, empfand der Drachenreiter die stille Abendstunde als die schönste Zeit des ganzen Tages.
Es gab nichts Erhebenderes als das Vertrauen, das die geflügelten Geschöpfe von Pern einem Menschen entgegenbrachten. Denn die Drachen hielten ihrem Reiter ein Leben lang unbeirrbar die Treue.
Mnementh schloss zufrieden die großen Augen und schlief ein. Dennoch wurde F'lar, dass sein Drache im Augenblick der Gefahr sofort hellwach sein würde.
Beim Goldenen Ei von Faranth, bei der Weyrherrin, stark und kühn, zieht Drachen, bronzerot und braun, zieht Drachen, leuchtendblau und grün, zieht Reiter, mutig, gewandt, damit Mensch und Tier sich vertrau'n und von des Weyrs Türmen im Flug den Himmel stürmen.
Lessa wartete, bis sie sicher war, dass der Drachenreiter das Schlafgemach verlassen hatte. Als sie das Flügelrauschen hörte, lief sie über den ausgetretenen Pfad bis zum gähnenden Eingang der Höhle.
Der Bronzedrache flog in lässigen Kreisen über dem riesigen, öden Oval des Benden-Weyrs. Sie hatte schon viel über die Weyr gehört, aber die Wirklichkeit war doch anders, als sie geglaubt hatte.
Sie starrte die Felswand an, die senkrecht in die Tiefe abfiel. Nur Drachenschwingen konnten diesen Steilhang überwinden. Die übrigen Höhleneingänge lagen weit weg, unerreichbar für Lessa. Sie war hier gefangen.
Weyrherrin, hatte er gesagt. War sie dadurch an ihn gefesselt? Musste sie sein Lager teilen?
Nein, das war nicht in den Gedanken des Drachen enthalten gewesen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie Mnementh verstanden hatte. Merkwürdig. Oder war es ganz normal?
Nun, jedenfalls hatte der Drache angedeutet, dass es sich um etwas Größeres handelte, um eine Sonderstellung. Das konnte nur heißen, dass sie die Betreuerin der neuen Drachenkönigin werden sollte.
Aber wie hing alles zusammen?
Sie erinnerte sich vage, dass die Drachenreiter während der Suche nach ganz bestimmten Frauen Ausschau hielten. Dann hatte sie also Konkurrentinnen?
Aber die Worte des Bronzereiters hatten so geklungen, als sei nur sie in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen. Der Mann war reichlich eingebildet und arrogant, soviel stand fest. Aber er besaß zum Glück nicht die Brutalität von Fax.
Sie sah, wie der Bronzedrache sich auf einen Bock stürzte und ihn auf einen entlegenen Steinsims trug. Instinktiv zog sie sich zum Höhleneingang zurück.
Der Anblick der hungrigen Drachen rief die Erinnerung an grausige Erzählungen wach. Erzählungen, über die sie gelacht hatte, aber nun … Stimmte es etwa doch, dass Drachen Menschenfleisch fraßen? Oder …
Lessa zügelte ihre Gedankengange. Drachen waren nicht weniger grausam als Menschen. Aber sie handelten wenigstens aus Not und niemals aus Gier.
Lessa hoffte, dass der Drachenreiter eine Weile ausbleiben würde. Sie durchquerte die große Höhle und betrat das Schlafgemach. Dort hob sie die Kleider und den Beutel mit der Waschkleie auf und ging weiter in den Baderaum.
Er war nicht groß, genügte aber vollkommen für seinen Zweck. Ein breiter Felsvorsprung bildete eine Art Stufe in das kreisförmige Badebecken. An einer Seite standen eine Bank und ein paar Regale mit Handtüchern. Ein Teil des Beckens war mit Sand aufgeschüttet, so dass man bequem im Wasser stehen konnte.
Endlich! Sie atmete befreit auf. Mit spitzen Fingern streifte sie die Lumpen vom Leib und schob sie mit dem Fuß zur Seite. Dann verrieb sie eine Handvoll Kleie zu einem Brei.
Sie scheuerte die Arme und das Blaugeschlagene Gesicht sauber. Dann schrubbte sie ihren Körper, bis halb vernarbte Wunden wieder zu bluten begannen. Zuletzt sprang sie ins tiefe Wasser und tauchte unter. Sie holte noch mehr Kleie und verrieb sie im nassen Haar.
Immer wieder spülte sie die Strähnen, bis sie das Gefühl hatte, dass sie einigermaßen sauber waren. Schmutziger Schaum trieb bis zur Höhlenwand und flöß mit der Strömung ab. Noch einmal bearbeitete sie ihren Körper mit Kleie.
Es war eine geradezu rituelle Waschung. Ihre Haut brannte und prickelte.
Schließlich verließ sie zögernd den Badeteich. Sie steckte das triefende Haar hoch und trocknete sich mit einem frischen Handtuch ab. Dann streifte sie ein zartgrünes Kleid aus einem weichen Stoff über. Es war zu locker, aber sie schnürte es mit Hilfe einer Schärpe eng um die Taille. Ein Lächeln glitt über ihre Züge. Noch nie im Leben hatte ein Stoff ihre Haut so umschmeichelt. Der Saum des Kleides fiel glatt und gerade bis zu ihren Knöcheln und schwang bei jedem Schritt aus. Sie nahm ein neues Handtuch und rieb ihr Haar trocken.
Ein gedämpfter Laut drang an ihre Ohren, und sie hielt den Kopf schräg. Angespannt horchte sie.
Ja, sie hatte richtig gehört. Der Drachenreiter und sein Tier waren zurückgekommen. Sie schnitt eine ärgerliche Grimasse und bearbeitete ihr Haar noch stärker. Widerspenstige Locken kringelten sich auf der Stirn. Sie suchte in den Regalen, bis sie einen groben Metallkamm fand. Damit zerrte und riss sie an den Strähnen, bis sie endlich entwirrt waren.
Jetzt, da es trocken war, schien ihr Haar ein eigenes Leben zu entwickeln. Es knisterte und richtete sich auf, sobald sie den Kamm hob. Und es war lang, sehr viel länger, als sie geglaubt hatte.
Lessa horchte nach draußen. Nichts rührte sich. Vorsichtig hob sie den Vorhang zurück. Das Schlafgemach war leer. Aber in der äußeren Felskammer hörte sie die schläfrigen Bewegungen des Drachen. Sie atmete erleichtert auf. Nun musste sie dem Mann wenigstens nicht allein gegenübertreten.
Sie wollte das Schlafgemach durchqueren und blieb wie angewurzelt stehen, als sie in den polierten Metallspiegel an der Wand sah. Eine Fremde starrte ihr entgegen. Erst als sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr und ihr Gegenüber die Geste imitierte, erkannte sie, dass sie sich selbst sah.
Aber… das Mädchen im Spiegel war ja schöner als Lady Tela! Nur so mager…
Sie betrachtete die vorstehenden Schlüsselbeine und die zerbrechlich dünne Taille. Mit neu erwachter Eitelkeit zupfte sie das Kleid zurecht und glättete ungeduldig das widerspenstige Haar.
Stiefel scharrten über den Boden. Sie zuckte zusammen. Jeden Moment konnte der Mann auftauchen. Mit einemmal stieg Angst in ihr hoch. Jetzt, da ihr die Strähnen nicht mehr ins Gesicht hingen und sie die schmutzigen Lumpen ausgezogen hatte, besaß sie keine Anonymität mehr.
Sie war verwundbar.
Eisern bezwang sie den Wunsch, davonzulaufen. Sie warf noch einen Blick in den Spiegel, streckte die Schultern und hob entschlossen das Kinn; ihr Haar knisterte bei der plötzlichen Bewegung. Sie war Lessa von Ruatha. In ihren Adern floß adeliges Blut. Sie musste sich nicht mehr vor der Welt verbergen. Sie konnte jedermann stolz gegenübertreten - auch diesem Drachenreiter!
Ruhig schob sie den Vorhang zur Felskammer beiseite. Er stand neben dem Drachen und strich ihm über die Augenwülste. Seine Züge wirkten sonderbar zärtlich. Es war ein Bild, das völlig im Widerspruch zu allem stand, was sie bisher von den Drachenreitern gehört hatte.
Sie wusste natürlich von der engen Beziehung zwischen Tier und Reiter, aber sie hatte nicht geahnt, dass dabei Zuneigung eine Rolle spielte. Überhaupt hatte sie diesem finsteren, kühlen Mann keine tieferen Gefühle zugetraut. Sie erinnerte sich noch zu gut an seine schroffe Haltung, als sie sich von dem alten Wachwher verabschieden wollte. Kein Wunder, dass das Tier geglaubt hatte, ihr stoße etwas zu.
Der Mann drehte sich langsam um, als würde er sich nur ungern von seinem Drachen trennen. Dann, als er sie erblickte, stand er auf und trat mit ein paar raschen Schritten neben sie.
Er fasste sie mit starker Hand am Ellbogen und führte sie zurück ins Schlafgemach.
»Mnementh hat wenig gefressen und braucht Ruhe«, sagte er leise, als sei das seine wichtigste Überlegung. Er schob den schweren Vorhang zu.
Dann hielt er sie mit gestreckten Armen von sich und betrachtete sie genau. Ein erstaunter Ausdruck huschte über seine Züge.
»Gewaschen sehen Sie… recht hübsch aus«, sagte er in einem Tonfall amüsierter Herablassung.
Sie machte sich brüsk von ihm frei.
»Wer hätte aber auch ahnen können, was sich unter dem Schmutz von zehn Planetendrehungen verbarg! Ja, Sie sind so hübsch, dass F'nor versöhnt sein wird.«
Erbost über seine Haltung, fragte sie eisig: »Und es ist so wichtig, dass dieser F'nor versöhnt wird?«
Er grinste sie an, bis sie die Fäuste in die Hüften stemmte, um nicht auf ihn einzuschlagen.
Schließlich sagte er: »Aber lassen wir das jetzt. Wir müssen essen, und ich benötige Ihre Dienste.«
Als er ihren verwirrten Ausdruck bemerkte, drehte er sich um und deutete auf die Blutkruste an seiner linken Schulter.
»Ich kann doch verlangen, dass Sie die Wunden behandeln, die ich im Kampf um Ihre Sache erhielt.«
Er schob einen Gobelin zur Seite, der an der Innenwand hing. »Essen für zwei!« brüllte er in den schwarzen Schlitz, der dahinter zum Vorschein kam.
Das Echo hallte wie aus einem tiefen Schacht wider.
»Nemorth liegt im Sterben«, erklärte er, während er einen anderen Wandbehang hob und Verbandszeug aus einer verborgenen Nische holte.
»Und die Jungen können jeden Moment ausschlüpfen.«
Ein eiskaltes Gefühl durchzuckte Lessa. Sie kannte die Drachenlegenden, und die makabren Szenen der Gegenüberstellung hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Stumm nahm sie die Dinge, die er ihr reichte.
»Haben Sie etwa Angst?« fragte der Drachenreiter spöttisch, während er das zerrissene, Blutverkrustete Hemd auszog.
Lessa schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit seinen muskulösen Schultern zu. Die Wunde war wieder auf gebrochen. Ein dünner Blutstreifen rieselte dem Drachenreiter über den Rücken.
»Ich brauche Wasser«, sagte sie und entdeckte im gleichen Augenblick eine flache Pfanne neben den Verbandsutensilien. Sie ging damit zur Quelle.
Unterwegs überlegte sie, weshalb sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Ruatha war eine Ruine, gewiss, aber sie kannte jeden Winkel vom Wachturm bis zu den Kellergewölben. Als der Drachenreiter ihr nach dem Tod von Fax vorgeschlagen hatte, in den Weyr zu ziehen, hatte sie sich stark genug gefühlt, jede Gefahr zu meistern. Doch jetzt zitterten ihre Hände so, dass sie kaum die Pfanne festhalten konnte.
Sie konzentrierte sich auf die Wunde. Es war ein hässlicher Schnitt, der sehr tief ging. Die Haut des Drachenreiters fühlte sich glatt unter ihren Fingern an. Er zuckte nicht zusammen, als sie das getrocknete Blut aus der Wunde wusch, und Lessa war wütend über sich selbst, dass sie ihn nicht mit der Grobheit behandelte, die ihm gebührte.
Mit zusammengebissenen Zähnen strich sie eine dicke Schicht Heilsalbe über den Schnitt. Dann riss sie ein paar Tücher zu Streifen und befestigte damit den Verband. Der Drachenreiter bewegte vorsichtig den Arm. Als er sich umdrehte und sie ansah, waren seine Augen dunkel und nachdenklich.
»Sie sind sehr sanft mit mir umgegangen. Ich danke Ihnen, Lady.«
Er erhob sich mit einem ironischen Lächeln. Lessa wich ein paar Schritte zurück, aber er ging nur an die Truhe und holte sich ein frisches Hemd. Ein gedämpftes Grollen klang auf und schwoll rasch an.
Drachen? überlegte Lessa und versuchte die Furcht zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Hatte das Ausschlüpfen begonnen? Diesmal gab es keinen Wachwher, bei dem sie Zuflucht suchen konnte.
Der Drachenreiter lachte gutmütig, als verstünde er ihre Verwirrung. Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob er den Gobelin zur Seite. Irgendein lärmender Mechanismus im Innern des Schachtes hievte ein Tablett mit Essen hoch.
Lessa schämte sich wegen ihrer unbegründeten Furcht und war zugleich wütend, dass er ihre Gefühle durchschaut hatte.
Widerspenstig warf sie sich auf eine der fellbedeckten Ruhebänke entlang der Wand und wünschte ihm eine ganze Reihe von schmerzhaften Verletzungen, die sie behandeln konnte. In Zukunft würde sie nicht mehr so zimperlich sein.
Er stellte das Tablett auf einen niedrigen Tisch und holte sich ein paar Felle, auf denen er Platz nahm. Lessa entdeckte Fleisch, Brot, einen Krug mit Klah, einen herrlichen goldgelben Käse und sogar Winterobst. Der Drachenreiter saß einfach da, und auch sie wagte nicht zu essen, obwohl ihr das Wasser im Munde zusammenlief, als sie die reifen Früchte sah.
Flar sah mit gerunzelter Stirn auf.
»Auch im Weyr bricht zuerst die Dame das Brot«, sagte er und nickte ihr höflich zu.
Lessa errötete.
Sie war nicht mehr an die vornehmen Tischsitten gewöhnt. Während der letzten zehn Planetendrehungen hatte sie sich mit Küchenabfällen begnügen müssen.
Sie brach ein Stück Brot ab, und sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor etwas Köstlicheres gegessen zu haben.
Zum einen war es frisch gebacken. Und man hatte das Mehl fein gesiebt. Sie nahm den Käse, den er ihr anbot, und genoss das volle scharfe Aroma. Kühner geworden, griff sie nach einer saftigen Frucht.
»So«, begann der Drachenreiter und legte ihr die Hand auf den Arm.
Schuldbewusst legte sie die Frucht weg und starrte ihn an. Welchen Fehler hatte sie diesmal begangen? Er drückte ihr lächelnd die Frucht in die Hand. Dann sprach er weiter. Sie knabberte an dem Leckerbissen und hörte ihm aufmerksam zu.
»Merken Sie sich eines: Was auch an der Brutstätte geschieht, Sie dürfen keinen Augenblick Furcht zeigen. Und die Königin darf nicht überfüttert werden.«
Ein Lächeln überflog seine Züge.
»Eine unserer Hauptaufgaben ist es, die Nahrung des Drachen genau einzuteilen.
Die Frucht schmeckte ihr nicht mehr. Sie legte sie zurück in den Korb. Der Drachenreiter sagte nicht alles, was er wusste. Lessa versuchte die tiefere Bedeutung seiner Worte zu erkennen. Sie sah ihn zum ersten Mal als Mensch und nicht als Symbol.
Und sie kam zu dem Schluss, dass seine Kühle Vorsicht war nicht etwa ein Mangel an Gefühlen. Er musste streng sein, um seine Jugend zu verbergen, denn er zählte kaum mehr Planetendrehungen als sie. Dichtes schwarzes Haar kräuselte sich von der hohen Stirn bis in den Nacken. Die buschigen dunklen Brauen zogen sich zu oft zu einem finsteren Grübeln zusammen. Über der geraden Nase standen scharfe Falten, und die bernsteingoldenen Augen strahlten nur allzu leicht Zynismus oder kühlen Spott aus. Seine Lippen waren schmal und ebenmäßig geformt. Wenn er sich entspannte, wirkten sie beinahe sensibel.
Aber weshalb musste er einen Mundwinkel ständig zu einem verächtlichen Lächeln herunterziehen? O ja, er sah gut aus, das musste sie sich eingestehen. Er hatte etwas Zwingendes, Magnetisches an sich. Und in diesem Augenblick war sein Gesichtsausdruck aufrichtig.
Er meinte seine Worte ernst. Er wollte nicht, dass sie Angst hatte. Es gab keinen Grund zur Angst.
Und ihm lag viel daran, dass sie ihr Ziel erreichte. Das erschien ihr nicht so schwer. Ein junger Drache war sicher noch nicht kräftig genug, um ein ganzes Herdentier zu reißen. Und sie verstand es, anderen Geschöpfen ihren Willen aufzuzwingen. Der Wachwher auf Ruatha hatte nur ihr gehorcht. Und selbst den Bronzedrachen hatte sie zum Schweigen gebracht, als sie sich auf dem Weg zur Hebamme befand.
Hauptaufgabe? Unsere Hauptaufgabe?
Der Drachenreiter sah sie erwartungsvoll an.
»Unsere Hauptaufgabe?« wiederholte sie. Ihr Tonfall verriet, dass sie sich mit seinen spärlichen Auskünften nicht zufrieden gab.
»Mehr davon später«, erwiderte er ungeduldig und winkte ab, als sie weitere Fragen stellen wollte.
»Aber was geschieht denn eigentlich?« beharrte sie.
»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich selbst weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Behalten Sie diese beiden Dinge im Gedächtnis: Zeigen Sie keine Furcht, und überfüttern Sie das Tier nicht!
»Aber …«
»Sie dagegen müssen viel essen. Hier!«
Er spießte ein Stück Fleisch auf sein Messer und streckte es ihr entgegen. Mühsam würgte sie es hinunter. Als er ihr das nächste Stück anbieten wollte, winkte sie ab und biss tief in die saftige Frucht. Sie musste sich langsam an den Überfluss gewöhnen.
»Es wird bald wieder bessere Kost im Weyr geben«, stellte er mit einem missmutigen Blick auf das Tablett fest.
Lessa zeigte sich überrascht, denn für sie war es ein Festmahl gewesen.
»Sie schaffen die Menge nicht? Ach ja, ich vergaß, dass man in Ruatha an den letzten Knochen nagt.«
Sie versteifte sich.
»Sie haben auf Ruatha richtig gehandelt. Ich wollte Sie nicht kritisieren«, erklärte er lächelnd.
»Aber sehen Sie sich an!«
Ein nachdenklicher Ausdruck kam in seine Augen.
»Nein, ich hätte nicht gedacht, dass Sie so hübsch sind. Vor allem das Haar…«
In seiner Stimme schwang Bewunderung mit.
Unwillkürlich strich sie mit den Fingern über die Locken, und sie begannen zu knistern. Aber sie kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Ein unheimliches Klagen erfüllte die Kammer.
Der Laut jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie presste beide Hände gegen die Ohren, aber das Wimmern ließ sich nicht verdrängen. Und dann verstummte es, ebenso abrupt wie es begonnen hatte. Bevor sie sich gefasst hatte, zerrte der Drachenreiter sie an der Hand zur Truhe hin.
»Ziehen Sie das da aus!« befahl er und deutete auf ihr Kleid. Während sie ihn entgeistert anstarrte, holte er ein ärmelloses weißes Gewand aus der Truhe. Es war bodenlang und völlig schmucklos.
»Rasch! Oder wollen Sie etwa, dass ich Ihnen helfe?«
Das grauenhafte Klagen wiederholte sich und trieb sie zur Eile an. Mit fliegenden Fingern streifte sie das Kleid ab. Der Drachenreiter warf ihr die weiße Robe über die Schultern. Sie schob die Arme durch die Öffnungen, und im nächsten Moment hatte er sie wieder am Handgelenk gepackt und zog sie mit sich. Ihr Haar sprühte vor Elektrizität.
Als sie die äußere Felsenkammer erreichten, stand der Bronzedrache aufgerichtet da und starrte ihnen entgegen. Lessa spürte seine Ungeduld. Die großen Augen, die sie so faszinierten, schillerten in allen Regenbogenfarben. Er war erregt. Bei ihrem Anblick begann er mit hoher Stimme zu winseln.
Drache und Drachenreiter schienen miteinander zu beraten. Und plötzlich erkannte Lessa, dass es um sie ging. Der Kopf des Drachen war mit einem Male dicht vor ihr, so dass sie nichts außer seiner spitzen Schnauze sah. Sie spürte seinen warmen, phosphorhaltigen Atem. Sie fing seine Gedanken auf, als er dem Drachenreiter mitteilte, dass diese Frau von Ruatha ihm immer besser gefiel.
Und dann zerrte der Drachenreiter sie wieder vorwärts, und der Drache rannte mit langen Sprüngen neben ihnen her. Lessa befürchtete schon, dass sie alle im Abgrund landen wurden, aber irgendwie saß sie plötzlich auf dem Nacken des fliegenden Ungetüms, und der Bronzereiter umklammerte mit starker Hand ihre Taille.
Sie glitten nun durch die breite Senke auf die gegenüberliegende Felswand zu. Von allen Seiten strömten die mächtigen Drachen herbei, und ihr laut peitschender Flügelschlag ließ das ganze Tal erzittern.
Mnementh flog schnurgerade auf einen dunklen, runden Höhleneingang hoch im Fels zu. Lessa erschien es wie ein Wunder, dass sie nicht mit anderen Drachen zusammenstießen. Und dann hatten sie die Öffnung erreicht. Dumpfe Laute hallten durch den Korridor. Die Luft war drückend.
Lessa sah sich ungläubig um. Sie befanden sich in einer gigantischen Höhle Der ganze Berg musste hohl sein! Auf breiten Vorsprüngen kauerten die Drachen, blau, grün und braun. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie nur zwei Bronzedrachen außer Mnementh. Lessa umkrampfte erregt den schuppigen Kamm des Drachen. Sie spürte instinktiv, dass hier etwas Besonderes vorging.
Mnementh ließ sich auf keinem der Vorsprünge nieder, sondern schwebte in die Tiefe. Und dann starrte Lessa nur noch den Sandboden der Höhle an.
Sie sah die Dracheneier - zehn unförmige, gesprenkelte Eier, deren Schalen bereits gesprungen waren. Etwas abseits, auf einer Bodenerhebung, lag das goldene Ei der Königin. Es war größer als alle anderen. Und neben dem goldenen Ei erkannte sie die reglose Gestalt der alten Königin.
Mnementh hielt an, und Lessa spürte, wie der Drachenreiter ihre Taille umfasste und sie absetzte.
Ängstlich klammerte sie sich an ihm fest. Er schob sie unerbittlich von sich. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, »Denken Sie an meine Worte, Lessa!«
Mnementh richtete eines seiner großen Facettenaugen auf sie und sandte ihr einen tröstenden Gedanken. Dann erhob er sich und flog zum untersten Felsvorsprung, wo er ein Stück entfernt von den beiden anderen Bronzedrachen landete. Lessa sah ihm hilflos nach. Der Reiter stieg ab, und das Tier streckte den biegsamen Hals, bis sein Kopf dicht neben dem Mann war.
Lautes Schluchzen und Schreien lenkte Lessas Aufmerksamkeit ab. Noch mehr Drachen waren gelandet und hatten weiß gekleidete Mädchen abgesetzt. Insgesamt zählte sie zwölf. Sie drängten sich aneinander und wimmerten vor Angst. Lessa beobachtete sie neugierig. Weshalb weinten sie? Sie schienen keine Schmerzen zu haben. Verächtlich schüttelte sie den Kopf. Eine Ruatha würde ihre Furcht niemals in dieser Weise zeigen!
In diesem Augenblick begann das goldene Ei zu schaukeln. Mit Gezeter zogen sich die Mädchen bis an die Felswand zurück. Eine von ihnen, ein schönes Geschöpf mit schweren blonden Flechten, blieb neben der Bodenerhöhung stehen. Doch dann stieß sie einen durchdringenden Schrei aus und floh zu ihren Gefährtinnen.
Lessa wirbelte herum. Einen Moment lang stockte auch ihr der Atem.
Ein Stück von dem goldenen Ei entfernt waren mehrere der gesprenkelten Dracheneier aufgebrochen. Mit dünnen Schreien arbeiteten sich die Jungtiere ins Freie und bewegten sich auf eine Schar von halbwüchsigen Jungen zu, die einen Halbkreis um das Gelege bildeten.
Das Kreischen der Frauen ging in ein unterdrücktes Schluchzen über, als einer der kleinen Drachen mit scharfen Klauen auf einen Jungen einhieb.
Lessa zwang sich, die Szene zu beobachten. Der Drache stieß den Jungen zur Seite, als sei er von ihm enttäuscht. Der Junge rührte sich nicht. Lessa sah, dass er aus mehreren Wunden blutete.
Ein zweiter Drache stolperte auf einen Jungen zu. Er schüttelte hilflos die feuchten Flügel und reckte den dünnen Hals. Dazu stieß er ein ermutigendes Summen aus, wie sie es schon bei Mnementh gehört hatte. Der Junge hob unsicher die Hand und strich dem kleinen Drachen über die Augenwülste. Das Summen wurde immer weicher. Schließlich senkte das Tier den Kopf und stupste den Jungen damit an. Das Kind lachte über das ganze Gesicht.
Lessa sah, wie die nächsten Drachen ihre engen Gefängnisse durchbrachen. Einer warf einen Jungen zu Boden und trat über ihn hinweg, ohne darauf zu achten, dass er mit seinen scharfen Klauen die Haut aufriss. Der zweite Drache blieb neben dem Kind stehen und summte eifrig. Mühsam richtete sich der Kleine auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann redete er liebevoll auf den Drachen ein.
Es war rasch vorbei. Die ausgeschlüpften Drachen sonderten sich mit den Jungen ab, die sie als Gefährten gewählt hatten. Blaue Reiter landeten auf dem Boden der Höhle und brachten die Kinder weg, die übrig geblieben waren.
Lessa wandte sich entschlossen dem goldenen Ei zu. Sie wusste nun, was sie zu erwarten hatte, und sie überlegte, nach welchen Gesichtspunkten die Drachen wohl ihre Auswahl getroffen hatten.
Ein Riss zeigte sich in der goldenen Schale, und von neuem stießen die Mädchen angstvolle Schreie aus. Einige hatten sich zu Boden geworfen, andere umklammerten einander. Der Riss wurde breiter, und ein kräftiger, keilförmiger Kopf arbeitete sich ins Freie. Es folgte der golden schimmernde Hals. Lessa fragte sich, wie lange es dauern mochte, bis das Tier ausgewachsen war. Bereits jetzt überragte es die Männchen des gleichen Geleges.
Ein lautes Summen drang an ihr Ohr. Sie hob den Kopf und erkannte, dass die Bronzedrachen die Geburt ihrer Königin, ihrer Paarungsgefährtin mitverfolgten. Das Summen verstärkte sich, als das Ei zerschellte und der goldene, feuchtglänzende Körper des Drachenweibchens auftauchte. Es schwankte ins Freie und hieb mit dem scharfen Schnabel in den Sand. Die nassen Flügel flatterten ungeschickt.
Doch dann rannte das Tier mit verblüffender Schnelligkeit auf die angsterstarrten Mädchen zu. Bevor Lessa eingreifen konnte, warf es sich auf eine der weiß gekleideten Gestalten und schüttelte sie hin und her. Man hörte ein dumpfes Knirschen, und das Mädchen sackte mit gebrochenem Halswirbel zu Boden. Die übrigen Frauen stoben kreischend auseinander.
Der junge Drache blieb mit einem erbärmlichen Wimmern stehen und sah den Fliehenden nach. Lessa trat ein paar Schritte auf die goldene Königin zu und hielt den keilförmigen Kopf fest.
Warum war das alberne Ding nicht ausgewichen, als das Tier sich auf sie stürzte? Der Drache war nach der Geburt so plump und ungeschickt, dass man ihn ohne weiteres überlisten konnte.
Lessa drehte den Kopf der Drachenkönigin so herum, dass die Facettenaugen gezwungen waren, sie anzusehen … und kam selbst nicht mehr los von der schillernden Iris.
Ein Gefühl der Wärme überflutete Lessa; Zärtlichkeit, Zuneigung, Respekt und Bewunderung drangen auf sie ein.
Nie wieder würde Lessa allein sein, nie würde ihr eine Beschützerin fehlen. Wie schön Lessa war, wie mutig, wie klug und rücksichtsvoll!
Mechanisch strich Lessa die weichen Augenwülste.
Der Drache sah sie wehmütig an. Er war traurig, dass er Lessa Kummer bereitet hatte. Lessa tätschelte beruhigend den feuchten Nacken, der sich ihr vertrauensvoll entgegenstreckte. Der Drache kippte zur Seite und trat sich auf den Flügel. Lessa brachte die Sache wieder in Ordnung. Der Drache begann leise zu summen.
Seine Augen verfolgten jede Bewegung von Lessa. Und dann ließ er sie wissen, dass er Hunger hatte.
»Du bekommst gleich etwas zu fressen«, versicherte Lessa.
Sie konnte nicht begreifen, was geschehen war.
Mit einemmal gehörten all ihre Gefühle diesem Drachenkind. Ramoth sah Lessa in die Augen und wiederholte, wie hungrig sie sei. Schließlich habe sie eine Ewigkeit in diesem finsteren Gefängnis zubringen müssen.
Lessa fragte sich, woher sie den Namen der Drachenkönigin wusste. Ramoth erwiderte, das sei völlig natürlich, und dann befand sich Lessa wieder im Bann der schillernden großen Augen. Ohne auf die Bronzedrachen zu achten, die ihre Felsen verlassen hatten, ohne ihren Reitern auch nur einen Blick gönnen, streichelte Lessa den Kopf des schönsten Geschöpfes von Pern.
Sie spürte schwach, dass die Zukunft auch Leid bringen wurde, aber im Augenblick achtete sie nicht darauf.
Sie, Lessa von Pern, durfte für immer die goldene Drachenkönigin Ramoth betreuen.