Arthur C.
Clarke
Der Löwe von Comarre
(THE LION OF COMARRE)
1. Auflehnung
Gegen Ende des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts ebbte die große Flut der Wissenschaft schließlich allmählich ab. Die lange Reihe von Erfindungen, die nahezu tausend Jahre lang die Welt geformt und geprägt hatten, näherte sich dem Ende. Alles war bereits entdeckt worden. Die großen Träume der Vergangenheit waren einer nach dem anderen Wirklichkeit geworden.
Die Zivilisation war völlig mechanisiert – und doch war die Maschinerie nahezu völlig verschwunden. In den Mauern der Städte verborgen oder tief in der Erde vergraben, trugen die vollkommenen Maschinen die Last der Welt. Lautlos und unauffällig kümmerten sich die Roboter um die Bedürfnisse ihrer Herren und verrichteten ihr Tagewerk dermaßen gut, daß ihre Anwesenheit so natürlich wie der Sonnenaufgang anmutete.
Auf dem Gebiet der reinen Wissenschaft gab es noch viel zu entdecken, und die Astronomen, die nicht mehr an die Erde gefesselt waren, hatten noch für gut tausend Jahre zu tun. Den übrigen Naturwissenschaften jedoch und den Künsten, die sie nährten, galt nicht mehr das Hauptinteresse der menschlichen Rasse. Um das Jahr 2600 waren die besten Köpfe der Menschheit nicht mehr in den Laboratorien zu finden. Die Künstler und die Philosophen, die Gesetzgeber und die Staatsmänner waren jene Männer, deren Namen der Welt am meisten bedeuteten. Wie die Menschen, die sich einst um inzwischen längst verschwundene Krankheiten gekümmert hatten, hatten sie ihre Arbeit so gut getan, daß man sie nicht mehr brauchte.
Fünfhundert Jahre sollten vergehen, ehe das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlug.
Die Aussicht vom Atelier war atemberaubend, denn der langgezogene, gekrümmte Raum befand sich in mehr als zwei Meilen Höhe über dem Fundament des Zentralturmes. Die fünf anderen Riesengebäude der Stadt bildeten unten eine Traube, die Metallwände glänzten unter den einfallenden Strahlen der Morgensonne in allen Farben des Regenbogens. Noch weiter unten erstreckten sich die schachbrettartigen Felder der automatischen Farmen in die Ferne, bis sie sich am Horizont im Nebel verloren. Diesmal jedoch hatte Richard Peyton II. kein Auge für die Schönheit des Anblicks, denn er schritt zornig zwischen den gewaltigen Blöcken aus synthetischem Marmor auf und ab, die das Ausgangsmaterial für seine Kunst bildeten.
Die riesigen, prächtig gefärbten Massen künstlichen Gesteins beherrschten das Atelier zur Gänze. Die meisten von ihnen waren roh behauene Kuben, einige jedoch nahmen allmählich die Gestalt von Tieren, Menschen und abstrakten Körpern an, die kein der Geometrie Kundiger zu benennen gewagt haben würde. Unbequem auf einem zehn Tonnen schweren Block aus Diamant – dem größten, der je künstlich hergestellt worden war – sitzend, betrachtete der Sohn des Künstlers den berühmten Vater ganz und gar unfreundlich.
„Ich glaube nicht, daß mich das Ganze so stören würde“, bemerkte Richard Peyton II. verdrießlich, „wenn du dich damit begnügen würdest, überhaupt nichts zu tun, so lange du es nur mit Anstand tust. Manche Leute haben es darin zu wahrer Meisterschaft gebracht, und im großen und ganzen wird dadurch nur die Welt interessanter. Warum aber jemand das Studium der Ingenieurwissenschaft zur Lebensaufgabe machen möchte, leuchtet mir nicht ein.
Ich weiß natürlich, daß wir dir erlaubt haben, die Technologie als Hauptfach auszusuchen, wir hätten es jedoch nie für möglich gehalten, daß es dir damit so ernst wäre. In deinem Alter schwärmte ich für Botanik – ich habe sie aber nicht zum Lebensinhalt gemacht. Hat dir Professor Chandras diesen Floh ins Ohr gesetzt?“
Richard Peyton III. wurde rot.
„Warum auch nicht? Ich kenne meine Berufung, und er gibt mir recht. Du hast sein Gutachten gelesen.“
Der Künstler fuchtelte mit mehreren Bögen Papier, die er so zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, als handelte es sich um ein lästiges Insekt, in der Luft herum.
„Ich habe es gelesen“, erwiderte er grimmig. „,Zeigt ungewöhnliche mechanische Begabung – hat eigenständige Forschungen auf dem Gebiet der Subelektronik durchgeführt’, usw. usf. Großer Himmel, ich war der Meinung, die menschliche Gattung wäre schon vor Jahrhunderten über dieses Spielzeug hinausgewachsen! Möchtest du ein Mechaniker erster Klasse werden, der herumzieht und sich um beschädigte Roboter kümmert? Das ist kein Beruf für einen Sohn von mir, ganz zu schweigen für den Enkel eines Weltrates.“
„Ich wollte, du würdest Großvater nicht ins Spiel bringen“, sagte Richard Peyton III. mit wachsender Verärgerung. „Daß er ein Staatsmann war, hat dich nicht abgehalten, Künstler zu werden. Warum also erwartest du, daß ich mich abhalten lasse?“
Der auffällige goldene Bart des Älteren begann sich unheilverkündend zu sträuben.
„Es ist mir egal, was du tust, solange es etwas ist, worauf wir stolz sein können. Warum aber dieser Apparatefimmel? Wit haben all die Maschinen, die wir benötigen. Der Roboter wurde vor fünfhundert Jahren zur Perfektion entwickelt; die Raumschiffe sind zumindest ebenso lange nicht verändert worden; ich glaube, unser gegenwärtiges Kommunikationssystem ist beinahe achthundert Jahre alt. Warum bloß sollen wir etwas verändern, was bereits vollkommen ist?“
„Diese Art der Argumentation schlägt doch dem Faß den Boden aus!“ erwiderte der junge Mann. „Daß ausgerechnet ein Künstler behaupten muß, es sei alles vollkommen! Vater, ich schäme mich für dich.“
„Betreibe keine Haarspalterei. Du weißt ganz genau, was ich meine. Unsere Vorfahren haben Maschinen gebaut, die uns alles liefern, was wir brauchen. Zweifellos könnten ein paar von ihnen um ein paar Prozent wirkungsvoller funktionieren. Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen? Kennst du eine einzige wichtige Erfindung, die der Welt heutzutage abgeht?“ Richard Peyton III. seufzte.
„Hör zu, Vater“, sagte er geduldig. „Ich habe die Geschichte ebenso wie die Technik studiert. Vor rund zwölfhundert Jahren gab es Menschen, die behaupteten, daß bereits alles erfunden worden sei – und das war vor der Einführung der Elektrizität, vom Fliegen und der Astronautik ganz zu schweigen. Sie haben bloß nicht genügend weit vorausgeblickt – ihr Geist war in der Gegenwart verwurzelt.
Dasselbe geschieht heute. Seit fünfhundert Jahren lebt die Welt vom Gehirnschmalz der Vergangenheit. Ich bin bereit zuzugestehen, daß einige Entwicklungslinien ihr Ende erreicht haben, es gibt jedoch Dutzende andere, die noch nicht einmal angefangen haben.
In technischer Hinsicht stagniert die Welt. Es handelt sich um kein dunkles Zeitalter, denn wir haben nichts vergessen. Wir treten jedoch auf der Stelle. Nimm nur die Raumschiffe. Vor neunhundert Jahren haben wir den Pluto erreicht, und wo sind wir jetzt? Noch immer beim Pluto! Wann werden wir die interstellaren Räume überwinden?“
„Wer will denn überhaupt die Sterne erreichen?“
Der junge Mann schrie verärgert auf und sprang in der Aufregung vom Diamantbrocken herunter.
„Welche Frage in diesem Zeitalter! Vor tausend Jahren haben die Leute gesagt, ‚Wer will denn schon den Mond erreichen?. Ich weiß recht gut, daß das unwahrscheinlich klingt, aber in den alten Büchern findet man es. Heutzutage ist der Mond bloß fünfundvierzig Minuten entfernt, und Menschen wie Harrt Jansen arbeiten auf der Erde und wohnen in Plato City.
Die interplanetare Raumfahrt ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Eines Tages wird dasselbe mit der wirklichen Raumfahrt der Fall sein. Ich könnte Dutzende anderer Problemkreise nennen, die völlig zum Erliegen gekommen sind, nur weil die Leute so denken wie du und mit dem zufrieden sind, was sie haben.“
„Und warum auch nicht?“
Peyton fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.
„Im Ernst, Vater: Warst du je mit etwas von dir Geschaffenem zufrieden? Nur Tiere sind zufrieden.“
Der Künstler lachte reuig.
„Vielleicht hast du recht. Das ändert jedoch nichts an meinem Einwand. Ich bin noch immer der Meinung, daß du dein Leben vergeudest, und Großvater ist derselben Ansicht.“ Er schaute ein wenig verlegen drein. „Er kommt sogar eigens zur Erde herunter, um dich zu treffen.“
Peyton sah beunruhigt drein.
„Hör zu, Vater. Ich habe dir bereits gesagt, wie ich denke. Ich möchte das alles nicht noch einmal durchgehen. Denn weder Großvater noch der gesamte Weltrat werden mich dazu bringen, meinen Entschluß zu ändern.“
Das war eine ziemlich bombastische Behauptung, und Peyton fragte sich, ob er es wirklich so meinte. Der Vater wollte ihm gerade antworten, als ein niedriger melodischer Ton durch das Atelier klang. Eine Sekunde später war aus der Luft eine mechanische Stimme zu hören.
„Ihr Vater möchte Sie sprechen, Mr. Peyton.“
Er schaute triumphierend seinen Sohn an.
„Ich hätte hinzufügen sollen“, sagte er, „daß Großvater schon unterwegs ist. Ich kenne jedoch deine Gewohnheit zu verduften, wenn man dich braucht.“
Der Junge antwortete nicht. Er blickte dem Vater nach, der auf die Tür zuging. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.
Die einzelne Glassit-Scheibe, die die Vorderseite des Ateliers bildete, stand offen, und er ging auf den Balkon hinaus. Zwei Meilen tiefer spiegelte sich die große Betonschürze des Parkplatzes weiß in der Sonne, mit Ausnahme jener Stellen, wo sie mit den tränenförmigen Schatten der geparkten Schiffe gesprenkelt war.
Peyton schaute in das Zimmer zurück. Es war noch immer leer, obwohl er die Stimme des Vaters durch die Tür dringen hören konnte. Er wartete nicht länger. Mit der Hand stützte er sich auf das Geländer und sprang in die Luft hinaus.
Dreißig Sekunden später betraten zwei Gestalten das Atelier und schauten sich voller Überraschung um. Der Richard Peyton, ohne erläuternde Nummer, war ein Mann, den man für sechzig hätte halten mögen, obwohl das weniger als ein Drittel seines tatsächlichen Alters war.
Er trug einen Purpurmantel, wie ihn auf der Erde nur zwanzig Menschen und im ganzen Sonnensystem weniger als hundert trugen. Er strahlte förmlich Autorität aus; im Vergleich zu ihm erschien selbst sein berühmter und selbstsicherer Sohn übertrieben umständlich und sprunghaft.
„Nun, wo steckt er denn?“
„Der Teufel soll ihn holen f Er hat sich durchs Fenster davongemacht. Zumindest können wir ihm jedoch sagen, was wir von ihm halten.“
Zornig riß Richard Peyton II. den Arm hoch und wählte auf seinem persönlichen Kommunikator eine achtstellige Zahl. Die Antwort war nahezu sofort da. Mit klarem, unpersönlichem Ton wiederholte eine automatische Stimme pausenlos:
„Mein Herr schläft. Bitte nicht stören. Mein Herr schläft. Bitte nicht stören …“
Mit einem Ausdruck der Verärgerung schaltete Richard Peyton II. das Gerät ab und wandte sich dem Vater zu. Der alte Mann kicherte.
„Nun ja, er schaltet schnell. Hier hat er uns geschlagen. Solange er nicht den Freigabeknopf drückt, kommen wir nicht zu ihm durch. Und in meinem Alter habe ich gewiß nicht vor, ihm nachzulaufen.“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, als sich die zwei Männer mit gemischter Miene gegenseitig anblickten. Dann fingen sie, beinahe gleichzeitig, zu lachen an.
2. Die Legende von Comarre
Peyton fiel eineinviertel Meilen lang wie ein Stein, ehe er den Neutralisator einschaltete. Der Luftstrom, der an ihm vorbeizog, war belebend, obwohl er das Atmen schwer machte. Er fiel mit einer Geschwindigkeit von weniger als hundertfünfzig Meilen pro Stunde, aber der Eindruck von Geschwindigkeit wurde dadurch verstärkt, daß das große Gebäude in nur ein paar Metern Entfernung in die Höhe zu stürzen schien.
Das sanfte Zerren des Dezelerator-Feldes bremste ihn vielleicht dreihundert Meter über dem Erdboden ab. Er fiel sanft auf die Reihen der geparkten Flieger zu, die am Fuße des Turmes abgestellt waren.
Sein eigener Speedster war ein kleines, einsitziges, vollautomatisches Fahrzeug. Es war zumindest vor drei Jahrhunderten vollautomatisch gewesen, als es gebaut wurde, aber sein gegenwärtiger Besitzer hatte so viele illegale Umbauten vorgenommen, daß es kein anderer in der Welt hätte fliegen und noch lebend davon hätte erzählen können.
Peyton schaltete den Neutralisator-Gürtel aus – eine hübsche Vorrichtung, die, obwohl technisch veraltet, noch immer interessante Möglichkeiten bot – und trat in die Luftschleuse seiner Maschine. Zwei Minuten später versanken die Türme der Stadt hinter dem Rand der Welt, und die unbewohnten wilden Landstriche flogen mit viertausend Meilen pro Stunde unter ihm dahin.
Peyton stellte einen westlichen Kurs ein und befand sich beinahe unmittelbar über dem Meer. Das Schiff würde das Ziel automatisch ansteuern. Er lehnte sich im Pilotensitz zurück, von bitteren Gedanken bedrängt, und bemitleidete sich selbst.
Das alles hatte ihn tiefer getroffen, als er es sich eingestehen wollte. Daß seine Familie seine technischen Interessen nicht teilte, beunruhigte Peyton schon seit Jahren nicht mehr. Diese stetig wachsende Opposition, die jetzt offen hervorgetreten war, war jedoch etwas völlig Neues. Er verstand es überhaupt nicht.
Zehn Minuten später ragte, ähnlich einem aus dem Meer aufsteigenden Schwert Excalibur, ein einzelner weißer Pylon aus dem Meer empor. Die Stadt, die der Welt als Szientia bekannt war und ihren zum Zynismus neigenden Bewohnern als Fledermausglockenturm, war vor acht Jahrhunderten auf einer Insel errichtet worden, die fernab der großen Landmassen lag. Diese Geste sollte ihre Unabhängigkeit betonen, denn in jenen weit zurückliegenden Tagen hielten sich noch immer Überreste des Nationalismus.
Peyton stellte sein Schiff auf der Landeschürze ab und ging zum nächstgelegenen Eingang. Das Dröhnen der gewaltigen Wellen, die sich auf dem hundert Meter entfernten Felsen brachen, beeindruckte ihn immer wieder aufs neue.
Einen Augenblick lang hielt er vor dem Eingang inne, atmete die salzige Luft ein und sah den Möwen und Zugvögeln zu, die den Turm umkreisten. Sie hatten dieses Stäubchen Land schon als Raststätte benutzt, als der Mensch noch mit verwunderten Augen die Dämmerung anstarrte und sich fragte, ob sie göttlicher Natur sei.
Das Büro für Genetik umfaßte hundert Stockwerke nahe dem Turmmittelpunkt. Peyton hatte zehn Minuten gebraucht, um die Stadt der Wissenschaft zu erreichen. Er brauchte nahezu die gleiche Zeit, um den Mann zu finden, zu dem er in diesen Kubikmeilen von Büros und Laboratorien wollte.
Alan Henson II. war noch immer einer von Peytons engsten Freunden, obwohl er die Universität Antarktika zwei Jahre früher verlassen und Biogenetik und nicht Ingenieurwesen studiert hatte. Wenn sich Peyton in Schwierigkeiten befand, was nicht selten der Fall war, wirkte der ruhige gesunde Menschenverstand des Freundes auf ihn sehr beruhigend. Es war für ihn also natürlich, jetzt nach Szientia zu fliegen, zumal ihn Henson erst am Tag zuvor dringend angerufen hatte.
Der Biologe war froh und erleichtert, daß Peyton zu ihm kam, doch zeigte seine Begrüßung eine Unterströmung von Nervosität.
„Ich bin froh, daß du gekommen bist; ich habe ein paar Neuigkeiten, die dich interessieren werden. Aber du schaust so niedergedrückt aus – was ist los?“
Peyton erzählte es ihm, nicht ohne zu übertreiben. Henson war einen Augenblick lang still.
„Also haben sie bereits angefangen!“ meinte er. „Das hätten wir erwarten sollen!“
„Was soll das heißen?“ fragte Peyton überrascht.
Der Biologe öffnete eine Lade und zog daraus einen verschlossenen Umschlag hervor. Ihm entnahm er zwei Kunststoffolien, in denen sich mehrere hundert Schlitze von verschiedener Länge befanden. Eine davon gab er seinem Freund.
„Weißt du, was das ist?“
„Es sieht mir nach einer Charakteranalyse aus.“
„Stimmt. Es ist deine.“
„Ach! Das ist doch ungesetzlich, nicht wahr?“
„Vergiß es. Der Schlüssel dazu ist unten aufgedruckt: Er reicht von Schönheitssinn bis Witz. Die letzte Spalte enthält den Intelligenzquotienten. Paß auf, daß er dir nicht zu Kopfe steigt.“
Peyton betrachtete die Kunststoffkarte aufmerksam. Einmal errötete er leicht.
„Ich verstehe nicht, woher du das wußtest.“
„Spielt keine Rolle“, sagte Henson und grinste. „Nun schau dir diese Analyse an.“ Er reichte ihm eine zweite Karte.
„Das ist doch die gleiche!“
„Nicht ganz, aber beinahe.“
„Wem gehört sie?“
Henson lehnte sich im Stuhl zurück und formulierte seine Worte mit Bedacht.
„Diese Analyse, Dick, gehört deinem Ur-ur-zwanzigfachen-Urgroßvater in direkter männlicher Linie – dem großen Rolf Thordarsen.“
Peyton fuhr empor wie eine Rakete. „Was!“
„Brüll’ nicht so, daß alles einstürzt. Falls jemand hereinkommt – wir unterhalten uns über unsere Studentenzeit.“
„Aber – Thordarsen!“
„Nun, wenn wir nur genügend weit zurückgehen, haben wir alle gleichermaßen berühmte Vorfahren. Jetzt weißt du aber, warum sich dein Großvater vor dir fürchtet.“
„Er hat es ziemlich weit hinausgeschoben. Ich habe meine Ausbildung praktisch beendet.“
„Das hast du uns zu verdanken. In der Regel geht unsere Analyse zehn Generationen zurück, in speziellen Fällen auch zwanzig. Es ist eine ungeheure Aufgabe. Die Bibliothek der Erbmerkmale umfaßt Hunderte Millionen von Karten, eine für jeden Mann und jede Frau, die seit dem 23. Jahrhundert gelebt haben. Diese Übereinstimmung wurde vor rund einem Monat zufällig entdeckt.“
„Damals hat der Ärger angefangen. Ich verstehe jedoch noch immer nicht, was das alles soll.“
„Was weißt du eigentlich von deinem berühmten Ahnen?“
„Nicht mehr als jeder andere auch, nehme ich an. Bestimmt weiß ich nicht, warum oder wie er verschwand, falls du das meinst. Hat er nicht die Erde verlassen?“
„Nein. Er hat die Welt verlassen, wenn man so will, aber er hat nie die Erde verlassen. Sehr wenige Menschen wissen es, doch Rolf Thordarsen war der Erbauer von Comarre.“
Comarre! Peyton atmete das Wort durch halbgeöffnete Lippen aus, schmeckte seine Bedeutung und Fremdartigkeit mit der Zunge. Es existierte also wirklich! Von manchen war selbst das bestritten worden.
Henson sprach weiter.
„Ich glaube nicht, daß du sehr viel Ahnung von den Dekadenzlern hast. Man hat die Geschichtsbücher sehr sorgfältig gesäubert. Die ganze Geschichte hängt jedoch mit dem Ende des Zweiten Elektronischen Zeitalters zusammen …“
Zwanzigtausend Meilen über der Erdoberfläche bewegte sich der künstliche Mond, in dem der Weltrat untergebracht war, auf seiner ewigen Bahn. Das Dach der Ratskammer bestand aus einem fehlerlosen Kristallitblech; wenn die Ratsmitglieder tagten, sah es aus, als befände sich zwischen ihnen und der sich unter ihnen hinwegdrehenden Erdkugel überhaupt nichts.
Darin steckte eine tiefe Symbolik. Kein beschränkter, engstirniger Standpunkt konnte sich lange in einer solchen Umwelt behaupten. Hier jedenfalls, falls überhaupt irgendwo, konnte der Menschengeist seine größten Werke hervorbringen.
Richard Peyton der Ältere hatte sein Leben lang mit der Lenkung der Geschicke der Erde zugebracht. Fünfhundert Jahre lang hatte die menschliche Rasse Frieden gekannt, und es hatte ihr an nichts gefehlt, was Kunst und Wissenschaft zu liefern imstande waren. Die Menschen, die den Planeten regierten, konnten auf ihr Werk stolz sein.
Dennoch war dem alten Staatsmann unbehaglich zumute. Vielleicht warfen die künftigen Veränderungen bereits ihre Schatten voraus. Vielleicht spürte er bereits, wenn auch nur im Unterbewußtsein, daß fünf Jahrhunderte behaglicher Ruhe zur Neige gingen.
Er schaltete die Schreibmaschine ein und begann zu diktieren.
Das Erste Elektronische Zeitalter hatte, wie Peyton wußte, im Jahre 1908, vor mehr als elfhundert Jahren, mit der Erfindung der Triodenröhre durch De Forest begonnen. Dasselbe fabelhafte Jahrhundert, das die Etablierung des Weltstaates, des Flugzeuges, des Raumschiffes und der Atomkraft sah, hatte auch die Erfindung all der grundlegenden thermionischen Vorrichtungen erlebt, welche die Zivilisation, die er kannte, ermöglichten.
Das Zweite Elektronische Zeitalter war fünfhundert Jahre später angebrochen. Es war nicht von den Physikern, sondern von den Ärzten und Psychologen eingeleitet worden. Nahezu fünfhundert Jahre lang hatten sie die elektrischen Strömungen aufgezeichnet, die das Gehirn während der Denkprozesse durchströmen. Die Analyse war erschreckend komplex gewesen, aber nach Generationen voller Plackerei war sie abgeschlossen worden. Mit ihrer Fertigstellung lag der Weg offen für die ersten Maschinen, die Gedanken lesen konnten.
Das war jedoch erst der Anfang. Sobald der Mensch den Mechanismus seines eigenen Gehirns kannte, konnte er darauf aufbauen. Er konnte es reproduzieren, unter Verwendung von Transistoren und Schaltkreisen anstatt lebender Zellen.
Gegen Ende des 25. Jahrhunderts entstanden die ersten denkenden Maschinen. Sie waren ziemlich primitiv. Nahezu hundert Quadratmeter Ausrüstung waren zur Erzielung einer Leistung nötig, die ein Kubikzentimeter menschlichen Gehirns erbrachte. Sobald aber erst einmal der erste Schritt getan worden war, dauerte es nicht lange bis zur Perfektionierung und allgemeinen Anwendung des mechanischen Gehirns.
Es war lediglich zu den niedrigsten intellektuellen Tätigkeiten fähig, und es fehlten ihm rein menschliche Eigenschaften wie etwa Initiative, Intuition und alle Gefühle. Unter selten wechselnden Verhältnissen, wo seine Grenzen nicht schwer ins Gewicht fielen, konnte es alles leisten, was ein Mensch zu leisten imstande war.
Das Aufkommen der metallischen Gehirne hatte zu einer der großen Krisen in der menschlichen Kultur geführt. Zwar mußten die Menschen die höheren Aufgaben der Staatskunst und der Lenkung der Gesellschaft noch immer selbst besorgen, doch hatten ihnen die Roboter die ungeheure Masse der routinemäßigen Verwaltungsarbeit abgenommen. Der Mensch war endlich frei geworden. Er mußte sich nicht mehr den Kopf über die Planung komplizierter Transportprobleme zerbrechen, keine Produktionsprogramme entwickeln oder Budgets austüfteln. Das war der zweite große Beitrag der Maschinen, die dem Menschen schon vor Jahrhunderten die körperliche Arbeit abgenommen hatten, zur Gesellschaft.
Die Auswirkungen auf das Leben der Menschen waren ungeheuer; und die Menschen reagierten auf die neue Lage in zweifacher Weise. Es gab die, die ihre neuerlangte Freiheit vornehmlich für die Verfolgung jener Ziele nutzten, die schon seit jeher die größten Geister angezogen hatten: das Streben nach Schönheit und Wahrheit, die sich noch immer so sehr dem menschlichen Zugriff entzogen wie seinerzeit, als die Akropolis erbaut wurde.
Es gab jedoch auch solche, die anderer Meinung waren. Endlich, behaupteten sie, sei der Fluch Adams von uns genommen worden. Jetzt können wir Städte errichten, in denen sich die Maschinen um alle unsere Bedürfnisse kümmern, sobald uns nur der Gedanke daran in den Sinn kommt – ja, früher noch, weil die Analysatoren selbst die begrabenen Sehnsüchte des Unbewußten ablesen können. Der Zweck allen Lebens ist der Lustgewinn und das Streben nach Glück. Uns ist dieser nie enden wollende Kampf um das Wissen und die blinde Sehnsucht, den Weltraum zu den Sternen zu überbrücken, über.
Das war der uralte Traum von den Lotusessern, ein Traum so alt wie die Menschheit. Nun ließ er sich zum erstenmal verwirklichen. Zunächst gab es nicht viele, die ihn zu teilen gewillt waren. Die Flammen der Zweiten Renaissance hatten noch nicht zu flackern und zu verlöschen begonnen. Mit dem Verstreichen der Jahre bekehrten die Dekadenzler jedoch immer mehr zu ihrer Denkweise. An abgelegenen Stellen der inneren Planeten bauten sie ihre Traumstädte.
Ein Jahrhundert lang blühten sie wie seltsame exotische Blumen, bis die beinahe religiöse Leidenschaft abgestorben war. Dann hielten sie sich noch einige weitere Generationen. Anschließend schwanden sie eine nach der anderen aus der menschlichen Erinnerung dahin. Im Sterben hinterließen sie einen Strauß von Fabeln und Legenden, die im Verlauf der Jahrhunderte herangewachsen waren.
Eine einzige dieser Städte war auf der Erde selbst errichtet worden, und sie war von Geheimnissen umrankt, die die Außenwelt nie zu lösen vermocht hatte. Der Weltrat hatte aus nicht bekanntgegebenen Gründen alles Wissen über diesen Ort vernichtet. Sogar seine Lage war ein Geheimnis; manche behaupteten, er liege in arktischer Wüstenei; andere wiederum glaubten ihn verborgen im Bett des Pazifischen Ozeans. Außer dem Namen war nichts davon sicher – Comarre.
Henson hielt im Vortrag inne.
„Bislang habe ich dir nichts Neues erzählt, nichts, was nicht Gemeingut wäre. Die übrige Geschichte ist das Geheimnis des Weltrates und vielleicht von hundert Menschen in Szientia.
Wie du weißt, war Rolf Thordarsen das größte Technikgenie, das die Welt je gesehen hat. Nicht einmal Edison hält einem Vergleich mit ihm stand. Er legte die Grundlagen für den Roboterbau und konstruierte die ersten praktisch verwertbaren Denkmaschinen.
Über zwanzig Jahre lang stießen seine Laboratorien einen Strom von brillanten Erfindungen aus. Dann, mit einem Mal, verschwand er. Man setzte das Gerücht in Umlauf, er habe die Sterne zu erreichen versucht. Was wirklich geschah, war dies: Thordarsen glaubte, daß seine Roboter die Maschinen, die noch immer die Geschicke unserer Zivilisation lenken – nur der Anfang wären. Er wandte sich mit bestimmten Vorschlägen an den Weltrat, die das Antlitz der menschlichen Gesellschaft verändert haben würden. Welcher Art diese Vorschläge waren, ist uns nicht bekannt. Thordarsen glaubte jedoch, daß die Gattung, würden sie nicht angenommen werden, in eine Sackgasse geriete – wobei ja viele von uns glauben, daß dies inzwischen eingetreten ist.
Der Rat war gänzlich anderer Ansicht. Du mußt wissen, daß damals die Roboter erst in die Zivilisation eingeführt wurden und die Stabilität sich langsam wieder einstellte – die Stabilität, die dann fünfhundert Jahre lang aufrechterhalten wurde.
Thordarsen war verbittert und enttäuscht. Mit jener glücklichen Hand, die sie dabei erwiesen, Genies in ihren Bann zu ziehen, bemächtigten sich die Dekadenzler seiner und überredeten ihn, der Welt zu entsagen. Er war der einzige, der ihre Träume in die Wirklichkeit umsetzen konnte.“
„Und hat er es getan?“
„Das weiß niemand. Comarre jedoch wurde erbaut – soviel ist gewiß. Wir wissen, wo es liegt – und der Weltrat auch. Es gibt eben Dinge, die lassen sich nicht geheimhalten!“
Das war wahr, dachte Peyton. Selbst in diesem Zeitalter verschwanden noch immer Menschen, und man munkelte, daß sie aufgebrochen waren, die Traumstadt zu finden. Die Redewendung „Er hat sich nach Comarre aufgemacht“ hatte sich so eingebürgert, daß ihre wahre Bedeutung beinahe in Vergessenheit geraten war.
Henson beugte sich vor und sprach mit wachsendem Ernst.
„Das ist das Seltsame daran. Der Weltrat wollte Comarre vernichten, tat es aber nicht. Der Glaube, daß Comarre wirklich existiert, hat einen stabilisierenden Einfluß auf die Gesellschaft. Trotz aller Bemühungen gibt es noch immer Psychopathen. Es ist gar nicht schwer, ihnen in der Hypnose Gedanken an Comarre einzuflößen. Sie werden die Stadt vielleicht nie finden, aber der Gedanke hält sie beschäftigt und ist ein Ventil für sie.
In den Anfangstagen, gleich nach der Gründung der Stadt, sandte der Rat seine Agenten nach Comarre. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt. Dabei war keine Gewaltanwendung im Spiel; sie zogen es einfach vor zu bleiben. Das weiß man genau, denn sie sandten Botschaften zurück. Ich nehme an, die Dekadenzler erkannten, daß der Rat die Stadt dem Erdboden gleichmachen würde, wenn die Agenten gewaltsam zurückgehalten worden wären.
Ich habe ein paar dieser Botschaften gesehen. Sie sind außerordentlich eindrucksvoll. Es gibt nur ein Wort für sie: begeisternd. Dick, Comarre hat etwas an sich, das einen die Außenwelt, die Freunde, die Familie – alles! – vergessen läßt! Versuche dir vorzustellen, was das zu bedeuten hat!
Später, als sicher war, daß keiner der Dekadenzler mehr am Leben sein konnte, hat es der Rat neuerlich versucht. Bis vor fünfzig Jahren hat er es immer wieder versucht. Aber bis heute ist niemand je von Comarre zurückgekommen.“
Beim Diktieren zerlegte der wartende Roboter die Worte Richard Peytons in ihre phonetischen Gruppierungen, fügte die Satzzeichen ein und leitete das Konzept an die entsprechende elektronische Einrichtung weiter.
„Kopie an den Präsidenten und für meine persönliche Ablage.
Ihr Konzept vom 22. und unsere Unterredung heute morgen.
Ich habe mit meinem Sohn gesprochen, aber R. P. III. ist mir ausgewichen. Er ist felsenfest entschlossen, und wir richten nur Unheil an, wenn wir ihn zu zwingen suchen. Diese Lehre haben wir aus dem Fall Thordarsen gezogen.
Mein Vorschlag geht dahin, daß wir ihn zur Dankbarkeit verpflichten, indem wir ihm jede Unterstützung geben. In diesem Falle können wir seine Forschungen in sichere Bahnen lenken. Solange er nicht entdeckt, daß R.T. sein Ahne war, besteht kaum eine Gefahr. Trotz gewisser Charakterähnlichkeiten ist es höchst unwahrscheinlich, daß er versuchen wird, die Arbeiten R.T.s zu wiederholen.
Vor allem aber müssen wir sicherstellen, daß er niemals entdeckt, wo Comarre liegt und es nicht besucht. Wenn das passiert, sind die Folgen unabsehbar.“
Henson hielt in seiner Erzählung inne, doch sein Freund sagte kein Wort. Er war zu fasziniert, als daß er ihn unterbrochen hätte, und nach einer Minute fuhr der andere fort:
„Das bringt uns zur Gegenwart und zu dir. Dick, der Weltrat hat deine Abstammung vor einem Monat entdeckt. Es tut uns leid, daß wir ihn informiert haben, aber jetzt ist es zu spät. Genetisch bist du eine Reinkarnation von Thordarsen – im einzigen wissenschaftlichen Sinn des Wortes. Eine der seltensten Konstellationen der Natur hat sich in dir verwirklicht, wie es alle Jahre in der einen oder anderen Familie passiert.
Du, Dick, könntest die Arbeit fortführen, die Thordarsen aufgeben mußte – welche Arbeit es auch immer war. Vielleicht ist sie für immer dahin, aber wenn noch irgendeine Spur davon existiert, liegt das Geheimnis davon in Comarre. Der Weltrat weiß das. Darum versucht er ja auch, dich von deiner Schicksalsbahn abzulenken.
Nimm es nicht tragisch. Dem Rat gehören einige der vornehmsten Geister an, die die menschliche Gattung bislang hervorgebracht hat. Sie wollen dir nichts Böses, und nichts Böses wird dir je zustoßen. Sie sind jedoch leidenschaftlich bemüht, die gegenwärtige Struktur der Gesellschaft zu bewahren, die sie für die beste halten.“
Peyton erhob sich langsam. Einen Augenblick lang schien es, als sei er ein neutraler, außenstehender Beobachter, der diese Strohpuppe, die sich Richard Peyton III. nannte, beobachtete, die nun kein Mensch mehr war, sondern ein Symbol, einer der Schlüssel zur Zukunft der Welt. Es bedurfte einer ausdrücklichen geistigen Anstrengung, um die eigene Identität wiederzufinden.
Sein Freund betrachtete ihn schweigend.
„Da ist noch etwas, das du mir nicht gesagt hast, Alan. Wieso weißt du das alles?“
Henson lächelte.
„Darauf habe ich gewartet. Ich bin nur das Sprachrohr, ausgewählt, weil ich dich kenne. Wer die anderen sind, darf ich selbst dir nicht verraten. Viele von uns glauben, daß das gegenwärtige Zeitalter, das nach Ansicht des Rates ewig währen wird, bloß ein Interregnum ist. Wir glauben, daß eine zu lange Zeitspanne der Stabilität zur Dekadenz führt. Die Psychologen des Rates sind überzeugt davon, daß sie diese Dekadenz verhindern können.“
Peytons Augen glänzten.
„Genau das habe ich immer behauptet! Darf ich mich euch anschließen?“
„Später. Zunächst ist noch einiges zu tun. Du mußt wissen, wir sind so etwas wie Revolutionäre. Wir werden eine oder zwei gesellschaftliche Reaktionen einleiten, und wenn wir damit fertig sind, ist die Gefahr rassischer Dekadenz auf Jahrtausende hinaus gebannt. Du, Dick, bist einer unserer Katalysatoren. Nicht der einzige, möchte ich hinzufügen.“
Er hielt einen Augenblick lang inne.
„Selbst wenn aus Comarre nichts wird, haben wir noch einen anderen Trumpf in der Hinterhand. In fünfzig Jahren hoffen wir ein Triebwerk für interstellare Raumfahrt produktionsreif zu haben.“
„Endlich!“ warf Peyton ein. „Was macht ihr dann?“
„Wir treten damit vor den Rat und sagen, ‚Da ist er -jetzt könnt ihr die Sterne erreichen. Sind wir nicht brave Jungen?’ Und der Rat wird gute Miene machen müssen, und es wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Zivilisation zu entwurzeln. Sobald uns die interstellare Raumfahrt geglückt ist, haben wir neuerlich eine prosperierende Gesellschaft, und die Gefahr der Stagnation ist für immer abgewendet.“
„Ich hoffe, ich erlebe es noch“, erwiderte Peyton. „Aber was soll ich jetzt machen?“
„ Nur eines: Du sollst nach Comarre aufbrechen und herausfinden, was es dort gibt. Wir glauben, daß du dort, wo die anderen gescheitert sind, Erfolg haben kannst. Die Pläne dafür liegen bereits fest.“
„Und wo befindet sich Comarre?“
Henson lächelte.
„Das ist wirklich sehr einfach. Es gibt nur eine Stelle, wo es liegen konnte – der einzige Ort, den kein Flugzeug überfliegen darf, wo niemand lebt, wo jede Fortbewegung zu Fuß erfolgt. Es liegt im Großen Reservat.“
Der alte Mann schaltete die Schreibmaschine ab. Oben – oder unten, es war ohne Bedeutung – verdeckte die große Halbsichel der Erde die Sterne. Der kleine Mond hatte in seiner ewigen Bahn die Datumslinie überschritten und stürzte in die Nacht hinein. Da und dort war unten die dunkler werdende Landmasse mit dem Licht von Städten gesprenkelt.
Der Anblick erfüllte den alten Mann mit Traurigkeit. Er erinnerte ihn daran, daß sich sein eigenes Leben dem Ende zuneigte – und er schien das Ende der Kultur vorauszusagen, die er zu schützen gesucht hatte. Vielleicht hatten die jungen Wissenschaftler letzten Endes doch recht. Die lange Ruhepause näherte sich dem Ende, und die Welt strebte neuen Zielen zu, die er nie erblicken würde.
3. Der wilde Löwe
Zur Nachtzeit zog Peytons Schiff westwärts über den Indischen Ozean. Das Auge konnte weit unten nichts ausmachen außer der weißen Linie der Brandung entlang der afrikanischen Küste, aber der Navigationsschirm enthüllte jede Einzelheit des darunterliegenden Landes. Die Nacht bot jetzt natürlich weder Schutz noch Schirm, hatte aber immerhin den Vorteil, daß ihn kein Menschenauge erblicken würde. Und was die Menschen anging, die wachen sollten – um die hatten sich andere gekümmert. Es schien viele zu geben, die wie Henson dachten.
Der Plan war raffiniert ausgeheckt. Die Einzelheiten waren von Leuten ausgedacht worden, denen die Sache offensichtlich Spaß machte. Er sollte mit dem Schiff am Waldrand niedergehen, so nahe bei der Kraftschranke wie nur möglich.
Nicht einmal seine unbekannten Freunde konnten die Schranke abschalten, ohne Verdacht zu erregen. Glücklicherweise waren es vom Rand des Schirmes aus nur ungefähr zwanzig Meilen über ziemlich offenes Land bis Comarre. Er würde seine Reise zu Fuß beenden müssen.
Begleitet vom Geräusch brechender Zweige ging das kleine Schiff in dem vorher nicht sichtbaren Wald nieder. Es kam gerade zum Stehen, und Peyton schaltete die trüben Kabinenlichter aus und starrte durchs Fenster hinaus. Es gab nichts zu sehen. Entsprechend seinen Instruktionen öffnete er die Tür nicht. Er machte es sich so bequem wie möglich und legte sich nieder, um den Anbruch des Morgens abzuwarten.
Beim Erwachen schien ihm strahlendes Sonnenlicht voll in die Augen. Er zog sich schnell die Montur über, die ihm seine Freunde zur Verfügung gestellt hatten, öffnete die Tür und schritt in den Wald.
Der Landeplatz war sorgfältig ausgewählt worden, und es war kein Problem, die paar Meter bis zum freien Land vorzukriechen. Vor ihm lagen kleine, grasbedeckte Hügel, die gelegentlich mit Gruppen schlanker Bäume bestanden waren. Der Tag war mild, obwohl es Sommer und der Äquator nicht weit entfernt war. Achthundert Jahre der Wetterkontrolle und die großen künstlichen Seen, in denen die Wüsten ertrunken waren, sorgten dafür.
Beinahe zum erstenmal in seinem Leben erlebte Peyton die Natur so, wie sie in jenen Tagen vor dem Kommen des Menschen gewesen war. Doch war es nicht die Wildnis der Szenerie, die er als so seltsam empfand. Peyton hatte nie richtige Stille gekannt. Immer hatte es das Gemurmel von Maschinen oder das ferne Flüstern schneller Luftschiffe gegeben, das schwach aus den riesigen Höhen der Stratosphäre herab zu hören war.
Hier gab es keines dieser Geräusche, denn keine Maschine konnte die Kraftschranke durchdringen, die das Reservat umgab. Hier gab es nur den Wind im Gras und das kaum hörbare Konzert der Insektenstimmen. Peyton empfand die Stille als nervtötend und tat, was beinahe jeder Mensch seiner Zeit gemacht haben würde. Er drückte auf den Knopf seines persönlichen Radios, das einen Sender mit Hintergrundmusik auswählte.
So wanderte Peyton durch das Gebiet des Großen Reservats, die größte Fläche naturbelassenen Territoriums, das es noch auf der Oberfläche des Erdballs gab. Das Gehen fiel ihm leicht, denn die in seine Montur eingebauten Neutralisatoren hoben sein Gewicht beinahe auf. Mit sich trug er den Nebel unaufdringlicher Musik, der beinahe von der Entdeckung des Radios an den Hintergrund menschlichen Lebens bildete. Obwohl er nur einen Schalter umlegen mußte, um mit beinahe jedermann auf dem Planeten in Kontakt zu treten, betrachtete er sich ganz ernsthaft als mutterseelenallein im Herzen der Natur, und einen Augenblick lang durchströmten ihn all die Gefühle, die Stanley und Livingstone empfunden haben mußten, als sie vor mehr als tausend Jahren dasselbe Gebiet betreten hatten.
Zum Glück war Peyton ein guter Fußgänger, und so hatte er bis Mittag die halbe Strecke bis zu seinem Ziel zurückgelegt. Er hielt Rast, um unter einem Gehölz importierter marsianischer Kiefern, das einen Forscher aus alten Tagen aufs höchste verwundert hätte, das Mittagsmahl einzunehmen. In seiner Unwissenheit hielt Peyton diese Bäume für völlig selbstverständlich.
Er hatte schon einen kleinen Haufen leerer Konserven angesammelt, als er etwas bemerkte, das sich schnell über die Ebene in der Richtung bewegte, aus der er gekommen war. Es war zu weit weg, als daß er hätte erkennen können, was es war. Erst als es sich ihm offensichtlich näherte, machte er sich die Mühe aufzustehen, um es besser zu sehen. Bislang hatte er noch nichts von wilden Tieren bemerkt – wenngleich viele Tiere ihn bemerkt hatten –, und er beobachtete den Neuankömmling mit Interesse.
Peyton hatte nie zuvor einen Löwen gesehen, aber er hatte keine Schwierigkeiten, das herrliche Tier zu erkennen, das auf ihn zugelaufen kam. Es gereichte ihm zur Ehre, daß er nur einmal zu dem Baum über ihm aufschaute. Dann hielt er entschlossen seine Stellung.
Es gab, wie ihm bekannt war, auf der Welt keine wirklich gefährlichen Tiere mehr. Das Reservat war ein Mittelding zwischen biologischem Laboratorium und Nationalpark und wurde alljährlich von Tausenden von Besuchern aufgesucht. Es war allgemein bekannt, daß einem selbst keine Gefahr drohte, wenn man die Bewohner in Ruhe ließ. Im großen und ganzen funktionierte dieses Abkommen glatt.
Das Tier bemühte sich entschieden, freundlich zu sein. Es trottete schnurstracks auf ihn zu und rieb sich liebevoll an seiner Seite. Als Peyton aufstand, zeigte es großes Interesse an seinen leeren Konservenbüchsen. Endlich wandte es sich ihm mit einem Ausdruck zu, der unwiderstehlich war.
Peyton lachte, öffnete eine neue Konservenbüchse und breitete den Inhalt sorgfältig auf einem flachen Stein aus. Der Löwe nahm diesen Tribut freudig an, und während er fraß, blätterte Peyton im Register des offiziellen Führers, mit dem ihn seine unbekannten Förderer ausgerüstet hatten.
Es gab mehrere Seiten über Löwen, für außerirdische Besucher reich mit Fotos illustriert. Die Information war höchst beruhigend. Ein Jahrtausend wissenschaftlich betriebener Züchtung hatte den König der Tiere veredelt. Im letzten Jahrhundert hatte er lediglich ein Dutzend Menschen aufgefressen: In zehn Fällen hatte ihn die anschließende Untersuchung von jeder Schuld freigesprochen, und in den beiden übrigen gab es einen „Mangel an Beweisen“.
Im Buch stand aber nichts von unerwünschten Löwen und darüber, wie man sie am besten los wird. Es gab auch keinen Hinweis, daß sie normalerweise so freundlich waren wie dieses Exemplar.
Peyton war kein besonders guter Beobachter. Es dauerte einige Zeit, bis er den dünnen Metallstreifen bemerkte, der die rechte Vorderpfote des Löwen umschloß. Er trug eine Reihe von Zahlen und Buchstaben, gefolgt vom Amtsstempel des Reservats.
Das war kein wildes Tier; es hatte vielleicht seine ganze Jugend unter Menschen verbracht. Es war wahrscheinlich einer jener berühmten Superlöwen, die von Biologen gezüchtet und dann zur Verbesserung der Rasse freigelassen wurden. Einige von ihnen waren beinahe so intelligent wie Hunde, wenn man sich auf die Berichte verlassen durfte, die Peyton gelesen hatte.
Er kam sehr rasch darauf, daß der Löwe viele einfache Wörter verstehen konnte, vor allem solche, die mit Fressen zusammenhingen. Selbst für diese Zeit handelte es sich um ein prächtiges Tier, es war um gut einen Fuß höher als sein wilder Urahn vor zehn Jahrhunderten.
Als sich Peyton neuerlich auf den Weg machte, trottete der Löwe neben ihm her. Er bezweifelte, daß dessen Freundschaft mehr als ein Pfund synthetischen Fleisches wert war; es war jedoch angenehm, jemanden zu haben, mit dem man reden konnte – noch dazu jemanden, der keinen Versuch machte, zu widersprechen. Nach tiefem und angestrengtem Nachdenken entschied er sich, daß „Leo“ ein geeigneter Name für seinen neuen Bekannten sei.
Peyton war ein paar hundert Meter gegangen, als es plötzlich in der Luft vor ihm blendendhell aufblitzte. Obwohl er sofort erkannte, worum es sich handelte, zuckte er zusammen und blieb blinzelnd stehen. Leo war sofort geflüchtet und befand sich bereits außer Sicht. Im Notfall wäre er keine große Hilfe, überlegte sich Peyton. Später mußte er sein Urteil revidieren.
Sobald sich seine Augen erholt hatten, erblickte er vor sich eine vielfarbige Botschaft, die in feurigen Buchstaben brannte. Sie hing ruhig in der Luft und lautete:
WARNUNG!
SIE NÄHERN SICH JETZT EINEM SPERRGEBIET!
KEHREN SIE UM!
Auf Anordnung des amtierenden Weltrates
Peyton besah sich die Botschaft ein paar Augenblicke lang nachdenklich. Dann hielt er nach dem Projektor Ausschau. Dies war ein Metallkästchen, das am Rande der Straße nicht sehr wirkungsvoll versteckt war. Er öffnete es im Nu mit den Universalschlüsseln, die ihm eine vertrauensvolle Elektronikkommission beim Studienabschluß übergeben hatte.
Nach der ein paar Minuten andauernden Untersuchung atmete er erleichtert auf. Der Projektor war ein einfaches Gerät mit Raumauslöser. Jeder, der sich auf der Straße näherte, löste ihn aus. Es gab auch ein fotographisches Aufnahmegerät, aber es war ausgeschaltet. Peyton war davon nicht überrascht, denn jedes streunende Tier hätte es ausgelöst. Das traf sich gut. Es hatte zu bedeuten, daß niemand wissen konnte, daß Richard Peyton III. jemals auf dieser Straße vorbeigekommen war.
Er rief Leo, der langsam zurückkam und sich zu schämen schien. Die Schrift war verschwunden, und Peyton hielt den Schalter fest, um zu verhindern, daß sie sich neuerlich zeigte. Dann schloß er das Türchen wieder ab und ging weiter. Er fragte sich, was als nächstes passieren würde.
Hundert Meter weiter sprach ihn eine körperlose Stimme warnend an. Sie sagte ihm nichts Neues, bedrohte ihn aber mit einer Anzahl von geringfügigen Strafen, von denen ihm einige vertraut waren.
Es war amüsant, Leos Gesicht zu beobachten, als er versuchte, den Ursprung der Stimme festzustellen. Peyton suchte ebenfalls nach dem Projektor und überprüfte ihn vor dem Weitergehen. Es wäre sicherer, entschied er sich, die Straße überhaupt zu verlassen. Auf ihr mochten sich noch weitere Registriergeräte befinden.
Mit gewissen Schwierigkeiten überredete er Leo, auf der Metalloberfläche zu bleiben, während er selbst auf dem dürren Boden neben der Straße ausschritt. Auf der nächsten Viertelmeile löste der Löwe zwei weitere elektronische Fallen aus. Die letzte davon schien jeden Versuch der Überzeugung aufgegeben zu haben. Sie sagte einfach:
WARNUNG VOR WILDEN LÖWEN
Peyton schaute Leo an und begann zu lachen. Leo verstand zwar den Witz nicht, stimmte aber höflich mit ein. Hinter ihnen verblaßte das automatische Zeichen mit einem letzten verzweifelten Aufflackern.
Peyton fragte sich, wozu die Signale überhaupt gut waren. Vielleicht hatten sie den Zweck, zufällige Besucher zu verscheuchen. Diejenigen, die das Ziel kannten, würden sich davon schwerlich abbringen lassen.
Die Straße folgte plötzlich einer rechtwinkeligen Biegung nach rechts – und vor ihm lag Comarre. Wie seltsam, daß ihm etwas, das er erwartet hatte, einen solchen Schock versetzen konnte. Vor ihm lag eine ungeheure Lichtung im Dschungel, halb von einem schwarzen metallischen Bauwerk ausgefüllt.
Die Stadt hatte die Form eines terrassierten Kegels und mochte achthundert Meter hoch und an der Grundlinie tausend Meter breit sein. Wieviel davon unter der Erde lag, konnte Peyton nicht ahnen. Er blieb stehen, von der Größe und Merkwürdigkeit des ungeheuren Bauwerkes überwältigt. Dann ging er langsam darauf zu.
Wie ein Raubtier, das sich in seinem Lager zusammenkauert, lag die Stadt wartend da. Obwohl nur noch wenige Gäste kamen, war sie für ihren Empfang bereit, wer auch immer sie sein mochten. Manchmal waren sie bei der ersten Warnung umgekehrt, manchmal bei der zweiten. Einige hatten schon den Eingang erreicht, ehe der Mut sie verließ. Die meisten jedoch traten willig ein, waren sie doch von weit her gekommen.
So erreichte Peyton die Marmorstufen, die zu der hoch aufragenden Metallwand emporführten, und das merkwürdige schwarze Loch, das der einzige Eingang zu sein schien. Leo trottete ruhig neben ihm her und nahm keinerlei Notiz von seiner seltsamen Umgebung.
Peyton blieb am Fuß der Treppe stehen und wählte eine Nummer an seinem Kommunikator. Er wartete auf das Empfangszeichen und sprach dann langsam in das Mikrophon: „Die Fliege betritt den Salon.“
Er wiederholte den Satz zweimal und kam sich dabei wie ein Narr vor. Irgend jemand, dachte er bei sich, hat einen perversen Sinn für Humor.
Er erhielt keine Antwort. Auch das gehörte zur Abmachung. Er hegte jedoch keinen Zweifel, daß die Botschaft empfangen worden war, möglicherweise in irgendeinem Laboratorium in Szientia, da die gewählte Nummer eine Kodierung aufwies, die sie der westlichen Hemisphäre zuordnete.
Peyton öffnete die größte der Fleischbüchsen und verteilte den Inhalt auf den Marmorstufen. Er fuhr mit den Fingern durch die Löwenmähne und kraulte sie verspielt.
„Ich glaube, es ist besser, du bleibst hier“, sagt er. „Ich bleibe vielleicht einige Zeit aus. Versuche nicht, mir zu folgen.“
Von der obersten Stufe aus blickte er zurück. Zu seiner Erleichterung hatte der Löwe keine Anstalten getroffen, ihm zu folgen. Er saß auf den Hinterbeinen und schaute ihm kläglich nach. Peyton winkte ihm zu und wandte sich ab.
Es gab keine Tür, nur ein einfaches schwarzes Loch in der gekrümmten Metalloberfläche. Das war verwunderlich, und Peyton fragte sich, wie die Erbauer wohl Tiere vom Eindringen abhielten. Dann erregte etwas an der Öffnung seine Aufmerksamkeit.
Sie war zu schwarz. Obwohl die Mauer im Schatten lag, hatte der Eingang kein Recht, so schwarz zu sein. Er nahm eine Münze aus der Tasche und warf sie in die Öffnung. Das Geräusch ihres Falles beruhigte ihn, und er ging vorwärts.
Die feinjustierten Unterscheidungsschaltkreise hatten die Münze ignoriert, wie sie all die umherstreifenden Tiere ignorierten, die das dunkle Portal ab und zu betraten. Die Anwesenheit eines menschlichen Geistes genügte jedoch zum Auslösen der Schalter. Einen Sekundenbruchteil lang pulsierte der Schirm, durch den sich Peyton bewegte, vor Energie. Dann wurde er wieder inaktiv.
Es kam Peyton vor, als benötige sein Fuß eine sehr lange Zeit, um den Boden zu berühren. Dies war jedoch die geringste seiner Sorgen. Weitaus überraschender traf ihn der unvermittelte Wechsel von Dunkelheit zu Licht, von der drückenden Hitze des Dschungels zu einer Temperatur, die vergleichsweise beinahe kalt wirkte. Der Wechsel kam so plötzlich, daß er nach Luft schnappte. Mit einem Gefühl entschiedenen Unbehagens wandte er sich wieder dem Bogengang zu, durch den er gerade gekommen war.
Er war nicht mehr da. Er schien niemals vorhanden gewesen zu sein. Er stand auf einer erhöhten Stelle aus Metall, genau im Mittelpunkt eines kreisförmigen Raumes mit einem Dutzend Spitzbogengängen an der Peripherie. Er hätte durch jeden von ihnen hereingekommen sein können – wenn sie nicht alle vierzig Meter entfernt gewesen wären.
Einen Augenblick lang wurde Peyton von Panik ergriffen. Er spürte das Herz pochen, und mit seinen Beinen ging etwas Merkwürdiges vor. Nie hatte er sich so einsam gefühlt wie jetzt, wo er sich auf der Estrade niedersetzte, um seine Lage logisch zu überdenken.
4. Im Zeichen des Mohns
Irgend etwas hatte ihn im Nu aus dem schwarzen Gang in den Mittelpunkt des Raumes befördert. Nur zwei Erklärungen gab es dafür, beide gleichermaßen phantastisch. Entweder es war in Comarre irgend etwas mit dem Raum nicht in Ordnung, oder seine Erbauer hatten das Problem der Materieübertragung gemeistert.
Seit die Menschen davon geträumt hatten, Laute und optische Signale durch Funk zu übertragen, träumten sie auch davon, mit derselben Methode Materie zu übertragen. Peyton blickte die Estrade an, auf der er sich befand. Sie konnte ohne weiteres elektronische Ausrüstungen enthalten – und in der Decke über ihm zeigte sich eine merkwürdige Wölbung.
Wie auch immer es bewerkstelligt wurde, er konnte sich keine bessere Methode vorstellen, um unerwünschte Besucher zu ignorieren. Überstürzt stolperte er von der Estrade.
Die Erkenntnis beunruhigte ihn, daß er jetzt keine Möglichkeit hatte, sich zu entfernen, wenn man von der Hilfe jener Maschine absah, die ihn hierher befördert hatte. Er beschloß, sich nur über jeweils eine Angelegenheit den Kopf zu zerbrechen. Bis zum Abschluß seiner Forschungsreise würde er gewiß dieses und alle anderen Geheimnisse von Comarre gemeistert haben.
Er war wirklich nicht überheblich und verblendet. Zwischen Peyton und den Erbauern der Stadt lagen fünf Jahrhunderte Forschung. Mochte er auch vieles finden, was neu für ihn war, es würde nichts geben, was er nicht verstehen konnte. Er entschied sich für einen beliebigen Ausgang und begann die Stadt zu erforschen.
Die Maschinen beobachteten ihn, sie warteten ab. Sie waren konstruiert worden, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, und diesem Zweck dienten sie noch immer blindlings. Vor langer Zeit hatten sie dem Geist ihrer Erbauer den Frieden des Vergessens gebracht. Dieses Vergessen konnten sie noch immer allen bringen, die die Stadt Comarre betraten.
Die Instrumente hatten mit ihrer Analyse begonnen, als Peyton aus dem Wald heraustrat. Diese Zerlegung eines Menschengeistes mit all seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten war nicht etwas, das sich im Nu erledigen ließ. Die Synthetisatoren würden erst nach Stunden eingreifen. Bis dahin unterhielt man den Gast, während eine weitaus üppigere Gastfreundschaft für ihn vorbereitet wurde.
Der schwer greifbare Besucher gab dem kleinen Roboter einige Nüsse zu knacken, bis er endlich feststellte, wo er war, denn bei seiner Erforschung der Stadt eilte Peyton von Raum zu Raum. Endlich kam die Maschine im Mittelpunkt eines kleinen kreisförmigen Raumes zum Stehen, der von Magnetschaltern umsäumt und von einer einzigen Leuchtröhre erhellt wurde.
Den Instrumenten zufolge war Peyton nur ein paar Meter weit entfernt, seine vier Augenlinsen konnten jedoch keine Spur von ihm ausmachen. Erstaunt und bewegungslos stand die Maschine da, völlig lautlos, vom schwachen Flüstern ihrer Motoren und dem gelegentlichen Klicken eines Schalters einmal abgesehen.
Von einem Steg aus, drei Meter über dem Boden, betrachtete Peyton die Maschine mit großem Interesse. Er erblickte einen glänzenden Metallzylinder, der von der dicken Grundplatte, die auf Laufrädern montiert war, in die Höhe ragte. Es gab keinerlei wie auch immer geartete Gliedmaßen: Der Zylinder war, vom Kreis der Augenlinsen und einer Reihe kleiner Schallgitter aus Metall abgesehen, völlig glatt.
Es war belustigend, die Verblüffung der Maschine zu beobachten, als sich ihr kleines Gehirn mit zwei einander widersprechenden Informationen abplagte. Obwohl sie wußte, daß sich Peyton in dem Raum befand, sagten ihr die Augenlinsen, daß dies nicht der Fall war. Sie begann in kleinen Kreisen herumzusausen, bis sich Peyton ihrer erbarmte und vom Steg herabstieg. Sofort hörte die Maschine auf, sich im Kreise herumzudrehen und entbot ihm ihren Willkommensgruß.
„Ich bin A-fünf. Ich führe Sie überall hin, wohin Sie es wünschen. Bitte erteilen Sie mir Ihre Befehle im Norm-Robotvokab.“
Peyton war ziemlich enttäuscht. Das war ein ganz gewöhnlicher Roboter, und er hatte in der von Thordarsen erbauten Stadt etwas Besseres erwartet. Die Maschine mochte sich jedoch als nützlich erweisen, wenn er sie richtig einsetzte.
„Danke“, erwiderte er unnötigerweise. „Führe mich bitte zu den Wohnräumen.“
Peyton war sich jetzt ziemlich sicher, daß die Stadt vollautomatisch funktionierte, es bestand jedoch noch immer die Möglichkeit, daß sie menschliches Leben enthielt. Es mochten andere da sein, die ihm bei seiner Suche behilflich sein konnten, doch war vielleicht das Fehlen jeglicher Widersacher das höchste, was er sich erhoffen durfte.
Wortlos drehte sich die Maschine auf den Rädern herum und rollte aus dem Raum. Der Gang, durch den sie Peyton führte, endete vor einer reichverzierten Tür, die er bereits vergeblich zu öffnen versucht hatte. Anscheinend kannte A-fünf ihr Geheimnis – denn als sie sich näherten, glitt die dicke Metallplatte lautlos zur Seite. Der Roboter rollte in eine kleine kistenförmige Kammer hinein.
Peyton fragte sich, ob sie einen weiteren Materietransmitter betreten hatten, kam jedoch sehr rasch darauf, daß es sich lediglich um einen gewöhnlichen Aufzug handelte. Aus der Fahrtzeit nach oben zu schließen, mußte er sie beinahe bis zur Spitze der Stadt befördert haben. Als die Türen aufglitten, kam es Peyton so vor, als befände er sich in einer anderen Welt.
Die Gänge, in denen er zuerst gelandet war, waren nüchtern und ohne allen Schmuck gewesen, ganz auf Nützlichkeit bedacht. Im Gegensatz dazu waren diese geräumigen Gänge und Versammlungszimmer mit äußerstem Luxus ausgestattet. Das 26. Jahrhundert war eine Zeit mit einer Neigung zu überladener Dekoration, auf welche die nächsten Generationen naserümpfend herabblickten. Die Dekadenzler waren jedoch weit über ihre eigene Zeit hinausgegangen. Bei der Planung Comarres hatten sie sich die Quellen der Psychologie ebenso zunutze gemacht wie die der Kunst.
Man hätte ein Leben verbringen können, ohne all die Wandgemälde, Schnitzereien, Bilder und verschlungenen Tapeten erschöpfend zu betrachten, die noch immer so farbenprächtig aussahen wie zu der Zeit, da sie angefertigt worden waren. Es war eine Schande, daß etwas so Prächtiges völlig verlassen und vor der Welt verborgen war. Peyton hätte beinahe seinen wissenschaftlichen Forschungseifer vergessen und eilte wie ein Kind von Wunder zu Wunder.
Dies hier waren Genieleistungen, vielleicht großartiger als alles, was die Welt bisher gekannt hatte. Es handelte sich jedoch um einen kranken und verzweifelten Genius, einen, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, aber noch immer ein ungeheures technisches Können besaß. Zum erstenmal verstand Peyton wirklich, warum die Erbauer von Comarre ihren Namen erhalten hatten.
Die Kunst der Dekadenzler stieß ihn ab und faszinierte ihn zugleich. Sie war nicht böse, denn sie stand allen moralischen Maßstäben fern. Ihre beherrschenden Eigenschaften waren vielleicht Erschöpfung und Enttäuschung. Nach einiger Zeit spürte Peyton, der sich selbst nie als für visuelle Kunst empfänglich gehalten hatte, wie eine subtile Depression sich seiner Seele bemächtigte. Dennoch war es ihm schier unmöglich, sich loszureißen.
Schließlich wandte sich Peyton wieder dem Roboter zu.
„Lebt jetzt noch jemand da?“
„Ja.“
„Wo sind sie?“
„Sie schlafen.“
Irgendwie sah das nach einer ganz natürlichen Antwort aus. Peyton fühlte sich hundemüde. Die letzte Stunde war ein Kampf ums Wachbleiben gewesen. Etwas schien ihn beinahe zum Schlafen zu zwingen. Morgen war noch Zeit genug, die Geheimnisse zu ergründen, deretwegen er hergekommen war. Im Augenblick wollte er nichts als schlafen.
Er folgte automatisch, als ihn der Roboter aus den geräumigen Sälen in einen langen Gang hinausführte, in dem sich rechts und links Türen aneinanderreihten, von denen jede ein halbvertrautes Symbol trug, das Peyton nicht völlig erkennen konnte. Sein schläfriger Geist rang noch immer halbherzig mit diesem Problem, als die Maschine vor einer dieser Türen stehenblieb, woraufhin diese lautlos aufglitt.
Die mit schwerem Stoff bespannte Couch in dem verdunkelten Zimmer wirkte unwiderstehlich. Peyton stolperte automatisch auf sie zu. Als er auf ihr in den Schlaf hinüberglitt, durchglühte ein Gefühl wärmender Befriedigung seinen Kopf. Er hatte das Symbol auf der Tür erkannt, wenn auch sein Gehirn zu müde war, um seine Bedeutung zu verstehen.
Es war eine Mohnblume.
Die Funktionsweise der Stadt hatte nichts von Täuschung, nichts von Böswilligkeit an sich. Unpersönlich führte sie die Aufgaben durch, für die sie geschaffen worden war. Alle, die nach Comarre gekommen waren, hatten ihre Geschenke willig angenommen. Dieser Besucher war der erste, der sie sogar völlig unbeachtet gelassen hatte.
Die Integratoren standen schon seit Stunden bereit, aber diesen rastlosen, prüfenden Verstand hatten sie nicht zu fassen bekommen. Sie konnten sich das Warten leisten, wie sie schon die letzten fünfhundert Jahre gewartet hatten.
Als nun Richard Peyton friedlich in den Schlaf sank, zerbröckelten die Verteidigungslinien dieses merkwürdig starrköpfigen Geistes. Tief unten im Herzen von Comarre wurde ein Schalter umgelegt, und komplizierte, langsam fluktuierende Ströme begannen durch Bänke von Vakuumröhren zu kriechen und zu fließen. Das Bewußtsein, das Richard Peyton III. gewesen war, hörte zu existieren auf.
Peyton war im Nu eingeschlafen. Eine Zeitlang war er völlig dem Vergessen ausgeliefert. Dann kehrten schwache Bewußtseinsfetzen zurück. Anschließend begann er, wie immer, zu träumen.
Es war seltsam, daß ihm ausgerechnet sein Lieblingstraum eingefallen war, und dieser war jetzt noch lebhafter als je zuvor. Sein ganzes Leben lang hatte Peyton das Meer geliebt, und einmal hatte er die unglaubliche Schönheit der Inseln des Pazifiks vom Beobachtungsdeck eines niedrig fliegenden Linienflugzeuges erblickt. Er war nie dort gewesen, aber er hatte sich oft gewünscht, er könne sein Leben auf einer fernen und friedlichen Insel verbringen, unbehelligt von der Sorge um die Zukunft der Welt.
Es war ein Traum, wie ihn beinahe alle Menschen an irgendeinem Punkt im Leben haben, aber Peyton war verständig genug, um zu erkennen, daß ihn zwei Monate eines solchen Faulenzerdaseins in die Zivilisation zurückgetrieben hätten, halb verrückt vor Langeweile. In seinen Träumen jedoch zerbrach er sich nie mit solchen Überlegungen den Kopf, und so lag er wieder einmal unter im Winde schaukelnden Palmen, und die Brandung trommelte gegen das Riff außerhalb einer Lagune, die die Sonne in einem azurblauen Spiegel umrahmte.
Der Traum war so außerordentlich lebendig, daß sich Peyton selbst im Traume dachte, daß kein Traum das Recht hätte, so real zu sein. Dann hörte er so urplötzlich auf, daß es in seinen Gedanken einen Bruch zu geben schien.
Bitter enttäuscht lag Peyton eine Weile mit fest geschlossenen Augen da und versuchte das verlorene Paradies neuerlich einzufangen. Es nützte jedoch nichts. Etwas pochte gegen sein Gehirn und hielt ihn vom Schlafen ab. Überdies war die Couch plötzlich sehr hart und unbequem geworden. Widerwillig lenkte er seine Gedanken auf die Unterbrechung.
Peyton war immer ein Realist gewesen und nie von philosophischen Zweifeln geplagt worden, und deshalb war der Schock für ihn weit stärker, als er es für viel weniger intelligente Köpfe gewesen wäre. Nie zuvor hatte er an seiner eigenen geistigen Gesundheit gezweifelt, aber jetzt tat er es. Denn das Geräusch, das ihn aufgeweckt hatte, war das Trommeln der Wellen gegen das Riff. Er lag auf dem goldenen Sand neben der Lagune. Neben ihm seufzte der Wind durch die Palmen, seine warmen Finger streichelten ihn sanft.
Einen Augenblick lang konnte sich Peyton nur vorstellen, daß er noch immer träume. Diesmal jedoch war kein Zweifel mehr möglich.
Solange man geistig gesund ist, kann man die Wirklichkeit nie mit einem Traum verwechseln. Falls etwas im Universum wirklich war, so war das hier wirklich.
Langsam verging sein Staunen. Er erhob sich, der Sand fiel wie ein goldener Regen von ihm ab. Er schirmte die Augen gegen die Sonne ab und starrte den Strand entlang.
Er nahm sich nicht die Zeit, darüber zu staunen, daß der Ort so vertraut wirkte. Es kam ihm ganz natürlich vor, daß er wußte, daß das Dorf ein wenig weiter die Bucht entlang lag. Bald würde er neuerlich mit seinen Freunden zusammentreffen, von denen er in einer Welt, die er rasch vergaß, eine Weile getrennt gewesen war.
Es gab die schwindenden Erinnerungen an einen jungen Ingenieur – selbst der Name fiel ihm nicht mehr ein –, der einst nach Ruhm und Weisheit gestrebt hatte. In jenem anderen Leben hatte er diesen Narren gut gekannt, aber jetzt würde er ihm nie erklären können, wie eitel sein Ehrgeiz war.
Er ging müßig den Strand entlang, die letzten Erinnerungen an sein Schattendasein fielen mit jedem Schritt von ihm ab, ähnlich wie die Einzelheiten eines Traumes im Tageslicht vergehen.
Auf der anderen Seite der Welt warteten drei besorgte Wissenschaftler in einem verlassenen Laboratorium, die Augen auf einen Mehrkanalkommunikator ungewöhnlicher Bauart gerichtet. Seit neun Stunden blieb die Maschine stumm. Niemand hatte in den ersten acht Stunden eine Nachricht erwartet, aber das vereinbarte Signal war jetzt seit mehr als einer Stunde überfällig.
Alan Henson sprang mit einer Gebärde der Ungeduld auf.
„Wir müssen etwas unternehmen! Ich werde ihn anrufen.“
Die beiden anderen Wissenschaftler blickten einander nervös an.
„Man findet dann vielleicht heraus, von woher der Anruf kommt!“
„Nicht, wenn sie uns nicht schon jetzt überwachen. Selbst wenn das der Fall ist, sage ich nichts Auffälliges. Peyton wird es verstehen, falls er überhaupt zu antworten imstande ist …“
Falls Richard Peyton je die Zeit gekannt hatte, so war dieses Wissen jetzt vergessen. Nur die Gegenwart war wirklich, denn sowohl Vergangenheit als auch Zukunft lagen hinter einem undurchdringlichen Schirm verborgen, ähnlich wie eine weite Landschaft von einer Schlagregenwand verdeckt werden kann.
Peyton war völlig damit zufrieden, daß er die Gegenwart genoß.
Nichts war von dem rastlos angetriebenen Geist geblieben, der einst, ein wenig unsicher, aufgebrochen war, um neue Wissensgebiete zu erobern. Für Erkenntnis hatte er keine Verwendung mehr.
Später konnte er sich an nichts mehr von seinem Leben auf der Insel erinnern. Er hatte viele Gefährten gehabt, ihre Namen und Gesichter waren ihm jedoch unwiederbringlich entschwunden. Liebe, Seelenfrieden, Glück – das alles war für einen kurzen Augenblick sein. Und doch konnte er sich an nichts mehr erinnern als an die letzten paar Augenblicke seines Lebens im Paradies.
Wie merkwürdig, daß es so endete, wie es begann. Wieder einmal befand er sich neben der Lagune, dieses Mal jedoch war es Nacht, und er war nicht allein. Der Mond, der immer so voll ausgesehen hatte, schwebte niedrig über dem Meer, und sein langes Silberband erstreckte sich weithin sichtbar bis zum Rand der Welt. Die Sterne, die nie ihren Standort änderten, glühten wie strahlende Edelsteine am Himmel, ohne zu flimmern, prächtiger als die vergessenen Sterne der Erde.
Peytons Gedanken waren jedoch auf eine andere Art von Schönheit gerichtet, und er beugte sich wieder zu der Gestalt hinunter, die auf dem Sand lag, der genausowenig golden war wie das Haar, das sorglos darüber ausgebreitet lag.
Dann jedoch erzitterte das Paradies und löste sich um ihn herum auf. Als ihm alles, was er liebte, entrissen wurde, stieß er einen Schmerzensschrei aus. Lediglich die Schnelligkeit des Überganges rettete seinen Verstand. Als es vorbei war, war ihm zumute, wie es Adam zumute gewesen sein mußte, als sich die Tore des Paradieses auf ewig hinter ihm schlossen.
Das Geräusch jedoch, das ihn zurückgeholt hatte, war das allergewöhnlichste von der ganzen Welt. Vielleicht hätte wirklich kein anderes seinen Geist in seinem Versteck erreichen können. Es war lediglich das Schrillen seines Kommunikators, der neben der Couch auf dem Boden lag, hier in dem verdunkelten Zimmer in der Stadt Comarre.
Der Lärm erstarb, als er automatisch die Hand ausstreckte, um den Empfangsschalter umzulegen. Er mußte eine Antwort gegeben haben, die den unbekannten Anrufer zufriedenstellte – wer war bloß Alan Henson? –, denn nach einer sehr kurzen Zeit brach die Verbindung wieder ab. Noch immer benommen, saß Peyton auf der Couch, den Kopf auf die Hand gestützt, und versuchte, sein Leben neu zu ordnen.
Er hatte nicht geträumt, darauf hätte er wetten mögen. Es war vielmehr, als hätte er ein zweites Leben gelebt und kehrte jetzt zu seinem alten Dasein zurück, wie jemand, der sich von einem Gedächtnisverlust erholt. Obwohl er noch immer benommen war, formte sich ein klarer Gedanke in seinem Kopf. Er durfte in Comarre nie mehr einschlafen.
Langsam kehrten der Wille und der Charakter von Richard Peyton III. aus der Verbannung zurück. Mit unsicheren Füßen stand er auf und verließ den Raum. Wieder einmal befand er sich in dem langen Korridor mit seinen Hunderten von gleichartigen Türen. Mit neuem Verständnis besah er sich die auf ihnen angebrachten Symbole.
Er merkte kaum, wohin er ging. Sein Geist beschäftigte sich zu intensiv mit dem vor ihm liegenden Problem. Beim Gehen wurde ihm der Kopf klarer, und allmählich verstand er. Vorerst handelte es sich nur um eine Vermutung, aber bald würde er sie überprüfen.
Der menschliche Geist war etwas äußerst Zartes, Abgeschirmtes, ohne direkten Kontakt mit der Welt; all sein Wissen und seine Erfahrung wurden ihm durch die Sinne vermittelt. Es war möglich, Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen und zu speichern, so wie der frühere Mensch einst Töne auf meilenlangen Drähten aufgezeichnet hatte.
Wurden diese Gedanken in einen anderen Geist projiziert, während der Körper bewußtlos war und alle Sinne betäubt waren, würde dieses Gehirn glauben, es erlebe die Wirklichkeit. Es gab keine Möglichkeit, wie es die Täuschung entdecken konnte, genausowenig wie man eine perfekt aufgezeichnete Symphonie von einer originalen Aufführung unterscheiden kann.
Dies alles war seit Jahrhunderten bekannt, aber die Erbauer von Comarre hatten dieses Wissen auf eine Weise verwertet, wie es zuvor nie geschehen war. Irgendwo in der Stadt mußte es Maschinen geben, die jeden Gedanken und jede Sehnsucht der Besucher analysieren konnten. Irgendwo mußten die Erbauer der Stadt jede Wahrnehmung und jedes Erlebnis gespeichert haben, die dem menschlichen Geist bekannt sind. Aus diesem Rohmaterial konnte jede mögliche Zukunft konstruiert werden.
Erst jetzt wurde Peyton das volle Ausmaß des Genies klar, das bei der Errichtung Comarres Pate gestanden hatte. Die Maschinen hatten seine verborgensten Gedanken analysiert und für ihn eine aus seinen unbewußten Sehnsüchten erbaute Welt errichtet. Sobald sich die Möglichkeit ergeben hatte, hatten sie sodann die Kontrolle über seinen Geist ergriffen und ihm alles, was er erlebt hatte, eingegeben.
Was wunder also, daß sich alles, wonach er sich je gesehnt hatte, in jenem halbvergessenen Paradies sein eigen gewesen war. Und was wunder auch, daß im Verlauf der Zeiten so viele jenen Frieden gesucht hatten, den einzig und allein Comarre bringen konnte!
5. Der Ingenieur
Als ihn das Geräusch von Rädern veranlaßte, über die Schulter zurückzublicken, war Peyton bereits wieder Herr seiner Sinne geworden. Der kleine Roboter, der ihm als Führer gedient hatte, war zurückgekehrt. Zweifellos fragten sich die großen Maschinen, die ihn steuerten, was mit seinem Schützling passiert war. Peyton wartete ab, und langsam nahm ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt an.
A-fünf fing neuerlich mit seiner vorprogrammierten Rede an. Eine so einfache Maschine an einem Ort, wo die Automatronik den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatte, erschien jetzt als Widerspruch. Dann erkannte Peyton, daß der Roboter vielleicht absichtlich unkompliziert war. Es lag wenig Sinn darin, eine komplexe Maschine zu benutzen, wenn eine einfache denselben Zweck erfüllen konnte – vielleicht sogar besser.
Peyton kümmerte sich nicht um die bereits bekannte Rede. Alle Roboter, das wußte er, mußten menschlichen Befehlen gehorchen, es sei denn, andere Menschen hätten ihnen zuvor schon gegensätzliche Befehle erteilt. Selbst die Projektoren der Stadt, dachte er listig bei sich, hatten den unbekannten und unausgesprochenen Befehlen seines eigenen Unterbewußtseins gehorcht.
„Führe mich zu den Gedankenprojektoren“, befahl er.
Wie erwartet, rührte sich der Roboter nicht. Er antwortete bloß: „Ich verstehe nicht.“
Peytons Lebensgeister erwachten, als er sich wieder als Herr der Lage fühlte.
„Komm her und bewege dich nicht, bis ich es dir befehle.“
Die Selektoren und Schaltkreise des Roboters prüften die Instruktionen. Sie konnten keinen Gegenbefehl finden. Langsam rollte die Maschine auf den Rädern vorwärts. Sie hatte sich festgelegt – es gab für sie kein Zurück mehr. Sie konnte sich erst wieder bewegen, wenn Peyton es ihr befahl oder etwa seine Befehle außer Kraft setzte. Roboter zu hypnotisieren war ein uralter Trick unter kleinen Jungen, die auf Unfug aus waren.
Rasch entleerte Peyton die Werkzeugtasche, die jeder Ingenieur immer bei sich trug: den Universalschraubenzieher, den verstellbaren Schraubenschlüssel, den automatischen Bohrer und, am wichtigsten von allem, den Atomschneider, der sich in ein paar Sekunden durch das dickste Metall fressen konnte. Dann machte er sich mit einer Geschicklichkeit, die das Ergebnis langer Praxis war, an der ahnungslosen Maschine zu schaffen.
Glücklicherweise war der Roboter so konstruiert, daß er leicht zu warten war, und ließ sich ohne Schwierigkeit öffnen. Die Leiteinrichtung enthielt nichts Unbekanntes, und Peyton brauchte nicht lange, um den Fortbewegungsmechanismus zu finden. Jetzt konnte die Maschine zumindest nicht entkommen, geschehe, was wolle. Sie war bewegungsunfähig.
Als nächstes blendete er sie, eine Linse nach der anderen, fand die anderen elektrischen Sinne heraus und machte sie funktionsunfähig. Bald war die Maschine bloß ein Metallzylinder voll kompliziertem Schrott. Als er sich hinsetzte und auf das wartete, was, wie er wußte, geschehen mußte, fühlte sich Peyton wie ein kleiner Junge, der gerade eine wehrlose Pendeluhr mutwillig zerlegt hat.
Es war ein wenig unüberlegt, den Roboter so weit von den Hauptmaschinengeschossen entfernt zu sabotieren. Der Roboter-Transporter benötigte beinahe fünfzehn Minuten, um sich aus den Tiefen hinaufzuarbeiten. Peyton hörte das Dröhnen seiner Räder in der Ferne und wußte, daß seine Berechnungen stimmten. Die Reparaturmannschaft befand sich im Anmarsch.
Der Transporter war ein einfaches Ladegerät mit Armpaaren, die einen beschädigten Roboter festhalten und tragen konnten. Er schien jedoch blind zu sein, auch wenn seine Sinne für seinen besonderen Zweck sicher ausreichend waren.
Peyton wartete, bis der Transporter den unglücklichen A-fünf eingesammelt hatte. Dann sprang er auf, wobei er darauf achtete, den mechanischen Gliedmaßen nicht zu nahe zu kommen. Er verspürte kein Verlangen, mit einem weiteren reparaturbedürftigen Roboter verwechselt zu werden. Glücklicherweise kümmerte sich die große Maschine überhaupt nicht um ihn.
So fuhr Peyton also durch Geschoß um Geschoß des gewaltigen Gebäudes hinab, an den Wohnquartieren vorbei, durch das Stockwerk mit dem Zimmer, in dem er sich zuerst befunden hatte, und noch tiefer in Regionen, die er nie zuvor gesehen hatte. Beim Abstieg veränderte sich der Charakter der Stadt um ihn.
Verschwunden waren jetzt der Luxus und der Überfluß der höheren Etagen. An ihrer Stelle gab es ein Niemandsland düsterer Gänge, die wenig mehr waren als riesige Kabelschächte. Schließlich endeten auch sie. Der Lader fuhr durch eine Reihe gewaltiger Gleittüren – und er war am Ziel.
Die Reihen von Relaiswänden und Selektormechanismen schienen endlos, aber obwohl Peyton in Versuchung kam, von seinem unfreiwilligen Gefährt abzuspringen, wartete er, bis die Hauptregelanlagen in Sicht kamen. Sodann kletterte er vom Fahrzeug herunter und blickte ihm nach, wie es in der Ferne in Richtung eines noch weiter entfernt liegenden Stadtteils verschwand.
Er überlegte sich, wieviel Zeit die Superautomaten für die Reparatur von A-fünf benötigen würden. Seine Sabotage war sehr gründlich gewesen, und er vermutete, daß die kleine Maschine auf dem Weg zum Schrotthaufen war. Dann begann er seine Untersuchung der Wunder der Stadt, denn er kam sich vor wie ein Hungriger, der sich plötzlich einem Festmahl gegenübersieht.
In den nächsten fünf Stunden hielt er nur einmal inne, um seinen Freunden daheim das Routinesignal zu senden. Er wünschte, er könnte ihnen von seinem Erfolg berichten, aber die Gefahr war zu groß. Nach wahren Wundern im Aufspüren von Schaltkreisen kannte er die Funktion der Hauptschaltanlage und begann einige der Sekundärinstallationen zu untersuchen.
Alles war genau so, wie er es erwartet hatte. Die Gedankenanalysatoren und -projektoren befanden sich im unmittelbar darüber liegenden Geschoß und ließen sich von seiner Zentralschaltanlage aus steuern. Er hatte keine Ahnung, wie sie funktionierten: Es konnte gut und gerne fünf Monate dauern, bis sie alle ihre Geheimnisse preisgegeben hatte. Er hatte sie jedoch durchschaut und glaubte, daß er sie, wenn notwendig, abschalten konnte.
Ein klein wenig später entdeckte er den Gedankenmonitor. Es handelte sich um eine kleine Maschine, die sehr einem uralten, von Hand geschalteten Telefonvermittlungskasten ähnelte, aber sehr viel komplizierter war. Der Bedienungssessel war eine höchst merkwürdige Einrichtung. Er war vom Boden isoliert und mit einem Netzwerk aus Drähten und Kristallstangen überdacht. Es war die erste Maschine von den hier gefundenen, die offensichtlich für unmittelbare menschliche Bedienung vorgesehen war. Möglicherweise hatten die Ingenieure sie gebaut, als sie in den Anfangstagen der Stadt die Anlage aufbauten.
Peyton hätte es nicht gewagt, den Gedankenmonitor einzuschalten, wären auf dem Schaltbrett nicht eingehende Gebrauchsanweisungen aufgedruckt gewesen. Nach einigem Experimentieren schaltete er sich in einen der Schaltkreise ein und erhöhte allmählich die Leistung, wobei er darauf achtete, daß der Intensitätsregler die rote Gefahrenmarke nicht überschritt.
Er tat gut daran, denn das Erlebnis wirkte auf ihn wie ein Angriff auf seine Substanz. Er bewahrte seine Persönlichkeit, aber seine eigenen Gedanken wurden von Einfällen und Bildern überlagert, die ihm völlig fremd waren. Durch das Fenster einer fremden Welt blickte er in eine andere Welt.
Es war, als würde sich sein Körper gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen befinden, auch wenn die Eindrücke seiner zweiten Persönlichkeit weitaus weniger lebhaft waren als die des wirklichen Richard Peyton III. Jetzt verstand er die Bedeutung der Gefahrenmarke. Falls der Regler für die Gedankenintensität zu hoch eingestellt wurde, führte das unzweifelhaft zum Wahnsinn.
Peyton schaltete die Anlage ab, damit er ungestört nachdenken konnte. Jetzt verstand er, was der Roboter mit den Worten, die anderen Bewohner Comarres schliefen, gemeint hatte. Es gab andere Menschen in Comarre, aber sie lagen entrückt unter den Gedankenprojektoren.
Seine Gedanken kehrten zu dem langen Gang mit den Hunderten von Metalltüren zurück. Auf dem Weg in die Tiefe war er an vielen solchen Galerien vorbeigekommen, und es war ihm nun klar, daß der größte Teil der Stadt nicht mehr war als eine ungeheure Bienenwabe aus Kammern, in denen Tausende von Menschen das Leben verträumen konnten.
Er überprüfte die Schaltkreise auf dem Brett einen nach dem anderen. Die große Mehrzahl von ihnen war tot, aber etwa fünfzig von ihnen funktionierten noch immer. Und jeder von ihnen trug alle Gedanken, Sehnsüchte und Gefühle des menschlichen Geistes in sich.
Jetzt, bei vollem Bewußtsein, verstand Peyton, wie er getäuscht worden war, aber das Wissen darum bedeutete ihm nicht viel Trost. Er erkannte die Mängel in diesen synthetischen Welten, konnte feststellen, wie jede Kritikfähigkeit des Geistes abgestumpft wurde, während ein endloser Strom einfacher, aber lebhafter Gefühle in ihn hineingepreßt wurde.
Ja, jetzt sah alles sehr einfach aus. Das änderte aber nichts daran, daß die künstliche Welt für den Betrachter völlig real wirkte – so real, daß der Schmerz des Verlassens noch immer in seinem eigenen Geist nachglühte.
Nahezu eine Stunde lang erforschte Peyton die Welten der schlafenden Seelen. Es war eine faszinierende, wenn auch abstoßende Aufgabe. In jener einen Stunde erfuhr er mehr vom menschlichen Gehirn und seinen verborgenen Pfaden, als er sich je hätte träumen lassen. Als er fertig war, saß er lange Zeit ganz still am Schaltbrett der Maschine und analysierte sein neuerworbenes Wissen. Er war um Jahre weiser geworden, und seine Jugend schien plötzlich weit hinter ihm zu liegen.
Zum erstenmal erfuhr er aus erster Hand, daß die perversen und bösen Verlangen, die manchmal die Oberfläche seines eigenen Geistes durcheinanderbrachten, von allen Menschen geteilt wurden. Die Erbauer von Comarre hatten keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gemacht – und die Maschinen waren ihre treuen Diener.
Es befriedigte ihn zu erfahren, daß seine Theorien richtig gewesen waren. Peyton wußte jetzt, wie knapp sein Entrinnen gewesen war. Falls er innerhalb dieser Mauern neuerlich einschlief, wachte er vielleicht nie wieder auf. Der Zufall war einmal seine Rettung gewesen, aber er würde ihn kein zweites Mal retten.
Die Gedankenprojektoren mußten funktionsunfähig gemacht werden, und zwar so gründlich, daß die Roboter sie niemals mehr reparieren konnten. Zwar waren die Roboter in der Lage, normale Störfälle zu reparieren, mit absichtlicher Sabotage des Umfangs, wie er Peyton vorschwebte, konnten sie jedoch nicht fertig werden. Bald würde Comarre keine Drohung mehr darstellen. Nie mehr würde es sein oder das Bewußtsein anderer zukünftiger Besucher, die sich hierher verirren mochten, einfangen.
Zunächst mußte er die Schläfer entdecken und wiederbeleben. Das mochte sich als langwierige Aufgabe erweisen, aber glücklicherweise war das Maschinengeschoß mit einem normierten Monovisionssucher ausgerüstet. Damit konnte er alles in der Stadt sehen und hören, indem er einfach die Trägerwellen auf die gewünschte Stelle konzentrierte. Wenn nötig, konnte er sogar seine Stimme projizieren, leider allerdings nicht sein Ebenbild. Dieser Maschinentyp war erst nach der Erbauung Comarres allgemein in Gebrauch gekommen.
Er brauchte etwas länger, um sich mit den Schalthebeln zurechtzufinden, und anfänglich wanderte der Strahl regellos über die ganze Stadt. Peyton spähte zufällig in eine Anzahl überraschender Ecken und Winkel, und einmal warf er sogar einen Blick auf den Wald – der jedoch auf dem Kopf stand. Er fragte sich, ob Leo noch immer wartete.
Nach einigen Versuchen fand er den Eingang.
Ja, dort war er, ganz so, wie er ihn am Tag zuvor zurückgelassen hatte. Und ein paar Meter weiter lag der treue Leo noch immer, den Kopf der Stadt zugewandt, mit einer entschieden kummervollen Miene. Peyton war davon tief gerührt. Er überlegte sich, ob er den Löwen nach Comarre bringen könne. Die moralische Hilfe wäre beträchtlich, denn nach den Erlebnissen der Nacht verspürte er immer mehr das Bedürfnis nach einem Gefährten.
Er erforschte methodisch die Außenmauer der Stadt und entdeckte zu seiner Erleichterung im Erdgeschoß mehrere verborgene Eingänge. Er hatte sich gefragt, wie er hinauskommen sollte. Selbst wenn sich der Materietransmitter in umgekehrter Richtung einsetzen ließ, war diese Aussicht nicht sehr verlockend. Er zog bei weitem die altmodische körperliche Bewegung durch den Raum vor.
Die Öffnungen waren sämtlich verschlossen, und einen Augenblick lang wußte er sich nicht zu helfen. Dann begann er nach einem Roboter zu suchen. Nach einiger Zeit entdeckte er einen Zwillingsbruder des verblichenen A-fünf, der in Verfolgung einer geheimnisvollen Beschäftigung einen Gang entlangrollte. Zu seiner Erleichterung gehorchte er ohne zu fragen seinem Befehl und öffnete das Tor.
Peyton ließ den Strahl erneut durch die Mauern schweifen und konzentrierte ihn schließlich ein paar Meter von Leo entfernt. Dann rief er ihm mit sanfter Stimme zu: „Leo!“
Der Löwe blickte überrascht auf.
„Hallo, Leo – ich bin’s – Peyton!“
Sich verwirrt umschauend, lief der Löwe langsam im Kreise umher. Dann gab er sich geschlagen und setzte sich hilflos nieder.
Es bedurfte einiger Überredung, um Leo zum Eingang zu locken. Der Löwe erkannte seine Stimme und schien willig, ihr zu folgen, doch war das Tier höchst erstaunt und ziemlich nervös. Vor der Öffnung verharrte Leo einen Augenblick, denn ihm sagte weder Comarre noch der schweigend wartende Roboter zu.
Ungemein geduldig befahl er Leo, dem Roboter zu folgen. Er wiederholte die Anweisung mehrmals in leicht unterschiedlicher Formulierung, bis er sicher war, daß ihn der Löwe verstand. Dann wandte er sich direkt an die Maschine und befahl ihr, den Löwen zur Schaltzentrale zu führen. Dann verließ er mit einem aufmunternden Wort das seltsame Paar.
Die Feststellung, daß er in keinen der versiegelten Räume hinter dem Mohn-Symbol hineinsehen konnte, war eine ziemliche Enttäuschung für ihn. Entweder waren sie gegen die Strahlen abgeschirmt, oder die Einstelleinrichtung war so adjustiert, daß der Monovisor nicht dazu benutzt werden konnte, in jene Räume einzudringen.
Peyton ließ sich dadurch nicht entmutigen. Die Schläfer würden eben so rauh erwachen wie er selbst. Da er ihre privaten Welten eingesehen hatte, verspürte er wenig Mitgefühl mit ihnen, und nur sein Pflichtgefühl zwang ihn, sie aufzuwecken. Sie verdienten keine Rücksichtnahme.
Ein schrecklicher Gedanke überfiel ihn plötzlich. Was hatten die Projektoren seinem eigenen Geist eingeflößt, in Reaktion auf seine Sehnsüchte in jenem vergessenen Idyll, aus dem er so widerwillig zurückgekehrt war? Waren seine eigenen verborgenen Gedanken genauso anstößig gewesen wie die der anderen Träumer?
Das war eine höchst beunruhigende Vorstellung, und er schob sie beiseite, als er sich nochmals vor dem zentralen Schaltpult niederließ. Zuerst würde er die Schaltkreise ausschalten und dann die Projektoren sabotieren, so daß sie nie mehr benutzt werden konnten. Der Zauberbann, den Comarre auf so viele Geister geworfen hatte, würde auf ewig gebrochen sein.
Peyton beugte sich nach vorn, um den Multiplex-Schaltkreisunterbrecher zu betätigen, doch er vollendete diese Bewegung nie. Sanft, aber fest umfaßten vier Metallarme von hinten seinen Körper. Tretend und kämpfend wurde er von den Kontrollen fort in die Luft gehoben und in die Mitte des Raumes getragen. Dort wurde er abgesetzt, und die Metallarme ließen ihn frei.
Mehr zornig als erschrocken wirbelte Peyton herum, um zu sehen, wer ihn gefangengenommen hatte. Aus einigen Metern Entfernung betrachtete ihn der komplizierteste Roboter, den er je gesehen hatte. Sein Korpus war über zwei Meter hoch und ruhte auf einem Dutzend dicker Ballonräder.
Von verschiedenen Stellen des Metallgehäuses ragten Tentakeln, Arme, Stäbe und andere weniger leicht zu beschreibende Mechanismen in allen Richtungen weg. An zwei Stellen waren Gruppen von Gliedern emsig damit beschäftigt, Teile einer Maschinerie zu zerlegen oder zu reparieren, die Peyton mit schuldigem Erschrecken erkannte.
Schweigend maß Peyton seinen Widersacher. Das war eindeutig ein Roboter der höchsten Stufe. Aber er hatte gegen ihn körperliche Gewalt angewandt – und kein Roboter war gegen einen Menschen dazu imstande, wiewohl er sich weigern mochte, die Befehle eines Menschen auszuführen. Lediglich unter der direkten Kontrolle eines anderen menschlichen Geistes konnte ein Roboter eine solche Handlung begehen. Folglich gab es irgendwo in der Stadt bewußtes und feindlich gesinntes Leben.
„Wer sind Sie?“ rief Peyton schließlich aus; er wandte sich nicht an den Roboter, sondern an den, der ihn lenkte.
Ohne erkennbare zeitliche Verzögerung antwortete die Maschine mit präziser und automatischer Stimme, bei der es sich nicht bloß um das verstärkte Sprechen eines Menschen zu handeln schien.
„Ich bin der Ingenieur.“
„Dann kommen Sie heraus und lassen Sie sich anschauen.“
„Sie können mich bereits anschauen.“
Der unmenschliche Tonfall der Stimme war ebenso schuld daran wie die Worte selbst, daß Peytons Zorn im Nu verrauchte. An seine Stelle trat ein Gefühl ungläubigen Staunens.
In dieser Maschine gab es keine menschliche Kontrollinstanz, sie war so automatisch wie die anderen Roboter in der Stadt – anders jedoch als sie und als alle anderen Roboter, die die Welt je gekannt hatte, besaß diese einen eigenen Willen und ein eigenes Bewußtsein.
6. Der Alptraum
Als Peyton mit weitaufgerissenen Augen auf die Maschine vor sich starrte, spürte er, wie ihm eine Gänsehaut über den Kopf lief; nicht aus Angst, sondern weil seine Aufregung so groß war. Seine Suche hatte sich gelohnt, der Traum von nahezu tausend Jahren stand hier vor seinen Augen.
Vor langer Zeit hatten die Maschinen begrenzte Intelligenz erlangt. Jetzt endlich hatten sie auch das Bewußtsein selbst erlangt. Das war das Geheimnis, das Thordarsen der Welt schenken wollte – das Geheimnis, das der Rat zu unterdrücken versucht hatte, aus Furcht vor den Folgen, die es mit sich bringen mochte.
Die leidenschaftslose Stimme sprach aufs neue.
„Es freut mich, daß Sie die Wahrheit erkennen. Das macht alles leichter.“
„Sie können meine Gedanken lesen?“ stieß Peyton hervor.
„Natürlich. Das geschah bereits seit dem Augenblick Ihres Eindringens.“
„Ja, das habe ich vermutet“, erwiderte Peyton grimmig. „Und was werden Sie jetzt mit mir tun?“
„Ich muß Sie daran hindern, Comarre zu beschädigen.“
Das war wirklich vernünftig, dachte Peyton bei sich.
„Angenommen, ich ginge jetzt weg? Würden Sie sich damit zufriedengeben?“
„Ja. Das wäre gut.“
Peyton konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Trotz aller Beinahe-Menschlichkeit war der Ingenieur noch immer ein Roboter. Er war zu keiner List fähig, und das gab ihm vielleicht einen Vorteil. Er mußte ihn irgendwie durch Finten dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben. Der Roboter las jedoch aufs neue seine Gedanken.
„Ich erlaube es nicht. Sie wissen bereits zuviel. Sie müssen sofort gehen. Wenn notwendig, gebrauche ich Gewalt.“
Peyton beschloß, Zeit herauszuschinden. Er konnte zumindest die Grenzen der Intelligenz dieser erstaunlichen Maschine abstecken.
„Bevor ich gehe, sagen Sie mir eines: Warum werden Sie Ingenieur genannt?“
Der Roboter antwortete bereitwillig.
„Wenn ernste Gebrechen auftreten, mit denen die Roboter nicht fertig werden, kümmere ich mich um sie. Wenn nötig, könnte ich ganz Comarre neu erbauen. Im Normalfall, wenn alles funktioniert, wie es sich gehört, ruhe ich.“
Wie fremd doch die Vorstellung des „Ruhens“ dem menschlichen Geist war, dachte Peyton. Unweigerlich erheiterte ihn die Trennlinie, die der Ingenieur zwischen sich selbst und „den Robotern“ gezogen hatte. Er stellte die naheliegende Frage.
„Und falls bei Ihnen etwas ausfällt?“
„Wir sind zwei. Der andere ruht jetzt. Jeder kann den anderen reparieren. Vor dreihundert Jahren war das einmal als notwendig.“
Das war ein makelloses System. Comarre war auf Millionen Jahre hinaus vor Zufällen geschützt. Die Erbauer der Stadt hatten diese ewigen Wächter zu ihrem Schutz aufgestellt, während sie ihren Träumen nachjagten. Kein Wunder also, daß, lange nachdem seine Schöpfer dahingegangen waren, Comarre noch immer seinen seltsamen Zweck erfüllte.
Welches Unglück, dachte Peyton, daß diese ganze Genialität verschwendet war! Die Geheimnisse des Ingenieurs konnten die Robotertechnologie revolutionieren, konnten eine neue Welt entstehen lassen. Nach der Konstruktion der ersten Maschinen mit Bewußtsein – gab es da überhaupt noch weitere Grenzen?
„Nein“, warf der Ingenieur unerwartet ein. „Thordarsen hat mir gegenüber geäußert, daß die Roboter eines Tages intelligenter sein würden als der Mensch.“
Es berührte seltsam, die Maschine den Namen ihres Schöpfers aussprechen zu hören. Das also war Thordarsens Traum! Das ganze Ausmaß dieses Traums war ihm noch immer nicht aufgegangen. Obwohl er halbwegs darauf vorbereitet war, brachte er es nicht über sich, die Schlüsse zu akzeptieren. Schließlich lag eine ungeheure Kluft zwischen Robotergeist und Menschengeist.
„Nicht größer als der zwischen dem Menschen und den Tieren, aus denen er sich entwickelte – so hat es Thordarsen einmal ausgedrückt. Sie, der Mensch, sind nicht mehr als ein höchst komplizierter Roboter. Ich bin einfacher, aber effizienter. Das ist alles.“
Peyton überlegte sich diese Behauptung sorgfältig. Wenn der Mensch wirklich nicht mehr war als ein komplexer Roboter – eine statt aus Drähten und Vakuumröhren aus lebenden Zellen bestehende Maschine –, würden eines Tages noch komplexere Roboter gebaut werden. Wenn dieser Tag kam, wäre es mit der Herrschaft des Menschen vorbei. Die Maschinen mochten dann noch immer seine Diener sein, aber sie würden intelligenter sein als ihr Herr.
In dem großen, mit Analysatorregalen und Relaiskästen umsäumten Raum wurde es sehr still. Der Ingenieur beobachtete Peyton aufmerksam.
Peyton verzweifelte allmählich. Auf für ihn charakteristische Weise stärkte der Widerstand jedoch nur seine Entschlossenheit. Er mußte irgendwie herausfinden, wie der Ingenieur konstruiert war. Sonst würde er sein ganzes Leben bei dem Versuch verschwenden, es dem Genie von Thordarsen gleichzutun.
Es nützte nichts. Der Roboter war ihm immer eine Nasenlänge voraus.
„Sie können gegen mich nichts planen. Wenn Sie versuchen, durch diese Tür zu entkommen, werfe ich Ihnen diese Batterie zwischen die Beine. Auf diese Entfernung treffe ich auf einen halben Zentimeter genau.“
Vor den Gedankenanalysatoren gab es kein Verstecken. Der Plan hatte im Geiste Peytons noch nicht einmal völlig Gestalt angenommen, und doch kannte ihn der Ingenieur bereits.
Sowohl Peyton wie der Ingenieur wurden von der Störung gleichermaßen überrascht. Es zeigte sich ein plötzlicher Blitz aus gelbfarbigem Gold; eine halbe Tonne Knochen und Muskeln, die mit vierzig Meilen pro Stunde dahergesaust kamen, trafen den Roboter genau in der Mitte.
Einen Augenblick schlug er wild mit den Tentakeln um sich. Dann lag der Ingenieur mit einem Knall, als sei der Jüngste Tag angebrochen, auf dem Boden hingestreckt. Leo, der sich nachdenklich die Pranken leckte, kauerte über der gestürzten Maschine.
Das glänzende Tier, das seinen Herrn bedroht hatte, war ihm nicht ganz geheuer. Dessen Haut war die härteste, die ihm seit einer Auseinandersetzung mit einem Nashorn vor vielen Jahren, bei der er schlecht beraten war, untergekommen war.
„Guter Junge!“ schrie Peyton begeistert. „Halt ihn fest!“
Der Ingenieur hatte sich einige der größeren Gliedmaßen gebrochen, und seine Tentakeln waren zu schwach, als daß sie Unheil hätten anrichten können. Wieder einmal erwies sich für Peyton der Werkzeugkasten als unbezahlbar. Als er fertig war, war der Ingenieur zu absolut keiner Bewegung mehr fähig, obwohl Peyton keinen der Nervenschaltkreise angerührt hatte. Irgendwie wäre das zu sehr einem Mord gleichgekommen.
„Du kannst jetzt weggehen, Leo“, sagte er, als er fertig war. Der Löwe gehorchte ziemlich unwillig.
„Es tut mir leid, daß ich das tun mußte“, sagte Peyton heuchlerisch, „aber ich hoffe, Sie verstehen meinen Standpunkt. Können Sie noch immer sprechen?“
„Ja“, erwiderte der Ingenieur. „Was haben Sie jetzt vor?“
Peyton lächelte. Vor kaum fünf Minuten hatte er sich diese Frage gestellt. Wie lange würde es dauern, fragte er sich, bis der Zwilling des Ingenieurs auf dem Schauplatz erschien? Wenn Leo auch mit der Lage fertig werden konnte, wenn es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kam, würde der andere Roboter doch gewarnt sein, und dann konnte die Sache für sie vielleicht sehr ungemütlich werden. Er konnte beispielsweise die Lichter ausschalten.
Die Leuchtröhren erstarben, und Dunkelheit senkte sich herab; Leo stieß ein klagendes Heulen der Enttäuschung hervor. Der ziemlich verärgerte Peyton zog seine Taschenlampe und schaltete sie ein.
„Es macht für mich wirklich keinen Unterschied“, sagte er. „Du kannst sie genausogut wieder einschalten.“
Der Ingenieur erwiderte nichts darauf, doch gingen die Leuchtröhren tatsächlich wieder an.
Wie in aller Welt, dachte Peyton, bekämpfte ich einen Feind, der meine Gedanken lesen kann und selbst imstande ist, mir beim Aufbau der Verteidigung zuzuschauen? Er mußte es vermeiden, an irgendeine Idee zu denken, die sich zu seinem Nachteil auswirken mochte, etwa wie – er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Einen Augenblick lang blockierte er seine Gedanken durch den Versuch, Armstrongs Omegafunktionen im Kopf zu integrieren. Dann erlangte er wieder die Herrschaft über seinen Verstand.
„Hören Sie“, sagte er schließlich. „Ich schlage Ihnen ein Tauschgeschäft vor.“
„Was ist das? Ich kenne das Wort nicht.“
„Macht nichts“, erwiderte Peyton eilig. „Machen wir folgendes: Erlauben Sie mir, die Menschen aufzuwecken, die hier gefangen sind, zeigen Sie mir die fundamentalen Schaltkreise, und ich verschwinde von hier, ohne etwas anzurühren. Sie haben damit den Befehlen Ihrer Erbauer gehorcht, und es ist nichts Nachteiliges geschehen.“
Ein Mensch hätte über die Sache vielleicht zu diskutieren versucht, nicht jedoch der Roboter. Er benötigte vielleicht ein Tausendstel einer Sekunde, um alle Möglichkeiten, wie kompliziert sie auch sein mochten, abzuwägen.
„Na gut. Mein Denken verrät mir, daß Sie die Vereinbarung einzuhalten gedenken. Aber was hat das Wort, ‚Erpressung’ zu bedeuten?“
Peyton wurde rot.
„Nichts“, erwiderte er hastig. „Es handelt sich bloß um einen allgemein gebräuchlichen menschlichen Ausdruck. Ich nehme an, Ihr … äh … Kollege wird bald hier sein?“
„Er wartet schon seit einiger Zeit draußen“, erwiderte der Roboter.
„Passen Sie auf Ihren Hund auf?“
Peyton lachte. Es war zuviel verlangt, von einem Roboter zu erwarten, daß er sich in Zoologie auskannte.
„Meinetwegen Löwe“, sagte der Roboter, der sich korrigierte, als er seine Gedanken las.
Peyton richtete ein paar Worte an Leo und fuhr, um ganz sicherzugehen, mit der Hand durch die Löwenmähne. Bevor er ein „Herein“ mit den Lippen formen konnte, rollte der zweite Roboter lautlos in den Raum. Leo brüllte und versuchte sich loszureißen, aber Peyton beruhigte ihn.
Ingenieur Nr. 2 war in jeder Hinsicht das Ebenbild seines Kollegen. Schon beim Näherkommen tauchte er in der störenden Art, an die sich Peyton nicht gewöhnen konnte, in seine Gedanken ein.
„Ich erkenne, daß Sie zu den Träumern möchten“, sagte er. „Folgen Sie mir.“
Peyton hatte es satt, immer herumkommandiert zu werden. Warum sagten die Roboter nie „bitte“?
„Folgen Sie mir, bitte“, wiederholte die Maschine mit kaum merklicher Betonung.
Peyton folgte ihr.
Neuerlich befand er sich in jenem Gang mit den Hunderten von mohnverzierten Türen – oder zumindest einem ähnlichen Gang. Der Roboter führte ihn zu einer Tür, die von den übrigen nicht zu unterscheiden war, und hielt vor ihr an.
Lautlos glitt die Metallplatte zur Seite, und Peyton betrat das verdunkelte Zimmer ohne Gewissensbisse.
Auf der Couch lag ein sehr alter Mann. Auf den ersten Blick schien er tot zu sein. Sein Atmen hatte sich so verlangsamt, daß es fast aufgehört hatte. Peyton starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann wandte er sich an den Roboter.
„Wecken Sie ihn auf.“
Irgendwo in den Eingeweiden der Stadt hörte der Strom der Impulse durch den Gedankenprojektor auf. Eine Welt, die es nie gegeben hatte, fiel in Ruinen zusammen.
Von der Couch blickten zwei glühende Augen zu Peyton auf, erhellt vom Feuer des Wahnsinns. Sie sahen durch ihn hindurch, und von dünnen Lippen ergoß sich ein Strom abgerissener Worte. Immer wieder stieß der Alte Namen hervor, welche die von Leuten oder Orten in der Traumwelt sein mußten, der er entrissen worden war. Es war entsetzlich und pathetisch zugleich.
„Aufhören!“ schrie Peyton. „Sie sind in die Wirklichkeit zurückgekehrt.“ Die glühenden Augen schienen ihn zum erstenmal wahrzunehmen. Mit ungeheurer Anstrengung erhob sich der alte Mann.
„Wer sind Sie?“ stieß er zittrig hervor. Dann, ehe Peyton noch antworten konnte, fuhr er mit gebrochener Stimme fort. „Das muß ein Alptraum sein – weg mit Ihnen, weg mit Ihnen! Lassen Sie mich aufwachen!“
Peyton überwand seine Abscheu und legte ihm die Hand auf die ausgezehrte Schulter.
„Keine Angst – Sie sind wach. Erinnern Sie sich nicht?“
Der andere schien ihn nicht zu hören.
„Ja, es muß sich um einen Alptraum handeln – es muß! Aber warum erwache ich nicht? Nyran, Cressidor, wo seid ihr? Ich kann euch nicht finden!“
Peyton ertrug es, solange er konnte, aber was er auch anstellte, er konnte die Aufmerksamkeit des Alten nicht wiedererringen. Voller Widerwillen wandte er sich dem Roboter zu.
„Schicken Sie ihn zurück.“
7. Die dritte Renaissance
Das irre Plappern hörte langsam auf. Der ausgezehrte Körper sank auf die Couch zurück, und das verrunzelte Gesicht erstarrte wieder zu einer leidenschaftslosen Maske.
„Sind alle so verrückt wie dieser hier?“ fragte Peyton schließlich.
„Aber er ist doch gar nicht verrückt.“
„Was meinen Sie damit? Natürlich ist er verrückt!“
„Er lebt seit vielen Jahren in Trance. Angenommen, Sie begäben sich in ein fernes Land, änderten völlig Ihre Lebensweise und vergäßen alles, was Sie je über Ihr früheres Leben gewußt haben. Schließlich wüßten Sie davon nicht mehr als von der frühesten Kindheit.
Falls Sie dann durch irgendein Wunder in jene Zeit zurückgeworfen würden, würden Sie sich genauso verhalten. Sie dürfen nicht vergessen, daß das Traumleben für ihn völlig wirklich ist und er es schon seit vielen Jahren lebt.“
Das war zweifellos richtig. Wie jedoch konnte der Ingenieur eine solche Einsicht besitzen? Peyton wandte sich ihm erstaunt zu, aber wie gewöhnlich bestand keine Notwendigkeit für ihn, die Frage laut auszusprechen.
„Thordarsen hat es mir unlängst gesagt, als wir Comarre erbauten. Selbst damals befanden sich manche der Träumer schon seit zwanzig Jahren in Trance.“
„Unlängst?“
„Nach Ihrer Zeitrechnung vor etwa fünfhundert Jahren.“
Die Worte ließen in Peytons Gedanken ein seltsames Bild erstehen. Er stellte sich jenes einsame Genie vor, das hier inmitten seiner Roboter arbeitete; vielleicht waren ihm keine menschlichen Gefährten mehr geblieben. Alle anderen hatten sich sicherlich schon vor langer Zeit auf die Suche nach ihren Träumen gemacht.
Thordarsen mochte jedoch ausgeharrt haben, der Schöpferdrang mochte ihn so lange an die Welt gefesselt haben, bis seine Arbeit beendet war. Die beiden Ingenieure, seine größte Leistung und vielleicht die wunderbarste Errungenschaft der Elektronik, die der Welt bekannt wurden, waren seine größten Meisterwerke.
Die Vergeblichkeit und die Tragik überwältigten Peyton. Mehr als je zuvor war er entschlossen, auch wenn das verbitterte Genie sein Leben weggeworfen hatte, dessen Werk nicht untergehen zu lassen, sondern es der Welt zu schenken.
„Sind alle Träumer wie dieser?“ fragte er den Roboter.
„Alle, bis auf die jüngsten. Sie erinnern sich vielleicht noch an ihr früheres Leben.“
„Führen Sie mich zu einem von ihnen.“
Der Raum, den sie als nächsten betraten, war mit dem anderen identisch, der Körper jedoch, der auf der Couch lag, war der eines Mannes von nicht mehr als vierzig Jahren.
„Wie lange ist er schon hier?“ fragte Peyton.
„ Er ist erst vor einigen Wochen gekommen – der erste Besucher seit vielen Jahren, den wir vor Ihrer Ankunft hatten.“
„Wecken Sie ihn bitte auf.“
Die Augen öffneten sich langsam. Es zeigte sich kein Wahnsinn in ihnen, nur Staunen und Traurigkeit. Dann dämmerte ihm die Erinnerung, und der Mann richtete sich auf.
„Warum haben Sie mich zurückgerufen? Wer sind Sie?“
„Ich bin gerade den Gedankenprojektoren entkommen“, erklärte Peyton. „Ich möchte alle freilassen, die noch zu retten sind.“
Der andere lachte bitter.
„Zu retten! Wovor? Ich habe vierzig Jahre gebraucht, um der Welt zu entkommen, und jetzt zerren Sie mich in sie zurück! Verschwinden Sie und lassen Sie mich in Frieden!“
Peyton gab sich nicht so schnell geschlagen.
„Bilden Sie sich ein, daß diese Trugwelt besser als die Wirklichkeit ist? Haben Sie überhaupt keine Sehnsucht, ihr zu entkommen?“
Der andere lachte wieder, ohne eine Spur von Humor.
„Comarre ist für mich die Wirklichkeit. Die Welt hat mir nie etwas geschenkt, warum also sollte ich in sie zurückkehren wollen? Hier habe ich Frieden gefunden, und mehr brauche ich nicht.“
Plötzlich drehte sich Peyton um und ging. Hinter sich hörte er den Träumer mit einem zufriedenen Seufzen zurücksinken. Er wußte, wann er geschlagen war. Und er wußte jetzt auch, warum er die anderen hatte wiederbeleben wollen.
Es war nicht aus Pflichtgefühl geschehen, sondern aus seinen eigenen, selbstsüchtigen Gründen. Er hatte sich selbst davon überzeugen wollen, daß Comarre etwas Böses war. Jetzt wußte er, daß das nicht der Fall war. Es würde immer einige geben, selbst in Utopia, für die die Welt nichts zu bieten hatte außer Kummer und Enttäuschungen.
Im Verlauf der Zeit würden es weniger und weniger werden. Im dunklen Zeitalter vor tausend Jahren waren die meisten Menschen Außenseiter der einen oder anderen Art gewesen. Wie großartig die Zukunft der Welt auch sein mochte, es würde immer einige Tragödien geben – und sollte man Comarre verurteilen, weil es ihnen die einzige Hoffnung auf Frieden bot?
Er würde keine Experimente mehr anstellen. Sein eigener robuster Glaube und sein Vertrauen waren stark erschüttert worden. Und die Träumer Comarres würden ihm seine Bemühungen nicht zu danken wissen.
Er wandte sich wiederum dem Ingenieur zu. Das Verlangen, die Stadt zu verlassen, war in ihm in den letzten paar Minuten sehr mächtig geworden, aber das Wichtigste lag noch immer vor ihm. Wie gewöhnlich kam ihm der Roboter zuvor.
„Ich habe das Gewünschte“, sagte er. „Folgen Sie mir bitte.“
Er führte ihn nicht, wie es Peyton beinahe erwartet hätte, zu den Maschinenetagen mit ihren Irrgärten von Schalteinrichtungen zurück. Als die Fahrt vorbei war, befanden sie sich weiter oben, als Peyton je zuvor gewesen war. Sie standen in einem kleinen, runden Zimmer.
Es gab keine Fenster, es sei denn, die seltsamen Platten, die in die Wände eingelassen waren, konnten auf geheime Weise durchsichtig gemacht werden.
Es handelte sich um ein Arbeitszimmer, und Peyton sah sich ehrfürchtig um, denn er erkannte, wer hier vor vielen Jahrhunderten gearbeitet hatte. Die Wandregale waren mit uralten Lehrbüchern angefüllt, die seit fünfhundert Jahren nicht mehr berührt worden waren. Auf einer Zeichentafel an der Wand war sogar noch ein halbfertiger Schaltkreis abgebildet.
„Es schaut beinahe so aus, als sei er unterbrochen worden“, meinte Peyton halb zu sich selbst.
„Das stimmt“, antwortete der Roboter.
„Was heißt das? Hat er sich nicht den anderen angeschlossen, sobald er euch fertiggestellt hatte?“
Es fiel schwer zu glauben, daß hinter der Antwort überhaupt keine Empfindung steckte, aber die Worte wurden in dem gleichen leidenschaftslosen Tonfall gesprochen wie alles, was der Roboter gesagt hatte.
„Als er uns fertiggestellt hatte, war Thordarsen noch immer nicht zufrieden. Er war nicht wie die anderen. Er sprach zu uns oft davon, daß er sein Glück in der Erbauung Comarres gefunden hatte. Immer wieder erwähnte er, daß er sich den übrigen anschließen werde, aber immer gab es eine letzte Verbesserung, die er noch anbringen wollte. So ging es weiter, bis wir ihn eines Tages hier in diesem Zimmer liegend fanden. Er hatte aufgehört. Das Wort dafür, das ich in Ihren Gedanken lese, ist ‚Tod’, aber mir fehlt dafür der Begriff.“
Peyton schwieg. Es schien ihm, als sei das Ende des großen Wissenschaftlers nicht unwürdig gewesen. Die Verbitterung, die sein Leben überschattet hatte, war zu guter Letzt von ihm gewichen. Er hatte die Freude des Schaffens erlebt. Von all den Künstlern, die nach Comarre gekommen waren, war er der größte.
Der Roboter glitt lautlos auf einen stählernen Schreibtisch zu, und einer der Tentakel verschwand in einer Schublade. Er kam mit einem in Metalldeckeln gebundenen dicken Band hervor. Wortlos reichte er Peyton das Buch, der es mit zitternden Händen aufschlug. Es enthielt mehrere tausend Seiten eines dünnen, äußerst widerstandsfähigen Materials.
Auf dem Vorsatzblatt standen in kühner, fester Handschrift die Worte:
Rolf Thordarsen
Bemerkungen zur Subelektronik
Begonnen: 2. Tag, 13. Monat, 2598
Darunter stand noch mehr geschrieben, schwer zu entziffern und anscheinend in höchster Eile hingekritzelt. Beim Lesen verstand Peyton mit der Plötzlichkeit der Morgendämmerung am Äquator endlich alles.
„An den Leser dieser Ausführungen:
Ich, Rolf Thordarsen, der in seiner eigenen Zeit kein Verständnis gefunden hat, richte diese Worte an die Zukunft. Wenn es Comarre noch immer gibt, müssen Sie das Werk meiner Hände gesehen haben und den Fallen entronnen sein, die ich für kleinere Geister aufgestellt habe. Deshalb sind Sie würdig, dieses Wissen der Welt zu überbringen. Übergeben Sie es den Wissenschaftlern mit der Ermahnung, es weise anzuwenden.
Ich habe die Schranken zwischen Mensch und Maschine niedergerissen. Von nun an müssen sie die Zukunft miteinander teilen.“
Peyton las die Botschaft mehrere Male, und sein Herz erwärmte sich für den längst toten Ahnen. Es war ein brillanter Einfall. Auf diese Weise – und auf keine andere wäre es sonst überhaupt möglich gewesen –, gelang es ihm, die Botschaft sicher durch die Zeiten zu senden, in dem festen Bewußtsein, daß sie in die rechten Hände gelangen würde. Peyton fragte sich, ob das schon Thordarsens Plan gewesen war, als er sich den Dekadenzlern anschloß, oder ob er ihn erst später im Leben gefaßt hatte. Er würde es nie erfahren.
Er blickte wieder den Ingenieur an und dachte an die Welt, die entstehen würde, wenn alle Roboter Bewußtsein erlangt hatten. Und er schaute noch tiefer in den Nebel der Zukunft …
Ein Roboter braucht keine der Grenzen des Menschen zu haben, keine seiner bemitleidenswerten Schwächen. Er würde es der Leidenschaft nie erlauben, seine Logik zu trüben, würde sich nie von Eigennutz und Ehrgeiz leiten lassen. Er würde die Ergänzung des Menschen sein.
Peyton gedachte der Worte Thordarsens: „Von nun an müssen sie die Zukunft miteinander teilen.“
Peyton riß sich aus diesem Tagtraum. All das, wenn es je dazu kam, mußte Jahrhunderte in der Zukunft liegen. Er wandte sich an den Ingenieur.
„Ich bin bereit fortzugehen. Eines Tages aber werde ich zurückkehren.“
Der Roboter wich langsam vor ihm zurück.
„Stehen Sie völlig ruhig“, befahl er.
Peyton schaute verwundert auf den Ingenieur. Dann blickte er rasch zur Decke auf. Dort befand sich wiederum die rätselhafte Wölbung, unter der er gestanden hatte, als er die Stadt vor so langer Zeit betrat.
„He!“ rief er. „Ich möchte nicht …“
Es war zu spät. Hinter ihm befand sich der schwarze Schirm, schwärzer noch als die Nacht. Vor ihm lag die vom Wald umsäumte Lichtung. Es war Abend, und die Sonne berührte beinahe die Bäume.
Hinter ihm war plötzlich ein Wimmern zu vernehmen: ein heftig erschrockener Löwe blickte mit ungläubigen Augen in die Welt hinaus. Leo hatte der Transfer nicht gutgetan.
„Jetzt ist alles vorbei, alter Bursche“, meinte Peyton ermunternd. „Man kann ihnen keinen Vorwurf machen, daß sie uns so schnell wie möglich loswerden wollten. Schließlich haben wir beide den Ort ein wenig demoliert. Komm mit – ich habe keine Lust, die Nacht im Walde zu verbringen.“
Auf der anderen Seite der Welt vertrieb sich eine Gruppe von Wissenschaftlern die Zeit, so gut sie eben konnte, denn das volle Ausmaß ihres Sieges war ihr noch unbekannt. Im Zentralturm hatte Richard Peyton II. eben entdeckt, daß sein Sohn die letzten beiden Tage nicht bei seinen Kusinen in Südamerika verbracht hatte, und bereitete die Begrüßungsansprache für die Rückkehr des verlorenen Sohnes vor.
Hoch über der Erde arbeitete der Weltrat Pläne aus, die bald durch die Ankunft der dritten Renaissance hinweggefegt wurden. Jener aber, der das alles verursacht hatte, ahnte nichts davon, und im Augenblick lag ihm auch nichts ferner.
Langsam schritt Peyton die Marmorstufen vor jenem geheimnisvollen Durchgang herab, dessen Geheimnis ihm noch immer verborgen war. Leo folgte ein wenig dahinter, schaute ihm über die Schulter und knurrte ab und zu.
Gemeinsam gingen sie auf der Metallstraße durch die Prachtallee der verkümmerten Bäume zurück. Peyton war froh, daß die Sonne noch nicht untergegangen war. In der Nacht würde diese Straße mit innerer Radioaktivität glühen, und die Silhouetten der verwachsenen Bäume würden vor dem Hintergrund der Sterne nicht sehr angenehm aussehen.
An der Straßenkehre hielt er eine Weile inne und schaute zurück auf die gekrümmte Metallwand mit ihrer einzigen schwarzen Öffnung, deren Aussehen so trügerisch war. Seine ganze Siegesstimmung schien zu verfliegen. Er wußte, daß er, solange er lebte, nie vergessen würde, was hinter diesen hochaufragenden Mauern lag – das dekadente Versprechen von Ruhe und völliger Zufriedenheit.
Tief in der Seele spürte er die Furcht, daß jede Befriedigung, jede Errungenschaft, die die Außenwelt für ihn bringen mochte, neben der mühelosen Seligkeit, die Comarre zu bieten hatte, eitel erscheinen würde. Einen Augenblick lang hatte er eine Alptraumvision von sich selbst, wie er, alt und gebrochen, die Straße entlang heimkehrte, um Vergessenheit zu finden. Er zuckte die Achseln und verdrängte den Gedanken.
Sobald er draußen in der Ebene war, hob sich seine Stimmung schlagartig. Er schlug wieder das unbezahlbare Buch auf und blätterte in den Seiten mit dem mikroskopisch kleinen Druck, berauscht von dem Versprechen, das in ihnen lag. Vor unzähligen Jahren waren langsame Karawanen diesen Weg gezogen; sie brachten Salomon dem Weisen Gold und Elfenbein. Alle ihre Schätze verblaßten jedoch zu einem Nichts im Vergleich zu diesem einen Buch, und all die Weisheit Salomons konnte sich die neue Zivilisation nicht ausmalen, deren Samen in diesen Texten lag.
Schließlich fing Peyton zu singen an, etwas, das er sehr selten tat und worin er äußerst schlecht war. Das Lied war uralt, so alt, daß es aus der Zeit vor dem Atomzeitalter stammte, vor den Jahren der interplanetaren Raumfahrt, ja selbst vor denen der Luftfahrt. Es handelte von einem gewissen Haarkünstler von Sevilla.
Leo ertrug es schweigend, so lange er konnte. Dann stimmte auch er mit ein. Ihr Duett war kein großer Erfolg.
Beim Anbruch der Nacht waren der Wald und alle seine Geheimnisse unter dem Horizont verschwunden. Das Gesicht zu den Sternen emporgerichtet, mit Leo als Wächter an seiner Seite, schlief Peyton vorzüglich.
Dieses Mal träumte er nicht.