Anne McCaffrey
& Margaret Ball
Acorna
Einhornmädchen vom anderen Stern
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Dieter Schmidt
GOLDMANN
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997
unter dem Titel »Acorna – The Unicorn Girl«
bei HarperPrism, New York
Deutsche Erstveröffentlichung 4/99
Copyright © der Originalausgabe 1997 by
Big Entertainment, Inc. New York
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagillustration: Agt. Schlück/Cremonini Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 24853
Redaktion: Marie-Luise Bezzenberger
V B. • Herstellung: Peter Papenbrok
Printed in Germany
ISBN 3-442-24853-1
Drei rauhbeinige Erzsucher staunen nicht schlecht, als sie mitten im Asteroidengürtel auf eine Fluchtkapsel stoßen, in der sich ein kleines Mädchen befindet. Niemand weiß, woher das Kind stammt, auf dessen Stirn ein kleines Horn wächst. Sie nennen das Findelkind Acorna. Bald haben es übereifrige Bürokraten und ehrgeizige Wissenschaftler auf das Mädchen abgesehen. Daher flüchtet das ungleiche Quartett auf den Banditenplaneten Kezdet. Doch Kezdet birgt ein düsteres Geheimnis: Die Grundlage für den Wohlstand des Planeten bilden ganze Armeen von Kindern, die Sklavenarbeit in den Fabriken und Minen leisten müssen. Acorna gerät unversehens in höchste Gefahr, als der »Rattenfänger«, wie der Herr dieser Sklaven genannt wird, auf sie aufmerksam wird. Denn ihr Horn verspricht Reichtum und Macht…
Anne McCaffrey wurde in Massachusetts geboren und veröffentlichte 1954 ihren ersten Science-fiction-Roman. Der große Durchbruch gelang ihr Ende der 60er Jahre, als sie ihre berühmte »Drachenreiter «-Saga begann. In den über 40 Jahren ihrer Karriere hat sie viele wertere Zyklen und Einzelromane veröffentlicht und wurde mit den wichtigsten Preisen des Genres ausgezeichnet. Anne McCaffrey gilt als eine der besten Science-fiction-Autorinnen der Welt und lebt heute in Irland.
Margaret Ball hat unter dem Namen Catherine Lyndell mehrere sehr erfolgreiche historische Romane geschrieben, bevor sie sich Anfang der 90er der Fantasy zuwandte. Neben ihren Solo-Romanen hat sie gemeinsam mit Anne McCaffrey mehrere Science-fiction-Romane verfaßt.
Vorwort
Das von ihnen verwendete Raum-Zeit-Koordinatensystem hat keinerlei Bezug zur Erde, unserer Sonne, der Milchstraße oder irgendeinem anderen Referenzpunkt, dessen wir uns bedienen könnten, um uns zurechtzufinden. Und in jedem von uns verwendeten Koordinatensystem liegen sie so weit außerhalb der Kartengrenze, daß niemand jemals erwogen hat dorthin zu gelangen, nicht einmal mit dem Protonenantrieb. Sagen wir also einfach, daß sie sich irgendwo jenseits von Nirgendwo und diesseits von Hier befanden, als ihre Zeit abgelaufen war und ihnen der Raum zu eng wurde, und was als Vergnügungsschiff auf die Reise gegangen war, sich in eine Todeszelle verwandelte. Sie sind in vielerlei Hinsicht wie wir, ausgenommen dem Erscheinungsbild. Sie wollten nicht sterben, wenn sie es irgend vermeiden konnten; wenn ihnen zu leben nicht freistand, dann wollten sie zumindest in Würde und Frieden entschlafen statt in einer Khlevii-Folterkammer; und sie hätten mit Freuden ihr Leben, ihre Würde und alles andere geopfert, um ihr Junges zu retten, das nicht einmal wußte, was ihnen bevorstand.
Und sie hatten Zeit zu reden; eine Gnadenfrist, die sich auf mehrere Stunden unserer Zeitrechnung belief, während derer das Khlevii-Schiff zu dem kleinen Kreuzer aufschloß, der keinen Ort mehr hatte, an den er fliehen konnte.
»Wir könnten anbieten, uns zu ergeben, wenn sie dafür sie verschonen«, sagte sie, das Netz betrachtend, wo ihr Junges zusammengerollt schlief. Es war eine Gnade, daß sie so fest schlief; sie sprach schon gut genug, daß sie Schwierigkeiten gehabt hätten, die Bedeutung ihrer Worte vor ihr zu verbergen, wenn sie wach gewesen wäre.
»Sie akzeptieren keine Bedingungen«, erwiderte er. »Das haben sie noch nie getan.«
»Warum hassen sie uns so?«
»Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich hassen«, entgegnete er.
»Niemand weiß, was sie fühlen. Sie sind nicht wie wir, und wir können ihnen nicht unsere Gefühle zuschreiben. Wir wissen lediglich, was sie tun.«
Und sie verstummten beide eine Weile, nicht willens, davon zu sprechen, was die Khlevii Gefangenen anderer Rassen antaten. Keiner hatte jemals eine Gefangennahme durch die Khlevii überlebt. Aber die Bilder dessen, was nach der Gefangennahme geschah, wurden von den Khlevii ausgestrahlt, in voller Drei-D-Wiedergabe, mit Ton und Farbe.
War es ein kalkulierter Schachzug, um Schrecken zu verbreiten, oder schlicht ein Ausdruck ihres Triumphes, so wie Angehörige einer menschenähnlicheren Rasse die Flagge des Feindes oder gekaperte Schiffe zur Schau stellen mochten?
Niemand wußte es, weil die gleichen Dinge auch mit den Diplomatlinguisten geschehen waren, die im Zeichen des Friedens losgezogen waren, um einen Vertrag mit den Khlevii auszuhandeln.
»Grausam…« hauchte sie nach einer langen Weile, in der sie ihr schlafendes Kind betrachtete.
»Ihre einzige Gnade«, meinte er, »ist, daß sie uns bereits haben wissen lassen, daß wir keinerlei Gnade erwarten dürfen.
Uns wird das aber nicht passieren, weil wir nicht mehr am Leben sein werden, wenn sie hier eintreffen.«
Seit der dritten Ausstrahlung von Gefangenenfolterungen der Khlevii, kurz nach dem, was die Geschichtsschreibung als die Khlevii-Invasion bezeichnen mochte, war kein Schiff ihres Volkes mehr ohne gewisse unerläßliche Versorgungsgüter unterwegs. Die einzigen danach noch gemachten Gefangenen waren jene, die es außerhalb eines Schiffes erwischte oder die keine Zeit mehr hatten, diese Vorräte zu benutzen. Den anderen konnten Schmerzen längst nichts mehr anhaben, wenn die Khlevii zu ihren Leichnamen gelangten.
»Aber ich mag nicht gehen, ohne ihnen wenigstens einen Schlag zu versetzen«, fuhr er fort, »deshalb habe ich gewisse Modifikationen an unseren Triebwerken vorgenommen. Es bringt eben einige Privilegien mit sich, Leiter der Waffenforschung zu sein; unser System ist so brandneu entwickelt, daß man selbst die Flotte noch nicht damit ausgerüstet hat.«
Seine Hände waren nicht ganz so gelenkig wie unsere. Aber die Finger funktionierten gut genug, um die Befehle einzutippen, welche diese Modifikationen aktivieren würden; Kommandos, die zu gefährlich waren, um mit dem üblicherweise sprachgesteuerten Kontrollsystem aktiviert zu werden.
»Wenn sich irgend etwas mit einer gleich großen oder größeren Masse als unserer bis auf weniger als diesen Radius nähert«, erklärte er ihr, wobei er auf die leuchtende Sphäre deutete, die ihr Schiff jetzt im Anzeigefeld umgab, »wird sich der dimensionale Raum um beide Schiffe herum verzerren, umwandeln und zersetzen, bis sämtliche Materie im Innern dieser Sphäre auf einen einzigen Punkt komprimiert ist. Sie werden nie erfahren, was mit uns oder ihrem eigenen Kaperfahrzeug passiert ist.« Er kniff die Lippen zusammen.
»Wir haben gelernt, daß sie den Tod nicht fürchten; vielleicht wird ihnen ein Mysterium etwas mehr Angst einjagen.«
»Was geschieht mit dem Raum um uns herum, wenn der Kompressionseffekt ausgelöst wird?«
»Niemand weiß es. Das ist ja keine Sache, die man auf einer Planetenoberfläche oder von einem nahen Beobachtungsposten aus erproben wollte. Wir wissen nur, daß alles, was auch immer innerhalb der Sphäre existiert, vernichtet wird, als ob es nie dagewesen wäre.«
Sie sagte nichts, schaute aber das Baby an. Die Pupillen ihrer Augen verengten sich zu vertikalen Schlitzen.
Er verstand ihren Kummer. »Es wird ihr nicht weh tun«, meinte er sanft. »Wir werden das Abaanye jetzt nehmen und ihr etwas mit dem Fläschchen geben. Ich werde sie aufwecken müssen, um sie zu füttern. Aber sie wird hinterher einschlafen, und wir auch. Mehr ist es nicht, weißt du: ein Einschlafen.«
»Es ist nicht wegen uns«, sagte sie, was eine Lüge war, aber eine barmherzige. »Aber sie fängt doch gerade erst an zu leben. Können wir ihr nicht irgendwie eine Chance geben?
Wenn wir sie in einer Überlebenskapsel ausstoßen würden – «
»Wenn wir es jetzt täten, würde man sie sehen und abfangen«, entgegnete er. »Möchtest du dir vorstellen, was dann geschehen würde?«
»Dann tu es, wenn das Schiff explodiert!« schrie sie auf. »Tu es, wenn wir alle sterben! Kannst du diese Kontrollen nicht so programmieren, daß die Kapsel ausgestoßen wird, kurz bevor sie den Radius erreichen, so daß sie keine Gelegenheit mehr haben, den Kurs zu ändern und die Kleine zu holen?«
»Wozu? Damit sie ihre letzten Stunden allein und verängstigt in einer Überlebenskapsel verbringen kann? Besser, sie hier in deinen Armen einschlafen und nie wieder aufwachen lassen.«
»Gib ihr genug, um sie einschlafen zu lassen, einverstanden«, beschwor sie ihn. Sie konnte beinahe fühlen, wie ihr Verstand sich schärfte, in diesen letzten Augenblicken. »Sorg dafür, daß sie mehr Stunden schläft, als die Kapsel Luft hat. Wenn sie nur alt genug wäre, um… nun, sie ist es nicht, das läßt sich nicht ändern. Wenn die Luft zur Neige geht, wird sie sterben, ohne aufzuwachen. Aber jemand von unseren Leuten könnte sie vorher finden. Man könnte unsere letzten Notrufe gehört haben. Man könnte nach uns suchen. Gönne ihr diese Chance!«
Sie hielt das Baby und flößte ihm das bittere, um es genießbar zu machen, mit gesüßter Milch vermengte Abaanye ein und wiegte es in den Armen und küßte das Gesicht und die Hände und den weichen Bauch und die kleinen strampelnden Füße, bis das Strampeln allmählich aufhörte und das Baby noch ein letztes Mal gluckste und tief ein- und ausatmete und dann ganz schlaff und kaum noch atmend in den Armen seiner Mutter lag.
»Mußt du sie jetzt schon in die Kapsel legen?« weinte sie, als er sich über sie beugte. »Laß mich sie noch ein bißchen länger halten – nur ein klein bißchen länger.«
»Ich werde das Abaanye nicht nehmen, bevor ich sie nicht sicher verstaut weiß«, drohte er. »Ich habe das Schiff so programmiert, daß es die Kapsel so kurz vor dem Detonationszeitpunkt auswirft, wie ich es riskieren kann.«
Eigentlich zu kurz, dachte er; die Kapsel würde sich fast mit Sicherheit im Innern des Radius befinden, wenn die Khlevii näher kamen, und somit bei der explosiven Transformation des lokalen Raums gemeinsam mit ihnen vernichtet werden. Aber es gab keine Veranlassung, ihr das zu erzählen. Er würde sie in dem Glauben das Abaanye trinken und einschlummern lassen, daß ihr Säugling diese eine Überlebenschance besäße.
Sie zwang ihre Pupillen, sich zu einem Ausdruck ruhiger Zufriedenheit zu weiten, während er die Kapsel schloß und bereitmachte, auf Befehl ausgestoßen werden zu können.
»Ist alles fertig?« fragte sie, als er aufhörte.
»Ja.«
Sie brachte ein Lächeln zustande und reichte ihm eine Röhre mit funkelnd roter Flüssigkeit. »Ich habe uns ein ganz besonderes Getränk zubereitet«, erläuterte sie. »Zum größten Teil ist es der gleiche Jahrgang wie jener Wein, den wir am Tag unseres Treueversprechens getrunken haben.«
Er liebte sie in diesem Augenblick mehr, so schien es ihm, als er es jemals zuvor in all den Tagen getan hatte, als sie noch glaubten, viele Jahre eines gemeinsamen Lebens vor sich zu haben.
»Dann laß uns dieses Treuegelübde erneuern«, sagte er.
Eins
Anfangs nahm Gill an, es wäre lediglich ein weiterer Brocken Weltraummüll, der beim Drehen um die eigene Achse aufblinkte und helle Blitze reflektierten Lichtes dort hinabschickte, wo sie die Festmachertrosse um AS-64-B1.3
herumlegten. Aber irgend etwas damit schien ihm falsch zu sein, und so brachte er die Sache zur Sprache, als sie wieder zurück im Innern der Khedive waren.
»Das Ding ist zu hell, als daß es allzu lange im Weltraum gewesen sein könnte«, stellte Rafik klar. Seine schlanken braunen Finger tanzten über die Konsole vor ihm; er las ein halbes Dutzend Schirme gleichzeitig ab und übersetzte ihre leuchtenden, vielfarbigen Linien in Sprachkommandos an das externe Sensorensystem.
»Wie meinst du das, zu hell?« wollte Gill wissen. »Sterne sind hell, und die meisten von ihnen haben schon ein gehöriges Alter auf dem Buckel.«
Rafiks schwarze Brauen hoben sich, und er nickte Calum zu.
»Aber die Sensoren berichten uns, daß es Metall ist, und zu glatt«, sagte Calum. »Wie üblich denkst du mit dem Wikingervorfahren-Teil dessen, was wir lachhafterweise als dein Gehirn bezeichnen, Declan Giloglie der Dritte. Wäre es nicht von kleineren Kollisionen vernarbt, wenn es sich mehr als ein paar Stunden in diesem Asteroidengürtel befunden hätte? Und wenn es nicht länger als ein paar Stunden in diesem Teil des Weltraums gewesen ist, wo ist es dann hergekommen?«
»Rätsel über Rätsel also? Ich werde es dir überlassen, sie zu lösen«, meinte Gill gutgelaunt. »Ich bin ja nur ein einfacher Metallurgie-Ingenieur, ein schwielenhändiger Sohn der Scholle.«
»Wohl eher ein Sohn des Asteroidenregoliths«, brachte Rafik vor. »Nicht daß dieser spezielle Asteroid viel bietet; wir werden die Oberfläche mit dem Schrämbohrer aufbrechen müssen, bevor es irgendeinen Sinn macht, den Magnetrechen hinabzulassen… Ah! Hab es mit der Ortung erfaßt.« Eine ovale Form, an einer Seite regelmäßig eingekerbt, tauchte auf dem Zentralschirm auf. »Nun, was können uns die Sensoren über dieses kleine Rätsel verraten?«
»Es sieht aus wie eine Erbsenschote«, sagte Gill.
»Das tut es«, pflichtete ihm Calum bei. »Die Frage ist, welche Art von Erbsen, und wollen wir sie ernten oder sie einfach unbehelligt ihres Wegs ziehen lassen? Es gab doch in jüngster Zeit keine diplomatischen Meinungsverschiedenheiten in diesem Sektor, oder?«
»Keine, die das Auslegen von Minen rechtfertigen würden«, antwortete Gill, »und das dort ähnelt keiner Raummine, die ich jemals gesehen habe. Außerdem, nur ein Idiot würde eine Raummine freischwebend in einen Asteroidengürtel hineinschicken, wo niemand vorhersagen kann, was sie zünden könnte und wessen Seite dabei den meisten Schaden nehmen würde.«
»Große Intelligenz«, murmelte Rafik, »ist nicht zwangsläufig ein Attribut derer, die Diplomatie mit anderen Mitteln fortsetzen… Abtastung abschließen«, befahl er der Konsole.
»Alle Bandbreiten… so, so. Interessant.«
»Was?«
»Sofern ich mich nicht irre…« Rafik hielt inne. »Im Namen der Drei Propheten! Ich muß mich irren. Es ist nicht groß genug… und es gibt keinen planmäßigen Verkehr durch diesen Sektor… Calum, was hältst du von diesen Sensoranzeigen?«
Calum beugte sich über die Schalttafel. Seine rotblonden Augenwimpern blinzelten mehrere Male rasch, während er die wechselnden Farben auf dem Display in sich aufnahm und interpretierte. »Du irrst dich nicht«, bestätigte er.
»Würdet ihr zwei die großartige Erkenntnis freundlicherweise mit mir teilen?« forderte Gill.
Calum straffte sich und sah zu Gill auf. »Deine Erbsen«, erläuterte er, »sind lebendig. Und in Anbetracht der Größe der Kapsel – zu klein für irgendein wiederaufbereitungsfähiges Lebenserhaltungssystem – kann das Signal, das sie aussendet, nur ein Notruf sein, obwohl es keinem Code gleicht, den ich jemals zuvor gehört habe.«
»Können wir sie einfangen?«
»Wir werden es müssen, nicht wahr? Laßt uns hoffen – ah, gut. Ich erkenne die Legierung nicht, aber sie ist definitiv eisenhaltig. Die Magnetattraktoren sollten in der Lage sein anzukoppeln – vorsichtig, jetzt«, ermahnte Rafik die Maschinerie, die er gerade in Gang setzte, »wir wollen doch nicht dagegenstoßen, nicht wahr? Inhalt zerbrechlich. Nicht stürzen, und all das… sehr schön«, murmelte er, als die Kapsel in einem leeren Frachthangar zur Ruhe kam.
»Gratulierst du deinen zarten Händen?« fragte Calum sarkastisch.
»Dem Schiff, mein Freund, der Khedive. Sie hat mit dem Ernten unserer Erbsenschote eine ordentliche, behutsame Arbeit abgeliefert; bringen wir sie jetzt herein und öffnen sie.«
Es gab keinerlei Identifizierungsmarkierungen auf der
»Erbsenschote«, die einer von ihnen lesen konnte, nur eine Reihe von langen Schnörkellinien mochte, mutmaßte Calum, irgendeine Art außerirdischer Schrift darstellen.
»Außerirdisch natürlich«, murmelte Rafik. »All die Generationen der Expansion, all diese kartographierten Sterne und besiedelten Planeten, und ausgerechnet wir sollen die ersten sein, die eine intelligente außerirdische Rasse entdecken… das kann ich nicht glauben. Es ist Verzierung, oder es ist eine Schriftsprache, die zufällig keiner von uns kennt, was ja durchaus möglich sein kann, wie ihr mir wohl zustimmen werdet?«
»Durchaus«, stimmte Calum zu, ohne jegliches Echo von Rafiks Ironie in seiner Stimme. »Aber es ist nicht Kyrillisch oder Neugriechisch oder Romaisch oder TriLat oder irgend etwas anderes, das ich benennen kann… also was ist es?«
»Vielleicht«, schlug Rafik vor, »verraten es uns die Erbsen.«
Er glitt mit zarten Fingern über die Vertiefungen der Gravur und die bogenförmigen Konturen der Kapsel. Hermetisch versiegelt, groß genug, um einen ausgewachsenen Menschenkörper zu fassen, hätte es auch ein Sarg statt eines Lebenserhaltungsmoduls sein können… aber die Schiffssensoren hatten den Notruf aufgefangen und die Lebenszeichen im Innern der Schote. Und der Öffnungsmechanismus, als er ihn fand, war ebenso unkompliziert und elegant wie der Rest des Designs; es galt lediglich die ersten drei Finger jeder Hand auf die in zwei Dreiergruppen angeordneten ovalen Vertiefungen in der Mitte der Kapsel zu legen.
»Warte mal«, warf Calum ein. »Wir sollten besser die Raumanzüge anlegen und es in der Luftschleuse öffnen. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, welche Art Atmosphäre dieses Ding atmet.«
Gill runzelte die Stirn: »Wir könnten es töten, wenn wir es aufmachen. Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, was dort drinnen ist?«
»Nicht ohne es zu öffnen«, erwiderte Calum lebhaft. »Sieh mal, Gill, was auch immer dort drin ist, mag ohnehin nicht lebendig sein – und falls doch, wird es mit Sicherheit nicht ewig in einer hermetisch versiegelten Umgebung überleben. Es wird es darauf ankommen lassen müssen.«
Die Männer schauten einander an, zuckten mit den Achseln und legten ihre Arbeitsausrüstung an, bevor sie sich und die Kapsel in die Luftschleuse bewegten.
»Nun, Calum«, sagte Rafik mit einer seltsam erstickten Stimme, Sekunden nachdem der Deckel aufgeschwungen war,
»du hattest beinahe recht, scheint es. Kein erwachsener Mensch, jedenfalls.«
Calum und Gill beugten sich über die Kapsel, um das schlafende Junge zu inspizieren, das sichtbar geworden war, als sie sich geöffnet hatte.
»Welche Spezies ist es?« fragte Gill.
»Sie ist ein süßes kleines Ding, nicht wahr?« meinte Gill in einem solch rührseligen Ton, daß Rafik und Calum ihn mit einem befremdeten Blick bedachten.
»Wie bist du auf das Geschlecht gekommen?« wollte Rafik wissen.
»Sie sieht eben weiblich aus!«
Sie pflichteten ihm bei, daß die kleine Kreatur auch auf sie den gleichen Eindruck machte, so wie sie auf ihrer Seite lag, eine Hand zu einer Faust geballt und in einer ziemlich vertrauten Geste des Trostes an ihren Mund gepreßt. Ein Flaum silbrigen Haares ringelte sich auf ihre Stirn herab und kräuselte sich zu den Schulterblättern hinunter, das bleiche, zarte Gesicht halb verdeckend.
Noch während sie sie beobachteten, rührte sie sich, öffnete die Augen und versuchte sich schlaftrunken aufzusetzen.
»Avvvi«, jammerte sie. »Avvvi!«
»Wir machen dem armen kleinen Ding angst«, äußerte sich Gill besorgt. »In Ordnung, augenscheinlich ist sie ein Sauerstoffatmer wie wir, steigen wir also aus den Anzügen und bringen wir sie ins Schiff, damit sie sehen kann, daß wir keine Metallungeheuer sind.«
Die Kapsel und ihren Inhalt ins Schiff zurückzuschaffen war eine umständliche Angelegenheit. Das »arme kleine Ding«
jammerte jedesmal mitleiderregend, wenn sie in der Kapsel herumgerüttelt wurde.
»Armer Wurm!« rief Gill aus, als sie sie wieder absetzten.
Die Bewegung der Kapsel hatte ihr die silbrigen Locken aus der Stirn geschoben und eine mehr als drei Zentimeter große Beule in der Mitte ihrer Stirn enthüllt, auf halbem Wege zwischen dem Haaransatz und den silbernen Augenbrauen.
»Wie ist das denn passiert? Dieses Ding ist ziemlich gut gepolstert, und Rafik hat es so vorsichtig in den Hangar gezogen wie einen Korb mit rohen Eiern, und nicht eines davon wäre zerbrochen.«
»Ich glaube, es ist angeboren«, antwortete Rafik. »Und es ist nicht die einzige Mißbildung. Werft mal einen gründlichen Blick auf ihre Hände und Füße.«
Jetzt, wo er ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte, sahen die beiden anderen, daß die Finger der Hände steif waren, da ihnen eines jener Gelenke fehlte, das ihren eigenen Händen solche Flexibilität verlieh. Und die kleinen nackten Füße endeten in nur zwei Zehen, größer und dicker als normale Zehen, und sie standen in einem merkwürdigen Winkel zueinander.
»Avvvi, Avvvi!« forderte das Junge lauter. Ihre Augen sahen seltsam aus – wechselten beinahe die Form – aber sie weinte nicht.
»Vielleicht ist es gar keine Mißbildung«, meinte Calum.
»Immer noch auf der Suche nach deinen intelligenten Außerirdischen?« neckte Rafik.
»Warum nicht? Sie ist körperlich verschieden von uns, wir erkennen die Schrift auf der Kapsel nicht, und kann mir einer von euch verraten, was ein ›Avvi‹ ist?«
Gill bückte sich und hob die Kleine aus der Lebenserhaltungskapsel. Sie wirkte wie eine zerbrechliche Puppe zwischen seinen großen Händen, und sie kreischte vor Entsetzen auf, als er sie auf Schulterhöhe hinaufschwang, griff dann nach seinem gekräuselten roten Bart und klammerte sich daran fest, als ob es um ihr Leben ginge.
»Das liegt doch auf der Hand«, antwortete er und rieb den Rücken des Kindes mit einer großen Hand. »Aber, aber, Acushla, du bist hier in Sicherheit, ich werde dich nicht loslassen… Welche Sprache auch immer es sein mag«, fuhr er fort, »›Avvi‹ muß ihr Wort für ›Mama‹ sein.« Seine blauen Augen wanderten von der Kapsel zu Rafik und Calum. »Und in Abwesenheit von ›Avvi‹, meine Herren«, sagte er, »scheint es, daß wir gefordert sind.«
Sobald sie herausgefunden hatte, daß Gills Bart weich war und ihr im Gesicht kitzelte und daß seine großen Hände behutsam waren, wurde sie in seinen Armen ruhiger. In der Annahme, daß sie vom wer weiß wie langen Aufenthalt in der Kapsel zumindest durstig sein mochte, wagten sie das Experiment, ihr Wasser anzubieten. Sie hatte Zähne. Der Becher würde für immer deren Eindrücke auf seinem Rand tragen. Sie zog beim ersten Kosten des Wassers eine Grimasse, zumindest behauptete Gill, daß es eine gewesen wäre, aber sie war zu ausgetrocknet, um es nicht anzunehmen. Fleisch spuckte sie sofort wieder aus, und sie war wenig begeistert von Crackern und Brot. Beunruhigt, daß sie ihre eigenen Nahrungsmittel womöglich nicht vertrug, eilte Calum in die Hydroponikabteilung des Lebenserhaltungsmoduls hinab und raffte eine Auswahl von blattreichem Gemüse zusammen. Sie schnappte sich gierig den Kopfsalat und stopfte ihn in den Mund, langte nach der Artischocke, die sie genüßlicher knabberte, bevor sie mit der Karotte und dem Rettich weitermachte. Als sie genug zu essen gehabt hatte, wand sie sich aus Gills Armen und watschelte davon – geradewegs zum nächsten interessanten Instrumentenbord, wo sie einen Alarmmelder losplärren ließ, bevor Gill sie aus dem Gefahrenbereich wegriß und Calum ihre Fehlschaltung korrigierte.
Sie sah verängstigt aus, die Pupillenschlitze in ihren silberfarbenen Augen zu einem Nichts geschlossen und ihr kleiner Körper stocksteif. Sie brabbelte ihnen etwas Unverständliches zu.
»Nein, Schätzchen, nein«, tadelte Gill sie mit hochgerecktem Finger. »Verstehst du mich? Nicht anfassen.« Und er griff nach vorn, berührte fast die Schalttafel und zuckte mit seiner Hand zurück, mimte Schmerzen und steckte seine Finger in den Mund, pustete dann auf sie.
Die Schlitze in ihren Augen weiteten sich, und sie sagte etwas mit einer fragenden Betonung.
»Nein!« wiederholte Gill, und sie nickte, legte beide Hände hinter ihren Rücken.
»Ah, sie ist ein mächtig intelligentes Würmchen, das ist sie«, kommentierte Calum beifällig und lächelte, als er ihr federweiches Haar streichelte.
»Sollten wir ihr das Klo zeigen, was meint ihr?« fragte Rafik und betrachtete ihre Unterleibsgegend, die mit einem leichten Fell bedeckt war.
»Sie besitzt nicht die Ausstattung, um unsere Toilette zu benutzen«, entgegnete Gill, »außer, sie ist ein Er, und er versteckt, was er hat.« Gill begann seinen Bart zu befingern, was bedeutete, daß er nachdachte. »Sie ißt Gemüse wie ein grasendes Tier…«
»Sie ist kein Tier!« Calum war zutiefst empört ob dieser Unterstellung.
»Aber sie ißt in der Tat Gemüse. Vielleicht sollten wir ihr die Hydroponikabteilung zeigen. Wir haben doch dort dieses Beet, das wir für den Rettich nutzen…«
»Und du hast ihr gerade den letzten Rettich gegeben…«
Rafiks Tonfall klang halb vorwurfsvoll.
»Sie ist nicht katzen- oder hundeartig«, fuhr Gill fort. »In Wahrheit, was für ein süßes Kind sie auch sein mag, hat sie etwas beinahe… Pferdeartiges an sich.«
Rafik und Calum bestritten diese Einordnung heftig, während sie ziemlich unruhig wurde und sich überall umblickte.
»Sieht für mich so aus, als ob sie so dringend muß, wie es einem jungen Ding nur möglich ist«, fuhr Gill fort. »Wir werden es mit dem Beet versuchen müssen.«
Das taten sie, und sie beugte sich etwas nach vorn und erleichterte sich, wobei sie mit ihren sonderbaren Füßen ordentlich lockere Erde über die Stelle scharrte. Dann sah sie sich um, auf all die grünen und wachsenden Dinge.
»Vielleicht hätten wir die Erde zu ihr bringen sollen«, meinte Gill.
»Jetzt laßt uns sie hier rausbringen«, verkündete Rafik. »Wir haben sie gefüttert und entleert, und vielleicht wird sie jetzt schlafen, so daß wir alle an die Arbeit zurückkehren können, die wir eigentlich tun müßten.«
In der Tat war sie ganz einverstanden damit, zur offenen Kapsel zurückgeführt zu werden, und kroch oben hinein, rollte sich zusammen und schloß ihre Augen. Ihre Atmung verlangsamte sich zu einem Schlafrhythmus. Und sie gingen auf Zehenspitzen zurück an ihre Arbeitsstationen.
Die Debatte darüber jedoch, wie sie künftig mit ihr verfahren sollten, wurde den ganzen Nachmittag hindurch fortgesetzt, gelegentlich durch die Aufgabe unterbrochen, die um den Rumpf des Asteroiden gelegte, große Festmachertrosse neu befestigen und die Schrämmaschine an eine andere Förderstelle bewegen zu müssen. Und AS-64-B1.3 mochte zwar reich an Metallen der Platingruppe sein, aber er ließ sie für seine Reichtümer mit einem höheren Bruchkoeffizienten bezahlen, als sie erwartet hatten. Der Arbeitsablauf wurde infolgedessen immer wieder dadurch behindert, daß umschichtig einer der Schürfer an der Reihe war, sich für einen Außenbordgang anzukleiden, um eine etwas günstigere Stelle für den Schrämbohrer zu suchen, eine Schrämpicke auszutauschen oder den Bohrstaub zu beseitigen.
»Wir sollten diesen Asteroiden Arsch nennen«, schlug Calum nach einem derartigen Abstecher vor.
»Bitte, Calum«, rügte Gill ihn. »Nicht vor dem Kind!«
»Also gut, dann gib eben du ihm einen Namen.« Sie hatten die Angewohnheit, allen Asteroiden, die sie abbauten, zeitweilige Namen zu geben, was etwas persönlicher und leichter zu merken war als die Nummern, die vom stellarkartographischen Dienst vergeben wurden – sofern ihr Schürfobjekt überhaupt eine derartige Nummer erhalten hatte.
Viele ihrer Ziele waren nämlich winzige Chondriten mit nur wenigen Metern Durchmesser, zu unbedeutend, um von irgendeiner nur im Vorbeiflug durchreisenden Mission lokalisiert und benannt worden zu sein, die aber dafür um so müheloser von der Khedive einverleibt, zermalmt und verarbeitet werden konnten. AS-64-B1.3 jedoch war ein großer Asteroid, beinahe zu groß, um selbst mit ihrer längsten Trosse am Schiff festgemacht werden zu können. Und in solchen Fällen wählten sie gern einen Namen, der dieselben Anfangsbuchstaben wie die Kartographiebezeichnung besaß.
»Haselnuß«, warf Gill in die Runde. Ihr unerwarteter Gast war wieder wach geworden, und er fütterte sie gerade mit einem weiteren Artischockenblatt sowie Karotten als Nachtisch.
»Falscher Anfangsbuchstabe.«
»Dann nuscheln wir eben ein wenig: Aselnuß. Ihr werdet mir das verschluckte H doch nachsehen, oder?«
»Wenn es irgendeinen Sinn machen würde. Warum bist du so versessen auf Haselnuß?«
»Weil dieser Brocken uns eine harte Nuß zu knacken gibt!«
prustete Gill los, während Calum eher sauertöpfisch dreinblickte. Als kleinster der drei Männer war er nämlich der einzige, der in voller Weltraummontur ins Innere der Fördermaschine gelangen konnte, und der Staub von AS-64-B1. 3 hatte ihn im Laufe dieser Schicht etwas zu häufig nach draußen gezwungen, als daß er dem noch viel Belustigung abgewinnen konnte.
»Das gefällt mir«, meinte hingegen Rafik. »Also bleibt es bei Aselnuß. Und wenn du ohnehin schon deinen Spaß mit Worten hast, Gill, welchen Namen sollen wir der Kleinen geben? Wir können sie ja nicht ewig bloß ›das Kind‹ nennen.«
»Nicht unser Problem«, sagte Calum. »Wir werden sie doch schon in Kürze auf der Basis abgeben, nicht wahr?«
Er blickte in die plötzlich versteinerten Gesichter seiner Kameraden. »Nun, wir können sie wohl kaum hierbehalten.
Was sollen wir auf einem Bergbauschiff mit einem Kind anfangen?«
»Hast du«, fragte Rafik liebenswürdig, »die zu erwartenden Kosten eines Abbruchs unserer Arbeit auf Aselnuß und einer Rückkehr zur Basis mit hohem Delta-V bedacht?«
»Im Augenblick«, fauchte Calum, »wäre ich nur allzu froh, von Aselnuß wegzukommen und es einem anderen Gimpel zu überlassen, sie zu knacken.«
»Und die Khedive mit weniger als halber Ladung zurückbringen?«
Calums fahle Augenlider zuckten, als er sich ausrechnete, was sie in diesem Fall auf der Reise an Gewinn – oder Verlust
– machen würden. Dann zuckte er resigniert mit den Achseln.
»Also gut. Wir haben sie am Hals, bis wir unser Frachtsoll erreicht haben. Aber glaub bloß nicht, daß ich, nur weil ich kleiner bin als du, du Wikingerriese, von Natur aus dazu auserkoren wäre, das Kindermädchen zu spielen.«
»Ach was«, erwiderte Gill mit sichtlich guter Laune, »das Geschöpf kann laufen und ist schon stubenrein, und bald wird sie unsere Sprache aufschnappen – Kinder lernen schnell.
Wieviel Ärger kann ein einziges Krabbelkind schon machen?«
»Nimm das in deine Liste berühmter letzter Worte auf, ja?«
bemerkte Calum in seinem sarkastischsten Tonfall, als sie entdeckten, daß das Krabbelkind gut die Hälfte der Hydroponikvegetation entwurzelt hatte, einschließlich der immens wichtigen Kürbis- und Rhabarberstauden, deren große Blätter einen Großteil der Luftreinigung besorgten.
Rafik nahm Messungen vor, um zu erfahren, wieviel Schaden die Luftqualität tatsächlich genommen hatte. Die Kleine war, nachdem sie zunächst wieder eingeschlafen gewesen war, irgendwann so leise aufgewacht, daß keiner von ihnen ihre Bewegung bemerkt hatte, bis sie wieder hereingeschlendert kam und stolz mit Kohlblättern wedelte. Calum und Gill pflanzten die ausgerupften Gewächse wieder ein, wässerten und verarzten sie in dem Bemühen, so viele wie möglich zu retten. Das Kind hatte augenscheinlich alles ausprobiert und jene Pflanzen ganz ausgerissen, die ihr besonders schmeckten, statt nur ihre mundgroße Bißspur im Blatt oder Stengel zu hinterlassen: Sie hatte alles Schotengemüse gegessen, den Hauptbestandteil von Rafiks Lieblingsnahrung, obwohl es nur halbreif gewesen war. Davon bekam sie anschließend Durchfall, was sie selbst beinahe mehr aufregte, als es die Männer aus der Fassung brachte. Sie verbrachten eine gute Stunde damit, sich zu streiten, welche Dosis ausreichen mochte, um ihre Verdauung wieder zu normalisieren. Das Körpergewicht war der kritische Faktor, daher benutzte Rafik die Erzwaage, um ihr Gewicht zu ermitteln und danach das Pulver zu wiegen. Sie spuckte die erste Dosis wieder aus. Und die zweite Gill mitten ins Gesicht. Die dritte Dosis flößten sie ihr dann erfolgreich ein, indem sie ihre ziemlich hervorstehenden Nasenlöcher zuhielten, so daß sie ihren Mund öffnen mußte, um zu atmen – und dadurch die Medizin hinunterschluckte. Auch diesmal weinte sie nicht, aber der vorwurfsvolle Blick aus ihren silbrigen Augen machte ihnen ein weitaus schlechteres Gewissen, als es Tränen je vermocht hätten.
»Wir können nicht zulassen, daß sie das noch einmal tut«, meinte Gill zu Calum, als sie den Garten fertig wiederbepflanzt hatten. In dem Augenblick stieß Rafik zu ihnen und zeigte ihnen die Ablesung des Atmosphärenmeßgeräts.
»Die Anzeige hätte fallen müssen, statt dessen ist sie geklettert«, erläuterte er sich am Kopf kratzend und klopfte auf das Meßgerät, um zu sehen, ob die Nadel sich bewegte. »Nicht mal ein Hauch von überschüssigem CO2 in unserer Luft, und dabei war es fast an der Zeit für einen gründlichen Luftaustausch.«
»Ich kann mich erinnern, daß meine Mutter mich in einen Laufstall gesetzt hat«, sinnierte Gill, »als ich anfing, in ihren Garten zu krabbeln.«
Sie bauten einen aus Netzen in einer Ecke des Aufenthaltsraums der Khedive, aber sie war daraus schon wieder verschwunden, kaum daß sie ihr den Rücken zugekehrt hatten. Also sperrten sie statt dessen die Hydroponikabteilung mit Netzen ab.
Sie versuchten, Spielzeuge zu finden, die sie bei Laune hielten. Aber Töpfe und Topfdeckel als lärmendes Schlagzeug und ein Sortiment von Schachteln als Bauklötze und leuchtend bunte Tassen und Schüsseln lenkten nicht lange ab. Sie mußte vielmehr ständig jemandem am Rockzipfel hängen, was ihnen das Erledigen ihrer jeweiligen Aufgaben erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.
»Abhängigkeitsübertragung«, urteilte Rafik hochtrabend.
»In meiner Arbeitsplatzbeschreibung war nie die Rede von so was hier«, beschwerte sich Gill mit leiser Stimme, als sie endlich eingeschlafen war, die kleinen Arme schlaff um seinen Hals gelegt. Rafik und Calum halfen, sie ihm so sanft wie möglich abzunehmen.
Sie hielten alle den Atem an, als es ihnen gelang, sie in ihre offene Rettungskapsel zu legen, die zu ihrer allnächtlichen Wiege geworden war.
»Und das ist ein weiterer Punkt«, fuhr Gill fort, immer noch flüsternd, »sie wird stündlich größer. Sie wird nicht mehr allzu lange da hineinpassen. Was zur Hölle ist sie für eine Spezies?«
»Reifer geboren als menschliche Säuglinge«, meinte Rafik.
»Aber ich kann nicht einen einzigen verdammten Hinweis über sie in der Konkordanz oder der Enzyklo finden, nicht einmal bei den Fremdwelten- oder Veterinär-Schlagworten.«
»Hört mal, Jungs. Ich weiß, daß wir Zeit und Treibstoff verschwenden würden und daß wir noch nicht genug Erz gefördert haben, um uns neu ausrüsten zu können, wenn wir zur Basis zurückkehren. Aber haben wir das Recht, sie bei uns hier draußen zu behalten, wenn vielleicht schon jemand auf der Suche nach ihr ist? Und die Basis möglicherweise in der Lage wäre, sich besser um sie zu kümmern?«
Rafik seufzte, und Calum schaute von Gill weg, überall hin, außer auf die schlafende Kleine.
»Erstens«, begann Rafik, ganz wie es seine Art war, um Fakten logisch darzulegen, »wenn jemand nach ihr Ausschau hält, würde er in diesem Raumsektor suchen, nicht bei der Basis. Zweitens sind wir ja übereinstimmend zu der Ansicht gelangt, daß sie einer unbekannten Fremdspezies entstammt, welche Fachkompetenz könnte die Basis also bieten? Es gibt keinerlei Lehrbücher darüber, wie man sich um sie kümmern sollte, und wir sind die einzigen mit handfester Erfahrung. Und zu guter Letzt, wir haben tatsächlich nicht genug Ladung, um wieder aufzutanken. Wir haben aber etwas hier, das wie ein echter Glücksfund aussieht, und ich werde nicht zulassen, daß irgendwelche Piraten ihn uns wegnehmen. Wir haben ja letzte Woche diese Ionenspur geortet, und das könnten sehr gut Amalgamated-Spione sein, die gerade in diesem Augenblick hinter uns herschnüffeln.« Gill knurrte, und Calum verlieh seiner Meinung über die Konkurrenz mit einem verächtlichen Schnauben Ausdruck. »Seht ihr, wir werden sie einfach in unserer Aufgabenverteilung berücksichtigen müssen. Für jeden eine Stunde Babysitten, dann zwei Stunden frei. So bleiben uns zwei Besatzungsmitglieder für die Arbeit…«
»Während eines um den Verstand gebracht wird…«, unkte Gill und erklärte sich dann doch freiwillig bereit, die erste Aufpasserschicht zu übernehmen.
»Neeneenee«, tadelte Rafik seinen Mannschaftskameraden mit einem schlanken Finger, »wenn sie schläft, arbeiten wir alle.«
Erstaunlicherweise funktionierte dieser Plan weitaus besser, als irgendeiner von ihnen es hätte erwarten können. Vor allem lernte die Kleine auf diese Weise nach und nach zu sprechen, was sie und ihren jeweiligen Hüter stets hinlänglich beschäftigt hielt. Sie lernte auch, ein »Nein« zu respektieren und sich über ein »Ja« zu freuen, und pflegte anfangs, wenn sie vom Stillsitzen gelangweilt war, jedes Ding im Tagesraum auf »Ja«
und »Nein« hin abzufragen. Einmal mit »Nein« verbotene Dinge faßte sie nie wieder an. Am dritten Tag war es dann Rafik, der ihr Malstifte und ausgesonderte Computerausdrucke mitbrachte. Er zeigte ihr, wie man ein Schreibgerät halten mußte, und obgleich sie ihre andersartigen Finger nicht so einsetzen konnte wie er, zeichnete sie schon nach kürzester Zeit Linien und Schnörkel und verlangte bei jedem neuen Bild nach Bestätigung.
»Wißt ihr«, äußerte sich Calum, als man ihn aufforderte, ihre Kunstwerke zu bewundern, »das hat große Ähnlichkeit mit dem Zeugs auf ihrem Ei. Mit wieviel geistiger Reife, meint ihr, wurde sie wohl geboren?«
Daraufhin gingen alle drei los, um ihre Malereien mit der Ei-Inschrift zu vergleichen. Aber letztendlich gelangten sie doch zu dem Schluß, daß es purer Zufall war, denn wie hätte ein Kleinkind schon in solch jungem Alter eine Schriftsprache beherrschen können? Daher brachten sie ihr bei, Basic-Lettern zu malen, die Schriftzeichen der interstellaren Standardsprache zu verwenden. Sie versetzte sie alsbald damit in Erstaunen, daß sie ganze Sätze der auf den Computerausdrucken benutzten Programmiersprache kopierte.
»Na ja, sie zeichnet eben das, wovon sie eine Menge sieht.«
Die wirklich große Überraschung erlebten sie, als sie sie zu baden begannen, eine Prozedur, die bis zu einer Stunde dauern konnte.
»Kinder muß man regelmäßig baden. Hygiene«, verkündete Rafik und hielt inne, um ihr grinsend zuzusehen, wie sie im Wasser in der Kombüsenspüle planschte. Zu diesem Zeitpunkt paßte sie dort noch hinein. »So viel weiß sogar ich.«
»So? Bei einem Bordvorrat Wasser, der gerade mal für drei reicht, während wir mit ihr vier sind und sie obendrein eine Menge trinkt, werden wir in punkto Wasserqualität bald tief im Schlamassel stecken«, beschwerte Gill sich griesgrämig.
»Sämtliches Abwasser wird wiederaufbereitet«, erinnerte Calum sie, als die Kleine gerade ihr Gesicht in das Badewasser tauchte und Blasen prustete. Und dann die Blasen trank. »Nein, Süße, nicht das Badewasser trinken. Schmutzig.«
»Eigentlich ist es das gar nicht«, bemerkte Rafik, nachdenklich die klare Flüssigkeit betrachtend, in der ihr Schützling saß.
»Muß es aber. Ich habe sie gründlich eingeseift.« Calum spähte hinein, und tatsächlich konnte er bis auf den Metallboden der Spüle sehen. »Das ist unmöglich. Da müßte Seifenschaum sein, und sie hat sich beim Krabbeln auf dem Fußboden die Knie dreckig gemacht, und schon vorher hat sie sich beim Malen ihre Finger verschmiert. Jetzt ist sie aber ganz sauber.«
»Wartet mal ‘ne Sekunde«, sagte Rafik und ging eines seiner vielen Untersuchungsgeräte holen. Er steckte es ins Badewasser und starrte verblüfft auf die Anzeige. »Dieses Zeug ist einhundert Prozent reines, fremdstofffreies H2O.
Tatsächlich ist es sogar weitaus reiner als das, was ich heute morgen zum Kaffeemachen verwendet habe.«
»Aber ihr habt doch selbst gesehen, wie ich sie eingeseift habe«, setzte sich Calum mit defensiver Stimme zur Wehr.
»Ich habe sie gewaschen, weil sie dreckig war.«
»Was weder sie noch das Wasser jetzt ist.« Rafik tauchte das Wasserprüfgerät erneut ein. »Ich versteh’s nicht.«
Calum bekam einen schelmischen Ausdruck im Gesicht.
»Habt ihr in letzter Zeit mal unsere Luftzusammensetzung gemessen?«
Rafik zog eine Grimasse. »Habe ich in der Tat, ganz wie es zu meinen Pflichten gehört, um diese Tageszeit.«
»Und?« erhob Gill gereizt seine Stimme, als Rafik seine Antwort hinauszögerte und sich statt dessen am Kopf kratzte.
»Nicht eine Spur von überschüssigem Kohlendioxid, dabei müßte es, wo wir doch jetzt zu viert Luft atmen, inzwischen zu wenigstens geringfügig erhöhten Werten gekommen sein. Erst recht, seit wir nicht mehr ganz so viele breitblättrige Pflanzen in der Hydroponikabteilung haben, weil ihr«, er deutete auf sie,
»gerade die besser schmecken als alles andere.«
Nachdenklich betrachteten die drei Männer ihre kleine Schutzbefohlene, die in ihrem kristallklaren Badewasser Blasen prustete und diese unschuldige Beschäftigung sichtlich genoß.
»Da wäre diese Art Hornding in der Mitte ihrer Stirn«, bemerkte Gill. »Es heißt doch, Einhörner könnten Wasser reinigen.«
»Wasser vielleicht«, stimmte Calum zu, da er mit einigen derselben Märchen aufgewachsen war wie Gill, »aber Luft?«
»Wasser?« fragte die Kleine, wobei sie ihren Unterkiefer zu einem Ausdruck senkte, den sie inzwischen als ihre Art zu lächeln identifiziert hatten. »Luft?« fügte sie hinzu, wenngleich das ebenfalls in zwei Silben herauskam: »Lu-fit.«
»Das ist richtig, Kleines, Wasser und Luft. Die zwei Dinge, ohne die sowohl deine als auch unsere Spezies beide nicht leben können«, bestätigte Rafik und seufzte über die Rätsel, vor die das Kind sie stellte.
»Nennen wir sie Una«, schlug Gill plötzlich in die Stille hinein vor.
»Das gefällt mir nicht«, widersprach Rafik und schüttelte den Kopf. »Wir sind bei den As, weißt du, nicht den Us.«
»Acorna?« meldete sich Calum zu Wort. »Schlägt jedenfalls
›Baby‹ und ›Kleines‹ und ›Süße‹.« Er warf Gill einen vorwurfsvollen Blick zu, der seinen Schützling mit etwas anzureden pflegte, das Calum als abscheulichen Euphemismus betrachtete.
»Acorna?« Rafik überlegte. »Besser als Una.« Er griff sich einen Becher und tauchte ihn in das klare Badewasser, aber gerade als er ansetzte, ihn ihr über den Kopf zu gießen, riß Gill ihm den Becher aus der Hand.
»Du bist doch nicht mal Christ«, warf er Rafik vor – und verkündete, als er das Wasser über ihren Kopf goß: »Ich nenne dich Acorna.«
»Doch nicht so, du Dämlack«, protestierte Calum, nahm Rafik den Becher aus der Hand und tauchte ihn nochmals ein.
»Ich taufe dich auf den Namen Acorna. Ich werde dir als Pate zur Seite stehen.«
»Wirst du nicht. Das mache ich.«
»Und was bleibt dann mir?« wollte Rafik wissen. Acorna richtete sich in der Spüle auf, und nur sein rasches Eingreifen bewahrte sie davor, aus der improvisierten Badewanne herauszufallen.
»Das Baby zu halten«, antworteten Gill und Calum unisono.
Calum reichte ihm das Handtuch.
Sie hatten gelernt, sie so gründlich wie möglich abzutrocknen, weil Acorna, sobald sie wieder auf eigenen Füßen stand, dazu neigte, sich wie ein Hund auszuschütteln.
Und es gab ringsherum eine Menge Ausrüstungsgegenstände, die tägliche Duschen nicht gut vertrugen.
Die Khedive hatte Aselnuß geknackt und verdaut und war gerade auf dem Weg nach UK-4-H3.1, einem kleinen LL-Chrondriten, in dem sie eine ausreichend hohe Konzentration wertvoller Metalle vermuteten, daß sie damit das Fördersoll für diesen Ausflug erreichen konnten, als die ersten Bekanntmachungen der Basis sie erreichten.
»Zusammenfassung der befürworteten Anpassungen des Anteilseignerstatus…« Gill starrte finster auf das Lesegerät.
»Warum senden sie uns diesen Müll? Wir sind Bergleute, keine Paragraphenreiter oder Erbsenzähler!«
»Laß mich mal sehen.« Rafik schnippte mit den Fingern in Richtung der Konsole. »Ausdrucken, dreifach!«
»Papierverschwendung«, kommentierte Calum.
»Acorna braucht neues Schmierpapier zum Bemalen«, entgegnete Gill.
»Und wenn das hier das ist, wofür ich es halte«, fügte Rafik hinzu, »werdet ihr zwei es selber lesen und nicht erst warten wollen, bis ich damit durch bin.«
»Was auch immer es sein mag«, bemerkte Gill angewidert, nachdem er einen Blick auf seinen Ausdruck geworfen hatte,
»es ist jedenfalls in genug bürokratisches Kauderwelsch verpackt, daß wir so oder so darauf warten müssen, daß du es uns übersetzt, Rafik.«
»Nicht alles davon«, widersprach Calum gedehnt. »Dieser Paragraph – « er tippte auf seine eigene Kopie des ausgedruckten Textes – »besagt, daß unsere Aktien der
›Mercantile Mining and Exploration‹ jetzt ungefähr das Dreifache von dem wert sind, was sie waren, als wir die Basis verlassen haben.«
Gill pfiff. »Nachrichten wie diese können sie meinetwegen auf jede Art verpacken, die ihnen beliebt!«
»Und dieser Paragraph«, fuhr Calum fort, »besagt, daß sie in nicht stimmberechtigte Aktien umgewandelt wurden.«
»Ist das denn legal? Ach was soll’s, beim dreifachen Geld, wen kümmert’s da? Wir hätten sowieso selbst alle drei zusammen nicht genug Stimmanteile gehabt, um irgend etwas bewegen zu können.«
Calum blinzelte heftig, als er die Bekanntmachung in Zahlen umsetzte, ohne sich die Mühe zu machen, dafür den sprachgesteuerten Rechner zu Rate zu ziehen. »Der Nettowert unserer Aktien ist sogar um einen Faktor von drei Komma fünf gestiegen. Aber wenn wir mit unseren Anteilen jemals als Block gestimmt hätten, hätte unsere Beteiligung an MME sehr wohl ausgereicht, um ein knappes Votum einer firmenpolitischen Entscheidung zu beeinflussen.«
»Ich glaube«, meldete sich Rafik mit einer seltsam erstickten Stimme zu Wort, »daß, wenn ihr zwei aufhört, mit eurem Wechselgeld zu klimpern, und statt dessen die letzte Seite anschaut, auch ihr den eigentlich brisanten Teil dieser Bekanntmachung bemerken werdet. Es scheint, daß MME
übernommen wurde. Von Amalgamated.«
Gill blätterte seinen Papierausdruck durch. »Es heißt hier, daß es eine Fusion ist, keine Übernahme.«
Rafik zuckte mit den Achseln. »Wenn der Tiger eine Fusion mit der Ziege vornimmt, wer von beiden überlebt?«
»Ach was, das ist nichts, worüber wir uns Gedanken machen müßten«, winkte Gill ab. »Wir hatten zum einen ohnehin nicht genug Aktien, als daß sich eine Stimmabgabe gelohnt hätte, Calum. Und zum anderen waren wir, als wir noch Stimmrecht hatten, ja doch nie in der Nähe, wenn eine Aktionärsversammlung stattfand. Obendrein steht hier schwarz auf weiß, daß sich an der Art und Weise, wie der Betrieb geführt wird, nichts ändern wird.«
Rafik zuckte erneut mit den Achseln. »Das sagen sie immer.
Es ist ein todsicheres Zeichen, daß bald Köpfe rollen werden.«
»Daheim auf der Basis? Sicher. Aber das betrifft uns doch nicht.«
»Nicht sofort, nein.«
»Ach hör auf, den Teufel an die Wand zu malen, Rafik. Seit wann willst du eigentlich soviel mehr über die Welt der Hochfinanz und Großkonzerne Bescheid wissen als der Rest von uns? Wie ich schon sagte, sind wir schließlich Bergleute, keine Paragraphenreiter.«
»Mein Onkel Hafiz«, antwortete Rafik todernst, »ist Kaufmann. Er hat mir etliches über diese Dinge erklärt. Die nächste Botschaft dürfte innerhalb von vierundzwanzig bis sechsunddreißig Standardstunden folgen. Sie wird die Änderung des Firmennamens bekanntgeben. Die betriebliche Umstrukturierung und das erste überarbeitete Organigramm werden etwas später erfolgen, aber immer noch lange bevor wir die Basis erreichen – insbesondere, wenn ihr immer noch beabsichtigt, vor unserer Rückkehr noch Ukelei auszubeuten.«
»Ich beginne zu glauben, daß wir UK-4-H3.1 dir zu Ehren, Rafik, in Unke umtaufen sollten«, kommentierte Gill. »Das kannst du unmöglich alles vorhersagen.«
»Abwarten und Tee trinken«, schlug Rafik vor. »Oder, um die Sache spannender zu machen, wie wäre es mit einer kleinen Wette? Ich biete euch eine Quote von – hmm – drei gegen zwei, daß ihr die alte MME nicht wiedererkennen werdet, wenn wir die Khedive wieder nach Hause bringen.«
Calum grinste. »Keine allzu gute Quote, Rafik, für jemanden, der sich des Ausgangs dieser Sache so sicher sein will wie du!«
Rafik schlug seine braunen Augenlider zu einem Ausdruck schamhafter Unschuld nieder, der jedem Tanzmädchen aus den Harems seiner Vorfahren Ehre gemacht hätte. »Mein Onkel Hafiz«, murmelte er, »besaß auch Rennpferde. Er brachte mir bei, niemals einen größeren Einsatz zu wagen als unbedingt nötig.«
»Und selbst wenn sie sich innerbetrieblich reorganisieren«, fuhr Gill fort, »sind wir doch immer noch unabhängige Subunternehmer, keine Festangestellten. Das Ganze wird uns also nicht betreffen.«
»Eingedenk einiger deiner anderen berühmten letzten Worte, Gill«, bemerkte Calum unglücklich, »wünschte ich sehr, daß du das nicht gesagt hättest.«
Die Khedive blieb sehr viel länger im All, als ihr ursprünglicher, bei MME eingereichter Prospektionsplan es vorgesehen hatte. Das lag daran, daß sich Ukelei als beinahe ebenso lukrativ wie Aselnuß herausstellte und sie schon vorher ein größeres Gebiet abgedeckt hatten als ursprünglich geplant.
Da ihr Wasser dank Acorna rein blieb und ihre Luft bemerkenswert frei von CO2, hatten sie es ohnehin nicht besonders eilig.
Acorna sorgte zudem für genug Ablenkung, so daß keiner der drei Männer irgendein Bedürfnis verspürte, sich nach frischer Gesellschaft umzusehen. Zwar behandelten ihre Meinungsverschiedenheiten darüber, wie Acorna großgezogen werden sollte, allmählich nur noch die Frage: »Was sollen wir ihr heute beibringen?« statt heikle körperliche Belange. Aber dennoch fanden ihre Debatten für gewöhnlich weiterhin erst dann statt, wenn sie schlief. Und sie brauchte eine ganze Menge Schlaf, ihre anfänglich eher kurzen Nickerchen wurden im Laufe der Zeit zu mindestens zehnstündigem Tiefschlaf in der Hängematte, die sie ihr als Schlafstatt ersonnen und gefertigt hatten. Einmal eingeschlafen, war sie unempfindlich gegenüber Lärm – ausgenommen das eine Mal, als eine Schubdüse fehlzündete und die Sirene auslöste und sie sekundenschnell hellwach war und bei der ihr zugewiesenen Fluchtkapsel stand. (In deren Innern hatte Rafik ihre ursprüngliche Kapsel untergebracht, »für alle Fälle«, hatte er gemeint, und die anderen hatten beifällig zugestimmt. Da es nur drei Rettungskapseln auf der Khedive gab und Calum der kleinste der drei Bergleute war, würde er sich im Notfall Acornas Kapsel mit ihr teilen.) Deshalb pflegten sie ihre Unterrichtsplanung recht freimütig zu diskutieren, bisweilen auch mit lautstarkem Gebrüll.
Auch die erforderlichen Außenbordaktivitäten wurden in der Regel dann ausgeführt, wenn sie schlief oder sich so in ihre
»Studien« vertieft hatte, daß sie es gar nicht bemerkte, wenn einer von ihnen fort war.
»Wir werden ihr beibringen müssen, sich aus dieser starken Abhängigkeit zu lösen, wißt ihr«, stellte Rafik eines Nachts fest. »Ich meine, wenn wir zur Basis zurückkehren, wird jeder von uns Verpflichtungen haben, die uns voneinander trennen.
Und sie wird lernen müssen, daß auch dann alles in Ordnung ist, wenn sie nur einen von uns um sich hat.«
»Wie sollen wir das anstellen?« wollte Calum wissen.
»Indem wir anfangen, kurze Außenbordgänge zu unternehmen, während sie wach ist, so daß sie uns gehen und wiederkommen sieht. Ich denke, daß sie sich, sobald sie einmal erkannt hat, daß wir tatsächlich zurückkommen, bald daran gewöhnen wird«, erläuterte Rafik, schüttelte anschließend seinen Kopf und warf einen sorgenvollen Blick dorthin, wo sie in ihrer Hängematte sanft hin und her schwang. »Armes Ding.
Bei wer weiß was ihre ganze Familie zu verlieren. Kaum ein Wunder, daß sie uns die ganze Zeit alle auf einem Platz sehen will.«
Sie hatten ihr Unterricht in Basic gegeben, indem sie ihr alles zeigten, was es in der Khedive gab, und es mit dem richtigen Begriff benannten. Anfangs hatte sie mit den entsprechenden Wörtern in ihrer eigenen Sprache geantwortet – jedenfalls nahmen sie an, daß es sich dabei um Übersetzungsversuche handelte. Aber da ihre Laute keinerlei Ähnlichkeit mit irgend etwas aufwiesen, das sie jemals zuvor gehört hatten, und ihre Versuche, diese Töne nachzusprechen, alle kläglich scheiterten, begann sie statt dessen ihr Vokabular zu akzeptieren und zu gebrauchen.
»Um so besser«, sagte Gill.
»Ein Jammer, daß sie dadurch ihre Muttersprache verliert«, meinte hingegen Calum, »aber so jung wie sie ist, bezweifle ich ohnehin, daß sie davon allzuviel beherrschte.«
»Nun, sie wußte auf jeden Fall, wie man… sagt«, wobei Gill es vorzog, das fragliche Wort zu buchstabieren, um Acorna nicht dadurch in Aufregung zu versetzen, daß sie es ausgesprochen hörte.
»Avvi?« gab sie laut zur Antwort. Der Ausdruck erwartungsvoller Hoffnung in Acornas Augen, als sie zur Luftschleuse der Khedive sah, ließ den weichherzigen Gill beinahe in Tränen ausbrechen.
»Sie kann buchstabieren?« rief Rafik aus, den bedeutsamen Aspekt dieses Zwischenfalls erfassend. »Heda, Acornakind, was heißt R-A-F-I-K?«
Von ihrem Kummer abgelenkt, zeigte sie, wie es ihre Gewohnheit war, mit der ganzen Hand und geschlossenen Fingern auf Rafik und sagte seinen Namen.
»Und G-I-L-L?«
»Gill.« Sie machte dieses seltsame Schnaubgeräusch durch ihre Nasenlöcher, das die Männer als ihr Lachen identifiziert hatten.
»C-A-L-U-M?« fragte die letzte ihrer Vaterfiguren.
»Calum!« Jetzt trommelte sie mit ihren flachen Händen auf den Tisch und ihren Füßen auf den Boden, ihr Ausdruck höchsten Glücks.
Ein Gutteil dieses Tagesabschnittes verging mit einer Buchstabierlektion. Bis zum Abend hatten sie die Gewißheit, daß sie sich das vollständige Alphabet einverleibt hatte, und mit nur ein wenig Hilfe von ihren Freunden begann sie bereits niederzuschreiben, was sie buchstabierte.
»In einer Zehn-Punkt-Schrift, meine Herren, wenn Sie den Beweis bitte selbst in Augenschein nehmen wollen«, deklamierte Calum triumphierend, eines der Blätter hochhaltend, das sie mit ihrer gestochen sauberen Schrift bedeckt hatte.
»Was ist daran so verwunderlich?« fragte Rafik und drehte das Blatt auf die andere Seite, wo der Computer seinen Text auch in Zehn-Punkt-Schrift ausgedruckt hatte.
»Wieviel hat sie aufgeschnappt?«
»Verdammt«, fluchte Acorna sehr deutlich, als dem Schreibwerkzeug, das sie gerade verwendete, die Tinte ausging.
»Ich würde sagen, mehr als genug, Kameraden«, antwortete Gill, »und wer von nun an noch irgendwelche schmutzigen Reden führt, wird für jede geäußerte Silbe seines losen Mundwerks einen halben Credit in diese Schachtel bezahlen.«
Er nahm eine leere Diskettenbox in die Hand und begann das Wort SCHANDMAUL draufzuschreiben, bis Acorna es las und die Aufschrift nachsprach. Daraufhin wischte er die Beschriftung eilig ab und schrieb statt dessen GELDSTRAFE.
»Was ist ›Geldstrafe‹?« fragte Acorna.
Das war der Anlaß, ihr zu zeigen, wie man auf die Lexikonprogramme der Khedive zugriff. Sie hatte zunächst einige Schwierigkeiten damit, ihre sonderbar geformten Finger dazu zu bringen, genau die Tasten zu treffen, die sie wollte, bis Rafik schließlich eine Tastatur mit auf ihre manuelle Geschicklichkeit zugeschnittenen Tastenabständen zusammenbastelte. Eine Zeitlang war sie so damit beschäftigt, diese neue Fertigkeit zu verbessern, daß die Bergleute ungestört mit ihrer beruflichen Arbeit weitermachen konnten und neue Mengen Erz abgebaut, veredelt und in den Drohnen-Frachtkapseln verstaut wurden, mit denen die Außenseite der Khedive wie mit Schmuckgirlanden umsäumt war. Drei Tage später jedoch wirbelte sie wieder alles völlig durcheinander.
»Frachtkapseln sind zu beinahe zwei Dritteln voll. Was…
wenn sie zu drei Dritteln voll sind?«
»Was meinst du?« fragte Rafik, sie anblinzelnd.
»Ich glaube, sie versucht zu fragen, was wir danach tun werden. Wir bringen die zu drei Drittel vollen Kapseln zurück zur Basis, werden für sie bezahlt, rüsten das Schiff neu aus und kehren hierher zurück, um mehr zu holen«, erwiderte Calum, wobei er versuchte, mit unbekümmerter Stimme zu sprechen.
»Aber Ukelei ist mehr als drei Drittel Frachtkapseln.«
»Nun, weißt du, das Eisen und Nickel schicken wir mit Hilfe des Magnetkatapults auf den Weg. Als schiffseigene Fracht befördern wir nur die Metalle, die zu wertvoll sind, um sie per Drohne zu verschicken«, erklärte Calum, als ob er tatsächlich erwartete, daß Acorna ihn verstehen würde.
»Platin ist wert-voll.«
»Das stimmt.«
»Dann ist Palladium und Rhodium und Ruthenium wertvoll.«
»Sind«, korrigierte Calum geistesabwesend.
Rafik hatte sich aufgerichtet. »Habt ihr das gehört? Sie kennt die Metalle der Platingruppe!«
»Und warum nicht?« entgegnete Gill scharf. »Hört sie uns nicht die ganze Zeit darüber reden?«
Acorna stampfte mit dem Fuß auf, um ihre Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Osmium ist wert-voll. Iridium ist wertvoll. Rhenium ist nicht wert-voll.«
»Rhenium gehört zwar nicht zur Platingruppe«, korrigierte Calum sie, »aber im Augenblick, dank des Booms der Protonenbeschleunigungsmesser, ist es trotzdem sehr wertvoll.«
Acorna runzelte die Stirn. »Schürfen nicht nach Rhenium.«
»Das würden wir aber, wenn es welches auf Ukelei gäbe, das kann ich dir versichern, Süße.«
»Gibt Rhenium. Tief.«
»Nein, Liebling, Ukeleis Regolith ist zwar reich an Metallen der Platingruppe, aber arm an Eisen und den niederen Metallen, einschließlich Rhenium. Wir wissen das aufgrund der spektroskopischen Analyse und…
ähm, anderer
Instrumente«, erläuterte Gill, der die technische Aufgabe der Entscheidung, welche Asteroiden erfolgversprechende Kandidaten waren, wann immer er konnte, Calum überließ.
»Dafür sind wir ja Bergleute, Süße. So was zu wissen ist unser Beruf. Und wir haben großes Glück, daß wir Ukelei gefunden haben. Aselnuß war zwar gut, aber die Unke war noch besser zu uns.«
»Tief!« beharrte Acorna. »Bohrer benutzen. Stollen graben.
Rhenium finden, bald zurückgehen. Dann irgendwo neu hingehen?«
»Um deine Leute zu finden?«
Acornas Pupillen verengten sich, und sie sah an ihrer eleganten, aber definitiv pferdeähnlichen Nase vorbei auf ihre geschlossenen Hände hinunter.
»Süße, einer der Gründe, warum wir so lange hier draußen geblieben sind, ist der, daß wir genug Geld machen wollen, um eine gründliche galaxisweite Suche nach deinen Leuten durchführen zu können. Nach deiner Avvi. War Avvi die einzige Person auf deinem Schiff?«
»Nein. Lalli auch dort.«
»Deine Mutter und dein Vater?« fragte Gill in der Hoffnung, daß ihr Verständnis des Basic inzwischen so gut war, daß sie den Sprung schaffen und diese beiden Wörter ihrer Muttersprache ins Basic übersetzen könnte.
»Nein, Avvi und Lalli.«
»Netter Versuch, Gill«, sagte Rafik und legte ihm mitfühlend seine Hand auf den Arm.
»Übrigens, Süße, drei Drittel voll ist ganz voll. Drei Drittel ergeben Eins«, meldete sich Calum zu Wort und bemühte sich so, sie von der traurigen Betrachtung ihrer Hände abzulenken.
»Drittel sind Brüche.«
»Brüche?« Ihr Kopf schoß hoch.
»Teile eines Ganzen. Es gibt alle möglichen Arten Brüche, Halbe und Viertel und Fünftel und Sechstel und viele, viele mehr, und wenn du zwei Halbe hast, hast du ein Ganzes. Wenn du vier Viertel hast, hast du ein Ganzes.«
»Und fünf Fünftel ist auch ein Ganzes?« Ihre Augen waren wieder weit aufgerissen, als sie das Konzept begriff. »Was ist der kleinste Bruch? Eins und eins?«
»Wir haben hier ja ein wahrhaftiges mathematisches Genie vor uns«, begeisterte sich Rafik und warf in belustigter Ehrfurcht seine schlankfingrigen Hände in die Luft.
Ein mathematisches Prinzip führte zum nächsten, und es dauerte nicht lange, bis Acorna algebraische Gleichungen zu lösen begann. Calum, der etwas davon murmelte, kein Regolithkörnchen auf dem anderen zu lassen, drangsalierte seine Kameraden so lange, bis sie den Schrämbohrer dazu einsetzten, um unter das feine, spröde Geröll von Ukeleis äußeren Schichten vorzudringen.
»Warum bringen wir ihr nichts Nützliches bei? Wie beispielsweise die Anzeigen des katalytischen Konverters im Auge zu behalten und bei den richtigen Temperaturen umzuschalten?« fragte Rafik. »Dann könnte ich euch Burschen nach außenbords begleiten, und sie hätte weniger Zeit für diese Abhängigkeitssache.«
»Ich glaube«, sinnierte Calum mit ehrfürchtiger Stimme, »sie wußte schon von Geburt an mehr nützliche Dinge, als wir uns vorstellen können.« Er inspizierte gerade per Fernsteuerung die letzten Bohrproben. »Schaut euch diese Analyse an, also echt!«
»Rhenium und Hafnium«, sagte Rafik langsam, als er sich über die Schirme beugte. »Obendrein in hohen Konzentrationen. Wenn der Schrämbohrer weiterhin diese Erzqualität fördert, können wir früher unser Frachtsoll erfüllen und zurück sein, als es machbar wäre, wenn wir weiterhin nur den Oberflächenregolith nach Platin durchsieben würden. Und die Ladung wird zudem wertvoller, um – «
»Zweiundvierzig Komma sechs fünf Prozent«, fiel Calum ihm ins Wort, geistesabwesend blinzelnd. »Sie sagte, es gäbe tief drunten Rhenium, wißt ihr.«
»Ukelei stellt sich uns als undifferenzierter Standardasteroid dar. Er besaß nie eine Atmosphäre, deren Winde Erzablagerungen hätten umwälzen können. Logischerweise sollte der Untergrundfels daher die genau gleichen Metalle in der genau gleichen Konzentration wie der Oberflächenregolith enthalten… lediglich schwieriger zu erreichen.«
»Logischerweise«, entgegnete Gill, »ist er, wie uns ein Blick auf diese Analyse zeigt, eben kein Standardasteroid. Es scheint wohl doch ein paar Dinge zu geben, die unsere Kosmologen noch nicht wissen. Aber ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, woher du es wußtest, Acorna Acushla. Ich denke, wir erklären ihr besser auch die restlichen Metallarten, meine Herren, damit sie weiß, worauf sie uns in Zukunft hinweisen sollte. Und was ihre Abhängigkeit angeht…« Gill schnaubte abfällig.
»Nachdem du ihr ihre eigene Tastatur gebaut hast, hat sie sich längst abgenabelt, oder habt ihr zwei das nicht mitbekommen?«
»Manche sind zum Hacker geboren, und manche eben nicht«, meinte Rafik.
»Trotzdem kann es nicht schaden, es zu versuchen, nicht wahr?« war Gills Erwiderung, aber auch er war genauso stolz auf Acorna, wie sie es alle waren. »Wir stellen uns gar nicht so schlecht an als Eltern, stimmt’s?«
»Wie reif wurde sie geboren?« fragte Calum beinahe flehentlich. »Sie ist doch erst an Bord seit…« Er mußte das Datum, wann sie gerettet worden war, im Logbuch nachsehen.
»He, seit zwölf Monaten und fünfzehn Tagen!«
»Ein Jahr?« wiederholte Rafik verblüfft.
»Ein Jahr!« rief Gill. »Zur Hölle, wir haben ihren Geburtstag vergessen!«
Die anderen zwei deuteten mit verärgert
zusammengekniffenen Lippen auf die GELDSTRAFE-Box, die eigentlich schon geraume Zeit nicht mehr hatte gefüttert werden müssen.
Zwei
»Rein oberflächliche Veränderungen«, meldete Gill, als die Khedive sich der alten MME-Basis bis auf Sichtweite genähert hatte. »Du wirst dich nicht auf der Grundlage von ein paar kosmetischen Details zum Wettsieger ausrufen, oder etwa doch, Rafik?«
»Ich wäre sehr froh«, antwortete Rafik, »diese Wette haushoch zu verlieren.«
Keinerlei Bekanntgabe irgendeiner Umorganisation hatte sie erreicht. Aber das MME-Logo, das einstmals beide Torhälften aller Hangarschotten geziert hatte, war durch ein erheblich größeres Zeichen ersetzt worden, das AMALGAMATED
MANUFACTURING lautete. Anstelle einer fröhlichen Begrüßung durch Johnny Greene hatte sie etwas mit einer trockenen mechanischen Stimme in ihren Anflugkurs eingewiesen, das sich weigerte, seinen Namen zu nennen, und sich darüber beschwerte, daß sie sich nicht mit dem »Amalgamated-Protokoll« identifiziert hatten, was auch immer das sein mochte.
Die Hangarhalle selbst hatte sich kaum verändert, aber gleich hinter den doppelten Luftschleusentoren, die den Zugang ins Innere der Basis ermöglichten, wurden sie vom Besitzer der trockenen Stimme in Empfang genommen, der sich immer noch über ihr Versäumnis beschwerte, das »Amalgamated-Protokoll« nicht verwendet zu haben.
»Sieh mal, Kumpel«, sagte Gill, »wie der Pilot hier dir schon erklärt hat – « er nickte in Richtung Calum » – sind wir die Khedive, unter Vertrag bei MME. Und uns hat niemand über irgendein neues Anflug- und Einschleusungsprotokoll Bescheid gesagt. Wenn ihr Leute wolltet, daß wir etwas Neues verwenden, warum habt ihr uns diese Regeln dann nicht rübergefunkt?«
»Es verstößt gegen die Vorschriften, vertrauliche Firmenprotokolle als nicht abhörsichere Raumfunkübertragung zu senden.«
»Die alten Erdbewohner hatten einen Ausdruck dafür«, erwiderte Rafik mit dem Anflug eines Lächelns. »Irgendwas mit einer Katze, die sich in den Schwanz beißt, glaube ich.«
»Und wo ist Johnny Greene?«
»Redundant.«
»Und was konkret soll das bedeuten?«
Gills Stimme war so laut geworden, daß sie bis in die Korridore hinein zu hören war. Eine junge Frau in einem blaßblauen Overall, das blonde Haar zu einem Nackenknoten aufgesteckt, eilte mit beschwichtigend erhobener Hand heran.
»Eva Glatt«, stellte sie sich vor und streckte ihnen ihre kleine Hand entgegen, »TT&A – das steht für Test-, Therapie- und Anpassungsabteilung. Der Zusammenschluß von MME mit Amalgamated hat zwecks Effizienzsteigerung zu einer Reihe von organisatorischen Veränderungen geführt, Herr – Giloglie, nicht wahr? Ich bin gekommen, um das Kind in meine Obhut zu nehmen.«
»Sie ist in unserer Obhut«, begehrte Gill auf.
»Oh, aber Sie wollen sich doch sicherlich nicht mit ihr belasten, während Sie die Einschleusungsprotokollformulare ausfüllen und die Umregistrierung der Khedive zum Amalgamated-Schiff vornehmen. Ich habe alles vorbereitet, obwohl Ihre Nachricht uns nicht viel Zeit dafür gelassen hat.«
Rafik und Calum hatten zwar auch Gill davon überzeugen können, daß es ein Gebot der Höflichkeit wäre, der Basis eine Vorwarnung über das Mysterium zukommen zu lassen, das sie von dieser jüngsten Expedition mitbrachten. Aber sie hatten dennoch alle gewartet, bis sie schon von sich aus auf dem Heimweg von Ukelei waren, nur für den Fall, daß die Basis auf den Gedanken gekommen wäre, ihnen die sofortige Rückkehr zu befehlen.
»Und Dr. Forelle höchstselbst wünscht die Kapsel zu inspizieren, in der sie gefunden wurde, sowie Ihre Aufzeichnungsbänder von der Erstbegegnung«, fuhr Eva fort.
»Ich werde dieses Material einfach vom Schiff holen und zu ihm bringen lassen, während Sie sich umregistrieren, einverstanden? Und du kannst mit mir mitkommen, du armes Baby.« Sie kniete nieder und streckte Acorna ihre Hand entgegen, die ihre beiden Hände hinter ihrem Rücken versteckte und einen Schritt nach hinten tat, während ihre Pupillen sich zu vertikalen Schlitzen verengten.
»Nicht«, weigerte sie sich mit Nachdruck.
»Ganze Sätze, Acorna Acushla«, verbesserte Gill sie mit einem Seufzen.
»Aber, aber, Liebling«, meinte Eva Glatt heiter, »du wirst dich schrecklich langweilen, wenn du hier bei deinen netten Onkeln bleibst, während sie den ganzen lästigen Papierkram erledigen müssen. Magst du nicht in den Hort mitkommen und ein paar schöne Spiele spielen?«
Acorna warf Rafik einen fragenden Blick zu. Er nickte ihr knapp zu, und sie entspannte ihre abwehrende Haltung ein wenig. »Werde gehen«, sagte sie. »Kurz!«
»Da sehen Sie es«, sagte Eva Glatt und straffte sich, »es ist nur eine Frage elementarer Psychologie. Ich bin sicher, daß sie recht fügsam und gelehrig sein wird.«
»Diese Frau«, verkündete Gill, als Eva Acorna wegführte,
»ist eine Idiotin.«
»Sie sagte etwas von einem Kinderhort«, erwiderte Rafik.
»Acorna könnte es Spaß machen, zur Abwechslung mal etwas Zeit mit ein paar anderen Kindern zu verbringen. Und ich habe die düstere Vorahnung, daß die nächste Stunde oder gar mehr über alle Maßen langweilig werden wird.«
Während Gill, Rafik und Calum sich durch Fragebögen quälten, die angefangen vom zweiten Vornamen der Großmutter bis hin zu den bevorzugten
Grundnahrungsgruppen alles über sie wissen wollten, überflog Dr. Anton Forelle ein halbes dutzendmal die Schiffsaufzeichnungen von Acornas allerersten Lauten.
»Noch mal!« bellte er, woraufhin seine Assistentin Judit Kendoro die ersten Segmente dieses gespenstischen Schreis willfährig abermals abspielte.
»Idioten«, sagte Forelle gutgelaunt. »Warum bloß haben sie nicht alles aufgezeichnet, was sie gesagt hat? Warum mußten sie sich einmischen und versuchen, ihr die Sprachmuster des Basic Universal aufzuzwingen? Das hier enthält ja fast nicht genug Daten, um etwas analysieren zu können.«
»Es reicht, um zu erkennen, daß sie nur ein verlorenes Baby war, das nach jemandem schrie, den es kannte«, entgegnete Judit sanft. Sie befürchtete, auch selbst in Tränen ausbrechen zu müssen, wenn sie gezwungen wäre, dieses Gejammer nach
»Avvi, Avvi!« noch länger anzuhören.
Forelle schaltete das Abspielgerät aus. »Sie anthropomorphisieren, Judit«, warf er ihr vor. »Wie können wir uns anmaßen, eine extraterrestrische Sprache allein aufgrund der Stimmodulation und Situation zu interpretieren?
Wir werden eine gründliche syntaktische und semantische Analyse durchführen müssen, bevor irgendeine Schlußfolgerung auch nur ansatzweise stichhaltig sein kann.«
»Und auf welche Weise werden wir das anstellen«, fragte Judit, »wo sie doch mehr als ein Jahr bei diesen Leuten gewesen ist, dem Basic Universal ausgesetzt war und ihre eigenen Sprachmuster vergessen hat?«
»Wir werden sie natürlich in die Zeit zurückführen, als sie gefunden wurde«, erwiderte Forelle, als ob sich das von selbst verstünde. »Die Technik ist ziemlich einfach, und mit den richtigen Drogen kann niemand sich einer Regression widersetzen. Der Anzahl und Sequenz der Laute nach zu schließen, die sie äußerte, als man sie fand, muß sie zu dieser Zeit ihre Muttersprache einigermaßen beherrscht haben. Diese Informationen sind immer noch vorhanden, bloß durch jüngere Erfahrungen überlagert. Wir müssen lediglich diese Überlagerung abschälen.«
Judit machte eine kleine, unwillkürliche Geste. Selbst Erwachsene, die sich diesem Verfahren freiwillig unterzogen hatten, empfanden eine totale Regression als furchteinflößend.
Wie würde es dann erst für dieses Kind sein? »Sie werden den Prozeß selbstverständlich abbrechen, sobald sie Anzeichen eines Traumas zeigt?«
»Selbstverständlich«, versicherte Forelle ihr. »Aber Sie dürfen nicht zu weichherzig sein. Wir müssen so viele Beweise wie möglich sammeln, um diese Entdeckung zu untermauern.
Wenn sie eine intelligente Außerirdische ist, eine Sprache spricht, die keinerlei Verwandtschaft mit irgendeiner menschlichen Zunge besitzt, dann wird alles, was wir über diese Sprache in Erfahrung bringen können, von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert sein. Wir dürfen uns deshalb nicht von persönlichen Bedenken dazu verleiten lassen, der Wissenschaft im Wege zu stehen.«
»Und der akademischen Veröffentlichung«, ergänzte Judit trocken.
»Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen«, beschwichtigte Forelle sie. »Wenn Sie mir mit dem Kind helfen, werde ich Sie selbstverständlich als einen der Mitverfasser angeben. Und Sie müssen auch die andere Möglichkeit in Betracht ziehen. Falls sie doch nur ein mißgebildeter Mutant ist, der irgendeine bekannte Sprache auf eine Weise brabbelt, die wir anhand der Logbuchaufzeichnungen allein nicht erkennen konnten, würden wir uns zu gewaltigen Narren machen, wenn wir die Entdeckung der ersten wahrhaftig außerirdischen Sprache verkündeten! Dieses Risiko können wir nicht eingehen, nicht wahr?« Er lächelte in den Raum hinein und fuhr fort, mehr zu sich selbst als zu Judit: »Es ist höchste Zeit, daß die Linguistik als wissenschaftliche Disziplin endlich die Anerkennung erfährt, die ihr zusteht. Man hat uns all diese Jahre hindurch wegen einer zimperlichen Scheu davor, mit menschlichen Wesen zu experimentieren, in lächerlicher Weise Hemmschuhe aufgezwungen. Himmel, die ganze Theorie von der kritischen Periode des Sprechenlernens hätte schon vor Generationen ein für allemal geklärt werden können, wenn nur jemand den Mut gehabt hätte, ein paar Dutzend Säuglinge zehn oder zwanzig Jahre lang von menschlicher Sprache zu isolieren. Es wäre ein wunderbares kontrolliertes Experiment gewesen, wissen Sie – alle sechs Monate ein Kind herauszunehmen und es der Sprache auszusetzen. Und sobald diese zu reagieren aufhörten, hätte man gewußt, daß die kritische Periode vorüber war. Natürlich würde man die Probanden nicht dadurch kontaminieren wollen, daß man die herausgenommenen Kinder wieder zurückbringt, und man muß Verluste durch
Krankheiten einkalkulieren und die
Notwendigkeit, die Resultate durch Duplikation zu untermauern, so daß eine ziemlich große Ausgangstestgruppe erforderlich wäre. Ich bin überzeugt, daß nur das der Grund war, weshalb mein Antrag auf finanzielle Förderung dieses Experiments abgelehnt wurde. Regierungen sind so furchtbar kurzsichtig, wenn es um die Grundlagenforschung geht. Aber dieses Mal werde ich nicht auf Fördergelder warten müssen.
Ich habe die Versuchsperson genau hier, zumindest werde ich sie haben, sobald dieses Glatt-Weib mit ihren kindischen Tests durch ist, und das Psychosozialisations-Labor von Amalgamated ist für diese Art Untersuchungen perfekt ausgerüstet.«
Judit Kendoro biß sich auf die Unterlippe und rief sich ins Gedächtnis, daß sie großes Glück gehabt hatte, aus den Fabriken von Kezdet herauszukommen, Glück, eines der ganz wenigen Hochschulstipendien zu ergattern, die für einheimische Schüler ausgeschrieben waren, noch mehr Glück, einen guten Job bei Amalgamated zu bekommen, der ihre Schwester Mercy aus der Schuldknechtschaft freigekauft hatte und, in nur noch ein paar Monaten, auch ihren kleinen Bruder Pal durch die Schule bringen und ihm zu einem eigenen Job verhelfen würde. Selbst wenn sie die anderen Beweggründe außer acht ließ, die sie bei Amalgamated festhielten, konnte doch niemand ernsthaft von ihr erwarten, daß sie all diese Jahre harter Arbeit über Bord warf, nur weil irgendein Findelkind durch das erneute Durchleben eines traumatischen Zwischenfalls seiner Vergangenheit in Angst versetzt werden mochte. Außerdem, was konnte sie schon tun?
»Ich schaue mal kurz nach, wie sie bei TT&A mit dem Kind vorankommen«, erwiderte sie.
Dr. Forelle lächelte. »Gute Idee. Die haben sie jetzt lange genug gehabt. Und Sie könnten gleich die Testergebnisse mitbringen… nicht, daß ich von den klobigen, veralteten Instrumenten, die diese Glatt benutzt, viel erwarten würde.«
»Wir haben die Formulare fertig ausgefüllt«, sagte Gill und beugte sich über Eva Glatts Schreibtisch, »und kommen jetzt wegen Acorna. Wenn Sie uns einfach den Weg zum Kinderhort zeigen könnten?«
Eva sah überrascht aus. »Oh, Sie können sie jetzt nicht abholen!«
»Warum nicht? Sie mag sich ja über die Gelegenheit freuen, mit den anderen Kindern spielen zu können, aber ich bin überzeugt, sie wird uns inzwischen sehen wollen.«
»Spielen? Andere Kinder? Ich fürchte, Sie haben da etwas mißverstanden. Wir haben gerade damit begonnen, ihre mentalen und psychologischen Kapazitäten zu testen. Sie wird den Großteil dieses Tages mit Untersuchungen verbringen.
Den Großteil der Woche, wahrscheinlich. Sie würden zudem in jedem Fall keine Zeit mehr mit ihr verbringen.«
»Würden wir nicht?« wiederholte Rafik. »Es tut mir leid, das ist nicht akzeptabel.«
»Sie ist an uns gewöhnt«, warf Calum hastig ein, um zu versuchen, die Wogen zu glätten, »und… wir sind auch irgendwie an sie gewöhnt. Wir dachten, sofern Sie nicht ihre Familie ausfindig machen, daß sie einfach bei uns bleiben könnte. Sie hat schon ihre Eltern verloren. Da muß sie nicht auch noch uns verlieren.«
Eva Glatt lachte belustigt. »Wie süß! Aber Sie konnten doch nicht allen Ernstes erwarten, daß man sie in Ihrer Obhut belassen würde, oder? Drei Bergbauingenieure, während jahrelanger Zeiträume im All isoliert… Ich bin davon überzeugt, daß Sie Ihr Bestes getan haben. Aber Sie besitzen schwerlich die erforderliche Ausbildung und Fachkompetenz, um ihre besonderen Probleme lösen zu können.«
»Acorna hat keine besonderen Probleme«, begehrte Calum erbost auf. »Sie ist ein rundherum reizendes kleines Mädchen, und wir kümmern uns gerne um sie. Oh, ich will nicht behaupten, daß wir sie nicht vielleicht bei einem Firmen-Kinderhort abgegeben hätten, wenn uns das am Anfang möglich gewesen wäre. Aber inzwischen ist sie schon seit fast zwei Jahren bei uns. Wir sind ihre Familie. Selbstverständlich erwarten wir, daß wir uns auch weiterhin um sie kümmern können.«
Eva lachte erneut. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Selbst wenn nicht schon Ihre Umgebung offenkundig ungeeignet für Kinder wäre, würden allein Ihre PPPs jede Erteilung einer formellen Vormundschaft von vornherein verbieten.«
»PPPs?« wiederholte Rafik.
»Psychologische Persönlichkeits-Profile«, ließ sich Eva zu einer Erklärung herab. »Ich habe mir Ihre Amalgamated-Psychoakten angesehen. Sie sind alle drei als anpassungsunfähige Persönlichkeiten klassifiziert, die einen Hang zu einem vereinsamenden, risikoreichen Beruf haben, wie beispielsweise der Asteroidenprospektion, aufgrund einer Kombination von selbstzerstörerischen Charakterzügen und romantischer Abenteuersuche – «
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach Rafik sie, »ich persönlich kann mich nicht daran erinnern, daß diese Firma uns jemals irgendwelchen psychologischen Tests unterzogen hat. Calum? Gill?«
Die beiden anderen Männer schüttelten die Köpfe.
»Sie haben doch gerade vorhin die Personalfragebögen ausgefüllt«, erklärte Eva geduldig. »Deren Computerauswertung wurde unverzüglich an meine Mailbox weitergeleitet, da Ihre Persönlichkeitsprobleme einen Einfluß auf die psychologischen Probleme des Kindes haben könnten.
Die Ergebnisse sind ganz so, wie ich es erwartet habe.«
»Psychologie! Als wir seinerzeit den Vertrag mit der MME
abgeschlossen haben«, empörte Gill sich, »waren wir nur dem Leiter des Bergbauwesens berichtspflichtig, der mehr daran interessiert war,
ob wir wußten, wie man eine
Ultratieftemperatur-Vakuumschürfanlage bedient, als daran, was wir in Tintenklecksen sehen.«
»Eine überkommene Einstellung«, entgegnete Eva.
»Amalgamated betrachtet es als von lebenswichtiger Bedeutung, dafür zu sorgen, daß für die strapaziösen Bedingungen des Weltraums nur sozial gut angepaßtes Personal beschäftigt bleibt.«
»Und auf welche konkrete Weise«, erkundigte sich Rafik zuckersüß, »sind Sie zu diesem… Urteil… über unsere Persönlichkeit gelangt?«
»Das ist doch offensichtlich«, antwortete Eva. »Warum sonst würden Sie sich den Risiken und der Einsamkeit einer solchen Karriere aussetzen, wenn Sie doch beim SAIQ – Stabilisierter Allgemeiner Intelligenzquotient – alle recht hoch abschneiden und eine mehr als hinreichende Ausbildung besitzen, um weitaus besser bezahlte Verwaltungspositionen hier im Firmenhauptquartier bekommen zu können?«
»Mehr Geld«, stimmte Calum salbungsvoll zu, »und die Vorzüge einer psychologisch ausgestalteten Umgebung.
Tatsächlich, warum sonst?«
Eva schaute ihn unsicher an. »Ich… ich bin froh, daß Sie mir zustimmen. Sie verstehen also. Das Kind ist schwer mißgebildet und wahrscheinlich auch zurückgeblieben – «
Ein zischendes Geräusch brachte sie für einen Augenblick aus dem Konzept, bis Rafik Gill beim Ellbogen nahm. »Nicht unterbrechen, mein Freund«, tadelte er. »Wir sind alle höchst interessiert an Acornas Beurteilung durch unsere Frau Doktor hier, nicht wahr?«
»Den Größen- und Gewichts-Normtabellen zufolge ist sie eine leidlich gutgenährte Sechsjährige«, fuhr Eva daher fort,
»aber beim SIS – Sprach-Interaktions-Standardtest – hat sie nur eine niedrige Zwei erzielt.«
»Meiner eigenen Einschätzung zufolge«, entgegnete Gill,
»war sie ein Kleinkind, als wir sie fanden, und das ist weniger als zwei Jahre her. Sie kann also nicht mehr als drei oder vier Jahre alt sein.«
»Und ihr Sprachverständnis ist ausgezeichnet«, ergänzte Calum.
»Falls sie in punkto Sprachausdruck ein wenig hinterherhinkt, dann liegt das wahrscheinlich daran, daß ihr Gehirn nicht für die menschliche Sprache verdrahtet ist; sie muß sie also analytisch lernen, nicht instinktiv, wie es ein menschliches Kind tun würde.«
»Wie ich erfreut feststelle, geben Sie selbst zu, daß sie Gehirnprobleme hat«, warf Eva rasch ein.
»Unterschiede«, verbesserte Calum, »nicht Probleme.«
Eva beschäftigte sich einen Augenblick lang mit ihrer Schreibtischkonsole. »Angesichts der Schwere ihrer sprachlichen Zurückgebliebenheit haben wir sie als nächstes dem Colquhoun-Farbzuordnungstest unterzogen, der natürlich für weitaus jüngere Kinder gedacht ist. Sie zeigte eine auffällige Unbeholfenheit bei der Bedienung des Cursors – «
»Ihre Finger haben ein Gelenk weniger als wir«, gab Rafik zu bedenken. »Selbstverständlich hat sie dadurch Schwierigkeiten mit für menschliche Hände entworfenen Gerätschaften. Was wollten Sie eigentlich testen, ihre Intelligenz oder manuelle Geschicklichkeit?«
»Es ist eine längst bekannte Tatsache, daß beides miteinander verknüpft ist«, gab Eva barsch zurück. »Jeder Narr weiß, daß ein Kind nicht imstande ist, Lesen oder Rechnen zu lernen, bevor es auf einem Bein eine gerade Linie entlanghüpfen kann; das ist einer der Standardtests zur Kinderhort-Reifeprüfung.«
»Freilich, ich bin überzeugt, daß das eines der Dinge ist, die jeder Narr weiß«, gab Gill ihr mit einer scharfen Ironie recht, die Eva entging. »Haben Sie ihre Intelligenz überhaupt getestet?«
»Haben Sie sie aufgefordert, ein einfaches Programm zur Carbonylreduktion zu schreiben?«
»Oder die Konzentration von Metallen der Platingruppe im Regolith eines E-Typ-Chondriten zu berechnen?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!« fuhr Eva sie an. »Selbst wenn das Kind derartige Aufgaben vollbringen könnte, muß sie das durch reine Nachahmung gelernt haben. Derart ihrem Alter in höchstem Maße unangemessene Dinge zu tun ist ein weiteres Zeichen für die soziale Entfremdung, die wir heilen werden, sobald man ihre Mißbildungen korrigiert hat. Wenn sie sich zu einer anpassungsfähigen Persönlichkeit entwickeln soll, muß ihre Erziehung Experten anvertraut werden, die sich darauf verstehen, wie man ihr hilft, ihre Behinderungen zu kompensieren, ohne übertriebene Leistungsanforderungen an sie zu stellen.«
»Und was genau hatten Sie im Sinn?« erkundigte sich Rafik höflich.
»Nun, ich – sie muß natürlich zuerst noch gründlicher untersucht werden –, aber ich sehe keinen Grund, warum sie nicht lernfähig genug sein sollte, um in geschützter Arbeitsumgebung eine Position mit geringer Verantwortung auszufüllen.«
»Also in der Firmenkantine Tabletts stapeln«, schlußfolgerte Gill.
»Oder Leintücher falten«, schlug Calum vor.
Eva errötete. »Ich kann keine Wunder bewirken«, fuhr sie auf. »Sie haben mir ein mißgebildetes, zurückgebliebenes Kind gebracht, das bereits an den Folgen von fast zwei in einer sozial entfremdenden Umgebung verbrachten Jahren leidet.«
»Ich meinerseits würde nicht so vorschnell annehmen, daß das Kind zurückgeblieben ist«, widersprach Calum. »Wenn Sie Ihr Augenmerk einmal lang genug von den psychologischen Tests lösen würden, um zu erkennen, daß sie nicht menschlich ist – wofür Ihnen jeder kompetente Biologe den Beweis liefern könnte –, werden Sie womöglich zu verstehen beginnen, daß Unterschiede nicht das gleiche wie Störungen sind. Und ja, sie hat ein paar Probleme mit der Sprache und dem Handhaben von für Menschen entwickelten Utensilien. Na und? In jedem anderen Gebiet, Dr. Glatt, ist der Experte derjenige, der sich darauf versteht, Probleme zu lösen, und nicht derjenige, der jammert, daß sie unlösbar seien.«
Ein triumphierender Schimmer leuchtete in Eva Glatts Augen auf. »In der Tat«, sagte sie süßlich, »habe ich sehr wohl bereits Vorkehrungen getroffen, um einige der Probleme des Kindes zu lösen. Eine chirurgische Korrekturmöglichkeit für das Handproblem ist zwar nicht bekannt, aber dieser entstellende Auswuchs in der Mitte ihrer Stirn kann mühelos entfernt werden.«
»Dieser – Sie meinen, Sie wollen ihr Horn abschneiden?«
explodierte Gill. »Weib, haben Sie Ihren Verstand verloren?
Das ist keine Mißbildung; es ist ein integraler Bestandteil ihres Körpers.«
»Amalgamateds auf dieser Basis stationiertes Ärzteteam ist durchaus befähigt, eine örtliche Betäubung vorzunehmen und jegliche Blutgefäße abzubinden, die in die Mißbildung hineingewachsen sind«, gab Eva steif zurück.
»Ich glaube, Sie verstehen nicht.« Rafik beugte sich über Evas Schreibtisch und funkelte sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. »Acorna ist… nicht… menschlich.
Unterschiede sind keine Mißbildungen. Und ihre Rasse gebraucht dieses Horn. Wir haben bereits festgestellt, daß sie es benutzen kann, um Luft und Wasser zu reinigen, und wir vermuten, daß es entscheidend für ihren Metall-Fernspürsinn ist.«
Eva seufzte. »Ich glaube, daß Sie drei zu lange in Isolation gelebt haben. Sie beginnen schon zu halluzinieren. Was Sie behaupten, ist wissenschaftlich keinesfalls möglich.«
»Wir sprechen aus handfester eigener Erfahrung«, entgegnete Calum.
Eva klopfte auf ihre Schreibtischkonsole. »In meiner Eigenschaft als Leiterin der TT&A werde ich Ihnen allen drei einen längeren Urlaub und einen psychologischen Anpassungskursus verschreiben, bevor man Ihnen wieder erlaubt, mit Firmeneigentum wie der Khedive loszuziehen.
Meine Beurteilung zeigt, daß Sie nicht nur sozial unangepaßt sind, sondern auch an besorgniserregenden Wahnvorstellungen leiden.«
Gill begann erneut durch seine zusammengebissenen Zähne zu zischen, aber Rafik bedeutete ihm, aufzuhören.
»Vergiß die albernen Beleidigungen, Gill. Höchste Dringlichkeit hat vielmehr, diesem Unsinn einer Operation an Acorna Einhalt zu gebieten. Das Horn ist ein integraler Teil von ihr. Ohne es wäre sie verkrüppelt… oder schlimmeres.
Wir werden keinesfalls, unter keinerlei Umständen, unsere Zustimmung für eine Operation geben.«
»Ich glaube, Sie verstehen nicht. Acorna ist nicht mehr länger Ihr Problem. Nach der Operation und dem Förderunterricht wird sie so lange in einem Waisenhaus untergebracht werden, bis man die Eltern identifiziert, die sie im Stich gelassen haben.«
»Den Teufel wird sie!« brüllte Gill. »Wir nehmen sie wieder mit. Auf der Stelle. Werden Sie sie herbringen lassen oder sollen wir losgehen und sie selbst holen?«
»Der Beginn ihrer Operation war für 13.30 Uhr vorgesehen«, sagte Eva Glatt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbandeinheit.
»Es ist für Sie zu spät, jetzt noch einen Aufstand zu veranstalten.«
»Beruhige dich, Gill«, meinte Calum, nachdem er auf seine eigene Einheit gesehen hatte. »Es ist jetzt erst 13.45 Uhr. Sie werden immer noch mit der Anästhesie herumprobieren.« Er hockte sich auf eine Ecke von Eva Glatts Schreibtisch, einen Arm lässig über ihre Konsole drapiert. »Aber ich denke, daß Sie uns besser schleunigst erzählen, wie wir zum Operationssaal kommen. Sofort!«
Eine junge Frau mit einem armdicken, über einer Schulter hängenden dunklen Haarzopf trat in das Büro. »Ich glaube, damit kann ich den Herren behilflich sein«, verkündete sie.
Ihre Brust hob und senkte sich, als ob sie gerade gerannt wäre, aber ihr Auftreten war völlig ruhig. »Wie es der Zufall will, habe ich denselben Weg.«
»Das«, erwiderte Gill, »wäre sehr hilfreich. Wir sind allerdings ziemlich in Eile…« Er steuerte das Mädchen in den Gang hinaus, wobei er ihr den Blick auf Eva Glatts Schreibtisch versperrte, während Calum hinter den Schreibtisch schlüpfte und Eva davon abhielt, nach einem der in die Schreibtischkonsole eingelassenen Knöpfe zu greifen.
»Rafik, geh schon mal vor. Ich werde diese – sie im Auge behalten, damit sie nicht etwa auf die Idee kommt, den Stationsschutz zu rufen.« Er stellte Eva Glatt auf ihre Füße und legte seine freie Hand wie eine Klammer über ihren Mund.
»Calum«, warf Rafik ein, »wir haben keine Zeit, eine Gefangene mit uns mitzuschleppen. Aber wir wollen auch nicht, daß sie jemanden alarmiert.« Eva Glatt verdrehte die Augen nach oben, als er sich ihr drohend näherte, und sackte in Calums Armen schlaff zusammen.
»Nun, das wäre geklärt«, bemerkte Calum erleichtert. »Sie ist in Ohnmacht gefallen.«
»Nein«, widersprach Rafik, »nur aus Furcht schwach auf den Beinen. Ich entschuldige mich hierfür«, sagte er zu Eva, die sich nun wieder kraftlos wehrte, »aber wir haben keinen Zugang zu Ihren wissenschaftlicheren Methoden, um Leute ruhigzustellen.« Seine Faust traf ihre Stirn so schnell, daß sie den Schlag wohl kaum hatte kommen sehen, und dieses Mal fiel sie mit der völligen Entspannung echter Bewußtlosigkeit hintüber.
Gill und das Mädchen, das sich ihnen als Führer angeboten hatte, waren schon ein Stück voraus, als sie aus dem Büro kamen, marschierten in einem nur knapp unter einem Trab liegenden Tempo durch den langen gekrümmten Korridor zur Linken. Rafik und Calum rannten und holten sie an einer Kreuzung ein, wo sie einen Augenblick haltmachten.
»Gerenne«, empfing sie das Mädchen streng, »droht Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Gehen Sie einfach, und zwar so zügig Sie können. Ich schätze, Sie drei sind die Männer, die das außerirdische Findelkind hergebracht haben, ist das richtig?«
»Wenigstens einer hier versteht, daß sie nicht von unserer Art ist«, meinte Rafik, als sie schnellen Schritts die Halle hinunter weitereilten. »Ja. Acorna gehört zu uns. Oder wir gehören zu ihr. Hängt davon ab, aus welcher Warte man es betrachtet. Und es kommt nicht in Frage, daß sie dieser Operation unterzogen wird.«
»Ja. Mein Chef – Dr. Forelle – will ebenfalls, daß das abgebrochen wird. Er müßte bereits angerufen haben, um dafür zu sorgen, daß man so lange wartet, bis ich dort persönlich eintreffe und den Befehl überbringe, sie an unsere Abteilung zu übergeben.«
»Eine Minute mal!« Gill packte das Mädchen am Oberarm.
»Sie wird an uns übergeben, nicht an irgendeine andere Abteilung dieser verdammten Firma.«
»Sie«, sagte das Mädchen, ohne ihr Marschtempo zu verlangsamen, »können Eva Glatts Anordnung einer sofortigen Operation nicht widerrufen. Ich schon.«
»Und wer sind Sie?« fragte Rafik.
»Judit Kendoro, Psycholinguistin. Ich arbeite für Dr. Anton Forelle.«
»Mögen uns die Heiligen beistehen«, rief Gill aus, »arbeitet für Amalgamated eigentlich noch irgend jemand anderer außer Gehirnklempnern?«
»Amalgamated hat beschlossen, die alte MME-Basis als Hauptquartier für die Forschungs- und Personalabteilungen zu nutzen«, erklärte Judit. »Die hier vormals mit unabhängigen Schürfern betriebene Bergbauaktivität wird abgewickelt; Ihre Gruppe ist eine der letzten Kontraktmannschaften, die hier noch eintrudeln. Weiterhin noch eintreffende Drohnenladungen werden von jetzt an zu anderen Stationen umgeleitet.« Trotz des Tempos, das sie alle vorlegten, atmete sie nicht einmal schwer.
»Forelle?« erkundigte sich Rafik. »Der Mann, der unsere Logdateien der ersten Interaktion haben wollte?«
»Ja. Er glaubt – oder hofft –, daß sie eine intelligente Außerirdische ist.«
»Dann ist er auf unserer Seite?«
»Das würde ich nicht unbedingt sagen.« Judit kam schlitternd kurz vor einer Dreiwegegabelung mit in verschiedenen Mustern gelber und grüner Streifen bemalter Korridore zum Stehen. »Er will nicht, daß sie operiert wird, bevor er Gelegenheit hatte, sie zu studieren. Was wollen Sie mit ihr?«
»Uns um sie kümmern«, antwortete Gill.
Judit musterte ihn einen langen Augenblick von oben bis unten und wandte sich dann Rafik zu: »Ich glaube, Sie meinen das sogar ernst.«
»Das tun wir«, bestätigte Rafik.
»Dann – « Sie warf einen Blick in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Calum lag etwas zurück. Judit senkte ihre Stimme. »Lassen Sie nicht zu, daß Dr. Forelle sie bekommt. Er wird in ihrem Gehirn nach Spracherinnerungen herumstochern, ohne sich einen Deut darum zu scheren, was er dem Rest von ihr antut. Es könnte schlimmer sein als die Operation.«
»Was können wir dann tun?«
»Ist Ihr Schiff abflugbereit?«
»Wir haben gerade erst angelegt, wir hätten noch Treibstoff-und Luftreserven, Reparaturen stehen keine an…«
»Dann«, sagte Judit, »tun wir als nächstes folgendes.« Sie umriß ihre Idee.
»Sie vertrauen uns recht bereitwillig«, kommentierte Rafik, als sie fertig war.
»Irgend jemandem muß man ja vertrauen«, erwiderte Judit,
»und… ich hatte ein paar Minuten lang draußen vor der Tür gelauscht, bevor ich Sie in Dr. Glatts Büro unterbrochen habe.
Übrigens, darf ich hoffen, daß Sie sie geknebelt haben?«
»Keine Zeit«, keuchte Calum, der sie gerade eingeholt hatte.
»Hab sie bewußtlos geschlagen.«
»Gut.«
»Wenn Sie gelauscht haben, dann wissen Sie einiges über uns. Aber was wissen wir über Sie? Warum sollten Sie dieses Risiko für uns eingehen?« wollte Gill wissen.
Judit warf ihm einen abfälligen Blick zu. »Haben Sie jemals von Kezdet gehört?«
Gill schüttelte den Kopf.
»Mein Onkel Hafiz«, meldete sich Rafik zu Wort, »gab mir mal den Rat, diesen Ort besser zu meiden.«
»Ihr Onkel hatte recht. Ich habe mich und meine Schwester aus der Hölle von Kezdet herausgeholt«, fuhr Judit fort, »und sehr bald werde ich auch meinen kleinen Bruder befreien.
Außerdem… aber das betrifft Sie nicht. Sagen wir einfach, daß ich genug Kinder leiden gesehen habe. Wenn ich dieses hier retten kann, vielleicht… vielleicht macht das wieder gut, über was ich hinweggesehen habe, um mich freizukaufen.«
Ein paar Minuten später schritt Judit Kendoro durch die Schwingtüren der Chirurgie und präsentierte der Schwester am Empfang ihr Amalgamated-Ausweisschild. »Bin hier, um das namenlose Kind abzuholen, den Neuankömmling von der Khedive«, leierte sie mit gelangweilt monotoner Stimme herunter. »Dr. Forelle wird die entsprechenden Befehle bereits übermittelt haben.«
Die Empfangsschwester nickte und drückte einen Knopf. Die Türen hinter ihr glitten auf, und eine hochgewachsene Frau in steriler Operationskleidung trat heraus.
»Ich wünschte wirklich, ihr Leute würdet euch mal entschließen können«, beschwerte sie sich. »Wir mußten ihr eine Vollnarkose verabreichen, die lokale wirkte nicht. Ich könnte also weitermachen und gleich jetzt sämtliche chirurgischen Korrekturen auf einmal erledigen, wenn Forelle nur einen Tag warten würde.«
Judit zuckte mit den Achseln. »Mir ist das egal, ich bin nur der Bote. Sie wollen sie zurück, wenn wir fertig sind?«
»Sofern die Operation dann nicht wieder von irgendeiner anderen Abteilung abgesagt wird«, gab die Frau gereizt zurück. »Einstweilen können Sie sie mit meinem Segen mitnehmen. Ich habe wahrhaftig genug echte Patienten, ohne mich in irgendwelche Machtkämpfe zwischen den Psychoabteilungen verwickeln zu lassen.«
Sie nickte in Richtung des Raumes, aus dem sie gekommen war, und eine grüngekleidete Operationshelferin karrte eine Krankenliege heraus, auf der schlaff und besinnungslos Acorna lag. Das Gewirr silberfarbener Locken war bereits in einem weiten, nackten Halbkreis um ihr Horn herum freirasiert worden.
»Ich nehme sie gleich auf der Liege mit«, verkündete Judit in einem gelangweilten Tonfall, »nicht nötig, daß Ihre Leute mit der Überstellung selbst Zeit vergeuden.«
Kaum daß Judit die Kontrolle der Krankenliege übernommen hatte, sprang Rafik vor und packte sie von hinten. Ein Plastmesser glitt aus seinem Ärmel und blitzte quer über Judits Kehle auf.
»Danke, daß du uns den Weg gezeigt hast, Dummchen«, knurrte er in seinem besten drohenden Tonfall. »Jetzt werden wir uns das Kind zurückholen.«
»Das können Sie nicht machen! Sie haben mich reingelegt!«
Judit war eine erbärmliche Schauspielerin; die Worte kamen so hölzern heraus wie bei jemandem, der einen Grundschul-Lesebuchtext vortrug.
»Wenn Sie Alarm geben«, drohte Rafik der Empfangsschwester und Chirurgin, »ist es aus mit dem Mädchen. Wenn Sie still bleiben, werden wir Sie laufen lassen, sobald wir in Sicherheit sind. Verstanden?«
Gill griff zur Krankenliege hinab und hob Acorna mit einem Arm auf, und Calum hielt die Türen auf, während er, Rafik und Judit ihren Abgang machten.
»Ist sie in Ordnung?« Sobald die Türen hinter ihnen zugeschwungen waren, hörte Rafik auf vorzutäuschen, daß er Judit mit dem Messer bedrohe. Statt dessen eilte er an Gills Seite und fühlte an Acornas Handgelenk nach einem Puls.
»Sie atmet«, antwortete Gill. »Wie es mit dem Rest steht, werden wir sehen, sobald die Wirkung des Narkosemittels abklingt. Judit, gibt es irgend etwas, das wir darüber wissen sollten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Standardnarkose. Sie wird eine Stunde außer Gefecht sein, vielleicht zwei, das hängt davon ab, wie lange es her ist, daß man es ihr verabreicht hat. Eigentlich ist das sogar ganz gut. Gibt euch Zeit, sie ohne Aufsehen an Bord eures Schiffs zurückzuschaffen… Ich sollte euch aber besser trotzdem begleiten. Halte das Messer gezückt, Rafik, und pack mich am Arm. Möglicherweise werdet ihr noch mal eine Geisel brauchen.«
»In welcher Richtung geht’s von hier zum Hangar?« fragte Gill.
»Wir können die Versorgungstunnel nehmen. Weniger Gefahr, auf Leute zu stoßen.« Judit drückte auf ein Paneel in der Wand, und ein enger Innentunnel öffnete sich vor ihnen, kaum breit genug, um Gill mit der Last einer schlafenden Acorna aufzunehmen.
Sie erreichten den Hangar ohne Zwischenfall. Der gelangweilte, maschinenhafte Bürokrat, der Johnny Greene ersetzt hatte, hob kaum den Kopf, als sie an seinen Schreibtisch traten.
»Schicken Sie das Personal aus dem Hangar und bereiten Sie die Außenschotten zur Öffnung vor«, befahl Calum. »Die Khedive fliegt sofort ab.«
»Nicht freigegeben«, murmelte der Schreibtischhengst, ohne von seiner Konsole aufzublicken.
»Bitte«, flehte Judit mit zittriger Stimme, »tun Sie, was sie sagen. Er – er hat ein Messer.«
Das ließ den Bürokraten aufhorchen. Sein Kopf ruckte hoch, er sah mit einem verwirrten Blick auf das Plastmesser in Calums Hand, das dieser mittlerweile von Rafik übernommen hatte, so wie Rafik das Tragen von Acorna, und tauchte dann verschreckt unter seinen Schreibtisch. »Macht, was ihr wollt, nur laßt mich da raus!«
»Schön, schön«, meinte Gill sanft, »und ich dachte schon, das Männchen hier könnte Ärger machen und den Helden zu spielen versuchen. Calum, kennst du dich mit der Schleusenanlage gut genug aus, um unseren Abflug klarzumachen?«
»Sofern Amalgamated sie nicht allzusehr verändert hat«, erwiderte Calum. »Hier, halt mal.« Er drückte Judit das Plastmesser in die Hand, die es rasch an Gill weiterreichte.
»Ich bin eine Geisel, ihr Idioten«, zischte sie.
Gill lachte leise und übernahm die Aufgabe, Judit als
»Geisel« zu halten. Calum, der die Schreibtischkonsole herumgedreht hatte, so daß sie ihm zugewandt war, bekam von diesem Zwischenspiel nichts mit. Er rief in rascher Folge eine Reihe von Programmfenstern auf dem Bildschirm auf und nickte zufrieden. »Hmmm«, brummte er beim Anblick des fünften Fensters. »Hmm… Ah-hah. Okay, weiter, okay, ah-hah.« Er durcheilte den Rest der Statusfenster und tippte einen Befehl ein. »In Ordnung, das erteilt uns die Abflugfreigabe.
Aber es gibt eine Reihe von kleinen Problemen.«
»Irgendwas, das uns auf dieser Basis festhalten würde?«
»Nein, aber…«
»Gut. Dann werden wir sie später besprechen. Kommt! Und Judit, benimm dich ganz normal. Der Hangar mag jetzt geräumt sein, aber wenn Amalgamated nicht alles umgebaut hat, kann uns die Belademannschaft von der oberen Galerie aus beobachten. Wir wollen doch nicht, daß irgendeiner vom Personal merkt, daß du eine Geisel bist.«
»Also bin ich eine Nicht-Geisel, die versucht, eine Geisel zu schauspielern, die versucht, sich wie eine Nicht-Geisel zu benehmen«, murmelte Judit, als sie die Reihe der Druckschotten durchschritten, die das Innere der Basis schützten, wenn der Hangar zum Raum hin offenstand. »Das ist fast so schlimm, wie als Mädchen den Cherub zu singen und vorzugeben, ein Junge zu sein, der sich als Mädchen verkleidet.«
»Du magst alte Opern?« fragte Gill überrascht.
Judit zuckte mit den Achseln. »Ich habe in der Schule bei einer Reihe von Laienaufführungen mitgewirkt. Meine Stimme ist nicht gut genug für eine professionelle Laufbahn. Aber in dem einen Jahr haben wir die Kirilatova dazu gekriegt, mit uns den Figaro einzustudieren. Sie hat natürlich die Susanna gegeben.«
»Die Kirilatova? Aber die muß inzwischen ungefähr hundertzehn sein!«
»Nicht ganz. Sie war damals siebzig«, widersprach Judit,
»aber wenn sie die Susanna sang und man seine Augen schloß, war sie wieder ein zwanzigjähriges Mädchen, das im Begriff war, ihren Geliebten zu heiraten. Es war ein unglaubliches Schauspiel. Ich wünschte, ich wäre früh genug geboren worden, um sie auf ihrem Höhepunkt zu hören.«
»Ich habe Würfel«, begeisterte sich Gill. »Frühe Aufführungen, ursprünglich auf DCVCD aufgenommen, dann auf Drei-D überspielt, als das neue Format rauskam.«
»Hast du vor, das Mädchen zu dir raufzubitten, um deine Opernwürfel anzuhören, Gill? Wie wär’s, wenn wir erst mal Acorna hochhieven würden?« Da war ein Anflug von Sarkasmus in Calums Stimme. Sie hatten den offenen Bereich der Hangarhalle ohne Zwischenfall hinter sich gebracht, während Gill und Judit sich über tote Sänger unterhalten hatten.
»Das wäre ein Gedanke«, meinte Gill nachdenklich. Er nahm Judits Hand. »Du könntest mit uns mitkommen. Du gehörst nicht zu den Psychokröten bei Amalgamated, weißt du. Wie der Freier zu dem Vassarmädchen im Bordell sagte: Was macht ein nettes Mädchen wie du an einem Ort wie diesem?«
Judit schüttelte den Kopf. »Wie das Vassarmädchen zu dem Freier sagte: »Reines Glück, schätze ich.« Ich verstehe nichts vom Bergbau; ich wäre nur unnützer Ballast für euch.«
Calum, dem dieser Einwand schon auf der Zunge gelegen hatte, öffnete seinen Mund und schloß ihn mit einem vernehmbaren Schnappen wieder.
»Ihr schlagt mich außerdem besser bewußtlos, bevor ihr geht.
Die Geiseldarstellung könnte möglicherweise nicht ganz überzeugend gewesen sein.«
»Nach all der Hilfe, die du geleistet hast? Das könnte ich nicht übers Herz bringen, Acushla.«
»Es wird meiner andernfalls dürftigen und wenig überzeugenden Geschichte Glaubhaftigkeit verleihen«, begründete Judit ihre Forderung. »Seht mal, ich brauche diesen Job. Ich kann hier genug verdienen, um Pal durchs Polytechnikum zu bringen. Außerdem, ich… ich habe meine Gründe, bei Amalgamated zu bleiben. Also, werdet ihr es jetzt endlich durchziehen?«
»Geht nicht«, widersprach Rafik. »Du trägst keinen Vakuumschutz. Falls du in diesem Hangar bist, wenn wir die Außentore öffnen, und nicht im Schiff, bist du tot. Du mußt also durch die Innenschleuse zurückmarschieren. Sobald du in Sicherheit bist, werden wir ablegen. Es wird ihnen trotzdem nicht genug Zeit bleiben, um den Ausschleusungsvorgang abzubrechen.«
Unerwartet lachte Judit auf. »Diese fette kleine Kröte von einem Hangarwart hockt wahrscheinlich immer noch unter seinem Schreibtisch, und niemand anderer weiß, daß irgend etwas nicht stimmt… noch nicht. Aber ich sehe zu unverletzt aus, um die Geisel von euch brutalen Grobianen gewesen zu sein. Gib mir das Messer, Gill.« Rasch schnitt sie an der Stelle ihren äußeren Overall auf, wo Gill vorgetäuscht hatte, ihr die Messerspitze in die Seite zu drücken, zupfte dann die Hälfte ihres Haars aus ihrem Zopf und ließ es in einer dunklen Wolke über die Seite ihres Gesichts fallen. »Sehe ich jetzt zerrupft genug aus?«
»Du siehst wunderschön aus«, widersprach Gill, »und ich werde die Erinnerung an dich noch in der Kälte des Weltraums bei mir tragen.«
»Kommt in die Gänge, ihr zwei!« fuhr Calum sie an. »Wir haben Acorna in ein Sicherheitsnetz geschnallt. Je länger du noch mit dem Mädchen herumschwatzt, desto größer das Risiko, daß jemand merkt, daß etwas nicht stimmt.«
»Das ist ein tapferes Mädchen«, meinte Gill bewundernd, als er an Bord der Khedive kletterte und sich für den Start anschnallte. Er verfolgte Judits schleppenden Fortschritt über den Boden der Schleusenhalle. »Ich hoffe, dieses Hinken ist nur Teil ihrer Schauspielerei…«
»Auf dem Weg zur Chirurgie konnte sie noch ganz normal gehen«, stellte Calum klar. »Rafik! Systeme bereit? Ich will uns in der Minute in Bewegung sehen, in der sie die ersten Tore passiert hat.«
»Die zweiten Tore«, widersprach Gill bestimmt. »Sie ist zu wertvoll, um sie in Gefahr zu bringen.«
»Und Acorna? Ganz zu schweigen von uns? Und die Khedive?«
»Wir werden es schaffen«, sagte Gill voller Zuversicht.
Und das taten sie.
»Was jetzt?« fragte Gill, als sie ein gutes Stück weit von der Basis weg waren.
Gill zuckte mit den Achseln. »Langfristig oder kurzfristig?
Langfristig haben wir immer noch unsere Fähigkeiten und unser Schiff, und es gibt andere Firmen, die uns unter Vertrag nehmen können – oder wir könnten uns ganz selbständig machen. Kurzfristig… du hast etwas von Problemen gesagt, als du an der Konsole da hinten vor dich hingemurmelt hattest.
Was ist unser Status?«
»Der Treibstoff-Tankvorgang wurde nur teilweise abgeschlossen, aber das ist kein Problem; wir haben genug, um es in den Asteroidengürtel zurückzuschaffen. Und sobald wir erst mal dort sind, können wir einen kohligen Chondriten abbauen, um uns mit Wasserstoff für den Treibstoffkonverter zu versorgen.«
»Ein C-Typ-Chondrit wird auch unseren Wasser- und Sauerstoffvorrat wieder auffrischen, falls nötig«, unterstrich Rafik. »Was ist also das Problem?«
»Geringe Nahrungsvorräte. Wir werden in Bälde zu zeitweiligen Vegetariern werden müssen.«
»Wenigstens einem von uns wird das nichts ausmachen«, meinte Gill mit einem zärtlichen Blick auf das Netz, wo Acorna lag und sich in ihrem durch Drogen aufgezwungenen Schlaf gerade genug bewegte, um sie alle zu beruhigen, daß sie bald aufwachen würde.
»Und wir haben keine Austauschpicken für den Schrämbohrer gekriegt«, fuhr Calum fort. »Aselnuß hat die meisten davon verschlissen, und Unke hat dann den übrigen so ziemlich den Rest gegeben. Unsere Festmachertrossen sind auch reichlich ausgeleiert. Es wäre auf der Basis an der Zeit gewesen, uns mit einer ganzen Reihe von Versorgungsgütern frisch auszurüsten.«
Es gab jedoch dringlichere Komplikationen als ein Mangel an Ersatzteilen, wie sie erfuhren, als sie die Komgeräte aktivierten.
»Nur auf Empfang«, wies Rafik sie an. »Zu senden würde unsere Position verraten.«
»Ach was, sie werden uns wegen eines kleinen Mädchens, das ohnehin niemand haben wollte, wohl kaum über die Grenzen dieses Sektors hinaus verfolgen.«
»Warum trampelst du auf mir rum?« fragte die Ameise den Elefanten. »Weil ich es kann, und weil du mich geärgert hast«, antwortete Rafik mit einem Gleichnis. »Es ist nicht weise, den Elefanten zu verärgern.«
»Ich habe die Frequenz von der Basis«, verkündete Calum.
»Ihr zwei solltet vielleicht mithören.«
Mit zornig zusammengekniffenen Lippen lauschten sie der an alle Amalgamated-Basen und -Schiffe ausgestrahlten und regelmäßig wiederholten Mitteilung.
»Sie behaupten, die Khedive wäre Diebesgut!« explodierte Gill. »Das können sie nicht machen! Sie ist ganz allein unser Schiff, mit Brief und Siegel!«
»Schon diese furchtbare Frau hat irgendwas davon gesagt, daß die Khedive Amalgamateds Eigentum wäre«, meinte Calum gedankenvoll. »Rafik, gibt es irgendwelches juristisches Brimborium im Zusammenhang mit der Reorganisation, das es womöglich so aussehen lassen könnte, als ob wir das Schiff nur von ihnen angemietet hätten?«
»Sie können behaupten, was immer sie wollen«, machte Rafik deutlich. »Und wenn sie uns einholen und wir es vor Gericht ausfechten müssen, wer wird sich dann um Acorna kümmern?« Er lächelte seine Kollegen gönnerhaft an. »Wir wären gut beraten, wenn wir eine neue Identität annehmen würden.«
»Wir können uns nennen, wie auch immer wir wollen«, grummelte Gill, »aber das Schiff ist registriert und bekannt…«
Rafiks Lächeln war seraphisch. »Ich wüßte vielleicht jemanden, der diese kleine Angelegenheit für uns regeln kann.
Gegen ein Honorar, natürlich.«
»Was besitzen wir, womit wir deinen Jemand bezahlen könnten? Ich habe den starken Verdacht, daß die Buchhalter von Amalgamated uns all das Eisen und den Nickel, das wir ihnen per Drohne zugeschickt haben, nicht gutschreiben werden«, wandte Calum verdrossen ein. »Und das Platin und Titan hockt im Verladehangar von Amalgamated – in unsere einzigen Frachtnetze verpackt!«
»Wir besitzen«, entgegnete Rafik liebenswürdig, »einen großen Block extrem wertvoller, wenngleich nicht stimmberechtigter Amalgamated-Aktien. Ich denke, Onkel Hafiz wird bereit sein, sie für uns in örtliche Währung zu konvertieren.«
Es gab eine kurze Pause, dann lachte Gill und klatschte sich aufs Knie. »Also bezahlt Amalgamated doch noch für unsere Neuausrüstung! Sehr gut.«
»Wir werden hinterher pleite sein«, grummelte Calum.
»Wir werden unser Schiff, unsere Werkzeuge und unsere Fähigkeiten haben«, hielt Gill ihm in bester Laune entgegen.
»Und Acorna! Keine Sorge, Mann. Es gibt da draußen Asteroiden, die reicher sind als alles, was wir jemals unter Kontrakt abgebaut haben. Das kann ich in meinen Knochen spüren.«
»Also auf zu Onkel Hafiz?« fragte Rafik, setzte sich an das Navigationsbord und brachte seine Finger über der Tastatur in Positur.
»Ja. Wo ist dein berühmter Onkel Hafiz?«
»Der Planet heißt Laboue; seine Position ist ein Familiengeheimnis, das mir nicht zu enthüllen erlaubt ist«, antwortete Rafik, während er bereits einen Kurs ausarbeitete.
Er hatte ihn fertiggestellt und den Schirm gelöscht, bevor Gill oder Calum sehen konnten, was er eingegeben hatte. »Brav, brav!« lobte er die beiden für ihre Zurückhaltung.
»Braaaf?« erkundigte sich eine schwache kleine Stimme.
»Acorna, Süße«, rief Gill und eilte, da er ihr am nächsten war, mit langen Schritten zu ihrer Hängematte. »Tut uns leid, Schatz, tut uns leid. Wir hatten nicht die mindeste Ahnung, was diese Idioten unserer kleinen Acorna antun wollten.«
Ihre Pupillen weiteten sich, die Furcht verschwand aus ihren Gesichtszügen, und ihre Hände und Füße entkrampften sich vor Erleichterung, wieder bei ihnen an Bord der Khedive zu sein.
»Dieses blöde Weib! Gut, daß ich sie zu Boden geschickt habe«, schimpfte Calum.
»Sehr blödes Weib«, stimmte Acorna zu, nickte heftig mit dem Kopf und stöhnte dann auf: »Oh, mein Kopf!«
»Das geht vorbei, Acushla«, tröstete er sie und fügte dann an Gill hinzu: »Schnall dich wieder in dein Netz. Wir werden gleich in das weite schwarze Unbekannte aufbrechen!«
Drei
Acorna war während der nächsten paar Tage sehr nervös, also strengten sie sich alle mächtig an, um sie abzulenken und ihr bei ihrer Ehre zu versprechen, daß sie niemals wieder mit blöden Fremden allein gelassen werden würde. Eine der wenigen kurzen Besorgungen, die Calum zu erledigen Zeit gehabt hatte, bevor sie losgingen, um Acorna zurückzuholen, war, beim Schiffsausrüster ein paar Samen mitzunehmen. Man bot ihm dabei auch Blumen an.
»Es gibt eine ganze Reihe recht dekorativer, breitblättriger und obendrein blütentragender Arten, die Ihre Hydroponik um ein bißchen Vielfalt bereichern. Auch ein paar botanische Exoten, die auf Nährlösungen ganz gut gedeihen«, hatte man ihm erläutert. » Schnellwachsend.«
Obschon er mehr an Gemüsen und eßbaren Hülsenfrüchten und einigen der neuen Bohnenarten interessiert gewesen war, hatte er auch Alfagras-, Timotheusgras- und Luzerne-Samen mitgenommen, mit der Bemerkung, daß er demnächst eine Planetenlandung vorhabe und damit einem Freund einen Gefallen täte.
Diese Samen auszusäen und mit Hilfe der Galaktischen Botanik
aus dem Bibliotheksprogramm des Schiffes herauszufinden, wie man ihr Wachstum beschleunigen konnte, half die Zeit zu vertreiben und Abwechslung in ihre Mahlzeiten zu bringen. Acorna hatte genausoviel von der GB
gelesen wie Calum und Gill und verkündete ihnen daher ziemlich bald, daß sie die Sache gut im Griff hätte und sie bitte etwas anderes tun sollten.
»Meinst du, daß sie sich womöglich an irgendwelche Dinge aus ihrer Heimat erinnert… ein genetisches Gedächtnis?«
fragte Calum.
Gill zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Es ist mir inzwischen gelungen, diese Blutprobe zu untersuchen, die wir genommen hatten, als sie ihr Knie aufgeschrammt hat. Sie gehört keinerlei bekanntem Genotyp an. Mist!« Woraufhin er brav einen halben Credit in die GELDSTRAFE-BOX steckte. Mit einem Klirren gesellte sich die Münze zu ihren Kameraden.
»He, Mann, wieviel haben wir da drin?« fragte Calum, und Gill öffnete den Behälter, leerte gut fünfzig Halbcredits aus.
»Damit läßt sich nicht viel kaufen, aber es ist immerhin ein Anfang.«
»Onkel Hafiz wird uns aushelfen, Leute«, versicherte ihnen Rafik vom Pilotensessel aus. Dann beugte er sich plötzlich vor:
»Gill, erinnerst du dich an dieses tote Schiff, das wir gefunden haben, das sich halb in einen Asteroiden gebohrt hat?«
»Was ist damit?«
»War es nicht die gleiche Klasse wie dieses hier?«
»Ein oder zwei Jahre älter.«
»Aber die gleiche Klasse. Willst du auf das hinaus, was ich glaube, worauf du hinauswillst?« fragte Gill, lebhafter werdend.
»Genau das will ich, mein Junge«, bestätigte Rafik, wobei er über beide Ohren grinste. »Und dieser Asteroidengürtel liegt obendrein auf unserem gegenwärtigen Kurs… na ja, mit einem kleinen Umweg.«
»Wir tauschen die Identität mit diesem Schiff?« erkundigte sich Calum. »Geht das überhaupt?«
»Mit ein wenig zusätzlicher Hilfe von Onkel Hafiz sollte das null Problemo sein«, antwortete Rafik. »Sollen wir?«
Gill und Calum sahen sich an.
»Nun, es ist die Mühe wert, denke ich, insbesondere wenn Onkel Hafiz es deichseln kann, uns ein paar Updates zu verschaffen, wo das Schiff war, während es als vermißt galt.«
»Er ist ein wahrer Zauberer in dieser Art von Dingen«, meinte Rafik und begann, falsch zu pfeifen.
»Wird uns auf jeden Fall Amalgamated vom Hals schaffen, falls sie sich die Mühe machen, hinter uns herzujagen«, sagte Calum, wobei er besorgt in Richtung der Hydroponikabteilung blickte, wo Acorna arbeitete.
»Das würde es wohl«, pflichtete ihm Gill bei, nachdem er mit den Fingern seinen Bart gekämmt hatte. Er hielt einen Strang des gürtellangen, struppigen Anhängsels hoch und sinnierte:
»Nun, ich hatte mir ja einen guten Bartschnitt gönnen wollen, aber ich wette, daß Amalgamated den Frisör auch abserviert hat.«
»Ich würde ihn dir stutzen«, schlug Calum liebenswürdig vor.
»Keine Chance, Kamerad«, wehrte Gill ab, wickelte seinen Bart auf und stopfte ihn vorn in den Halsausschnitt seiner Jacke.
»Onkel Hafiz hat einen ausgezeichneten Barbier«, meldete sich Rafik beschwichtigend zu Wort.
»Ich kann es kaum erwarten, diesen Onkel Hafiz kennenzulernen«, sagte Gill.
»Er wird euch in Erstaunen versetzen«, versprach Rafik mit selbstgefälligem Stolz. Dann fügte er hinzu, in einem weitaus weniger zuversichtlichen Ton: »Nur eine Sache. Er darf nichts von Acorna erfahren.«
»Warum nicht?« fragten Gill und Calum unisono.
»Er ist ein Sammler.«
»Wovon?«
»Von was auch immer sich gut absetzen läßt, und ich bin verdammt sicher, daß er noch nie so etwas wie Acorna gesehen hat.«
»Wird das die Sache nicht ein bißchen verkomplizieren?«
Rafik legte seinen Kopf auf eine Seite, dann auf die andere, und zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht umsonst der Neffe meines Onkels. Wir werden uns was ausdenken. Wir dürfen Acorna nicht im Stich lassen.«
Der physische Austausch ihres Kennungssenders mit dem des Wracks dauerte am Ende drei Tage schweißtreibender Arbeit.
Das erste Problem war, daß ihre Schürfwerkzeuge sich für die Aufgabe, Schiffsteile zu zerschneiden und zu schweißen, nur schlecht eigneten, und ihre bordeigenen Reparatur Werkzeuge wiederum nicht dafür gedacht waren, im Vakuum, Staub und den Temperaturextremen einer Asteroidenoberfläche zu funktionieren.
»Ohne Acorna, um die Luft reinzuhalten«, kommentierte Calum am Ende ihrer ersten Schicht, »würde diese Kabine inzwischen wie die Umkleideräume bei den TriCentennium-Spielen stinken.«
»Das Wasser auch«, pflichtete Gill ihm bei. Bei ständiger Wiederaufbereitung entwickelten Luft und Wasser eines Raumschiffs in der Regel einen schalen Beigeschmack, den man durch nichts loswerden konnte. »Acorna, du bist ein echter Glücksfall für uns.«
Acorna schüttelte ihren Kopf, und Traurigkeit füllte ihre dunklen Augen, als deren Zentren sich zu Schlitzen verengten.
»Das bist du wirklich«, beharrte Calum. »Was ist los?«
»Ihr rennt weg. Wir verstecken uns. Ich…« Acorna kämpfte sichtlich darum, die Worte in die richtige Reihenfolge zu bringen. »Wenn ich zurückgehe, braucht ihr euch nicht zu verstecken. Meine Schuld!«
Die Blicke der Männer trafen sich über ihrem Kopf. »Wir haben uns zu freimütig unterhalten«, sagte Rafik sanft.
»Sie spricht so wenig«, gab Calum ihm recht, »daß ich manchmal vergesse, wieviel sie versteht.«
»Das ist jetzt egal«, meldete sich Gill lauter. »Wichtig ist vielmehr, ihr zu erklären, daß sie das alles falsch verstanden hat, meint ihr nicht?« Er hob Acorna hoch und nahm sie in die Arme. »Nicht deine Schuld, Schätzchen. Erinnerst du dich an die blöde Frau, die Onkel Calum niedergeschlagen hat? Nicht dein Fehler, daß sie so ein Dämlack war, stimmt’s?«
Acorna steckte die Finger einer Hand in ihren Mund. Ihre Augen waren dunkle, ungläubige Brunnen.
»Hör zu, Acorna«, wandte sich Rafik an sie. »Wir haben diese Leute auf der Basis nicht gemocht. Wir wollten nicht für sie arbeiten. Selbst wenn wir dich nie… getroffen hätten…
würden wir trotzdem nicht für Amalgamated arbeiten. Richtig, Kameraden?«
Calums und Gills inbrünstiges »Genau!« schien Acorna halbwegs zu überzeugen; zumindest kehrten die silberfarbenen Pupillen ihrer Augen allmählich in den Normalzustand zurück, und sie willigte ein, nachdenklich auf den Spinatstengeln herumzukauen, die Rafik ihr anbot. Bis zum Ende der Schicht hatte sie sich wieder ausreichend gefaßt, um sie mit der Frage in Verlegenheit zu bringen, warum sie auf einem Asteroiden blieben, von dem sie sagen konnte, daß er keinerlei interessante Metallkonzentrationen barg.
»Das ist ein kohliger Chondrit, Acorna«, erklärte Calum.
»Drück das einfacher aus, ja? Das Kind versteht diese schweren Worte nicht!«
»Nur weil einfachste astronomische Chemie über deine Begriffe geht, Gill«, gab Calum barsch zurück, »mußt du nicht annehmen, daß Acorna ebenso geistig träge ist wie du. Sie versteht alle Worte, die wir ihr beibringen, und daher können wir ihr ebensogut gleich die richtigen Begriffe unseres Berufs beibringen.« Er fuhr damit fort, ihr zu erklären, daß der Wasserstoff und Sauerstoff, den sie aus diesem Asteroid gewinnen konnten, sie mit zusätzlichen Luft-und
Wasservorräten versorgen würden, ebenso mit dem Treibstoff, den sie brauchten, um ihren nächsten Halt zu erreichen.
»Ich kann Luft reinigen«, protestierte Acorna und stampfte mit einem hufartigen Fuß auf.
»Das kannst du in der Tat«, gab Calum ihr bereitwillig recht,
»aber siehst du, wir kennen deine Belastungsgrenzen noch nicht und wollen nicht, daß du mehr tun mußt, als du mit diesem Körpergewicht bewältigen kannst. Außerdem brauchen wir Treibstoff…« Alle paar Sätze mußte er innehalten und Diagramme von Molekularstrukturen und chemischen Umwandlungsreaktionen zeichnen. Acorna war fasziniert, also zog Calum die Unterrichtsstunde so lange in die Länge, bis sie in seinen Armen einschlief.
»Puh!« Calum schnallte das schlafende Kind in ihr Netz, stand auf und streckte seinen Körper. »In Ordnung, Kameraden, ein paar Grundregeln. Wir sollten bestimmte Dinge besser nur dann diskutieren, wenn Acorna schläft. Sie ist viel zu klug; wenn sie alles weiß, wird sie einen Ballast an Schuld mit sich herumschleppen, den sie nicht braucht. Das gilt auch für den Austausch der Kennungssender. Wenn sie nichts davon weiß, wird sie später auch keine unbequemen Fragen darüber stellen. Soweit es sie betrifft, sind wir nur zum Auftanken hier, einverstanden?«
»Insofern ist es nur gut, daß wir nie dazu gekommen sind, beim Schiffsausrüster einen Raumanzug zu besorgen, der klein genug für sie ist«, kommentierte Gill.
Rafik nickte. »Bald müßten wir ihr erlauben, mit uns nach draußen zu gehen. Sie könnte von unschätzbarem Nutzen beim Aufspüren und der Bewertung von Minerallagerstätten sein, und abgesehen von dem Vorteil für uns braucht Acorna das Gefühl, nützlich zu sein. Aber okay, einstweilen ist es ganz gut, sie über unseren wahren Grund, hier haltzumachen, im unklaren zu lassen.«
Danach dauerte es noch länger, die Kennungssender auszutauschen, weil sie gezwungen waren, nur dann daran zu arbeiten, wenn Acorna schlief, und wenn sie wach war, ihre Aktivitäten offiziell auf die Extraktion von Wasserstoff und Sauerstoff zu beschränken. Nachdem die mühselige Aufgabe endlich vollbracht war, programmierte Rafik in den Navigationscomputer erneut das Ziel ein, das zu enthüllen er sich immer noch weigerte, und alle drei Männer holten auf ihrem Weg zur Landung auf dem Zielplaneten so viel Schlaf wie möglich nach.
»Müssen wir die ganze Zeit auf dem Schiff bleiben, während wir hier sind?« wollte Gill wissen.
»Rafik befürchtet wahrscheinlich, daß du imstande sein wirst, den Stern dieses Planeten zu identifizieren, wenn wir einen Fuß außerhalb des Hafengeländes setzen«, meinte Calum.
»Aber du kannst aufhören, dir Sorgen zu machen, Rafik.
Eigentlich hatten diese kleinen Spielchen, die du mit dem Navigationscomputer angestellt hast, keinerlei Sinn. Ich weiß nämlich genau, wo wir sind.«
»Woher?« verlangte Rafik zu wissen.
»Treibstoffverbrauch«, antwortete Calum selbstgefällig.
»Triangulation anhand bekannter Sterne. Zeit.
Kurskorrekturen. Ich habe den Kurs im Kopf berechnet und die Zahlen mit meiner Armbandeinheit überprüft. Wir sind auf dem vierten Planeten von – «
»Sag es nicht«, unterbrach Rafik ihn. »Laß mich Onkel Hafiz gegenüber wenigstens schwören, daß der Name und die Position seines Verstecks an Bord dieses Schiffes niemals gefallen sind.«
»Warum?« fragte Calum. »Was soll der Aufstand?
Jedermann könnte ausrechnen – «
»Nein, Calum, das könnte nicht jeder!« Rafik rollte seine Augen himmelwärts. »Ich könnte ein Buch über die Gefahren schreiben, sich mit einem mathematischen Genie einzuschiffen, das nicht einen Funken gesunden Menschenverstand hat, um die andere Seite seines Kopfes auszubalancieren. Es gibt hier alle möglichen Arten von Leuten, Calum, und das einzige, was sie alle gemeinsam haben, ist das starke Bedürfnis nach Anonymität. Ein Bedürfnis«, setzte er nachdrücklich hinzu, »das wir mit ihnen teilen, oder hast du das schon vergessen? Also, machen wir’s möglichst unkompliziert. Ihr bleibt, wo ihr seid. Ich besuche Onkel Hafiz und finde heraus, welchen Schnitt er vom Profit aus dem Verkauf unserer Firmenanteile verlangt, als Gegenleistung dafür, daß er sie in galaktische Credits konvertiert und die Registrierung unserer neuen Funkkennung in die Hand nimmt.«
»Aus Familiensinn wird er es nicht tun, hm?« fragte Gill.
Rafik rollte abermals mit den Augen und seufzte schwer.
»Bleibt… einfach… hier. Ich werde zurück sein, sobald ich kann, in Ordnung?«
»Wenn ihr Leute es so mit der Geheimhaltung habt, warum konnten wir dann nicht alles per Richtfunkverbindung von einem niedrigen Orbit aus erledigen? Warum einen persönlichen Besuch abstatten?«
Rafik sah schockiert aus. »Da haben wir jetzt schon so lange Zeit zusammengearbeitet, und ihr zwei müßt immer noch anständige Manieren lernen. Ihr Ungläubigen könnt meinetwegen Geschäfte elektronisch abschließen, wenn ihr wollt, aber Kinder der Drei Propheten treffen sich von Angesicht zu Angesicht. Das ist die einzig ehrenvolle Art und Weise, ein Abkommen zu treffen. Außerdem«, fügte er prosaischer hinzu, »ist keine Funkverbindung so eng gebündelt, als daß man sie nicht abhören könnte.«
Er war früher zurück, als sie erwartet hatten, mit verkniffenem Gesicht und schwer beladen mit einer Menge in undurchsichtige Schrumpffolie verpackter, zerbeulter Pakete.
»Du siehst nicht allzu glücklich aus. Was ist los, verlangt Onkel Hafiz einen erpresserisch hohen Anteil von den Aktien?« fragte Calum.
»Und wie kommt es, daß du deinen Ausflug unterbrochen hast, um einkaufen zu gehen?« ergänzte Gill.
»Onkel Hafiz«, antwortete Rafik, immer noch mit verkniffenem Gesichtsausdruck, »ist traditioneller gesinnt als ich. Er wünscht auch die anderen Geschäftsparteien von Angesicht zu Angesicht zu sehen, bevor wir in ernsthafte Verhandlungen eintreten.«
»Nicht Acorna!«
»Die Hafenbehörden haben vier Besatzungsmitglieder gemeldet. Er will alle vier sehen. Das geht schon in Ordnung«, beschwichtigte Rafik Gill, »er wird Acorna nicht tatsächlich sehen. Ich habe mir einen Weg ausgedacht, darum herumzukommen. Es ist zudem eine gute Idee; eine, die wir von nun an möglicherweise grundsätzlich verwenden könnten.«
»Und es hat mit Meter um Meter weißer Polyseide zu tun«, stellte Calum fest, als er den Inhalt eines der Pakete untersuchte. »Hmm, Rafik, nimm es mir nicht übel, aber ich habe schon früher Erfahrungen mit einigen deiner ›guten Ideen‹ machen dürfen. Wenn das hier so wird wie damals, als wir uns in den Kezdet-Raumsektor einzuschleichen versuchten, um uns dieses Titan zu holen, das dort angeblich einfach rumlag und nur darum bettelte, abgebaut und aufbereitet zu werden…«
»Das war doch auch eine gute Idee!« begehrte Rafik entrüstet auf. »Woher sollte ich denn wissen, daß die Kezdeter Hüter des Friedens gerade einen neuen Mann angeheuert hatten, der unsere Funkkennung aus seinen alten Tagen bei MME
wiedererkennen würde?«
»Das einzige, was ich mich frage«, murmelte Calum, »ist, von welchem entscheidenden Faktor du diesmal nichts weißt?«
»Dieses Mal ist es ganz anders«, versprach Rafik. »Nur ein belangloser Kostümwechsel. Seht mal, wir wollen doch nicht, daß irgendwer auf Acorna aufmerksam wird, richtig? Also werden wir noch traditionsbewußter sein als selbst Onkel Hafiz. Ich habe ihm erzählt, daß ich die Drei Bücher studiert hätte – das hat ihn glücklich gemacht. Dann habe ich ihm erklärt, daß ich vom Ersten Buch angeregt worden wäre, meine Studien zu vertiefen, und daß ich von den Neo-Hadithianern aufgenommen worden wäre.«
»Und das Ganze bedeutet präzise was?« fragte Gill.
»Die theologischen Feinheiten gehen wahrscheinlich über deinen Verstand«, gab Rafik zur Antwort. »Der wichtige Punkt ist aber, daß meine Frauen den Hijab tragen, der die perfekte Verkleidung für Acorna sein wird.« Er nahm Calum eines der Teile aus weißer Polyseide ab und hielt es mit beiden Händen hoch, so daß sie die Form des Kleidungsstückes erkennen konnten: eine viellagige Kapuze an der Spitze eines wallenden Gewandes aus noch mehr Stoffschichten, jede individuelle Lage leicht und scheinbar transparent, aber in der Gesamtheit eine Wolke aus irisierend reflektierendem Weiß. »Als ein aufgeklärtes Kind der Drei Propheten bin ich natürlich nicht so dumm, den uralten Aberglauben über das Verschleiern von Frauen zu teilen. Es gibt in Wahrheit keine Silbe im Ersten Buch – das ihr Ungläubigen den Koran nennt –, die verlangt, daß Frauen Schleier tragen und von der Außenwelt abgeschieden leben müßten. Und der Zweite Prophet hat diese und andere barbarische Praktiken, wie beispielsweise das Genußverbot von gegorenen Getränken, ein für allemal verworfen. Aber die Neo-Hadithianer behaupten, daß der Hadith, die überlieferten Erzählungen aus dem Leben des Ersten Propheten, genauso heilig wäre wie die Worte der Bücher. Sie wollen die schlimmsten Übel der schlechten alten Wege Wiederaufleben lassen. Einschließlich ; des Schleiers.
Onkel Hafiz mißfällt meine neue Anschauung zwar über alle Maßen. Aber er sagt, daß er meine religiösen Vorurteile respektieren und zugleich darauf warten wird, daß ich aus ihnen herauswachse. Er wird die Gesichter meiner Ehefrauen daher zwar nicht tatsächlich anschauen, aber trotzdem müssen sie während der Verhandlungen anwesend sein.«
»Ehefrauen?« wiederholte Calum.
Rafiks Augen funkelten. »Das ist der wirklich brillante Teil der Geschichte. Ich habe Onkel Hafiz erzählt, daß ich von meinem Geschäftspartner begleitet würde, einem Ungläubigen, und von meinen zwei Ehefrauen. Seht ihr, das liefert eine wunderbare Erklärung für die vier auf diesem Schiff gemeldeten Personen. Und
jemand, der nach drei
Bergleuten und einem kleinen Mädchen Ausschau hält, wird wahrscheinlich nicht auf den Gedanken kommen, einen NeoHadithianer, seine zwei Frauen und seinen Partner unter die Lupe zu nehmen.«
»Hört sich für mich riskant an«, wandte Calum ein.
»Du meinst, einer von uns bleibt auf dem Schiff, und du schnappst dir irgendein einheimisches Mädchen, das deine zweite Ehefrau spielen soll? Wie kannst du sicher sein, daß sie nichts ausplaudert?«
»Das – ähm – war nicht ganz das, was ich im Sinn hatte«, widersprach Rafik. Er schüttelte das zweite Gewand aus weißer Polyseide zu ganzer Länge aus und hielt es Calum an den Leib. »Ja. Ich habe deine Größe ganz gut geschätzt. Jetzt denk nur noch daran, kleine Schritte zu machen und deine Augen auf den Boden gerichtet zu halten, wie eine richtige neo-hadithianische Ehefrau, in Ordnung?«
»Ich glaube es nicht«, sagte Dr. Anton Forelle aufbrausend, als er die Berichte über die Khedive las. »Ich – glaube – es –
nicht.«
»Ich habe es auch nicht glauben wollen«, meinte Judit, »aber die Berichte sind ziemlich eindeutig.« Sie hatte geweint. »Es ist so traurig. Diese netten Männer, und das kleine Mädchen…«
»Wenn es wahr wäre«, fiel Forelle ihr ins Wort, »wäre es eine Tragödie. Das Ende meiner Chance auf den Forschungscoup des Jahrzehnts – des Jahrhunderts! Aber es ist nicht wahr. Amalgamated stellt nur Volltrottel ein; ich sollte es wissen, denn ich selbst habe ja die Sprache für die Lügen erfunden, die sie ihren Trotteln eintrichtern, denke mir nett klingende Worte für unmenschliche geschäftspolitische Direktiven aus.« Er warf Judit einen verschlagenen Blick zu.
»Das hören Sie nicht gerne, nicht wahr, Mädchen? Möchten nicht, daß ich geradeheraus sage, worum es in unserer Abteilung geht. Aber Sie sind nicht so dumm wie der Rest von denen. Sie müssen es doch gemerkt haben. Schön, ich hatte meine Gründe dafür, diesen Job anzunehmen
–
bejammernswert, die mangelnde Unterstützung der Grundlagenforschung heutzutage. Und egal was meine Ex-Kollegen auf der Universität auch sagen, ich hätte eine respektable Dissertation auf die Beine gestellt, wenn es mir gelungen wäre, Fördergelder für meine Forschung aufzutreiben. Und ich vermute, auch Sie haben Ihre Gründe, bei Amalgamated auszuharren.«
»Sie bezahlen gut«, rechtfertigte Judit sich. »Ich habe einen jüngeren Bruder auf Kezdet. Er ist noch nicht ganz mit der Schule fertig.«
»Und wenn er es einmal ist«, erwiderte Forelle, »werden Sie ohne Zweifel irgendeine andere Entschuldigung für sich selbst finden, um deren Geld anzunehmen. Die kaufen sich ein paar kluge Köpfe und korrumpieren uns und benutzen uns, um so viele Trottel zu kaufen, wie sie wollen. Einschließlich der Idioten, die glauben, daß die Khedive auf einem Asteroiden bruchgelandet wäre!«
»Das Signal des Kennungssenders – «, begann Judit unsicher.
»Gefälscht. Ich weiß nicht wie, ich bin kein Techniker, aber es war gefälscht.«
»Zu schwierig. Da wären zudem noch
die
Registrierungsnummern auf dem Schiffsrumpf und den Triebwerken.«
»Ha! Niemand ist nach draußen gegangen und hat tatsächlich nachgesehen, nicht wahr? Sie haben sich einfach auf die Computeraufzeichnungen verlassen.«
Judit schwieg. Forelles Überlegung war verrückt… aber es stimmte, niemand hatte die Absturzstelle leibhaftig überprüft.
»Ich wette mit Ihnen, daß dieses Schiff nicht die Khedive ist.
Ja, das ist es. Das Signal des Kennungssenders ist gefälscht, und sie sind längst in irgendeinem anderen Raumsektor, lachen sich über uns alle kaputt. Und Amalgamated wird die Sache fallenlassen, weil die wissen, daß, egal welche juristischen Winkelzüge sie auch machen, kein vernünftiges Gericht ihren Besitzanspruch auf das Schiff bestätigen würde – statt es weiterzuverfolgen, schreiben sie das Schiff daher lieber als Wrack ab und die Abweichler als tot. Ich aber werde die Sache nicht fallenlassen!« Forelle funkelte Judit an, als ob sie daran zu denken wagen könnte, ihm zu widersprechen. »Dieses –
dieses Einhornmädchen ist zu auffällig, um ohne jede Spur verschwinden zu können. Amalgamated besitzt galaxisweit Fabrikationsanlagen und Stützpunkte. Ich werde den Dauerbefehl erteilen, jede Erwähnung eines Kindes mit diesen besonderen Mißbildungen mit höchster Priorität an meine Konsole weiterzuleiten. Früher oder später werden sie einen Fehler machen. Ich werde sie finden, und wir werden doch noch zu unserer Dissertation kommen, Judit. Und dann werde ich in der Lage sein, diese Narren hier zu verlassen und die Universitätsposition einzunehmen, die ich verdiene. Sie werden wahrscheinlich einen Lehrstuhl für mich einrichten.
Also schön, machen Sie sich an die Arbeit. Formulieren Sie den Befehl, und ich werde ihn redigieren, damit die wissen, es ist dringend, aber nicht fragen, warum, und die Sache auch nicht vergessen werden. Endlich wird angewandte Psycholinguistik mal für etwas anderes nütze sein als dafür, die Arbeiterschaft von Amalgamated bei guter Laune zu halten.«
Judit war der Ansicht, daß er sich einer Selbsttäuschung hingab, aber es war eine Selbsttäuschung, die sie gern geteilt hätte. Allerdings, falls das Kind durch irgendein Wunder doch überlebt haben sollte, wollte sie keinesfalls zulassen, daß Forelle sie für seine Experimente in die Hände bekam. Also nutzte sie ihre psycholinguistische Ausbildung und gab ihr Bestes, ein Rundschreiben zu verfassen, das dringlich genug aussah, um Dr. Forelle zufriedenzustellen, während es in Wirklichkeit jeden, der es überflog, dazu ermutigte, die ganze Sache im Geiste als »wieder mal eine von Antons verrückten Ideen« abzutun.
Der Schweber, den Rafik mietete, um sie vom Hafengelände zur Residenz von Onkel Hafiz zu bringen, überflog eine spurenlose Weite tropischer Vergetation, ein mit Flecken roter und gelber Blumen gesprenkeltes, leuchtendes Grün. Im Osten schimmerte silbern ein vom Sonnenlicht bestrahltes, indigoblaues Meer; im Westen konnten sie am Horizont die lange blaue Linie einer gewaltigen Geländestufe erahnen, die den Bau jeglicher Straßen in das Innere des Kontinents vereitelt haben mußte.
»Der Mali-Basar«, erläuterte Rafik, als sie über eine Ansammlung von Gebäuden mit bunten mosaikgefliesten Flachdächern hinwegflogen.
Gill preßte seine Nase an das Fenster des Schwebers, um eine bessere Sicht auf die mit tausenden glasierter Keramikfliesen gezeichneten Bilder zu erhalten. »Auf jeder anderen Welt«, staunte er ehrfürchtig, »würde das eine bedeutende Touristenattraktion sein. Warum bringen sie die Mosaike auf den Dächern an, wo sie niemand sehen kann?«
»Die meisten Reisen werden hier nun mal mit dem Schweber gemacht«, gab Rafik Auskunft, »und es ist eine Art Reklame für ihre Dienste. Jedermann weiß, wo der Mali-Basar ist. Dort habe ich übrigens auch eure Hijab gekauft.«
»Ist es nicht hinderlich, daß es keine Straßen zum Raumhafen gibt?« erkundigte sich Gill. »Wie transportiert man schwere Güter und Maschinen?«
»Auf dem Seeweg natürlich«, antwortete Rafik. »Es hat, wenn man darüber nachdenkt, viele Vorteile, auf ein Straßennetz zu verzichten. Die meisten Einwohner von Laboue legen großen Wert auf die Wahrung ihrer Privatsphäre; das Reisen mit dem Schweber vermindert die Wahrscheinlichkeit, anderen Reisenden zu begegnen, die neugierig auf das Woher, Wohin und Warum des anderen sein könnten. Es kommt mit Sicherheit uns zugute, würdet ihr mir da nicht zustimmen?
Außerdem fällt es den ausgeprägten Individualisten, die sich hier niederlassen, schwer, das für Straßen erforderliche Maß an Kooperation aufzubringen. Es gibt keine Zentralregierung, keine Besteuerung, keine zentral unterhaltene Infrastruktur.«
»Teuer«, murmelte Gill, »ineffizient.«
Rafik warf ihm einen helläugigen, belustigten Blick zu.
»Kann sich in punkto Unfähigkeit denn wirklich irgendein System mit den massiven Ineffizienzen einer alles regulierenden Bürokratie messen? Was den finanziellen Aufwand angeht – in der Tat hat mal ein Unternehmer versucht, ein Netz von Mautstraßen zu errichten, aber er konnte die Kosten für ihre Bewachung nicht aufbringen.«
»Ihr habt Probleme mit Banditen?«
»Sagen wir, es gibt Einwohner, denen es schwerfällt, ihre althergebrachte Lebensweise hinter sich zu lassen«, meinte Rafik und legte den Schweber in eine sanfte Schrägkurve, die sie auf einen gepflasterten, von hohen, mit Bougainvillea bedeckten Mauern umgebenen Rechteckplatz herunterbrachte.
Er half Acorna und Calum mit der Behutsamkeit aus dem Schweber, wie man sie von einem Neo-Hadithianer seinen zerbrechlichen und wertvollen Frauen gegenüber erwarten würde. »Denk daran«, flüsterte er Calum zu, »sprich nicht!
Solange du diesen Schleier trägst, ist es Brauch, so zu tun, als ob du eigentlich gar nicht da wärst.«
Die langen, viellagigen neo-hadithianischen Gewänder aus weißer Polyseide verhüllten Calum und Acorna auf fabelhafte Weise; im grellen Sonnenlicht wirkten sie wie zwei sich bewegende, schillernd weiße Wolken, formlos und ununterscheidbar, ausgenommen daß die eine etwas größer war als die andere.
Als Gill aus dem Schweber herauskam, schwang ein Abschnitt der bougainvilleabedeckten Mauer wie eine Tür auf und enthüllte einen dunkelhäutigen Mann mittlerer Größe, bei dem Rafiks elegante Gesichtszüge zu einem Bild gefährlicher Wachsamkeit geschärft waren.
»Du und deine Familie und Gäste sind willkommen in dieser bescheidenen Behausung«, begrüßte er Rafik, wobei er seine rechte Hand in einer raschen Geste von der Stirn über die Lippen zur Brust führte.
Rafik wiederholte diese Geste, bevor er ihn umarmte. »Onkel Hafiz! Es ist wirklich gütig von dir, uns zu empfangen. Geht es dir gut?« erkundigte er sich, als ob sie sich nicht erst wenige Stunden zuvor schon einmal unterhalten hätten.
»Tut es, den Drei Propheten sei’s gedankt. Und du, mein Neffe? Bist du gesund?«
»Gesegnet seien der Hadith und die Offenbarungen von Moulay Suheil«, erwiderte Rafik, »das bin ich, und meine Frauen ebenso.«
Ein leichter Schatten der Mißbilligung überzog das Antlitz von Onkel Hafiz bei der Erwähnung des Hadith. Aber er beherrschte sich und gab gebührend höfliche Antworten, als Rafik fortfuhr, sich nach der Gesundheit unzähliger Vettern, Neffen und entfernterer Verwandtschaft zu erkundigen.
Schließlich endeten die Eröffnungsbegrüßungen, Onkel Hafiz trat zurück und lud sie mit einem Wink seiner Hand ein, ihm in den Garten voranzugehen, der sich ihnen jenseits der Mauern offenbarte, von denen die Schweberlandefläche umgeben war.
Ein Pfad aus tiefblauen Trittsteinen mäanderte dort zwischen blühenden Büschen hindurch. Als Gill auf den ersten Stein trat, drang vom Boden ein klares, reines Mittel-C in die Höhe. Die nächsten zwei Schritte erzeugten ein E und ein G; die Klänge verweilten in der Luft und vereinigten sich zu einem perfekten Akkord.
»Ihnen gefällt mein Gehweg?« fragte Hafiz mit einem zufriedenen Lächeln. »Womöglich ist das Ihre erste Begegnung mit den Singenden Steinen von Skarrness.«
»Aber ich dachte, die wären – « Gill schluckte den Rest des Satzes hinunter. Die einstmals berühmten Singenden Steine von Skarrness gab es mittlerweile so gut wie gar nicht mehr, sie waren skrupellosen Sammlern zum Opfer gefallen, die so viele der Steine geraubt hatten, daß die verbliebenen ihren Bestand nicht mehr aufrechterhalten konnten. Aber Rafik hatte ja gesagt, daß Hafiz ein Raritätensammler wäre, und angedeutet, daß er von Skrupeln nicht übermäßig belastet war.
Es wäre daher wahrscheinlich nicht taktvoll, seinen Gedanken zu Ende zu führen.
»Ziemlich selten, richtig«, setzte Hafiz seinen Satz fort. »Ich hatte sehr großes Glück, einen perfekt abgestimmten Satz in C-Dur erwerben zu können sowie einen sogar noch selteneren Satz in lydianischer Tonart. Leider sind heutzutage nur noch sehr wenige vollständige Sätze erhältlich.«
Dank Gaunern wie dir, dachte Gill, aber er brachte es fertig, seine Gedanken für sich zu behalten und ein unbewegtes Gesicht zu wahren.
Der Gehweg führte sie musikalisch zu einer hohen Mauer aus dunklem Stein, den Hafiz beiläufig als farinesischen Marmor identifizierte. Ein Doppeltor aus verschnörkelter, handgeschmiedeter Metallarbeit öffnete sich auf einen zweiten Garten, dieser auf drei Seiten von einer überdachten Galerie mit Säulen aus dem gleichen farinesischen Marmor umgeben.
Durch die Säulen hindurch erhaschte Gill einen Blick auf Durchlässe in das schattige Innere einer Residenz mit polierten Böden, geschnitzten Holzvertäfelungen und Seidenvorhängen.
Hafiz klatschte in die Hände, und mehrere in Roben gewandete Diener tauchten auf, zwei trugen Sitzkissen aus juwelenfarbener Seide, ein anderer eine hohe Kristallkaraffe und ein vierter hinter ihm eine Kristallschüssel und einen Stapel so reich mit Goldfäden bestickter Handtücher, daß in der Mitte eines jeden nur ein kleines seidenes Quadrat sichtbar war.
»Wir haben drinnen natürlich vollständige, moderne Sanitäreinrichtungen«, ließ sich Hafiz entschuldigend vernehmen, »aber es bereitet mir Freude, die alten Bräuche beizubehalten, Gästen Wasser mit meinen eigenen Händen und Speise und Trank in meinem eigenen Garten anzubieten, sobald sie eingetroffen sind.« Er nahm die Karaffe und goß einen dünnen Strom kalten Wassers über Rafiks ausgestreckte Hände. Gill ahmte Rafiks Bewegungen nach und nahm sich eines der bestickten Handtücher, um seine Hände abzutrocknen. Hafiz überreichte Rafik die Karaffe mit einer Verbeugung. »Vielleicht ziehst du es vor, deinen Frauen das Wasser selbst anzubieten. Ich möchte ungern deine neuen Glaubensanschauungen beleidigen.«
Rafik verneigte sich anerkennend und streckte die Karaffe Calum und Acorna entgegen, um ihre Hände zu waschen, wobei er sich wie zufällig so bewegte, daß sein Leib Hafiz jeden Blick verstellte, den er auf Acornas sonderbar geformte Finger und Calums maskuline Hände hätte werfen können.
Hafiz bedeutete ihnen, daß sie alle auf den seidenen Kissen Platz nehmen sollten, erwähnte beiläufig, daß die Karaffe und Schüssel beide aus einem einzigen Stück Merastikama-Kristall geschliffen worden waren, und befahl den Dienern, die Waschutensilien wieder fortzunehmen und seinen Gästen Erfrischungen zu bringen. Das Aufstellen von Messingtabletts auf dreibeinigen Holzständern, das Herumreichen von winzigen, mit feurigem Branntwein gefüllten Gläsern und von dünnen Schalen mit Fruchtsorbet nahm, wie es Gill erschien, eine übermäßig lange Zeit in Anspruch, während derer Hafiz und Rafik über Trivialitäten plauderten. Rafik machte eine Schau daraus, das alkoholische Getränk abzulehnen, ganz im Einklang mit seinem vorgeblichen Übertritt zum strengen Glauben der neohadithianischen Sekte, die sämtliche Verbote des Ersten Propheten wiederbelebt hatte und noch etliche mehr. Gill war zunächst froh, ein offizieller Ungläubiger zu sein und die Getränke daher unbefangen genießen zu dürfen; dann jedoch, nach einem brennenden Schluck, begann er die Möglichkeit zu erwägen, einen spontanen Übertritt zu Rafiks Doktrinen zu verkünden. Mit Erleichterung sah er, daß es Acorna gelang, eine Schüssel Sorbet ganz unter ihren Schleier zu nehmen; er hatte schon befürchtet, daß Essen und Trinken ihre Verkleidung über Gebühr auf die Probe stellen würden.
Aber es schien, daß die Neo-Hadithianer die Gewänder ihrer Frauen so entworfen hatten, daß die Schleier für gar nichts entfernt werden mußten. Gill fragte sich griesgrämig, ob sie sie eigentlich im Bett ablegten.
Endlich, in Gestalt eines beiläufigen, nachträglichen Gedankens im Anschluß an eine ausgedehnte Diskussion über die Probleme des interstellaren Handels, erwähnte Rafik, daß er und sein Partner auf eine kleine formalistische Schwierigkeit gestoßen waren, bei der Onkel Hafiz ihnen möglicherweise weiterhelfen könnte – gegen eine Aufwandsentschädigung selbstverständlich.
»Jaja, dieser banale Formalkram.« Hafiz seufzte mitfühlend.
»Wie sie uns zusetzen, diese kleinlichen Bürokraten mit ihren Buchhaltungsdetails! Was ist das Problem, Sohn meiner Lieblingsschwester?«
Rafik lieferte Hafiz eine stark überarbeitete Schilderung ihrer Schwierigkeiten mit Amalgamated, wobei er jegliche Erwähnung von Acorna unterließ und die fundamentale Illegalität von Amalgamateds Besitzanspruch auf die Khedive betonte.
»Wenn ihr Anspruch jeglicher Grundlage entbehrt«, erkundigte sich Hafiz, als ob ihn lediglich müßige Neugier antriebe, »warum bringst du deinen Fall dann nicht vor die Föderationsgerichte?«
»Es steht geschrieben im Buch des Zweiten Propheten«, erwiderte Rafik: »Vertraue Verwandten mehr als Landsleuten, Landsleuten mehr als Ausländern, und allen mehr als Ungläubigen.«
»Und dennoch ist dein Partner ein Ungläubiger«, stellte Hafiz fest.
»Unsere Partnerschaft besteht schon sehr lange«, rechtfertigte Rafik sich. »Davon abgesehen, wäre da noch eine unbedeutende Komplikation im Zusammenhang mit dem von MME – der Firma, bei der wir vormals unter Vertrag standen –
für Schürfausrüstung und Vorräte vorgestreckten Geld. Die ungläubigen Hunde bei Amalgamated beanspruchen unser Schiff als Sicherheit für diesen Vorschuß, obwohl unsere Schulden schon mehr als dreimal in Folge beglichen gewesen wären, wenn sie uns das Metall gutgeschrieben hätten, das wir ihnen im Laufe die letzten drei Jahre per Drohne hingeschickt haben. Jedenfalls, wir haben die Amalgamated-Basis in ziemlicher Eile verlassen, und die Angelegenheit wurde nicht geklärt.«
»Es steht auch geschrieben«, sagte Hafiz: »Jage nicht dem Silber in solcher Hast nach, daß dadurch das Gold am Wegesrand liegen bleibt.«
»Ein höchst vortrefflicher Ratschlag, mein verehrter Onkel«, erwiderte Rafik höflich, »aber einer, den ich mich unter den gegebenen Umständen nicht zu ehren imstande sah.« Er senkte seine Stimme, wie um sicherzustellen, daß die verschleierten Gestalten auf der anderen Seite des Messingtabletts ihn nicht hörten. »Es ging um eine Frau – du verstehst?«
Hafiz lächelte breit. »Ich fange an zu verstehen, warum du den Neo-Hadithianern beigetreten bist, mein Sohn! Es ist ihre Wiederbelebung der Polygamie, die deinen Anklang findet.
Zwei Ehefrauen waren also nicht genug. Du mußtest dir Ärger mit irgendeinem Ungläubigen auf der Amalgamated-Basis einhandeln?«
»Im Vertrauen«, flüsterte Rafik, »die größere meiner zwei Frauen ist so häßlich, daß man sie für einen Mann halten könnte, und ich kann mit ihr als Frau nichts anfangen; während die kleinere noch zu jung ist, um sie in mein Bett zu nehmen.
Beide Heiraten dienten dazu, meine verwandtschaftlichen Bindungen zu den Neo-Hadithianern zu festigen, und geschahen nicht wegen fleischlicher Gelüste.«
Calum mußte unter seinem Schleier würgen. Gill griff unter den Tisch und kniff ihn durch die wogenden weißen Schichten aus Polyseide fest genug in einen Teil seiner Anatomie, um Calum von dem abzulenken, was auch immer es ihn zu sagen gereizt haben mochte.
Hafiz lachte herzlich über Rafiks Eingeständnis seiner Eheprobleme und schien nun eher geneigt zu sein, ihnen auszuhelfen, da er so die Genugtuung erhielt, seinen Neffen wegen des schlechten Handels aufziehen zu können, den er mit seinem Beitritt zur Sekte der Neo-Hadithianer gemacht hatte.
Die Registrierung ihres neuen Kennungssenders auf ihren Namen zu übertragen, warnte er, sei eine komplizierte Aufgabe und erfordere Schmiergeldzahlungen an eine Reihe von Personen, die nicht alle so liberal denkende Menschen wären wie er selbst. Er würde die ganze Angelegenheit nichtsdestoweniger mit Freuden in die Hand nehmen, wenn Rafik eine Möglichkeit fände, ihm hierfür ausreichend Credits zur Verfügung zu stellen.
»Das bringt einen weiteren unbedeutenden Punkt zur Sprache«, ergriff Rafik das Wort und zeigte Hafiz die Amalgamated-Aktienzertifikate.
»Diese können natürlich in Föderations-Credits konvertiert werden«, bestätigte Hafiz, während er die Zertifikate rasch durchblätterte, »wenn auch nur mit einem erheblichen Wertabschlag.«
»Der Veräußerungsverlust bei Aktien eines solch galaxisweit renommierten Unternehmens, mit fast garantierter Wertsteigerung, müßte lediglich nominell sein«, protestierte Rafik.
Hafiz lächelte. »Steht es nicht geschrieben, im Buch des Dritten Propheten: ›Zähle nicht das Licht eines fernen Sterns zu deinem Besitz, denn dieser Stern mag schon lange erloschen sein, wenn sein Licht deine Augen erreicht?‹« Er warf einen Blick auf Acorna, die unter ihren Schleiern auf eine Weise, die Calum und Gill zu ernsthaften Befürchtungen Anlaß gab, nervös zu zappeln begonnen hatte. »Aber deine jüngere Frau ist unruhig. Vielleicht möchten sich deine Frauen in die Räume zurückziehen, die für sie vorbereitet wurden, während wir die unbedeutende Angelegenheit der Verkaufsprovision dieser Aktien und der notwendigen Zahlungen regeln, um das Ummeiden des neuen Kennungssenders zu erleichtern? Oder würden sie lieber im äußeren Garten lustwandeln? Ich kann eine meiner Frauen rufen, die sich dann um sie kümmern wird.«
»Das wird nicht nötig sein«, meldete sich Gill zu Wort und stand auf. »Ich würde mich geehrt fühlen, die Damen zu begleiten.«
Rafik lächelte seraphisch. »Ich hege vollstes Vertrauen in meinen Partner«, versicherte er Hafiz. »Genauso wie er mir vertraut, die Verhandlungen abzuschließen, kann ich ihm meine Ehre und die meiner Ehefrauen anvertrauen.«
»Insbesondere«, stichelte Hafiz, als die anderen sie verlassen hatten, »da eine, deiner Schilderung nach, zu häßlich fürs Bett ist und die andere zu jung.«
»Ganz genau«, bestätigte Rafik gutgelaunt. »Was nun diesen Verkaufsabschlag betrifft…«
Kaum daß sie zwischen den blühenden Sträuchern des äußeren Gartens verborgen waren, schob Calum auch schon seinen mehrlagigen Schleier zurück und holte tief Luft. »Ich werde Rafik umbringen«, schwor er.
Gill kicherte. »Denk daran, kleine, damenhafte Schritte zu machen«, neckte er ihn. »Und laß den Schleier besser unten.
Selbst mit Rafiks Warnung, daß du so häßlich wie ein Mann bist, könnte Hafiz Verdacht schöpfen, wenn er sähe, daß du eine Rasur brauchst.«
»Ich hoffe nur, daß sie bald mit ihrem Geschachere fertig sind, damit wir aufs Schiff zurück können«, erwiderte Calum mißmutig, aber er stülpte den Schleier wieder über sein Gesicht. »Ich habe die Kostümierung satt.«
Acorna zupfte Gill am Ärmel und deutete auf das Gras, das rings um jeden der blauen Singenden Steine wuchs. »Was? Oh, sicher, Schatz, geh nur und knabbere, wenn du möchtest. Du bist ein braves Mädchen gewesen. Aber denk daran, deinen Kopf zu bedecken, wenn wir jemanden kommen hören. Die Singenden Steine müßten uns ausreichend Vorwarnung geben«, rechtfertigte sich Gill vor Calum.
»Mir hast du nicht erlaubt, den Schleier abzunehmen.«
»Eine Frage der Schicklichkeit«, gluckste Gill. »Du brauchst keine Zwischenmahlzeit. Acornas Metabolismus hingegen braucht mehr als gelegentlich mal eine Schüssel Sorbet, weißt du. Selbst falls Hafiz erwartet, daß wir zum Essen bleiben, wird das wahrscheinlich größtenteils aus Fleischgerichten bestehen, und die kann sie nicht essen.«
Acorna, die das Streitgespräch ignorierte, hatte sich in ihren wallenden Schleiern leise niedergekniet und die Gesichtsschleier nach hinten geschoben, damit sie beim Abzupfen der zarten Süßgräserspitzen etwas sehen konnte.
»Braves Mädchen, brav«, ermutigte Gill sie. »Rupf aber keine Löcher in den Rasen.«
»Ist ungezogen, Löcher ins Gras zu machen«, sagte Acorna.
»Ist ein Nein.«
»Ein sehr großes Nein, in jemand anderes Garten«, bestätigte Gill. »Aber das Zeug muß ohnehin gerade gemäht werden, so wie es aussieht, also wird es keinen Schaden anrichten, wenn du oben drei oder vier Zentimeter wegnimmst.«
Fünf Noten einer klagenden Tonleiter ertönten in rascher Folge. Acorna versuchte aufzuspringen, aber die duftigen Stofflagen, in die sie eingewickelt war, behinderten ihre Bewegungen, und sie wäre beinahe gestürzt, wenn Gill nicht ihre Hand ergriffen und sie durch schiere Kraft hochgezerrt hätte. Sie tastete immer noch nach ihrem Schleier, als Hafiz und Rafik in Sicht kamen.
Hafiz’ Augenbrauen schossen nach oben, und er trat rasch auf sie zu. »Bei den Ohrlocken des Dritten Propheten!« rief er aus. »Eine wahrhaftige Rarität! Rafik, geliebter Neffe, ich glaube, wir können zu einer beiderseitig einvernehmlichen Übereinkunft gelangen und uns auf eine erheblich niedrigere Provision einigen, als ich erwartet hatte.«
»Onkel«, entgegnete Rafik in mißbilligendem Tonfall, »ich bitte dich, beleidige nicht die Würde meiner Frauen und die Ehre meiner Familie.« Aber es war zu spät; Hafiz streichelte bereits das kurze Horn, das aus Acornas Stirn hervorsprang.
Sie stand ganz still, nur das Verengen ihrer Pupillen zeigte ihre Not und ihre Verwirrung.
»Du hast dich beschwert, daß diese hier zu jung wäre, um von irgendeinem Nutzen zu sein«, gab Hafiz zurück, ohne den Blick von Acorna abzuwenden. »Wie günstig, daß deine neuen Religionsfreunde an den alten Traditionen in Sachen Scheidung ebenso festhalten wie an der Polygamie und dem Hijab. Nichts ist einfacher als eine in aller Stille erfolgende Familienscheidung, was auf einen Schlag sowohl dich aus einer unerwünschten Verlegenheit befreit als auch mir den Erwerb einer neuen Rarität ermöglicht.«
»Undenkbar«, protestierte Rafik. »Ihre Familie hat sie mir anvertraut; sie ist meine heilige Verantwortung.«
»Dann werden sie ohne Zweifel begeistert sein, zu erfahren, daß sie hinfort das Heim eines derart vornehmen und gütigen Sammlers wie mir zieren wird«, insistierte Hafiz freudestrahlend. »Ich bin willens, es auf mich zu nehmen, sämtliche religiösen Auflagen deiner Sekte zu respektieren. Sie kann die Räume haben, die ich heute nacht für dich und deine Frauen bereitgestellt hatte; ich werde sie als ein allein ihr und ihrer Dienerschaft vorbehaltenes, von der Außenwelt abgeschiedenes Frauenquartier herrichten, so daß keinerlei neo-hadithianische Befindlichkeiten verletzt werden. Du wirst ihrer Familie sagen können, daß sie mit jedem erdenklichen Luxus versorgt wird.«
»Es tut mir leid«, lehnte Rafik unnachgiebig ab. »Ich verkaufe meine Frauen nicht. Onkel Hafiz, das verbietet mir meine Ehre!«
Hafiz wischte die Einwände mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. »Ach, ihr jungen Leute seid so leidenschaftlich! Ich würde meiner Pflicht als dein Onkel nicht nachkommen, mein Junge, wenn ich dir erlaubte, überstürzt etwas abzulehnen, was dir nach reiflicher Überlegung als eine höchst vorteilhafte Lösung all deiner Schwierigkeiten erscheinen wird. Nein, der Familiensinn verlangt, daß ich dir genug Zeit verschaffe, in aller Ruhe über die Situation nachzudenken. Ihr werdet also meine Gäste bleiben, bis du ausreichend Gelegenheit gehabt hast, die Weisheit dieses Vorgehens einzusehen.«
»Wir können dir doch nicht zur Last fallen«, wand Rafik ein.
»Wir werden heute nacht auf unser Schiff zurückkehren und die Angelegenheit dort unter uns besprechen.«