Hölle auf Erden

»Ist die Lieferung fertig?«

Alex erinnerte sich noch gut an McCains Stimme. Sie war nicht laut, aber tief und volltönend und strotzte vor Selbstbewusstsein. Allerdings hatte McCain Schwierigkeiten, das letzte Wort auszusprechen. Es fing mit einem F an, das er mit seinem gebrochenen Unterkiefer nicht richtig bilden konnte. Er hatte sich auf einen der Designersessel gesetzt und kehrte Alex den Rücken zu. Das silberne Kruzifix an seinem Ohr war gerade noch über seiner rechten Schulter zu erkennen. Straik hatte auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz genommen. Die beiden Männer hatten keine Ahnung, dass sich außer ihnen noch jemand im Zimmer befand.

Was für ein Glück, dass Straik offenbar ein Faible für große Bilder hatte. Alex wusste nicht, welches Gemälde der Mann für sein Büro gekauft hatte, aber für ein Versteck reichte es aus. Zusammengekauert saß er in dem dreieckigen Spalt zwischen Bild und Wand. Ein Erwachsener hätte dahinter bestimmt keinen Platz gefunden. Selbst für ihn war es eng. Schenkel- und Schultermuskeln schmerzten bereits und er wäre am liebsten aufgestanden. Er konnte die Umrisse von Leonard Straik und Desmond McCain im Spiegelbild ausmachen, wollte sich aber nicht noch weiter vorbeugen. Wenn er die beiden sah, konnten sie ihn auch sehen.

»Natürlich ist sie fertig«, antwortete Straik. Er klang gereizt. »Ich habe es Ihnen doch versprochen.«

»Und wo ist sie?«

»Der größte Teil lagert in Gatwick Airport. Er geht als Luftfracht raus, in einer Boeing757. Ganz normaler Flug. Ich habe eine Probe davon behalten, weil ich dachte, Sie würden gern mal einen Blick drauf werfen.« Straik öffnete eine Schreibtischschublade und holte etwas heraus. Alex reckte den Hals, konnte aber nichts erkennen. »Wir haben etwas länger gebraucht als vorgesehen. Es gab Probleme mit der Massenproduktion.«

»Wie viel haben Sie hergestellt?«, fragte McCain.

»Zweitausend Liter. Das müsste mehr als ausreichen. Wichtig ist vor allem, dass die Temperatur während des Flugs konstant gehalten wird. Sie dürfen nicht vergessen, dass dieses Zeug lebt. Allerdings ist es auch ziemlich haltbar.«

»Wie rasch wirkt es?«

»Man bringt es am Morgen aus, dann braucht es anderthalb Tage, bis es richtig loslegt. Anfangs ist natürlich nichts zu merken, aber drei Wochen später spricht die ganze Welt davon.« Straik machte eine Pause. »Sind die Aufnahmen fertig?«

»Ja. Morgen schicke ich Myra nach Elms Cross. Wir machen den Laden dicht. Den brauchen wir jetzt nicht mehr.«

»Es scheint also alles zu klappen.«

»Mein lieber Leo, habe ich es nicht immer gesagt? Der Herr wird ihm vergelten, wie es seine Taten verdienen, schreibt Paulus im zweiten Brief an Timotheus.«

»Schon, nur…« Straik brach ab.

Es kehrte Schweigen ein. Alex wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, und erstarrte. Er fürchtete, das Geräusch seines Atems oder seine Herzschläge könnten ihn verraten.

»Jemand war in meinem Büro«, sagte Straik.

»Wie bitte?« Es klang wie ein Peitschenknall.

»An meinem Schreibtisch…« Straik hob etwas auf und Alex wusste, was es war, ohne es zu sehen: Straiks Speicherstick. Er hatte ihn herausgezogen, um Platz für seinen eigenen zu machen, und dann keine Zeit mehr gehabt, ihn wieder hineinzuschieben. »Der war in meinem USB-Anschluss, als ich Sie unten abgeholt habe«, fuhr Straik fort. »Ich habe ihn selbst benutzt. Jemand hat ihn entfernt.«

»Ganz sicher?«

»Natürlich.«

»Vielleicht war es Ihre Sekretärin.«

»Die ist heute nicht da.«

Alex spürte, dass er es nicht mehr lange in seiner zusammengekauerten Stellung aushielt. Er lechzte danach, sich aufzurichten und die Muskeln zu strecken. Ein Gutes hatte sein Versteck allerdings: Es war so klein, dass keiner der beiden Männer je auf die Idee gekommen wäre, es könnte sich noch jemand im Zimmer befinden.

Alex musste unbedingt wissen, was sie vorhatten. Ganz langsam beugte er sich einige Zentimeter vor, bis er wieder das Bild im Spiegel sah. McCain hielt den Stick in der Hand, Straik hatte sich seinem Computer zugewandt, hämmerte wütend auf die Tasten ein und starrte unverwandt auf den Bildschirm. Auf seinen Wangen brannten zwei kleine rote Flecken.

»Irgendwer ist in meinen Computer eingebrochen!«, rief er.

»Eingebrochen?«

»Er hat versucht, Dateien und Dokumente von der Festplatte herunterzuladen. Wahrscheinlich ist es ihm auch gelungen.«

Straik griff hastig nach einem Telefon und wählte eine Nummer. Eine kurze Pause entstand, dann meldete sich jemand am anderen Ende.

»Ich bin’s, Leonard Straik. Ich brauche den aktuellen Sicherheitsstatus.«

Straik schwieg kurz. Alex hätte gern gehört, was am anderen Ende gesagt wurde. Schwer zu erraten war es nicht. Dann sprach Straik weiter.

»Rufen Sie die höchste Alarmstufe aus!«, befahl er erregt. »Alle Sicherheitsbeamten müssen sich sofort versammeln. Es handelt sich nicht um eine Übung. Wir haben ein gravierendes Sicherheitsproblem.«

Er legte auf.

»Was ist los?«, fragte McCain.

»Wir haben einen Eindringling. Vor zehn Minuten sind unsere Überwachungskameras ausgefallen. Offenbar blockiert jemand das Signal. Und der Eindringling war hinter dem hier her.« Er wies mit einem Nicken auf den Computer. »Wir müssen ihn um wenige Minuten verpasst haben.«

»Was bedeutet höchste Alarmstufe?«

»Jeder, der sich unerlaubt innerhalb des Biozentrums aufhält, wird sofort abgeknallt.«

Alex wollte seinen Ohren nicht trauen. In was war er da hineingeraten? Was war so streng geheim, dass Straik bereit war, dafür zu töten?

»Aber Sie haben doch eine Schulklasse hereingelassen«, sagte McCain.

»Ich weiß. Aber ich bin kein Idiot, auch wenn Sie das vielleicht denken. Ich habe meine Mitarbeiter entsprechend instruiert.« Er schaltete den Computer aus. »Ich gehe in den Kontrollraum. Kommen Sie mit?«

»Selbstverständlich.«

Alex fiel auf, dass McCain eher belustigt als beunruhigt klang. Das passte zu seinem Charakter. Noch hielt er die Fäden in der Hand und fühlte sich unbesiegbar.

Die beiden Männer standen auf. Straik kam hinter seinem Schreibtisch hervor und Alex hörte den Stoff seines Anzugs am Tisch entlangstreifen. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen.

Dankbar kroch Alex aus seinem Versteck und streckte sich. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. In Straiks Büro war er wohl vorerst sicher. Er wurde gesucht, aber nicht hier. Andererseits konnte er nicht ewig in diesem Zimmer bleiben. Vielleicht schickte man die Schüler aufgrund des Alarms vorzeitig nach Hause. Er musste unbedingt rechtzeitig am Bus sein und durfte auf keinen Fall allein zurückbleiben.

Seine Lage hatte sich gefährlich zugespitzt. Er konnte sich nur retten, wenn es ihm gelang, MrGilbert und die anderen zu finden. Der Tod des Informanten war kein Zufall gewesen, und egal was Blunt gesagt hatte, bei Greenfields gingen einige höchst unerfreuliche Dinge vor sich. Warum sollte der Direktor sonst anordnen, jeden Eindringling abzuknallen? Alex musste wieder zu seiner Klasse. Keiner von Straiks Leuten würde Alex vor Zeugen erschießen. Bei den anderen war er sicher – als ein gelangweilter Schüler unter vielen.

Er wollte schon zur Tür gehen, da sah er das Glasfläschchen auf Straiks Schreibtisch liegen. Genauer gesagt handelte es sich um ein verschlossenes Reagenzröhrchen, das mit einer trüben grauen Flüssigkeit gefüllt war. Das musste die Probe sein, von der die beiden Männer gesprochen hatten. Alex hatte keine Ahnung, was sie enthielt, aber zweitausend Liter davon befanden sich auf dem Weg ins Ausland. Einer spontanen Eingebung folgend trat er zum Tisch, nahm das Röhrchen und steckte es zu dem Speicherstick in seine Tasche. Smithers konnte die Flüssigkeit analysieren und die Sache war abgeschlossen. Dann wussten sie bestimmt, was die Männer planten.

Alex öffnete die Tür, vergewisserte sich, dass der Gang leer war, und trat nach draußen. Er wollte auf demselben Weg zurückkehren, auf dem er gekommen war. Wo die anderen waren, wusste er nicht, und er konnte zu seinem großen Leidwesen auch keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen. Unter normalen Umständen hätte er Tom oder James einfach angerufen, aber sie hatten ihre Handys ja im Bus lassen müssen. Was hatte diese Frau Dr.Bennett noch gleich gesagt? Zuerst wollten sie die Labors besuchen, dann die Gewächshäuser und Lagerhallen und zuletzt den Hörsaal. So schwer konnte der doch nicht zu finden sein.

Er schloss die Tür hinter sich und rannte den Gang entlang. Seine Füße machten auf dem Teppich kein Geräusch. Er bog um die zweite Ecke und der gläserne Steg lag vor ihm. Im selben Augenblick hörte er Schritte näher kommen. Im letzten Moment konnte er sich in einen offenen Schrank ducken.

Drei bewaffnete Sicherheitsbeamte stürmten an ihm vorbei und über die Brücke, bevor sie in einem anderen Gang verschwanden. Über seinem Kopf blinkte ein rotes Licht auf. Alex biss die Zähne zusammen. Er war in ein Katz-und-Maus-Spiel geraten, in dem es nur eine Maus und schrecklich viele Katzen gab.

Der Steg war frei. Er rannte hinüber in das Gebäude, das er den Verwaltungstrakt getauft hatte. Rasend schnell stürmte er die Treppe hinunter, merkte aber gleich, dass er nicht mehr wusste, woher er gekommen war – ob von links oder rechts. Beide Gänge sahen identisch aus. Er warf in Gedanken eine Münze und rannte weiter, begriff aber sofort, dass er sich verirrt hatte. In seiner Gesäßtasche steckte zwar noch die Postkarte mit dem Navigationssystem, doch die half ihm jetzt wenig. Wichtig war bloß, nicht stehen zu bleiben und nicht gesehen zu werden.

»Halt!«

Der Wachmann war wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht und versperrte ihm den Weg. Um seinen Hals hing eine Maschinenpistole. Er hatte sie bereits gepackt und richtete sie auf Alex. Alex machte kehrt und preschte geduckt und Haken schlagend los. Er war erst zehn Schritte gelaufen, da explodierte eine Neonröhre vor ihm und Funken und Glassplitter flogen durch die Luft. Von der Wand regnete Putz auf ihn herunter. Er hatte zwar keinen Knall gehört, aber offenbar feuerte der Wachmann in seine Richtung. Kugeln pfiffen rechts und links an seinem Kopf vorbei. Anscheinend hatte die Pistole eine Art Schalldämpfer – was auch nahelag. Das hatte Straik also mit »ich habe meine Mitarbeiter entsprechend instruiert« gemeint. Wenn sich vierzig Schüler in der Anlage befanden, mussten Schüsse lautlos sein.

Alex fegte einen anderen Gang entlang. Die Türen, die davon abgingen, standen offen. Er kam an einem Labor vorbei, das erstaunlich altmodisch eingerichtet war. Auf den Arbeitstischen lagen Pflanzenproben, in den Regalen standen Flaschen mit Chemikalien. Eine Frau in einem weißen Kittel, die eine Petrischale in der Hand hielt, hob den Kopf. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.

Hinter ihr holte ein Mann gerade ein Tablett mit Blumen aus einer Art Kühlschrank. Ob seine Klassenkameraden vor ein paar Minuten noch hier gewesen waren? Fast wäre er stehen geblieben und hätte gefragt. Er konnte immer noch so tun, als hätte er sich verirrt. Doch er rannte weiter, ohne langsamer zu werden. Er war in größter Gefahr. Eine Wache hatte ihn bereits entdeckt, und die Tatsache, dass er eine Schuluniform trug, hatte sie nicht davon abgehalten, auf ihn zu schießen.

Alex hörte Geschrei. Aus den Augenwinkeln sah er etwas aufblitzen. Mit ausgestreckten Händen raste er auf eine Glastür zu und betete, sie möge nicht abgesperrt sein. Er stieß dagegen und sie ging auf. Er fiel fast über seine eigenen Füße. Eine weitere Kugelsalve schwirrte durch die Luft und schlug gepunktete Linien in die Wand neben ihm.

Er rannte nach draußen. Am anderen Ende des Rasens lag das stromlinienförmige weiße Hörsaalgebäude, leider in unerreichbarer Ferne. Sicherheitsbeamte fuhren mit Elektroautos auf ihn zu. Sie kamen überraschend schnell näher. Wut stieg in ihm auf. Zu was hatte er sich von Alan Blunt und MrsJones überreden lassen? Dabei hatte er Jack versprochen, in Zukunft besser auf sich aufzupassen. Er hatte es sich auch fest vorgenommen.

Die Wut verlieh ihm neue Kraft. Er gelangte zu einem Gewächshaus und stürzte durch die Doppeltür. Draußen war es kalt gewesen, hier drinnen empfing ihn eine subtropische Hitze. Auf Regalen standen Hunderte von Pflanzen. Einige maßen nur wenige Zentimeter, andere fanden kaum Platz unter dem Dach hoch über ihm.

Das Gewächshaus erinnerte an eine Fabrik aus Glas. Es bestand aus Dutzenden von Räumen, die durch ein Gewirr von Gängen miteinander verbunden waren. Mächtige silberne Rohre und Wasserleitungen wanden sich an der Decke entlang, Batterien von Maschinen kontrollierten die Beleuchtung, Temperatur und Luftfeuchtigkeit der verschiedenen Bereiche und sorgten für optimale Bedingungen in der künstlich angelegten Pflanzenwelt. In diesem Raum fühlte Alex sich sicher, denn es gab viele Verstecke. Solange er in Bewegung blieb, konnten sie ihn unmöglich zu Fall bringen.

Der nächste Angriff traf ihn vollkommen unvorbereitet. Die Wachmänner schossen von außen auf ihn. Die Salve wollte nicht enden. Sie feuerten von allen Seiten, offenbar wild entschlossen, den Eindringling zu töten, auch wenn sie dabei das ganze Gewächshaus zerstörten. Alex hörte zwar keine Schüsse, aber der Lärm des berstenden Glases war ohrenbetäubend. Überall explodierten Fensterscheiben.

Er warf sich auf den Boden. Tausende von Glasscherben flogen in alle Richtungen. Wenige Zentimeter über seinem Kopf wurden die Pflanzen zerkleinert. Geschredderte Stängel und Blätter wirbelten durch die Luft und färbten sie grün. Terrakottatöpfe explodierten und Erde spritzte auf den Boden, leuchtend bunte Blüten wurden zerrissen.

Kugeln prasselten knatternd auf die Maschinen und prallten von den Metallrohren ab. Die um das Gebäude verteilten Wachmänner waren als dunkle Schatten zu erkennen. Waren die hier alle verrückt geworden? Oder war die Arbeit von Greenfields beendet und es zählte nur noch, dass niemand mit den Geheimnissen des Forschungszentrums entkam?

Auf Händen und Knien kroch er tiefer in das Gewächshaus hinein und suchte nach einem Versteck. Er krabbelte hinter eine Ziegelmauer mit weiteren Maschinen. Die Mauer schützte ihn vor den Kugeln. Außerdem konnte ihn hier niemand sehen. Er drückte die Finger an die Stirn und nahm sie wieder herunter. Sie waren blutig. Er war von keiner Kugel getroffen worden, also musste das herunterfallende Glas ihn verletzt haben. Er schüttelte Splitter aus den Haaren und von den Schultern. Wie er wohl aussah? Was würde MrGilbert sagen, wenn er überhaupt noch eine Gelegenheit bekam, ihn zu sprechen?

Alex musste unbedingt seine Mitschüler finden. Bestimmt hatten sie den Lärm gehört, auch wenn die Wachleute Schalldämpfer benutzten. Vor ihm öffnete sich ein weiterer Gang mit Spiegelfliesen statt Glasscheiben. Geduckt lief Alex ihn entlang. Aus den Fliesen wurden Ziegelwände. Er hatte eine Art Geräteschuppen mit Spaten und Schubkarren betreten. Hier sah es wie in einem ganz normalen Gartencenter aus und nicht wie in einem modernen Forschungsinstitut. In einer Ecke lehnten sogar Säcke mit Dünger.

Um zum Hörsaal zu gelangen, musste er das Gewächshaus wieder verlassen. Offenbar hatte er die Wachleute mit ihren Maschinenpistolen abgeschüttelt. Vielleicht suchten sie ja in den Trümmern nach seiner Leiche. Er zog das Glasröhrchen, das er in Straiks Büro eingesteckt hatte, aus der Brusttasche seiner Jacke. Gott sei Dank war es nicht zerbrochen. Er steckte es zurück und ging auf eine stabil aussehende Tür zu, neben der ein Schild hing.

ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE
STRENGSTENS VERBOTEN

Die Tür war abgeschlossen und hermetisch verriegelt, aber daneben hing ein Kartenlesegerät. Alex hatte noch seinen Bibliotheksausweis. Er hatte ihn so programmiert, dass er Straiks Tür öffnete, und Straik hatte vermutlich Zugang zu allen Bereichen des Biozentrums. Also

Er zog die Karte durch den Schlitz und tatsächlich: Die Tür ging auf und Alex trat ein. Sie schloss sich mit einem Klicken hinter ihm und er musste lächeln. Vielleicht konnten die Sicherheitsbeamten ihm gar nicht hierher folgen. Wahrscheinlich hatten die wenigsten von ihnen eine Zugangskarte.

Als er begriff, wo er sich befand, war es zu spät. Die Form des Gebäudes, die Hitze und das an den Glasscheiben herabrinnende Kondenswasser hätten ihn warnen müssen. Doch die Tür hatte sich bereits automatisch geschlossen und auf der Innenseite hing kein Kartenlesegerät. Alex konnte den Raum nicht mehr verlassen. Er blieb stehen. Feuchtigkeit legte sich ihm auf Wangen und Stirn. Die Klamotten klebten ihm auf der Haut. Etwas flog laut brummend über seinen Kopf. Er schloss die Augen und fluchte leise.

Alex stand im Dom der Gifte.

Angstvoll blickte er sich um. Er hatte einmal die Gewächshäuser von Kew Gardens in London besucht, und hier sah es in vieler Hinsicht ähnlich aus. Über ihm wölbte sich eine elegante Kuppel, die von einem filigranen Rahmen metallener Streben gestützt wurde. Vom Grundriss her war sie etwa so groß wie ein rundes Fußballfeld, wenn es so etwas gegeben hätte. Doch im Unterschied zu Kew Gardens waren die hier wachsenden Pflanzen weder schön noch sonst wie attraktiv.

Alex betrachtete den feindseligen grünen Dschungel vor sich, ein Gewirr aus Stämmen und Ästen, die sich gegenseitig den Platz streitig machten. Die Blätter hatten rasiermesserscharfe Ränder oder waren von Millionen von Härchen bedeckt.

Dr.Bennett hatte gesagt, es handele sich um genmutierte Pflanzen. Schon eine Berührung konnte Schmerzen oder den Tod verursachen. Über seinem Kopf hingen apfelähnliche Früchte, einige Büsche hatten dicke Beeren. Doch sie leuchteten in grellen, unnatürlichen Farben und warnten Alex, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Weiter weg ertönte das dröhnende Summen von Insekten. Dem Geräusch nach zu urteilen waren sie mindestens so groß wie Bienen.

Alex bekam eine Gänsehaut, aber er zwang sich, reglos stehen zu bleiben. Was Dr.Bennett ihnen am Anfang erzählt hatte, konnte ihm jetzt das Leben retten. Er durfte die Pflanzen nicht anfassen. Sie waren verändert worden und hundertmal tödlicher, als die Natur sie geschaffen hatte. Und das galt nicht nur für die Pflanzen. Dr.Bennett hatte vom Zusammenspiel verschiedener Gifte gesprochen. Deshalb gab es hier auch Spinnen und Schlangen und natürlich Bienen. Warum hatte Straik diesen Ort geschaffen? Eine Hölle auf Erden. Was bezweckte er damit?

Zurück konnte Alex nicht mehr. Wenn er sich recht erinnerte, gingen von diesem Kuppelraum gläserne Gänge in alle vier Himmelsrichtungen ab. Da er von Süden hereingekommen war, sollte er jetzt zu einer der anderen drei Türen gehen. Wahrscheinlich führten insgesamt zwei in die Gebäude und die anderen beiden nach draußen. Der Hörsaal musste vor ihm liegen. Er brauchte also nur geradeaus zu marschieren. In diese Richtung führte auch ein Weg, eine Art Brettersteg. Hier drin suchte ihn niemand. Niemand war so blöd, ihm in diese Folterkammer zu folgen. Er konnte gestochen, gebissen, vergiftet und zu Tode erschreckt werden, aber wenigstens nicht erschossen.

Eine Alternative hatte er nicht.

Ganz langsam setzte er einen Fuß nach vorne. Nichts berühren und kein Geräusch verursachen. Wenn er diesen Ort lebend verlassen wollte, musste er buchstäblich Schritt für Schritt vorgehen. Dr.Bennett hatte von einer Schlange gesprochen – dem Taipan. Der Taipan war die giftigste Landschlange der Welt, noch fünfzigmal giftiger als die Kobra. Aber er war auch scheu. Wie die meisten Tiere griff er Menschen nur an, wenn er sich bedroht fühlte. Alex durfte also nichts streifen, nichts anfassen, auf nichts treten und kein Tier erschrecken, dann hatte er vielleicht eine Chance, lebend herauszukommen. Immer einen Schritt nach dem anderen.

Er folgte dem Brettersteg. Die Pflanzen reichten bedrohlich nah an ihn heran. Zuerst eine riesige Distel, die aussah, als würde sie sich am liebsten aus dem Boden reißen und ihn wie ein wütender Hund anfallen. Dann ein gedrungener, hässlicher Baum mit einem korkenzieherartig verdrehten Stamm und Blättern wie grünen Skalpellen.

Schwefelgestank stieg Alex in die Nase. Der Steg führte über einen blubbernden Tümpel. Vor ihm hing eine lange Ranke. Er widerstand der Versuchung, sie einfach beiseitezuschieben, und bückte sich stattdessen fast bis zum Boden. Auf keinen Fall durfte er sie berühren!

Er musste sich höllisch konzentrieren. Mit einem zu hastigen Schritt scheuchte er vielleicht ein Tier auf, das ihn durch einen Biss oder Stich töten könnte. Jede Pflanze, jedes Tier war sein Feind. Etwas summte an seinem Kopf vorbei und er zuckte zusammen. Sein Ärmel streifte das gezackte Blatt einer Brennnessel, aber zum Glück schützte ihn der Stoff vor den Brennhaaren oder den Neurotransmittern, wie Dr.Bennett sie genannt hatte. Er wickelte sich fester in seine Jacke. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Weg vor ihm.

Plötzlich spürte Alex etwas auf seinem Fuß.

Er blieb stehen und hielt unwillkürlich die Luft an. Sein Hals war wie von einer Drahtschlinge zugeschnürt. Er verdrängte die aufsteigende Panik und blickte nach unten. Dem Gewicht nach handelte es sich nicht um eine Schlange, sondern um ein kleineres Tier. Außerdem war es nicht gekrochen, sondern gekrabbelt. Alex entdeckte es zunächst auch gar nicht. Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet.

Dann sah er es und es war noch schlimmer als eine Schlange. Ein glänzender, mindestens fünfzehn Zentimeter langer Tausendfüßer hatte sich auf seinem Turnschuh niedergelassen. Er wirkte wie ein kleiner Teufel: roter Kopf, schwarzer Leib und leuchtend gelbe Beine, die sich wie in freudiger Erwartung wanden und krümmten. Alex kannte ihn. Er hatte vor einiger Zeit einen im Fernsehen gesehen. Wie hatte der Moderator ihn genannt? Texas-Hundertfüßer oder Riesenskolopender. Ungewöhnlich aggressiv und sehr schnell

Und dieses Exemplar hatte offenbar beschlossen, sich auf seinen Schuh zu hocken. Was sollte er machen, wenn der Skolopender neugierig wurde und in das Hosenbein kroch? Alex rührte sich nicht. Stumm schrie er den Tausendfüßer an: Verschwinde gefälligst! Lauf in eine Schwefelgrube! Freunde dich mit einer Kegelschnecke an. Aber lass mich in Ruhe!

Alex sah, wie das Tier unschlüssig mit den Fühlern zuckte. Seine Socke endete nur wenige Zentimeter über dem Tausendfüßer. Darüber lag nackte Haut.

Alex hielt es nicht mehr aus. So heftig er konnte, schleuderte er das Bein nach vorn. Bestimmt würde der Skolopender sich festhalten. Vielleicht verhedderte er sich im Schnürsenkel. Jedenfalls war Alex überzeugt, dass er gleich seinen Biss spüren würde. Doch als er wieder auf den Schuh sah, war der Tausendfüßer verschwunden. Er hatte ihn tatsächlich abgeschüttelt.

Alex brauchte eine Waffe – irgendetwas, womit er sich gegen das nächste Tier wehren konnte. Smithers hätte einen Flammenwerfer in das Federmäppchen einbauen sollen. Alex langte in seinen Rucksack. Dort waren noch die beiden Gelroller, aber eine Explosion wollte er hier drin auf keinen Fall auslösen – damit hätte er alles und jeden auf sich aufmerksam gemacht. Blieb nur noch der Bleistiftspitzer mit der Diamantklinge.

Er holte ihn heraus und klappte das Plastikgehäuse an den versteckten Scharnieren auf. Heraus kam eine Art Miniaxt, ein kaum drei Zentimeter langes Fleischerbeil. Man konnte damit vielleicht Draht oder Glas durchschneiden, aber nicht viel mehr. Trotzdem fühlte Alex sich ein wenig sicherer.

Wo war der Ausgang? Bestimmt suchten die Wachleute ihn noch. Alex wusste, dass er sich beeilen und das Gewächshaus so schnell wie möglich verlassen musste. Dennoch wagte er es nicht, schneller zu gehen.

Er machte einen Schritt und zertrat dabei einige Pilze. Unter seiner Sohle quoll eine hellgelbe Flüssigkeit wie Eiter hervor. Vor ihm flatterte eine Motte vorbei. Kaum zu glauben, dass er sich in einem künstlich angelegten Gewächshaus befand und nicht in einem Urwald.

Der Brettersteg führte an einem kochenden Schlammloch vorbei, aus dem dicke Blasen aufstiegen. Daneben stand ein hoher, krummer Baum, an dessen Ästen Lianen hingen. Alex blickte daran hinauf und ging hastig einen Schritt zurück. Ein zäher, milchig weißer Tropfen quoll aus der Rinde, fiel herunter und verfehlte sein Gesicht nur um Millimeter. Wenn der Tropfen seine Augen getroffen hätte, wäre er womöglich erblindet.

Der Weg machte eine Kurve und Alex gelangte auf eine kleine Lichtung mit einem Bach, über den eine japanisch anmutende Brücke führte. Die hübsche, bogenförmige Konstruktion wirkte völlig deplatziert. Wer wollte in dieser lebensgefährlichen Umgebung schon einen Spaziergang machen? Alex konnte die Glasscheiben des Doms nicht mehr sehen. Offenbar war er in der Mitte des Gewächshauses angelangt und hatte die Hälfte des Wegs geschafft.

Etwas summte neben seinem Kopf. Sein Blick fiel auf eine riesige Wespe mit herabhängenden Beinen, die sich aufgrund ihres eigenen Gewichts nur mühsam in der Luft halten konnte. Alex wartete, bis sie nicht mehr zu hören war. Er musste hier raus. Und zwar sofort!

Langsam ging er weiter und betrat die Brücke. Silbrig glänzend strömte der Bach unter ihr dahin. Kaum war er auf dem Scheitel angelangt, begann das Wasser zu schäumen und zu sprudeln. Irgendwelche Fische hatten seine Anwesenheit bemerkt, Piranhas oder etwas noch Schlimmeres. Alex begann sich zu fragen, ob der Dom tatsächlich wissenschaftlichen Zwecken diente oder einfach nur ein großes Spielzeug war, die Ausgeburt einer kranken Fantasie. Straik mochte nach außen hin Gifte erforschen. In Wirklichkeit schien er mehr am Tod interessiert.

Alex betrat den Brettersteg hinter der Brücke. Im selben Augenblick tauchte der Mann vor ihm auf.

Es handelte sich um einen Sicherheitsbeamten oder Gärtner in einem weißen Schutzanzug, der ihn komplett einhüllte. An den Füßen trug er dicke Gummistiefel, an den Händen riesige Handschuhe. Sein Kopf wurde von einer Art Helm umschlossen, wie ihn Imker tragen, nur dass das Gesicht statt von einem Netz von einer Art Klarsichtfolie bedeckt wurde. Er starrte Alex hasserfüllt an und verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. In der Hand hielt er eine Machete, die auf Alex gerichtet war.

Alex blieb am Fuß der Brücke stehen. »Tag«, sagte er. »Sind Sie hier der Gärtner? Dann zeigen Sie mir doch bitte den Weg zum Ausgang.«

Der Mann packte das Messer noch fester. Alex wusste, was gleich passieren würde, und bereitete sich innerlich darauf vor. Die Machete fuhr durch die Luft und auf seinen Hals zu. Alex duckte sich und rannte unter dem Arm des Mannes hindurch. Hinter ihm blieb er kurz stehen und führte mit seinem Messerchen einen Schnitt aus.

Der Mann spürte dies nicht einmal. Er wirbelte herum und schlug mit beiden Händen zu. Den Griff der Machete benutzte er als Keule. Er traf Alex’ Schulter. Schmerzen schossen ihm durch Knochen und Muskeln bis ins Handgelenk. Seine Finger öffneten sich und das Messerchen fiel runter.

Der Mann griff erneut an, holte mit der Machete aus und zwang ihn zurückzuweichen. Alex machte einen Schritt nach hinten und dann noch einen. Sobald die Waffe an ihm vorbeigesaust war, schlug er dem Mann blitzschnell die Faust in den Magen. Der Schutzanzug dämmte die Wucht des Hiebs und Alex schürfte sich an dem gehärteten Material die Haut über den Fingerknöcheln auf. Doch der Mann ließ im ersten Schreck von ihm ab. Sofort trat Alex mit dem Fuß nach ihm und erwischte ihn am Arm. Die Machete fiel hinunter und blieb mit der Spitze in der Erde stecken.

Der Gegner stürzte sich mit bloßen Händen auf Alex und brachte ihn zum Stolpern. Panische Angst überkam Alex. Er durfte auf keinen Fall auf eine Brennnessel treten oder rückwärts in irgendwelche hochgiftigen Pflanzen fallen. Die am Ufer des Bachs wachsenden Pflanzen erinnerten an Stachelschweine mit riesigen Borsten und prallen, überreifen Beeren, die aussahen wie kranke Augen.

Alex hob den Arm, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Dabei berührte er ein Spinnennetz, das an einem Ast hing. Er hatte es nicht gesehen, spürte es aber sofort. Eine einzelne Spinnwebe hatte sich über seinen Handrücken gelegt. Sie brannte wie Säure. Alex schrie auf.

Der Mann lachte hinter seiner Plastikmaske. Er bückte sich, zog seine Machete aus der Erde und kam erneut näher. Alex sah nach links und rechts und zurück. Hinter ihm war ein Baum. Die Rinde wirkte zwar harmlos, aber er traute sich trotzdem nicht, sie zu berühren. Vielleicht enthielt sie Rizin oder Botulin oder ein anderes Gift, das Dr.Bennett vergessen hatte zu erwähnen. Wie weit war der Baum von ihm weg? Er schätzte die Entfernung sorgfältig ab und wandte sich dann wieder seinem Angreifer zu. Schwerfällig trat der Mann auf ihn zu. Der dicke Schutzanzug behinderte ihn beim Gehen. Die Machete sauste durch die Luft auf Alex’ Hals zu.

Im letzten Augenblick duckte Alex sich. Das Messer bohrte sich, wie er gehofft hatte, über ihm in den Baum. Der Mann zog daran, aber es saß fest. Alex sprang zur Seite und trat seinem Gegner mit aller Macht in die Brust.

Der Mann taumelte nach hinten, rutschte aus und fiel rücklings in ein Beet mit stachligen Pflanzen. Normalerweise hätte der Spezialanzug ihn geschützt. Er hatte nicht bemerkt, was Alex mit seinem Messerchen angestellt hatte, bevor er es hatte fallen lassen.

Alex hatte den Stoff des Schutzanzugs von der Hüfte bis zum Nacken aufgeschlitzt. Durch diese Lücke drangen die Stacheln ein. Der Mann schrie. Die Augen hinter der Maske quollen aus ihren Höhlen und er begann am ganzen Körper zu zucken und hilflos mit den Beinen zu zappeln. Schreckensstarr sah Alex zu. Grauer Schaum quoll aus dem Mund seines Gegners. Dann streckte der Kerl plötzlich die Arme aus und rührte sich nicht mehr.

Alex durfte keine Zeit verlieren. Der Kampflärm hatte bestimmt sämtliche Bewohner dieses albtraumhaften Dschungels alarmiert. Wenn noch andere Männer im Dom arbeiteten, waren sie auch hierher unterwegs. Wieder verdrängte er die aufsteigende Panik und setzte seinen Weg fort. Wenige Minuten später wurde er mit dem Anblick einer zweiten Tür belohnt. Diese ließ sich von innen öffnen. Alex zog seine Karte durch den Schlitz und ging nach draußen. Eine Zentnerlast fiel von ihm ab. Hinter ihm schloss sich die Tür. Er hatte den Dom der Gifte verlassen.

Alex untersuchte seinen Handrücken. Die Spinnwebe hatte eine weiße Linie hinterlassen, die sich quer über die Hand zog. Sie schwoll bereits an. Er musste seinem Schicksal danken, dass er nicht der Spinne begegnet war. Vorsichtig rieb er an der Wunde, aber das machte es nur schlimmer. Er durfte nicht an sie denken, bis ein Arzt sie versorgte.

Wo war er? Durch den Ausgang war er in ein weiteres Gewächshaus gelangt. Hier standen lauter Bottiche, die mit Getreidekörnern gefüllt waren – vermutlich Weizen. Er war noch nicht in Sicherheit, aber wenigstens wurde nicht mehr auf ihn geschossen. Vielleicht hielten die Sicherheitsleute ihn für tot.

Er gelangte zu einer weiteren Tür und trat ins Freie. In der Ferne hörte er Schreie, in deren Richtung dann auch gleich zwei Elektroautos mit Wachmännern rasten. Das moderne Hörsaalgebäude lag direkt vor ihm. Alex wusste nicht, ob die Kameras noch außer Betrieb waren, aber es war ihm inzwischen egal. Er war müde und die Hand tat ihm weh. In seinen Haaren hingen Glassplitter und er hatte Schnittverletzungen auf der Stirn und im Gesicht. So viel zu den Auswirkungen des Erdkundeunterrichts. Wenn MrGilbert das nächste Mal eine Klassenfahrt vorschlug, würde er sagen, er hätte keine Zeit.

Mit bleiernen Beinen rannte er auf den Hörsaal zu. Vielleicht saßen seine Mitschüler ja bereits da drin und er konnte unbemerkt zu ihnen hineinschlüpfen. Er sah sich schon eindösen, während die anderen über ein gentechnisches Thema diskutierten.

Die Tür des Saals ging auf und zwei Sicherheitsbeamte traten heraus. Sie bemerkten Alex im selben Moment, in dem er sie sah. Die Jagd ging weiter.

Alex machte kehrt und flitzte zurück.