Achtundzwanzig

Als Erlendur ins Foyer kam, fiel sein Blick auf Oberkellner Rósant. Er zögerte, weil er sich nicht sicher war, ob er ihn jetzt ansprechen sollte. Valgerður war bestimmt schon im Hotel. Erlendur schaute auf die Uhr, zog eine Grimasse und begab sich zu dem Oberkellner. Es würde nicht lange dauern.

»Erzähl mir doch mal was über die Nutten«, sprach er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, Rósant an, der gerade servil und zuvorkommend mit zwei Hotelgästen redete. Es waren offensichtlich Isländer, denn ihre entgeisterten Blicke wanderten in gespannter Erwartung zwischen ihm und Rósant hin und her.

Rósant lächelte, und der kleine Oberlippenbart hob sich. Er entschuldigte sich höflich gegenüber den Gästen, verbeugte sich und trat mit Erlendur zur Seite.

»In einem Hotel geht es um Menschen, und wir sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen, war das nicht der Quatsch, den du von dir gegeben hast?«

»Das ist kein Gesülze. Das wird einem in der Hotelfachschule beigebracht.«

»Bringen sie einem auch bei, wie man als Oberkellner nebenbei als Zuhälter arbeiten kann?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Nein, aber ich sag’s dir gerne. Du hast dir hier einen netten kleinen Puff im Hotel eingerichtet.«

Rósant lächelte.

»Puff?«, fragte er.

»Hat das vielleicht etwas mit dem Mord an Guðlaugur zu tun, dein Nuttenbetrieb?«

Rósant schüttelte den Kopf.

»Wer war bei Guðlaugur, als er ermordet wurde?«

Sie schauten einander in die Augen, bis Rósant den Blick senkte und auf den Boden starrte.

»Niemand, den ich kenne«, sagte er schließlich.

»Auch nicht du selber?«

»Irgendeiner von deinen Leuten hat meine Aussage protokolliert. Ich habe ein Alibi.«

»Hat Guðlaugur sich mit den Nutten abgegeben?«

»Nein. Und ich habe nicht das Geringste mit irgendwelchen Nutten zu tun. Ich weiß nicht, woher du solche Informationen hast, erst Diebstahl in der Küche und jetzt Nutten. Das ist totaler Schwachsinn. Ich bin kein Zuhälter.«

»Aber …«

»Wir halten ganz bestimmte Informationen für unsere Gäste bereit. Für Ausländer auf Konferenzen, Isländer ebenfalls. Sie fragen nach Begleitung, und da versuchen wir zu helfen. Wenn sie in der Bar schöne Frauen treffen und sich wohl fühlen …«

»Dann sind alle zufrieden. Sind wohl dankbare Kunden?« »Sehr.«

»Also du bist für die Versorgung mit Nutten zuständig?« »Ich …«

»Toll, wie romantisch du das darstellen kannst. Der Hotelmanager steckt mit dir unter einer Decke. Was ist mit dem Empfangschef?«

Rósant zögerte.

»Er hat nicht die gleiche Auffassung wie wir, wenn es darum geht, den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Gäste nachzukommen.«

»Den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Gäste nachzukommen«, wiederholte Erlendur. »Wo lernt man es, sich so auszudrücken?«

»Auf der Hotelfachschule.«

Erlendur schaute auf seine Uhr.

»Und wie passen deine Auffassung und die des Empfangschefs zusammen?«

»Manchmal gibt es Konflikte.«

Erlendur erinnerte sich, dass der Empfangschef abgestritten hatte, dass es Nutten im Hotel gäbe, und dachte bei sich, dass er wahrscheinlich als Einziger der leitenden Angestellten auf den Ruf des Hotels bedacht war.

»Aber du bist dabei, sie zu reduzieren, oder?«

»Ich verstehe nicht, wovon du redest.«

»Kommt er euch häufig in die Quere?«

Rósant antwortete nicht.

»Du hast ihm neulich die Nutte auf den Hals gehetzt, nicht wahr? Eine kleine Warnung, nicht die Klappe aufzureißen. Du bist an dem Abend auch ausgegangen, hast ihn in diesem Lokal gesehen und eine von deinen Nutten auf ihn angesetzt.«

Rósant zögerte.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, wiederholte er.

»Nein, selbstverständlich nicht.«

»Er ist so fürchterlich bieder«, sagte Rósant, und das Bärtchen lüftete sich zu einem fast unsichtbaren ironischen Grinsen. »Er will einfach nicht kapieren, dass es besser ist, wenn wir bei so etwas selber die Regie führen.«

Valgerður wartete in der Bar auf Erlendur. Sie war wie bei ihrem letzten Treffen dezent geschminkt, was ihre Gesichtszüge vorteilhaft unterstrich. Unter der schwarzen Lederjacke trug sie eine weiße Seidenbluse. Sie gaben sich die Hand und lächelten zögernd. Er überlegte, ob dieses Treffen ein neuer Beginn für beide sein könnte. Es war ihm nicht klar, was sie von ihm wollte, ihm kam es so vor, als hätte sie das letzte Wort im Hinblick auf ihre Bekanntschaft gesagt, als sie sich in der Lobby begegnet waren. Sie lächelte und fragte, ob sie ihm einen Drink anbieten könne, oder ob er womöglich im Dienst sei?

»In Spielfilmen dürfen Bullen nie trinken, wenn sie im Dienst sind«, sagte sie.

»Ich schau mir keine Spielfilme an«, sagte Erlendur lächelnd.

»Nein«, sagte sie, »du ziehst deine Katastrophenlektüre vor.«

Sie nahmen in einer Ecke der Bar Platz, saßen schweigend da und beobachteten das lebhafte Hin und Her. Je näher Weihnachten rückte, desto lauter wurden die Gäste, fand Erlendur. Unablässig dudelten Weihnachtslieder aus der Lautsprecheranlage, die Ausländer schleppten sich mit extravaganten Paketen ab und tranken Bier, ohne groß darüber nachzudenken, dass es nirgendwo in Europa so teuer war wie in Island.

»Ihr habt es also geschafft, eine Speichelprobe von Wapshott zu kriegen«, bemerkte Erlendur.

»Was ist das eigentlich für ein Typ? Die mussten ihn überwältigen und zu Fall bringen und ihm den Mund gewaltsam öffnen. Es war richtig peinlich, wie er sich aufgeführt hat, er wehrte sich mit Händen und Füßen.«

»Ich weiß nicht genau, woran ich mit ihm bin«, erwiderte Erlendur. »Ich weiß nicht genau, was er eigentlich hier in Island will, und ich bin mir nicht sicher, was er zu verbergen hat.«

Er wollte nicht näher auf Wapshott und auf die Informationen aus England eingehen, nicht auf die Kinderpornos und die Verurteilungen wegen Sexualvergehen. Er fand es unpassend, mit Valgerður darüber zu reden, und außerdem hatte Wapshott trotz allem ein Recht darauf, dass sein Privatleben nicht von ihm breitgetreten wurde.

»Wahrscheinlich bist du eher an so etwas gewohnt als ich«, sagte Valgerður.

»Ich habe noch nie jemandem eine Speichelprobe entnehmen müssen, der zu Fall gebracht werden musste und brüllend und tobend auf dem Boden lag.«

Valgerður lachte.

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte sie. »Ich habe nie mit jemand anderem so zu zweit dagesessen als mit meinem Ehemann – ich glaube, dreißig Jahre lang. Du musst mir verzeihen, wenn ich etwas … linkisch wirke.«

»Dann sind wir beide gleich unbeholfen«, sagte Erlendur. »Ich habe mit so etwas auch kaum Erfahrung. Es ist bald fünfundzwanzig Jahre her, seit ich mich von meiner Frau scheiden ließ. Die Frauen in meinem Leben kann man so ungefähr an drei Fingern abzählen.«

»Ich glaube, ich werde mich von ihm trennen«, sagte Valgerður dumpf. Erlendur schaute sie verblüfft an.

»Was meinst du?«, fragte er. »Willst du dich von deinem Mann scheiden lassen?«

»Ich glaube, zwischen uns ist alles zu Ende, und ich wollte dich um Verzeihung bitten.«

»Mich?«

»Ja, dich«, sagte Valgerður. »Ich benehme mich wie ein Idiot«, seufzte sie dann. »Ich wollte dich benutzen, um mich zu rächen.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Erlendur.

»Ich eigentlich auch nicht. Es war einfach alles so scheußlich, seitdem ich es herausgefunden habe.«

»Was herausgefunden?«

»Dass er mich betrügt.«

Sie sagte das so, als sei es eine Tatsache wie viele andere, mit denen man leben musste. Erlendur konnte ihr nicht anmerken, wie ihr zumute war, er spürte nur die Leere in ihren Worten.

»Ich weiß nicht, wann es begonnen hat, oder warum«, sagte sie.

Sie verstummte und Erlendur, der nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg ebenfalls.

»Bist du fremdgegangen?«, fragte sie plötzlich.

»Nein«, sagte Erlendur. »Das hatte nichts mit so etwas zu tun. Wir waren einfach jung, und es gab keinen gemeinsamen Weg für uns.«

»Ein gemeinsamer Weg, was ist das?«

»Und du willst dich von ihm scheiden lassen?«

»Ich versuche, irgendwelche klare Linien zu finden«, sagte sie. »Es hängt natürlich auch davon ab, was er macht.«

»Was bedeutet in diesem Fall fremdgehen?«

»Gibt’s da irgendwelche Optionen?«

»Hat er das seit Jahren gemacht, oder hat es gerade erst angefangen? Hat er vielleicht mehr als eine gehabt?«

»Er sagt, dass er seit zwei Jahren mit derselben Frau zusammen ist. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihn nach der Vergangenheit zu fragen, ob es da auch schon andere gegeben hat, von denen ich nie gewusst habe. Im Grunde genommen weiß man nichts. Man vertraut seinen Nächsten, besonders seinem Ehemann, aber dann fängt er eines Tages an, von der Ehe zu reden, und eröffnet einem, dass er diese Frau kennen gelernt und seit zwei Jahren ein Verhältnis mit ihr hat. Und man kommt sich vor wie ein Vollidiot. Begreift überhaupt nicht, worüber er redet. Dann stellt sich heraus, dass sie sich in Hotels wie diesem getroffen haben …«

Valgerður verstummte.

»Diese Frau, ist sie verheiratet?«, fragte Erlendur.

»Geschieden. Sie ist fünf Jahre jünger als er.«

»Hat er irgendeine Erklärung für das Fremdgehen abgegeben? Weswegen er …«

»Meinst du damit, dass es meine Schuld gewesen ist?«, unterbrach Valgerður ihn.

»Nein, das habe ich ni…«

»Vielleicht ist es meine Schuld«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Es hat keinerlei Erklärungen gegeben, nur Wut und Verständnislosigkeit.«

»Und eure beiden Söhne?«

»Denen haben wir noch nichts gesagt. Sie sind beide schon von zu Hause ausgezogen. Vielleicht ist das die Erklärung. Zu wenig Zeit für uns selbst, während sie noch daheim waren, zu viel Zeit, als sie aus dem Haus waren. Vielleicht haben wir uns beide nicht mehr gekannt. Zwei Fremde, und das nach all den Jahren.«

Sie schwiegen.

»Du brauchst mich nicht um Entschuldigung zu bitten«, sagte Erlendur schließlich und schaute sie an. »Ganz im Gegenteil. Ich sollte dich um Entschuldigung bitten, dir gegenüber nicht aufrichtig gewesen zu sein. Dich angelogen zu haben.

»Mich angelogen?«

»Du hast gefragt, warum ich mich so für diese tödlichen Unfälle in den Bergen interessiere, für Gefahren, Bergnot und Strapazen in Eis und Schnee, und ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Das ist, weil ich fast noch nie darüber gesprochen und vermutlich Probleme damit habe. Ich finde, dass das niemanden etwas angeht. Auch meine Kinder nicht. Erst als meine Tochter in Lebensgefahr schwebte und ich Angst hatte, dass sie stirbt, erst dann habe ich ein Bedürfnis verspürt, darüber zu sprechen. Um ihr das zu sagen.«

»Um ihr was zu sagen?«, fragte Valgerður behutsam.

»Mein Bruder ist auf diese Weise ums Leben gekommen«, sagte Erlendur. »Als er acht Jahre alt war. Er wurde nie gefunden.«

Er hatte laut zu einer völlig unbekannten Person an einer Hotelbar das gesagt, was, solange er zurückdenken konnte, wie ein Albtraum auf ihm gelastet hatte. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit danach gesehnt. Vielleicht war es jetzt so weit, dass er nicht mehr allein in diesem Schneesturm stehen wollte.

»In einem dieser Bücher über solche Unglücksfälle ist ein Bericht, den ich immer wieder lese«, sagte er. »Ein Bericht darüber, wie mein Bruder umgekommen ist, über die Suchaktion und die schwere Trauer, die sich über unser Zuhause legte. Eine erstaunlich genaue Beschreibung, die von einem der einflussreichen Männer in der Gemeinde stammt und von einem Freund meines Vaters aufgezeichnet wurde. Unsere Namen werden erwähnt und wie wir gelebt haben. Und die Reaktion meines Vaters, die die Leute seltsam fanden. Mein Vater brach vor Verzweiflung und Selbstanklagen fast zusammen, er saß nur in seinem Zimmer und starrte regungslos vor sich hin, während andere unter Aufbietung all ihrer Kräfte weiter auf die Suche gingen. Wir wurden nicht gefragt, als dieser Bericht herausgegeben wurde, und meine Eltern litten furchtbar darunter. Ich kann ihn dir irgendwann einmal zeigen, wenn du willst.«

Valgerður nickte.

Erlendur begann zu erzählen, während sie aufmerksam zuhörte, und als er damit fertig war, lehnte sie sich zurück und seufzte tief.

»Ihr habt ihn also nie gefunden?«, fragte sie.

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Noch lange Zeit, nachdem es passierte, und manchmal sogar heute noch, bilde ich mir ein, dass er gar nicht tot ist. Dass er völlig erschöpft sich in die bewohnten Täler durchgeschlagen hat; dass er deswegen nicht zu uns zurückkam, weil er das Gedächtnis verloren hat, und dass ich ihm noch einmal begegnen werde. Manchmal suche ich in Menschenansammlungen nach ihm und versuche mir vorzustellen, wie er aussehen könnte. Das ist eine verbreitete Reaktion, wenn die sterblichen Überreste eines Menschen nicht gefunden werden. Ich kenne das aus meiner Arbeit bei der Polizei. Wenn nichts anderes mehr bleibt, klammert man sich an die Hoffnung.«

»Du und dein Bruder, ihr hattet ein gutes Verhältnis zueinander?«, fragte Valgerður.

»Wir waren gute Freunde«, erwiderte Erlendur.

Sie saßen schweigend und beobachteten den Betrieb im Hotel, jeder in seine Gedankenwelt versunken. Die Gläser waren leer, aber weder er noch sie hatten die Energie, eine neue Bestellung aufzugeben. Es verging eine geraume Zeit, bis Erlendur sich zu ihr hinüberbeugte, räusperte und zögernd die Frage vorbrachte, die ihm auf den Lippen lag, seit sie ihm vom Fremdgehen ihres Mannes erzählt hatte.

»Möchtest du dich immer noch an ihm rächen?«

Valgerður schaute ihn an und nickte.

»Aber nicht gleich. Ich kann nicht …«

»Nein«, sagte Erlendur. »Das ist richtig. Natürlich.«

»Erzähl mir lieber von einem von diesen vielen Verschollenen, für die du dich so interessierst. Über die du immer liest.«

Erlendur lächelte und dachte einen Augenblick nach. Dann begann er, ihr von dem Verschwinden eines Menschen zu erzählen, das vor aller Augen passiert war: die Geschichte des Diebes Jón Bergþórsson aus dem Skagafjörður.

»Er wagte sich von einer Landspitze aus hinaus auf den zugefrorenen Fjord, um einen Hai zu holen, der tags zuvor in einer Wake gefangen worden war. Urplötzlich schlug das Wetter um, Sturm und Regen aus dem Süden ließen das Eis aufbrechen und nach Norden wegtreiben. Wegen des Orkans war es nicht möglich, Jón mit einem Boot zurückzuholen, und das Eis trieb aus dem Fjord hinaus.

Jón war nur noch durchs Fernglas zu erkennen, wie er auf einer Eisscholle am Meereshorizont hin und her lief, und das war das Letzte, was man von ihm sah.«