»Den sie nicht mal kannte«, vollendete Pulaski den Satz. »Bloße Rache - oder steckt mehr dahinter?« Er deutete auf Hockinsons Liste. »Sie sagten, einer dieser Männer sei noch am Leben. Wer?«

»Das hat Patrick mir nicht verraten.«

»Kriegen wir es aus ihm heraus?«

»Keine Chance.«

»Mist.« Pulaski starrte auf das Blatt. »Rekapitulieren wir, was wir wissen. Vor vier Monaten ließ sich Sybil in ein betreutes Wohnheim überstellen, einen Monat danach ist sie von dort abgehauen, und kurz darauf begann die Mordserie. Soviel wir bisher über Sybil wissen, ist sie clever, plant ihre Taten genau, tarnt sie als Unfälle und geht höchstwahrscheinlich systematisch vor. Wann hat sie Ihrer Meinung nach wo zugeschlagen?«

Evelyn schloss die Augen und massierte ihre Schläfen. »Es begann damit, dass sie vor etwas mehr als zwei Monaten Paul Smolle in seinem Wohnwagen auf Sylt besuchte. Er war der Kapitän der Friedberg. Von ihm erfuhr sie, dass Edward Hockinson hinter der Kreuzfahrt steckte.«

»Hat sie diesen Smolle auch ermordet?«

»Er hat den Kindern nie etwas angetan. Sie ließ ihn am Leben, doch gestern Nacht, als ich bei ihm war, beging er Selbstmord.«

Pulaski sah sie traurig an. »Das muss schlimm für Sie gewesen sein.«

»Deswegen muss ich heute noch nach Flensburg, um eine Aussage zu machen.«

»Das kann warten. So schnell arbeiten die Kollegen bei einem Selbstmord nicht. Erzählen Sie weiter!«

Sie dachte an Sybil. Plötzlich rieselte ihr ein Schauer über den Rücken. Sie richtete sich auf. Mit einem Mal wurden ihr die Zusammenhänge klar. »Genau! Anschließend fuhr Sybil zu Hockinsons Villa nach Cuxhaven. Ich habe mit Hockinsons Tochter gesprochen. Sie erzählte mir, dass vor etwa zwei Monaten in ihr Haus eingebrochen und der gesamte Familienschmuck gestohlen worden ist.«

»Raffiniertes kleines Luder«, kommentierte Pulaski.

»Mit dem Geld aus dem Verkauf des Schmucks finanzierte sie vermutlich ihre Reisen durch Deutschland und Österreich.«

»Ein Klacks für ein Kind, das auf der Straße aufgewachsen ist.«

»Aber eigentlich war sie in der Villa auf der Suche nach etwas völlig anderem. Sie muss die Liste in Hockinsons Arbeitszimmer gefunden und sämtliche Namen und Adressen abgeschrieben haben. Und danach ging es los.«

»Mit welchem Zeitplan?«, fragte Pulaski.

Evelyn versuchte, sich zu erinnern. »Heinz Prange war möglicherweise das erste Opfer. Er starb vor etwa zwei Monaten in den Berchtesgadener Alpen. Rudolf Kieslinger vor knapp drei Wochen in Wien. Edward Hockinson letzten Freitag auf einer Küstenstraße an der Nordsee … und Peter Holobeck vor drei Tagen in seinem Wiener Apartment.«

»Das ergibt keinen Sinn«, überlegte Pulaski. »Warum sollte Sybil zuerst nach Wien fahren, dann rauf zur Nordsee und anschließend wieder nach Wien? Und aus welchem Grund hat sie den Reeder nicht gleich an jenem Tag ermordet, als sie in seine Villa eingebrochen ist, sondern erst Wochen später?«

»Ablenkung?«, vermutete Evelyn.

Pulaski schüttelte den Kopf, während er auf die Liste starrte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er schob das Blatt herum. »Sehen Sie sich die Reihenfolge an.«

 

Heinz Prange Rene Manzon Mark Pelling Kurt Hanson Richard Ruschko Martin Ritter Rudolf Kieslinger Thomas Eberhardt Georg Pallock Edward Hockinson Peter Holobeck Alfons Bolten XXXXXX

 

»Prange, Kieslinger, Hockinson, Holobeck …«, flüsterte Evelyn. »Sie geht der Reihe nach vor.«

»Als wollte dieses kleine Biest die Liste Zeile für Zeile abarbeiten.«

Evelyn wurde schwindelig. »Das würde bedeuten, dass sie seit Monaten kreuz und quer durch die Gegend fährt, ohne Orte sinnvoll miteinander zu verknüpfen.« Von einer solch verrückten Methode hatte sie noch nie gehört, doch scheinbar funktionierte Sybils Gehirn auf einer anderen Wellenlänge.

Plötzlich zeigte sie mit dem Finger auf den letzten Namen. »Falls Sie Recht haben, ist Alfons Bolten der letzte Überlebende dieser Todesliste.«

»Wie lange noch?« Pulaski zog das Blatt zu sich und betrachtete die Adresse. »Der Mistkerl wohnt in Cuxhaven.« Er blickte auf die Armbanduhr. »Falls die Anschrift noch stimmt, könnten wir in zwei Stunden dort sein.«

»Wir?«, echote Evelyn.

»Ich würde diesem Bolten gern einen unangekündigten Besuch abstatten. Begleiten Sie mich?«

Sie dachte an Smolles Selbstmord und ihre Aussage. »Aber…«

»Flensburg kann warten«, unterbrach er sie. »Ich kläre das mit meinem Vorgesetzten.«

»Sie sind doch im Urlaub«, erinnerte Evelyn ihn.

»Soll das etwa ein normaler Urlaubstag sein?« Er lächelte traurig. »Das Gespräch mit meinem Chef ist ohnehin längst fällig. Horst Fux wird toben …«

Sie schob ihm ihr Handy hin, und er telefonierte nach Leipzig. Das Gespräch verlief alles andere als sachlich. Wieder einmal blickten die anderen Gäste der Cafeteria neugierig zu ihnen herüber. Mittlerweile wurde es höchste Zeit, von hier zu verschwinden. In der Hamburger Klinik hatten sie zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber sicher nicht den besten.

Als Pulaski sich etwas beruhigt hatte, ließ er sich zu einem gewissen Malte weiterverbinden. Kurz darauf notierte er eine Telefonnummer unter Boltens Adresse. »Danke.« Er unterbrach die Verbindung.

Sie bemerkte, dass er schadenfroh in sich hineinschmunzelte.

»Hat man Sie mit vollen Abfindungsansprüchen vom Dienst suspendiert?«

»Schön war’s. Ich habe mich während des Urlaubs selbst in den Dienst gestellt. Mein Chef hat es nun offiziell bestätigt. Ihm blieb nichts anderes übrig. Immerhin habe ich gestern einen Verdächtigen angeschossen, eine Fahndung eingeleitet und heute Personenschutz angefordert … aber das ist egal! Wichtig ist, dass die Adresse noch stimmt. Es handelt sich um einen gewissen Doktor Alfons Bolten, einen pensionierten Jugendrichter.« Beeindruckt hob er die Augenbraue. »Sozusagen ein Kollege von Ihnen.«

Wie Holobeck. Somit war Bolten nicht der einzige Kollege mit Dreck am Stecken, dachte sie bitter.

»Das ist seine Telefonnummer«, fügte Pulaski hinzu, als er bereits wählte.

»Und was sagen Sie, wenn er abhebt?«, flüsterte Evelyn. »Ich dachte, wir wollen unangekündigt vorbeikommen?«

»Wollen wir auch … Schscht!« Pulaski lauschte, dann legte er auf. »Er ist zu Hause.«

Ein kalter Schauer erfasste sie. »Ich komme mir vor wie bei einer verdeckten Ermittlung.«

»Möchten Sie aussteigen?«

»Nein!«

Pulaski grinste. »Mutiges Mädchen. Wir besitzen zufällig das gleiche Handy. Haben Sie ein Ladegerät für Ihres dabei?« Evelyn nickte.

»Ich würde es mir während der Fahrt gern ausborgen, um meinen Akku aufzuladen. Bei meiner Rostlaube sind zwar die Stoßdämpfer im Eimer, aber der Zigarettenanzünder funktioniert noch.«

»Da ich anschließend sowieso zum Hamburger Flughafen zurück muss, könnten Sie Ihr Auto hier stehen lassen, und wir fahren gemeinsam nach Cuxhaven«, schlug sie vor.

»Sagen Sie bloß, Sie haben etwas Besseres als einen klapprigen Skoda anzubieten?«

»Einen Sixt-Leihwagen.«

»Oh.« Er hob die Augenbrauen. »Mit Rauchverbot im Auto?«

»Natürlich. Wollten Sie es sich nicht ohnehin abgewöhnen?«

»Richtig.« Er strich sich mit der Hand nachdenklich übers Kinn. »Angebot dankend angenommen. Ich schlage vor, wir fahren über Bremen und Bremerhaven die Küste rauf. In spätestens zwei Stunden sind wir in Cuxhaven. Ich muss aber vorher noch in meinen Wagen, ein Reservemagazin für die Walther holen - nur sicherheitshalber, falls ein Problem auftaucht«, beruhigte er sie.

Evelyn bekam große Augen. »Welches Problem sollte auftauchen?«

»Ich weiß es nicht, aber seit ich an diesem Fall arbeite, habe ich nur noch Probleme am Hals.«

 

59

 

Evelyn klemmte sich auf der Autobahn an die Rücklichter eines Porsches. Währenddessen lief ihre CD von Enya. Pulaski schien es egal zu sein. Hauptsache sein Handy hing am Ladegerät.

Mit Ausnahme eines Tankstopps verlief die Fahrt ohne Unterbrechung. Pulaski lotste sie auf dem schnellsten Weg nach Cuxhaven. Eigentlich hätte sie nicht vermutet, jemals wieder in diese Gegend zu kommen, nachdem sie erst gestern die Hockinson-Villa fluchtartig verlassen hatte - zumindest nicht nach so kurzer Zeit.

Während sie durch die Stadt fuhren, tippte sie Boltens Adresse in ihr Navigationssystem. Das Grundstück lag nicht weit von Greta Hockinsons Anwesen entfernt. Die gleiche Villengegend in der Nähe des Strandes, die sie bereits kannte.

Hohe Hecken umgaben das Grundstück. Evelyn parkte direkt neben dem Eingang. Pulaski stieg aus, drehte den Kopf in alle Richtungen und streckte das Kreuz durch. Evelyn hörte die Wirbel knacken und sah sein schmerzverzerrtes Gesicht.

»Anstrengende Fahrt?«, fragte sie.

»Sie haben einen beruhigenden Fahrstil, aber ich bin es nicht mehr gewöhnt, so lange Strecken zu fahren.«

Diesmal verzichtete er auf Mantel und Krawatte und begnügte sich mit seinem Sakko.

Sie gingen zum Tor.

Soweit Evelyn durch das Gitter erkennen konnte, war Boltens Haus nicht so schmuckvoll wie jenes der Hockinsons, sondern entsprach eher einer modernen, kühlen Bauweise. Jede Fensterfront des L-förmigen Bungalows war mit glänzenden, chromfarbenen Metalljalousien verschlossen. Zwei Satellitenschüsseln prangten auf dem Flachdach, und von jeder Hausecke lugte eine Videokamera herunter. Fort Knox war vermutlich nicht weniger gut bewacht.

Pulaski öffnete das Tor und betrat das Grundstück. Evelyn folgte ihm über den Kiesweg, der zum Hauseingang führte.

»Der Herr Richter ist noch immer zu Hause.« Pulaski nickte zur Garage, die an das Haus grenzte.

Das Tor stand offen. Im Carport parkte ein grauer Mercedes mit weißen Sitzbezügen und grauem Fellbezug über dem Lenkrad. Dass tatsächlich noch jemand so etwas verwendete … In Evelyns Augen wirkten diese Wagen immer wie Altmänner-Fahrzeuge. Zumindest war es in Österreich so. Die Fahrer trugen meist Hüte und fuhren nie schneller als sechzig km/h auf den Überlandstraßen, was sie stets erboste.

Der Garten machte einen gepflegten Eindruck. Die Abendsonne blitzte durch die Bäume. Es roch nach Rindenmulch und frisch gemähtem Gras. In den Rosenbeeten lag kein einziges welkes Blatt, und die Kieselsteine auf den Wegen waren wie mit einem Rechen geformt. Seltsamerweise standen ein fleckiger Kanister und ein benzinbetriebener Rasentraktor neben dem Komposthaufen, was das Bild des perfekten Gartens zerstörte. Entweder beschäftigte Bolten einen Gärtner, oder er hatte im Ruhestand das Hobby der Rasenpflege entdeckt - neben seiner Leidenschaft für Kreuzfahrten mit pädophilem Zweck. Wie sah der Kerl wohl aus? So wie die Hecken und Wiesen in Schuss waren, erwartete sie einen attraktiven, kultivierten Herrn in den besten Jahren. Aber wieder einmal bestätigte sich, dass der äußere Anschein oft über die inneren Abgründe eines Menschen hinwegtäuschte.

Pulaski nahm den Treppenaufgang, trat unter das Vordach und betätigte die Glocke. Allein der Klang des Gongs und der entsprechende Hall hinter der Tür verrieten, dass in diesem Haus keine armen Leute wohnten.

Evelyn stellte sich neben Pulaski auf den Vorplatz aus Marmorsteinen. »Werden Sie mich wieder als Kollegin vorstellen?«

Pulaski musterte sie von der Seite. »Hätten Sie das gern?«

»Irgendwie macht es Spaß.«

»Das glaube ich Ihnen, aber was wir gleich rausfinden werden, ist garantiert nicht lustig.«

»So meinte ich das nicht.«

»Ich weiß.« Er betrachtete sie noch einmal. »Ehrlich gesagt, hatte ich noch nie so eine hübsche Kollegin.«

Evelyn lachte. Merkwürdigerweise hätte sie das vor wenigen Tagen noch nicht getan. Sie wäre peinlich berührt gewesen, doch stattdessen fühlte sie sich geschmeichelt. »Vielen Dank, aber Sie verschwenden Ihre Komplimente an die Falsche.«

»Ja, ja, Sie sind an diesen Patrick vergeben.«

»Ich dachte eher an Sonja. Ihr sollten Sie Komplimente machen.«

Er lächelte. »Das werde ich … sobald ich zurück bin.« Er betätigte erneut die Glocke.

Kurz darauf öffnete sich die Tür. Sie war aus massivem Holz, und Evelyn bemerkte die fünf Sicherheitsbolzen im Rahmen.

Evelyn hätte den Mann, der im Türrahmen stand, in ihrer Vorstellung nicht besser skizzieren können. Er war groß und stattlich, besaß graumelierte Schläfen und trug einen dunklen Maßanzug. An seinen gepflegten Fingern erkannte sie, dass er den Rasen nicht selbst gemäht hatte.

»Herr Bolten?«, fragte Pulaski.

»Sie wünschen?«

Bei der sonoren Stimme, die wie die eines Werbesprechers klang, fiel wohl jede Frau in Ohnmacht, dachte Evelyn.

Pulaski zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und klappte das Lederetui auf. »Walter Pulaski, Kriminalpolizei Leipzig, und meine Kollegin Evelyn Meyers für juristische Fachfragen. Haben Sie einen starken Kaffee für uns?«

Es schien, als benötigte der Mann einige Sekunden, um die Frage zu verstehen. »Bedaure, ich habe keinen Kaffee im Haus. Kann ich Ihnen anderweitig helfen?«, fragte er schließlich.

»Dürfen wir hereinkommen? Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

»Natürlich.« Der Mann öffnete die Tür vollends und trat zur Seite.

Evelyn fiel auf, dass er humpelte. Pulaski bemerkte es ebenfalls. Für ihren Geschmack starrte er etwas zu lange auf das lädierte Bein.

Als Evelyn ihrem »Kollegen« ins Haus folgen wollte, läutete ihr Telefon. Sie blieb unter dem Vordach stehen und warf einen Blick auf das Display. Patrick! Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte er wohl kaum wählen können.

»Entschuldigen Sie bitte.« Sie nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Patrick. Ich …«

»Hallo, Spitzmausigel. Was ist der Unterschied zwischen einem Anwalt und dem lieben Gott?«

»Ich kann jetzt nicht, rufst du mich bitte in …«

»Der liebe Gott glaubt nicht, dass er Anwalt ist!«

Sie hörte ihn lachen. »Sehr witzig. Rufst du mich bitte in einer halben Stunde nochmal an?«

»Geht nicht. Dann habe ich einen Termin auf dem Polizeirevier. Bernecker und sein Team haben etwas Unglaubliches herausgefunden.«

Sie starrte zu Pulaski, der neben Bolten im Türrahmen stand. Beide betrachteten sie neugierig.

»Lynnie? Hallo? Bist du noch dran?«

Sie nahm das Handy herunter. »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.«

Dann widmete sie sich wieder Patrick, der wie ein Wasserfall lossprudelte.

»Keine Ursache«, brummte Bolten.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Bolten einen Schritt in die dunkle Vorhalle machte und Pulaski ihm folgte. Kurz darauf fiel die schwere Eingangstür ins Schloss, und sie stand allein auf dem Vorplatz.

Evelyn steckte die Hand in die Tasche ihrer Jeans und schlenderte den Kiesweg entlang, während sie telefonierte.

»Ich nehme an, du hast deine Aussage auf dem Revier in Flensburg bereits gemacht und bist auf dem Weg nach Wien?«

»Nein, bin ich nicht.«

»Haben sie dich dort behalten?«

Evelyn seufzte. »Nein, ich war noch gar nicht dort. Stattdessen bin ich nach Hamburg gefahren, und jetzt bin ich in Cuxhaven.«

»Schon wieder?«

Es war alles so kompliziert, und Patrick würde sie ohnehin nicht in Ruhe lassen, ehe sie ihm alles erklärt hatte. »Ich habe einen Kripobeamten aus Leipzig kennengelernt…«

»Du warst in Leipzig?«

»Nein, so hör mir doch zu! Ich habe ihn in einer Psychiatrischen Anstalt getroffen, und jetzt bin ich mit ihm gemeinsam an dem Fall dran.«

»Psychiatrische Anstalt«, murmelte Patrick. »Vielleicht ist er gar kein Kripobeamter, sondern glaubt nur, einer zu sein?«

»Lass den Blödsinn! Er ist nett.«

Patrick war für einige Sekunden sprachlos. »Wie sieht der Kerl denn aus?«

»Was hat das bitte damit zu tun?«

»Sieht er besser aus als ich?«

Sie lachte. »Oh, Gott, bist du etwa eifersüchtig? Ich fasse es nicht. Dann mach dir mal keine Sorgen, Walter Pulaski ist über fünfzig und nicht mein Typ, in Ordnung?« Obwohl er ziemlich nett ist, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Gipsbein hin oder her - ich hätte mitfliegen sollen«, brummte Patrick. »Kaum lässt man dich einen Tag allein, klebt dir schon ein Kerl mit Uniform an der Backe.«

»Er trägt keine Uniform, und er klebt mir nicht an der Backe!«

»Was treibt ihr eigentlich in Cuxhaven? Sitzt ihr in Tante Gretas Wintergarten bei einem Kaffeepläuschchen?«

»Wir haben Doktor Alfons Bolten einen Besuch abgestattet und sind knapp davor, die Hintergründe zu …«

»Bolten!«, entfuhr es Patrick. Schlagartig war jeder Humor aus seiner Stimme gewichen. »Ihr seid bei Bolten?«

»Ja.«

»Verdammt, ich habe dir verheimlicht, dass er der letzte Überlebende auf der Liste ist, damit du nicht hinfährst!«

»Es war nicht schwer herauszufinden. Sybil ermordet die Männer der Reihe nach.«

»Wer zum Teufel ist Sybil?«

»Das ist jetzt zu kompliziert.«

»Ist auch egal! Hör mir gut zu, Lynnie. Verlass das Haus, der Kerl ist gefährlich. Das ist es, was ich dir vorhin erzählen wollte.«

Evelyn sah sich um. Sie stand mitten im Garten zwischen zwei Rosenhecken und hatte von hier einen guten Ausblick auf die Rückseite des Hauses mit der Terrasse. Sie bemerkte, dass auch hier sämtliche Metalljalousien heruntergelassen waren. »Inwiefern gefährlich?«

»Bist du in Sicherheit? Kannst du reden?«

»Ja, ich stehe im Garten.« Sie blickte zur Terrasse und dachte an Pulaski. Sie musste sich keine Sorgen um ihn machen. Ein bewaffneter Kripobeamter wusste, was er tat, redete sie sich ein. Trotzdem schlug ihr Herz bis zum Hals. »Inwieweit gefährlich?«, wiederholte sie.

»Die Kripo Wien hat herausgefunden, dass der ehemalige Jugendrichter ein enger Freund Edward Hockinsons war.«

»Wenn schon! Das ist nichts Besonderes. Beide wohnen in Cuxhaven und … Moment mal!« Sie stockte. Plötzlich erinnerte sie sich an das Gespräch mit Greta Hockinson. Die Frau hatte erwähnt, dass sich nach dem Tod ihres Vaters ein befreundeter Jurist im Ruhestand um die finanziellen Angelegenheiten der Verlassenschaft kümmerte, da sie selbst nie einen Schritt in das Büro ihres Vaters setzen wollte. Dieser Freund war Bolten! Zugleich war er damals als Passagier auf der Kreuzfahrt gewesen. Nach Hockinsons Tod kümmerte er sich um die Vermögensverhältnisse. Das bedeutete, er hatte Zugang zu sämtlichen Unterlagen.

Patrick wollte etwas sagen, doch Evelyn schnitt ihm das Wort ab. »Bolten muss der Erpresser sein!«

»Nein, ist er nicht«, widersprach Patrick. »Die Kripo hat herausgefunden, wem das anonyme Konto bei der Hamburger Volksbank gehört, auf das die erpressten Zahlungen erfolgten. Rate mal. Der Inhaber ist Edward Hockinson.«

Plötzlich drehte sich alles um Evelyn. Wo war der Denkfehler? »Aber Bolten muss zumindest mit Hockinson unter einer Decke gesteckt haben.«

»Möglich. Aber der Nutznießer des erpressten Geldes war eindeutig Hockinson.«

Evelyn starrte immer noch auf die verbarrikadierte Rückseite des Hauses. »Warum sagtest du, dass Bolten gefährlich ist?«

»Weil er sich kürzlich eine größere Menge hochkonzentriertes Botox organisiert hat.«

»Botox? Will er sich litten lassen?«

»Mit Botox kann man auch Menschen lähmen.«

»Und wie ist er an das Zeug gekommen? Er ist doch sicher in keine Apotheke spaziert?«

»Der Außendienstmitarbeiter einer Herstellerfirma hat Ärztemuster für eine Schönheitsklinik abgezweigt und unter der Hand verkauft. Der Skandal wurde deshalb so aufgebauscht, weil unser ehemaliger Richter einer der Abnehmer war … außerdem besitzt er einen Waffenschein für eine Luger.«

Botox! Und eine Luger!

Sie dachte an Pulaski. »Ich muss Schluss machen.«

Während sie das Handy ausschaltete, lief sie bereits über den Rasen zur Terrasse.

Vorsichtig, damit sie kein Geräusch verursachte, schob sie sich an den Campingstühlen vorbei zur fünfteiligen Terrassentür. Die Abendsonne spiegelte sich im Glas. Sie hielt das Gesicht dicht an die Scheibe und schirmte die Augen mit den Händen ab. Trotzdem war nichts zu erkennen. Ein dunkler Vorhang verwehrte ihr die Sicht ins Haus. Sie schlich an der Glasffont entlang, auf der Suche nach einer Möglichkeit, ins Haus zu gelangen oder zumindest einen Blick in den Raum zu werfen. Falls sie keine Stelle fand, blieb ihr nichts anderes übrig, als es beim Haupteingang zu versuchen.

Als sie das Gesicht erneut an die Scheibe presste, gab die Glastür plötzlich nach. Die Terrassentür schwang nach innen auf und wurde von dem schweren Vorhang gebremst.

Erst jetzt bemerkte Evelyn, dass die Scheibe von außen eingeschlagen worden war und gerade einmal so viel Glas fehlte, dass man mit der Hand durch das Loch greifen konnte, um innen den Griff zu betätigen.

Vorsichtig schob sie die Tür auf und den Vorhang beiseite. Dahinter lag ein Wohnzimmer im Dämmerlicht.

 

59

 

In dem Zimmer roch die Luft muffig und abgestanden - eine unangenehme Mischung aus Mottenkugeln, Zigarrenqualm, staubigen Couchbezügen und alten Zeitungen.

Evelyn trat vorsichtig ein. Als sie Glasscherben unter dem Turnschuh spürte, hielt sie für einen Moment inne. Leise drückte sie die Terrassentür zu und zog den Vorhang wieder an seine ursprüngliche Stelle.

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Langsam schälten sich die Umrisse von Couch, Tisch, Stehlampe und mehreren wuchtigen Kommoden aus der Schwärze. An den Wänden hingen monströse Bilderrahmen. Nirgends war ein Wort zu hören. Wohin waren Bolten und Pulaski verschwunden?

Evelyn schlich durchs Wohnzimmer. Bei dem Gedanken, einen Zeitungsständer oder etwas Ähnliches umzustoßen, wurde sie nervös. Sie nahm das Handy aus der Hosentasche und richtete das beleuchtete Display auf den Boden. Es reichte aus, um zu sehen, dass nichts vor ihr auf dem Teppich stand.

Langsam durchquerte sie das Zimmer, bis sie zu einem Torbogen kam, der in einen Vorraum führte. Hier wurde es noch dunkler. Sie tastete an der Wand entlang, glitt mit der Hand über eine Kommode, ein Häkeldeckchen, an Bilderrahmen und Kerzenständern vorbei. Diese Stille! In diesem Haus stimmte etwas nicht. Dann spürte sie einen Lichtschalter an der Wand. Sollte sie ihn betätigen? Damit würde sie Bolten sofort auf sich aufmerksam machen. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes! Da alle Fenster dicht verschlossen waren und keine Sicht in den Garten zuließen, vermutete Bolten sie höchstwahrscheinlich immer noch draußen. Dabei wollte sie es im Moment belassen. Also tastete sie sich weiter im Dunkeln durch den Vorraum.

Sie fand eine Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und steckte den Kopf ins Zimmer.

»Pulaski?«, flüsterte sie.

Keine Antwort.

Im Schein des Displays erreichte sie die nächste Tür. Sie wiederholte die Prozedur, doch wieder erhielt sie keine Antwort.

Schließlich gelangte sie in einen Gang. Mittlerweile hatte sie die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, in welcher Richtung die Eingangstür und wo die Terrassentür lag.

Wahllos öffnete sie eine Tür, schob sich in den Raum und schloss sie hinter sich. Dann tastete sie mit der Hand an der Wand entlang, bis sie einen Lichtschalter fand und ihn betätigte.

Rotes Licht blendete sie. Mit der Hand schirmte sie die Augen ab und sah sich blinzelnd um. Im Raum befanden sich ein Doppelbett, ein Kamerastativ und ein Schrank mit Dutzenden Schubladen. Es roch penetrant nach Aftershave und Männerparfüm. Die nackte, rote Glühlampe an der Decke sorgte für eine schummrige Atmosphäre. Evelyn fiel auf, dass der Raum kein Fenster besaß.

Sie wollte sich aufs Bett setzen, um nachzudenken, als sie die Plastikfolie über der Matratze bemerkte. Angewidert blieb sie stehen. Neben den Kopfkissen saßen mehrere Stofftiere, die vollkommen identisch waren. Gelbe Hasen mit langen Ohren. Bei einem war der Bauch von den Beinen bis zum Hals aufgeschlitzt, sodass der Schaumstoff hervorquoll.

Auf dem Stativ thronte keine Kamera. Die lag bestimmt in einer der Schubladen. Wahllos öffnete Evelyn einige davon. In einem Fach fand sie ein halbes Dutzend Handschellen, doch keine Kamera. In einem anderen jede Menge beschriftete Videohüllen. Nadine, Februar 2004. Petra, Juni 2004. Margit, Oktober 2005. Anna, Dezember 2005. Jeweils zu Ferienbeginn. Ihr wurde übel.

Rasch schob sie die Laden zu, schaltete das Licht aus und schloss die Augen. Imaginäre rote Kreise flimmerten vor ihren Pupillen. Mit dem Rücken an der Tür lehnend, versuchte sie, an Patrick zu denken. Wie hatte der Witz mit dem lieben Gott und dem Anwalt noch gleich gelautet? Sie dachte verzweifelt nach, konnte sich aber nicht konzentrieren. Die Dutzenden Videohüllen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie stellte sich den grauhaarigen, distinguierten Herrn im feinen Anzug vor, wie er auf der Klarsichtfolie des Bettes saß. Noch dazu ein ehemaliger Jugendrichter. Bestimmt war er in Cuxhaven eine angesehene Persönlichkeit. Sie spürte die Magensäure in ihrem Rachen und schluckte den bitteren Geschmack runter.

Sie musste Pulaski finden! Und falls ihr das nicht gelang, wollte sie so rasch wie möglich aus dem Haus verschwinden, bevor sie diesem Verrückten in die Hände lief. Während sie an der Unterlippe kaute, wäre ihr beinahe das Handy aus den Fingern geglitten. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Handflächen schweißnass waren. Sie rieb sie an den Jeans trocken. Dabei spürte sie die Kante von Pulaskis Visitenkarte, die aus ihrer Tasche ragte. Natürlich! Hoffentlich hatte er sein Handy nicht in ihrem Auto liegen lassen. Sie würde ihn auf dem Mobiltelefon anrufen, aber nicht, um mit ihm zu sprechen. Sie wollte nur hören, wo es im Haus klingelte, und anschließend die Verbindung unterbrechen.

Um nichts in der Welt würde sie das Licht in diesem Zimmer noch einmal aufdrehen. Der Schein des Handydisplays reichte aus. Sie zog die Visitenkarte aus der Tasche. Kriminaloberkommissar. Darunter stand seine Nummer. Sie war leicht zu merken. In der Dunkelheit wanderten ihre Finger über die Tasten des Telefons. Nachdem sie die Nummer getippt hatte, blieben ihr noch wenige Sekunden. Sie durfte das Klingeln nicht überhören. Während das Handy die Verbindung aufbaute, drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür. Eilig verschwand sie in den Gang und tastete sich bis zum Vorraum.

Plötzlich drang unter einem Türspalt Licht hervor, das auf ihre Schuhspitzen fiel. Evelyns Herzschlag stockte für einen Moment, als sie die Umrisse einer Gestalt im Vorraum sah.

Die Person stand reglos da. Das konnte weder Bolten noch Pulaski sein. Die Silhouette war viel zu schmächtig für die beiden kräftig gebauten Männer. Außerdem roch Evelyn ein Damenparfüm. Die Gestalt bewegte sich zaghaft, machte einen Schritt auf Evelyn zu und beugte den Kopf vor. Langes Haar fiel ihr über die Schulter.

Evelyn traute ihren Augen nicht. War das etwa … Sybil? Im nächsten Moment drang der dumpfe Klang eines Klingeltons aus dem Raum neben ihr, durch dessen Türspalt das Licht fiel. Hastig unterbrach Evelyn die Verbindung. Im gleichen Moment erstarb das Läuten.

Aus dem Augenwinkel sah Evelyn, wie die Frau ins Wohnzimmer verschwand. Sollte sie ihr folgen? Gehetzt sah sie sich um. Pulaski war wichtiger. Entschlossen drückte sie die Türklinke nieder.

Der matte Schein einer Neonröhre blendete sie. Vor ihr führte eine enge Betontreppe steil in den Keller hinunter. Kurz darauf ging das Licht aus.

 

60

 

»Scheiße!«, zischte Evelyn. Sie steckte das Handy in die Jeanstasche, tastete mit den Händen nach der kahlen Betonwand und stieg die Stufen hinunter.

Sie merkte, wie es kühler wurde. Es roch nach Kalk. Am Treppenende wurde es heller. Sie erreichte einen Vorraum, von dem mehrere schwere Brandschutztüren weiterführten. Eine davon war angelehnt. Trübes Tageslicht fiel durch den Spalt. Wer immer die Neonröhre im Keller ausgeknipst hatte, befand sich noch hier unten. Vorsichtig ging Evelyn auf die Tür zu und schob sie sachte mit dem Fuß auf. Zum Glück quietschten die Angeln nicht.

Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die verschmierte gekippte Scheibe eines vergitterten Oberlichts und tauchten den Raum in ein dunkles Orange. In einer Ecke türmte sich ein Müllberg aus Kohlen, Holzpaletten, Putzlappen und zerknüllten Zeitungen. In der anderen Ecke stapelten sich einige Festmeter Holz neben einem Brennofen. Daneben stand ein Warmwasserspeicher mit jeder Menge Anzeigen, Ventilen und Rohren, die an den Wänden und der Decke verliefen. Es sah aus wie im Keller ihres Elternhauses, in dem sie früher mit ihrer Schwester Verstecken gespielt hatte. Nur dass hinter diesem Kessel ein Paar Beine hervorragte. Evelyn erkannte Pulaskis Schuhe.

Sie sprang über die Holzscheite und lief um den Speicher herum. Pulaski lag auf dem Boden. Er war mit Handschellen gefesselt, die zusätzlich mit einer Kette an ein Heizungsrohr montiert waren. Über seinem Mund klebte ein breiter Streifen Isolierband. Das Handy war ihm aus der Hosentasche gefallen und lag außerhalb seiner Reichweite.

Sie beugte sich über ihn und löste das Klebeband. Er bekam kaum noch Luft.

»Bolten ist der Mörder der Jugendlichen«, keuchte er. »Ich hatte ihn gestern am Bein erwischt … Das Spray!« Er begann zu husten.

Hastig durchsuchte sie die Innentasche seines Sakkos. Dabei bemerkte sie, dass Pulaskis Schulterholster leer war. Dann fand sie den Inhalator, führte das Mundstück an seine Lippen und betätigte zweimal den Auslöser.

Erleichtert und nach Luft japsend sank Pulaskis Kopf an die Wand.

»Der Mistkerl hat mich genauso überwältigt wie die Kinder«, flüsterte er. »Er hielt die Injektionsnadel bereits hinter seinem Rücken versteckt und jagte mir eine Botoxdosis in Schultern und Oberschenkel.«

Evelyn geriet in Panik. »Wo ist Ihre Waffe?«

»Hat mir der Knabe abgenommen.«

»Können Sie sich bewegen?«

»Nur das rechte Bein.«

»Scheiße, ich muss Sie irgendwie hier rausschaffen.« Sie begann, an den Handschellen zu fingern. »Sind das Ihre? Haben Sie den Schlüssel?«

»Nein«, keuchte Pulaski. »Sie müssen sich beeilen. Bolten hat kurz zuvor das Licht abgedreht, er muss noch irgendwo hier sein. Hat er Sie das Haus betreten sehen?«

Evelyn schüttelte den Kopf. »Er denkt, ich bin noch draußen.«

»Was haben Sie da so lange getrieben?«

»Ich habe rausgefunden, dass Bolten und Hockinson die an dem Mord beteiligten Passagiere erpresst haben«, flüsterte Evelyn. Sie stand auf und folgte den Kettengliedern, die um das Heizungsrohr geschlungen waren.

»Als Bolten aber erfuhr, dass seine ehemaligen Mitreisenden der Reihe nach starben«, wisperte sie, »konnte er nur annehmen, dass sich eines der Kinder von damals an ihnen rächen wollte.«

Sie hantierte am Vorhängeschloss, das die Kette zusammenhielt, aber das verfluchte Ding war nicht aufzukriegen. »Leise …«, zischte er.

Sie umklammerte das scheppernde Kettenglied. »Entweder aus Angst, dass die Sache auffliegen könnte, oder aus Furcht, selbst ermordet zu werden, machte er die ehemaligen Opfer ausfindig, tötete sie und stellte es als Selbstmord dar.« Während sie redete, versuchte sie, die Kette am Heizungsrohr entlangzuschieben, doch dieses verschwand nach einigen Metern in der Mauer.

»Aber wie konnte er sich unauffällig Informationen über die Kinder verschaffen?«, fragte er.

»Als ehemaliger Jugendrichter hatte er leichten Zugang zu den Daten … ich bekomme diese Scheißkette nicht auf1.«

»Vergessen Sie die Kette. Wählen Sie mit Ihrem Handy den Polizeinotruf. Die Nummer ist 110! Sie werden automatisch weiterverbunden!«

Evelyn tat, was Pulaski ihr aufgetragen hatte. Das Telefon baute soeben die Verbindung auf, als sie hinter sich eine Stimme hörte.

»Bemühen Sie sich nicht länger, Frau Meyers.« Evelyn fuhr herum.

Alfons Bolten stand mit Latexhandschuhen hinter ihr und streckte ihr eine Hand entgegen. »Ihr Telefon bitte!«

In der anderen Hand hielt er eine Pistole, die auf Evelyns Kopf gerichtet war.

Mit zittrigen Fingern reichte sie Bolten das Mobiltelefon.

»Herzlichen Dank.« Er unterbrach die Verbindung, als es plötzlich läutete. Erstaunt betrachtete er das Handy. »Erwarten Sie einen Anruf?«

Sie antwortete nicht.

»Mal sehen, wer sich kurz vor Ihrem Tod noch für Sie interessiert.« Mit einem erwartungsvollen Blick führte er das Telefon zum Ohr. »Hallo?«

Während er lauschte, hielt er Evelyn und Pulaski mit der Waffe in Schach.

»Ich fürchte, Frau Meyers ist im Moment unpässlich«, sagte er schließlich und unterbrach die Verbindung. Er schmunzelte selbstgefällig. »Schlechtes Timing. Es waren Ihre Kollegen aus Flensburg.«

Mit einem Knopfdruck schaltete er das Handy aus. Als wäre das noch nicht genug, ging er einen Schritt zurück, legte das Telefon in den geöffneten Türspalt auf die Angel und warf die Brandschutztür schwungvoll zu. Das eingeklemmte Handy knirschte, die Abdeckung splitterte, und einzelne Teile flogen durch die Gegend.

»Sieht aus, als hätten Sie das schon öfter gemacht«, knurrte Pulaski.

»Ich improvisiere gern«, antwortete Bolten. »Das habe ich gemerkt, als Sie über die Feuerleiter geflüchtet sind.«

Bolten lächelte. »Sie waren etwas außer Puste.«

»Für eine Kugel ins Bein hat es gereicht.«

»Ein lausiger Schütze sind Sie auch noch.« Bolten wechselte die Waffe in die andere Hand. »Apropos improvisieren.« Er wandte sich wieder zu Evelyn. »Sie haben erstaunlich lange benötigt, um Ihren Kollegen zu finden.« Er kam näher und tastete sie nach einer Waffe ab. »Finger weg, Sie perverses Schwein!«

Er schlug ihr mit dem Pistolenknauf ins Gesicht. Ihre Lippe platzte auf, sie stolperte zurück und fiel über Pulaskis Beine zu Boden. Schmerz schoss ihr ins Gehirn. Im nächsten Moment spürte sie den bitteren Geschmack von Blut im Mund. Mit zitternden Fingern tastete sie nach ihrer Lippe. Blut tropfte auf ihren Pullover. Sie konnte es nicht fassen, dass der Mistkerl sie geschlagen hatte.

»Ich habe Ihr Gespräch von vorhin mitverfolgt. Es ist erstaunlich, wie viel Sie herausgefunden haben. Allerdings kommt der ehrenwerte Herr Hockinson in Ihrer Theorie nicht gerade gut davon. In Wahrheit wusste er nichts von der Erpressung.«

»Was Sie nicht sagen!«, fuhr Evelyn ihn an.

»Nach Manuels Tod fraß ihn sein Gewissen auf. Er war ein dreckiger Geschäftsmann, aber kein Mörder. Er wollte die Kreuzfahrten abbrechen und sämtliche Unterlagen vernichten, doch die herzensgute Greta konnte die Original-Passagierliste der letzten Fahrt rechtzeitig retten, bevor sie mit den anderen Papieren im Kamin verbrannte. Sie haben die Liste gefunden, nicht wahr?« Sein charmanter Ton änderte sich. »Wo ist sie?«

Evelyn antwortete nicht.

»Wahrscheinlich in Ihrem Wagen«, vermutete Bolten.

Plötzlich dämmerte es Evelyn. »Das Konto bei der Hamburger Volksbank gehört Greta. Es war ihre Idee! Sie steckt hinter der Erpressung.«

»Von dem Konto wissen Sie auch?« Bolten verzog anerkennend das Gesicht.

»Evelyn, sagen Sie nichts mehr!«, warnte Pulaski hinter ihr.

Bolten lächelte milde. »Was für ein reizender Ratschlag. Ich werde Ihrer kleinen Freundin sowieso eine Kugel in den Kopf jagen. Und zwar aus Ihrer Dienstwaffe, mit Ihren Fingerabdrücken drauf. Die Schmauchspuren von gestern an Ihrer Hand dürften wohl ausreichen.«

»Mit diesem verrückten Plan kommen Sie niemals durch«, drohte Pulaski.

»Müssen wir überhaupt damit durchkommen?«, fragte Bolten seelenruhig. »Wir haben genug Geld, um uns abzusetzen.«

Evelyn hörte nicht länger hin. Der Gedanke, mit einem Projektil im Kopf zu enden, kam ihr mit einem Mal so unwirklich vor, dass sie nicht wusste, ob sie Angst haben sollte oder nicht. Bolten konnte zuschlagen, Leute erpressen, Videos in seinem Rotlichtzimmer drehen und Jugendliche heimtückisch ermorden. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass es eher zu Greta passen würde, zwei Erwachsene kaltblütig im Keller abzuknallen. Diese Frau war cleverer und gewissenloser, als Evelyn bisher vermutet hatte.

Greta! Plötzlich rotierten ihre Gedanken. Mit einem Mal begriff sie, dass sie die Liste gar nicht aus Edward Hockinsons Arbeitszimmer, sondern aus Gretas Büro gestohlen hatte. Der Raum mit den Sportbögen an den Wänden und der Fiberglas-Armbrust in der Vitrine war Gretas Arbeitszimmer. Sie war die Sportschützin.

»Greta hat von Beginn an die Kreuzfahrten mit ihrem Vater organisiert!«, rief sie. »Die Schlampe war ständig an Bord …«

»Evelyn, seien Sie still!«, fuhr Pulaski dazwischen.

»Nein!«, fauchte Evelyn. »Greta hat ihren eigenen Namen am Ende der Liste durchgestrichen!«, vollendete sie ihre Gedanken. »Sie war der dreizehnte Passagier!«

»Schlampe?«, wiederholte Bolten mit einem gefährlich leisen Ton.

»Hat die Schlampe auch die Waisenkinder organisiert?«, rief Evelyn. »Sie ist genauso mitverantwortlich für den Tod des Jungen, hat aber keinerlei Skrupel, ein Dutzend Männer zu erpressen!« Sie redete sich in Rage.

Da machte Bolten einen Satz nach vorne und schlug Evelyn erneut die Waffe ins Gesicht. Diesmal konnte sie rechtzeitig den Arm hochreißen, sodass er sie nur am Handgelenk traf.

»Sie war nicht für den Tod des Jungen verantwortlich!«, brüllte Bolten. »Als er starb, wollte niemand etwas damit zu tun haben. Greta durfte die Drecksarbeit für die anderen erledigen und musste seine Leiche beseitigen.« Speichel floss ihm aus dem Mundwinkel, als er sich über Evelyn beugte. »Deshalb begann sie, die Männer zu erpressen. Weil wir mit der Leiche alleine in den Dünen standen, während die anderen auf dem Schiff hockten und die Bar leerten!«

»Sie haben ein Verhältnis mit ihr, nicht wahr?«, flüsterte Evelyn. Gleichzeitig hielt sie sich die Hände vors Gesicht, da sie mit einer neuerlichen Attacke rechnete.

»Greta hat mehr Courage als Sie beide zusammen!«, fuhr Bolten sie an.

»Sie ist genauso krank wie Sie. Und Sie sind der Schlampe hörig!«, rief Evelyn. Sie wusste nicht, warum sie den Mund nicht halten konnte. Es musste einfach raus, und wenn es das Letzte war, was sie sagte. Selbst wenn er sie noch so off schlagen würde. Sie hatte in ihrem Leben so viel durchgemacht, dass es ihm nicht gelingen würde, sie noch mehr zu verletzen, als es bisher schon geschehen war.

Doch statt ein weiteres Mal auszuholen, ging er in die Ecke und kramte in dem Müllberg herum. Zeitungen, Holzlatten und Putzlappen flogen davon. Schließlich zog er ein schmutziges Kopfkissen hervor und warf es Evelyn in den Schoß.

»Halten Sie sich das mit beiden Händen vors Gesicht.« Er war außer sich und trat mit der Waffe auf sie zu. »Los! Machen Sie schon! Es dämpft den Knall.« Er presste ihr den Lauf an die Stirn.

»Nein!«, kreischte Evelyn.

»Los!«

Sie schleuderte das Kissen in die Ecke.

»Wie Sie wollen.« Bolten ging zu dem Müllberg und zerrte einen dreckigen Kohlensack hervor. Er faltete ihn auseinander und kam damit auf Evelyn zu.

»Nicht damit!«, kreischte sie. In Panik robbte sie rücklings an die Wand. »Nicht über den Kopf! Bitte nicht«, wimmerte sie. Tränen schossen ihr in die Augen.

Plötzlich war sie wieder das zehnjährige Mädchen, das den Geschmack des Jutesacks im Mund spürte, das Kratzen auf der Haut und den muffigen Geruch in der Nase hatte.

Sie presste die Augen zusammen. »Bitte nicht!«, flehte sie. »Ich mache alles, was Sie von mir verlangen.«

Bolten hörte nicht auf sie, sondern zog ihr den Sack über den Kopf.

Im gleichen Moment wurde es dunkel. Sie war wie paralysiert. Ihr Körper verkrampfte sich, ihre Muskeln begannen zu zucken. Sie bekam keine Luft. Es ist nicht wie damals, sagte sie sich. Aber ihr blieb nicht viel Zeit zum Denken. In der nächsten Sekunde spürte sie den Lauf der Waffe auf der Stirn. Sie wollte etwas sagen, nur zwei Wörter herauspressen - Bitte nicht! -, doch ihre Stimmbänder waren wie gelähmt. Dann hörte sie, wie Bolten die Waffe durchlud und den Abzug betätigte. Der Schlagbolzen bewegte sich.

Klick!

Er versuchte noch einmal abzudrücken. Diesmal presste er den Lauf fester gegen ihre Stirn. Klick! »Scheiße!«

Sie hörte, wie das Magazin aus dem Griff glitt.

»Das verdammte Ding ist leer«, brüllte Bolten.

Pulaskis Stimme drang gedämpft zu ihr durch. »Die Kripobeamten in Göttingen haben mir die Patronen abgenommen.«

»Sie betreten mein Haus mit einer ungeladenen Waffe?«, schrie Bolten. »Wie dämlich sind Sie eigentlich?« Die Pistole schlitterte über den Boden.

»Dann werde ich sie eben mit meiner erledigen.«

Sie hörte ein Geräusch. Zog er eine Waffe aus dem Hosenbund? Kurz darauf folgte das Klicken, mit dem er die Pistole entsicherte.

»Tun Sie das nicht!«, rief Pulaski. Plötzlich klang Panik in seiner Stimme.

Evelyn spürte, wie ihr erneut der Lauf einer Waffe an die Stirn gedrückt wurde.

Pulaski zerrte an der Kette, doch die Bewegung war nur schwach. »Sie verdammter Scheißkerl! Tun Sie das nicht! Sie ist bloß eine Anwältin und hat nichts mit der Sache zu tun.«

»Sie hat sehr wohl etwas damit zu tun«, flüsterte Bolten.

Er presste ihr den Lauf fester an den Kopf.

Evelyn wurde schwarz vor Augen, als sie das Zurückziehen des Schlittens und das gleichzeitige Klicken der Patrone hörte.

»Alfons?«

Plötzlich ließ der Druck nach. »Alfons?«, wiederholte die Stimme.

Der verführerische, jugendliche Klang drang von der Treppe in den Keller herunter.

Evelyn hörte ein Klimpern. Trotz ihrer Angst erkannte sie den norddeutschen Akzent.

»Alfons? Komm zu mir!«

Das Klimpern klang wie von Handschellen.

 

61

 

Evelyn spürte, wie Bolten den Lauf von ihrer Stirn nahm.

»Wen habt ihr noch mitgebracht?«, zischte er.

Evelyns Hirn funktionierte nicht mehr. Sie hörte nur, wie Bolten zutrat und Pulaski aufstöhnte.

»Wen habt ihr noch mitgebracht?«, wiederholte Bolten.

»Ich weiß es nicht, Arschloch!«, presste Pulaski hervor.

Evelyn hörte Boltens Schritte. Dann krachte die Brandschutztür ins Schloss, und der Schlüssel drehte sich zweimal.

»Evelyn?«, flüsterte Pulaski.

Sie gab keine Antwort. Ihr Körper war vollkommen steif. Ihre Nackenmuskeln hüpften auf und ab, und ihr Magen verkrampfte sich in immer wiederkehrenden Wellen. Es nahm kein Ende.

»Evelyn! Er ist weg. Hören Sie mich?« Komm zu mir!

Wer hatte das gesagt? Sie selbst? War sie wieder das zehnjährige Mädchen in der Jagdhütte? Der Jutesack, die Fesseln und das Klebeband. Ihre Gedanken drifteten ab …

»Evelyn?«

Pulaskis Fuß traf sie am Oberschenkel. Sie zuckte zusammen.

»Evelyn! Sie müssen mir helfen!«

Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken. Ihre Finger waren eiskalt und zitterten. Sie konnte sie kaum bewegen.

»Er ist weg!«, rief Pulaski. »Wir sind in Sicherheit. Ziehen Sie sich den Sack vom Kopf.«

Von Magenkrämpfen gepeinigt, versuchte Evelyn, die Arme zu heben. Sie bekam einzelne Fasern zu fassen und zerrte daran.

Augenblicklich spürte sie, wie eine Welle Frischluft zu ihr vordrang. »Ja, gut so. Weiter!«

Sie zerrte mit beiden Händen am Stoff, atmete tief durch und zog sich den Sack schließlich vom Kopf. Helligkeit. Sie öffnete die Augen und sah die Abenddämmerung hinter dem gekippten Kellerfenster. Sie füllte ihre Lungen mit Sauerstoff. Langsam löste sich der Krampf in den Schultern und angespannten Oberarmen.

»Himmel, Evelyn! Was war bloß los mit Ihnen?«, fragte Pulaski.

Sie wandte den Kopf, um etwas zu sagen, doch ihre Kehle war ausgetrocknet.

»Sie sind total blass.« Pulaski starrte sie mit entsetztem Gesicht an. An seinem verzweifelten Blick sah sie, dass er Todesängste um sie ausgestanden hatte.

Sie versuchte zu lächeln. »Alles in Ordnung.«

»Das eben sah nicht danach aus.«

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Bolten hat uns eingeschlossen und ist raufgegangen. Es ist noch jemand im Haus.«

»Sybil«, flüsterte sie.

Im selben Moment hörten sie einen Schrei und das Poltern von Stühlen. Glas splitterte. Ein Körper wurde herumgerissen, ein Stuhl flog durch die Gegend, etwas kullerte die Treppe herunter. Dann ein neuerlicher Schrei und plötzlich Stille …

»Evelyn, rasch! Sehen Sie sich um. Hinter dem Kessel muss meine Waffe liegen.«

Sie erhob sich. Mit weichen Beinen wankte sie durch den Raum. Sie hielt sich an einem Rohr fest. Die Pistole lag neben dem Müllberg.

»In meiner Gesäßtasche steckt das Reservemagazin. Legen Sie es in die Walther ein.« Erst langsam kam Evelyn wieder zu sich. Wie in Trance hob sie die Waffe auf, ging zu Pulaski und rollte ihn zur Seite. Sie fand das Magazin in seiner Tasche. Pulaski erklärte ihr, wie sie es einlegen musste.

»… und an der Seite sehen Sie den Sicherungshebel. Danach ziehen Sie den Schlitten zurück, und die erste Patrone gleitet in die Kammer.«

»Sie wollen doch nicht etwa, dass ich damit schieße?«

»Ich würde es selbst tun, aber meine Muskeln sind so schlaff wie Gummi. Das Botox wird meine Nerven sicher noch für ein paar Stunden außer Gefecht setzen.«

Evelyn zog den Schlitten zurück.

»Ho, ho!«, rief Pulaski. »Zielen Sie damit nicht auf mich!«

»Was soll ich tun?«

Plötzlich verlor sich Pulaskis Blick in der Ferne. Er starrte hinauf zum Oberlicht. »Das glaub ich nicht.«

Sie folgte seinem Blick. Durch das vergitterte Kellerfenster sah sie einen Teil des Gartens. Soeben gingen Bolten und Sybil daran vorbei. Die junge Frau trug einen schwarzen Pullover und eine ausgewaschene graue Jogginghose.

Evelyn erhob sich, trat näher ans Fenster, kletterte auf eine Holzkiste und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Was sehen Sie?«, rief Pulaski.

Bolten und Sybil gingen nebeneinander über die Wiese zu dem Rasentraktor, der neben dem Komposthaufen stand. Die beiden ergaben ein merkwürdiges Bild. Bolten war fromm wie ein Lamm. Es sah aus, als ließe er sich von Sybil zur Schlachtbank fuhren.

»Was sehen Sie?«, drängte Pulaski.

Evelyn fand einen Putzlappen auf dem Sims und wischte damit ein Guckloch auf die rußige Innenscheibe.

»Es sieht so aus, als würde Sybil ihm eine Injektionsnadel an die Halsschlagader halten. Seine Arme hängen schlaff herunter. Er wankt, als würde er kurz vor einer Ohnmacht stehen.«

Pulaski lachte amüsiert auf. Es klang wie ein Anfall von Galgenhumor. »Die hat ihm tatsächlich seine eigene Spritze in den Hals gejagt.«

»Er kniet vor ihr nieder …« Evelyn verstummte. Es war unglaublich, was sie sah.

Bolten jammerte und flehte um sein Leben, doch Sybil riss ihm brutal den Kopf in den Nacken. Ihre Stimme drang dumpf durch das gekippte Kellerfenster. »Schau mal, was ich für dich vorbereitet habe.«

Sie öffnete den Tank des Rasentraktors und steckte einen Schlauch in die Öffnung. Das andere Ende stopfte sie in Boltens Rachen.

»Trink!«

Bolten schüttelte den Kopf. »Der Tank ist leer«, gurgelte er mit dem Schlauch im Mund, während seine Arme leblos den Boden berührten. Sein Oberkörper schwankte kraftlos vor und zurück.

»Ich habe Diesel in den Tank gefüllt. Und jetzt trink!«

»Das ist ein Benzinmotor«, presste Bolten hervor.

»So ein Pech!« Sybil schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. »Dann musst du das Diesel eben absaugen. Los jetzt!«

Bolten schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Als Sybil ihm die Nadel tiefer in den Hals trieb, tat er wie geheißen. Zunächst würgte er, doch Sybil zwang ihn, weiter an dem Schlauch zu saugen. Schließlich lief die gelbe Flüssigkeit durch den Schlauch, aber Sybil zog ihm das Endstück nicht aus dem Mund. Er schluckte, würgte, hustete und bekleckerte sich mit Diesel.

Dann trat Sybil einen Schritt zur Seite und griff in ihre Hosentasche.

»Was macht sie?«, fragte Pulaski.

Evelyn stand noch immer auf den Zehenspitzen und reckte den Kopf nach oben. »Ich sehe es nicht genau«, antwortete sie. »Ich glaube, sie holt eine Packung Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer hervor.«

»Sie wird ihn abfackeln!«, rief Pulaski. »Unternehmen Sie was!«

»Was denn?«

»Schießen Sie ein Loch in die Scheibe!«, brüllte Pulaski. »Und dann?«

»Halten Sie Sybil auf! Das ist glatter Mord! Sie müssen ihn verhindern!«

Einen Mord an diesem Kerl verhindern?, dachte Evelyn. Sie spürte, wie sie innerlich vollkommen ruhig wurde. Unwillkürlich dachte sie an die Jagdhütte im Wald und an den Mann, der sein Versprechen wahr gemacht hatte.

 

Falls sie je versuchen sollte, sich zu wehren oder zu befreien, würde er Sandra töten. Er hatte sie gewarnt, nicht nur einmal, aber sie wollte nicht auf ihn hören. Sie hatte gedacht, schlauer zu sein. Doch wer war mit zehn Jahren schon so clever, einen Verrückten auszutricksen? Die Ärzte konnten nichts mehr für Sandra tun. Nur ein paar Stunden, bevor die Polizisten die Hütte fanden, war sie erwürgt worden. Er hatte sie in der Nähe begraben, nicht einmal einen halben Meter unter der Erde, und faules Laub darüber gestreut. Als würde das ausreichen …

Danach sah sie sein Gesicht nur noch ein einziges Mal. Bei der Gegenüberstellung waren mehr Ärzte und Psychologen anwesend als Polizisten. Er stritt alles ab, doch er hatte seine Spuren an Sandra und ihr hinterlassen.

Obwohl sie noch ein Kind war, hätte sie ihn damals am liebsten mit der Schaufel selbst unter die Erde gebracht, ihm das Gesicht aus dem Kopf gekratzt oder ihn mit Benzin übergossen und angezündet. Erst Wochen später, beim Anblick des leeren Stockbetts in ihrem Zimmer, kamen die Schuldgefühle. Wäre sie doch nicht geflüchtet…

 

»Evelyn!« Sie schreckte hoch.

»Was macht sie?«

»Sie raucht eine Zigarette.«

»Unternehmen Sie doch etwas!«

Zünde das Schwein endlich an und lass es brennen, dachte sie und erschrak selbst über ihre Gedanken. Plötzlich wich sie geblendet zurück. Neben dem Rasentraktor ging eine Stichflamme hoch. Beinahe glaubte sie, die Hitze auf dem Gesicht zu spüren. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass es jemand anders war, der verzweifelt um Hilfe und Vergebung schrie. Doch die Zeit der Vergebung war nicht heute - und schon gar nicht an einem Ort wie diesem.

Pulaskis Rufe verstummten ebenso wie Boltens Schreie. Evelyn stieg langsam von der Kiste, ging zurück zur Wand und setzte sich hin. Sie spürte die Kälte der Mauer in ihrem Rücken. Ihre Hände waren ebenso kalt wie der Griff der Pistole, doch innerlich war sie vollkommen ruhig. Nie wieder würde dieses Monster ihr oder einer anderen Frau einen Sack über den Kopf stülpen. Nie wieder würde er ein Kind in sein rotes Zimmer locken. Nie wieder würde die Kamera laufen, während er sich zu dem gelben Stoffhasen aufs Bett setzte.

»Evelyn …«, murmelte Pulaski.

»Seien Sie still!«

Im Moment ertrug sie keine Stimme. Das Chaos in ihrem Kopf war laut genug. Sie schwiegen eine Weile und lauschten dem Knistern der Flammen, die langsam verebbten.

Mitten in der Stille hörten sie das Aufheulen eines Motors, gedämpft durch die Wände einer Garage. Womöglich hatte Sybil den Schlüssel von Boltens Mercedes gefunden. Konnte sie tatsächlich einen Wagen lenken?

Evelyn hörte, wie die Reifen über den Kies knirschten, das automatische Gartentor aufging und ein Auto das Grundstück verließ.

»Wohin fährt sie?«, murmelte sie. Die Frage war an niemanden gerichtet.

Trotzdem antwortete Pulaski. »Können Sie sich das nicht denken?«

Offensichtlich wartete er, bis sie ihn ansah. »Sie selbst haben sie auf die Spur gebracht. Sie fährt zu Greta Hockinsons Villa - um den letzten Namen auf der Liste auszulöschen.«

 

62

 

Evelyn konnte nicht glauben, was er als Nächstes sagte.

»Wir müssen den Mord an Greta verhindern!«

Sie starrte ihn lange an. Wovon sprach der Mann, verdammt noch mal? Greta Hockinson war die Drahtzieherin hinter den Kreuzfahrten. Sie hatte all das Leid über diese Kinder gebracht - und die meisten davon in die Psychiatrie. Ohne sie wäre Manuel vielleicht noch am Leben. Zumindest läge sein Leichnam nicht unter irgendeiner Sanddüne vergraben.

»Wir müssen uns beeilen«, drängte Pulaski. »Helfen Sie mir auf1.«

Evelyn zerrte ihn hoch, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Die Kette, die um das Heizungsrohr geschlungen war, ließ ihm gerade so viel Spielraum, dass er die Arme mit den Handschellen in den Schoß legen konnte.

»Das Handy«, bat er.

Sie reichte ihm sein Telefon, das ihm zuvor aus der Hosentasche gefallen war. »Soll ich für Sie wählen?«

»Es geht schon …« Mit kraftlosen Fingern hielt er das Gerät in der Hand und betätigte die Lautsprecherfunktion. »Ich werde versuchen, einen Personenschutz für Greta Hockinson zu organisieren. Aber wenn das so lange dauert wie heute Morgen bei Lisa, kommt wahrscheinlich jede Hilfe zu spät.«

Sie spürte Pulaskis eindringlichen Blick auf ihr. »Sie könnten schneller bei ihr sein.«

Evelyn betrachtete die Waffe, die sie immer noch in der Hand hielt. »Lässt sich damit die Brandschutztür aufschießen?«

»Stellen Sie sich einen Meter vor die Tür, kneifen Sie das linke Auge zu, richten Sie die Waffe mit beiden Händen auf das Schloss, und zielen Sie so, dass die Oberkanten von Kimme und Korn eine Linie bilden.« Evelyn stellte sich vor die Tür.

»Strecken Sie die Arme durch, und erschrecken Sie nicht beim Rückstoß.«

Evelyn umklammerte den Griff. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Je fester sie die Waffe hielt, desto mehr zitterten ihre Hände.

»Nur ruhig«, sagte Pulaski. »Locker bleiben.«

Sie drückte ab. Der Abzug war leichter zu betätigen, als sie gedacht hatte. Allerdings war der Knall ohrenbetäubend. Der Griff schlug gegen ihre Hand. Eine Korditwolke hüllte sie ein. Es roch nach versengtem Metall.

»Etwas höher und weiter rechts«, korrigierte Pulaski. »Sie müssen den Riegel im Schloss durchschießen.«

Sie streckte die Arme durch und drückte drei weitere Male ab. In der Tür befanden sich vier schwarze Löcher, um die sich das Metall verbogen hatte. Evelyn musste etwas an der Klinke zerren, doch dann knirschte der Rahmen, und die Tür ließ sich aufziehen.

Sie wandte sich zu Pulaski. »Ich kann Sie doch nicht so zurücklassen.«

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«

»Ich könnte versuchen, die Handschellen aufzuschießen.«

»Und mir einen Querschläger in den Arm jagen? Nein, danke.« Er lachte müde. »Außerdem können Sie mich unmöglich die Treppe hochschleppen. Sehen Sie zu, dass Sie zu Greta kommen. Ich verständige inzwischen die Polizei und den Notarzt.«

Sie sicherte die Pistole und legte sie ihm in den Schoß.

»Was soll das? Nehmen Sie das verdammte Ding mit!«

Mitnehmen? Wofür hielt er sie? »Niemals«, widersprach sie. »Ich schieße doch nicht auf einen Menschen!«

»Das sollen Sie auch nicht - aber vielleicht denken andere nicht so wie Sie.«

»Ich komme schon klar.«

»Und wie wollen Sie Greta helfen?«

»Soll ich etwa einen Mord an dieser Schlampe verhindern?«

Pulaski starrte sie entsetzt an. »Diese Frau gehört vor ein Gericht. Sie muss verurteilt werden …«

»… und kommt bei einem milden Urteil nach ein paar Jahren Gefängnis wieder frei«, vollendete Evelyn mit einem zynischen Ton.

»Bestimmt nicht.«

»Sie haben ja keine Ahnung.« Evelyn wusste, wovon sie sprach. Es hatte schon einmal so geendet. Sie dachte wieder an den Mann …

 

…der ihre Familie zerstört hatte. Er war nach zehn Jahren entlassen worden. Die Haft hatte gerade mal zwei Jahre länger gedauert, als Evelyns Schwester alt gewesen war. Eine Verfügung im Urteil besagte zwar, dass er sich Evelyn nach der Entlassung im Umkreis von drei Kilometern ihres Wohnsitzes nicht nähern durfte, doch was nützte das schon? Er war bereits Teil ihres Lebens geworden - ein Dorn in ihrer Seele. Seit ihrer Flucht aus seiner Jagdhütte verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn oder ihre Schwester dachte … oder an ihre Eltern. Zum Glück hatten sie nicht mehr erlebt, wie er freigekommen war. Dafür hatten sie selbst gesorgt.

Jeder sprach ständig vom schrecklichen Unfall ihrer Eltern und bedauerte Evelyn wegen dieses tragischen Schicksals. Wie tapfer sie doch gewesen sei, als sie am Beginn ihres Studiums plötzlich allein dastand und ihr Leben mit Ferienjobs und Stipendien finanzierte. Wahrscheinlich ahnte nicht nur sie, dass es gar kein Unfall gewesen war. Wer regelte schon alle finanziellen Angelegenheiten, um eine Woche später im Nieselregen, Hand in Hand, die Bahngleise im Scheinwerferlicht eines herannahenden Schnellzugs zu überqueren? Vater und Mutter wären dieses Risiko niemals eingegangen. Die Wahrheit würde wohl nie jemand erfahren. Doch tief drinnen hatte Evelyn gespürt, dass ihre Eltern an der Entführung zerbrochen waren - und die bevorstehende Entlassung des Mannes hatte sie endgültig zerstört…

 

»Auch wenn es sich um eine Mörderin handelt, müssen Sie versuchen, ihr Leben zu schützen.« Pulaskis Worte drangen nur dumpf zu ihr durch. »Schließlich vertreten Sie das Gesetz. Sie sind Rechtsanwältin und arbeiten an diesem Fall.«

Sie sah ihn an. »Ich arbeite nicht an dem Fall«, antwortete sie leise.

Seine Augen wurden groß. »Was?«

Es wurde Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen. »Mein Chef hat mich diese Woche vom Dienst beurlaubt. Ich bin wegen privater Recherchen nach Deutschland geflogen.«

»Sagen Sie bloß, Sie sind persönlich in diese Sache involviert?«

Für einen Augenblick dachte sie an Holobeck. »Teilweise.« Für Pulaski sollte diese Erklärung genügen. Er musste nicht wissen, dass ihre Reise, die mit den harmlosen Ermittlungen im Airbag- und im Kanaldeckel-Fall begonnen hatte, mittierweile zu einer Gefühlsodyssee durch ihre eigene Vergangenheit geworden war. Doch in seinen Augen sah sie, dass sie ihm nichts verheimlichen konnte.

»Ihnen ist etwas Ähnliches zugestoßen wie Lisa, nicht wahr?«

Sie brauchte nicht zu antworten. Pulaski besaß genug Menschenkenntnis und musste die Antwort nur in ihrem Gesicht ablesen.

»Das tut mir leid«, sagte er schließlich, diesmal eine Spur leiser. »Trotzdem sind Sie Anwältin, und wenn es in Ihrer Macht liegt, einen Mord zu verhindern, dann sollten Sie das tun.«

»Möglicherweise haben Sie Recht.« Sie wandte sich zur Tür.

»Nehmen Sie die Waffe mit!«, rief er ihr nach.

»Auf eine Tür zu schießen ist etwas anderes, als auf einen Menschen zu schießen.« Sie würde die Waffe nicht brauchen.

Während sie in der Dunkelheit die Treppe hochstieg, rief sie sich die Strecke zur Hockinson-Villa in Erinnerung. Sie würde nicht einmal zehn Minuten dorthin benötigen. Ziemlich sicher traf sie dort auf Greta … und Sybil.

Allerdings war noch offen, auf wessen Seite sie stehen würde, wenn sie dort ankam.

 

63

 

Das Gartentor zur Hockinson-Villa stand offen. Diesmal versperrte kein Kastenwagen der Firma Sicuro die Zufahrt. Evelyn lenkte ihr Auto auf das Grundstück und fuhr auf dem Schotterweg zum Haus. Mittlerweile war es dunkel geworden. Im Scheinwerferlicht sah sie, dass Boltens Mercedes direkt vor der Treppe zum Hauseingang parkte. Evelyn hielt unmittelbar dahinter. Sie stieg aus, sperrte ab und ging zu Boltens Wagen. Die Autotür stand offen, der Schlüssel steckte, doch von Sybil fehlte jede Spur.

Evelyn blickte sich im Garten um. Offensichtlich hatten die Monteure der Sicherheitsfirma ihre Arbeit noch nicht beendet, denn unter dem Vordach des Pavillons standen eine Werkzeugkiste und mehrere Kabeltrommeln. Dahinter glitzerte die schwarze Oberfläche des Seerosenteichs.

»Greta?«, rief Evelyn, während sie den Weg aus Waschbetonplatten betrat, der ums Haus führte.

Keine Antwort.

Die Lampe neben dem Kameraobjektiv wirkte so leblos wie das Haus. Offenbar funktionierten die Videokameras unter dem Dachvorsprung noch immer nicht.

An der Rückseite der Villa erreichte Evelyn die Terrasse und den Wintergarten, in dem sie gestern Mittag mit der Hausherrin Tee getrunken hatte. War das wirklich erst vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden gewesen? Sie dachte an ihr Bauchkribbeln, das sie nicht getrogen hatte. Aber merkwürdigerweise hatte sie es nicht gespürt, als sie in der Dunkelheit Sybil gegenübergestanden war. Hatte sie zu wenig darauf geachtet?

»Greta?«

Evelyn nahm die Stufen zur Terrasse. Eine salzige Brise wehte vom Meer herüber. Vereinzelt glitzerten Schaumkronen auf der schwarzen See. Über dem Horizont schimmerte nur noch ein schmaler, glutroter Streifen. Es wurde kühl.

Das Licht eines nahe gelegenen Leuchtturms spiegelte sich in den Scheiben. Ähnlich wie auf Boltens Terrasse war auch hier eine Glastür eingeschlagen worden. Je näher Sybil ihrem Ziel kam, desto abgebrühter wurde sie. Den Mord an Bolten würde ihr wohl kaum noch jemand als Unfall abnehmen. Wozu auch? Mit der letzten Tat an Greta würde sie ihren Rachefeldzug abgeschlossen haben. Was hatte sie danach vor? Lisa in der Psychiatrie Ochsenzoll besuchen, um ihr zu erzählen, dass es vollbracht sei? Hatte sie noch Geld von dem Einbruch übrig? Würde sie sich mit einer anderen Person identifizieren, um deren Rachepläne zu übernehmen?

Als im Haus ein Licht anging, schreckte Evelyn aus den Gedanken. Sie schob die Tür auf und betrat den Wintergarten. Im Dämmerlicht erkannte sie den Tisch, die Kommode und die Rattanstühle. Sie ging durchs Wohnzimmer in den langen Korridor, der zu Gretas Arbeitszimmer führte. Der Lichtschein kam nicht aus diesem Raum, sondern fiel durch die offene Küchentür.

Evelyn trat ein. In der modernen und kühl eingerichteten Küche mit Stahldekor und einer Kochstelle mit monströser Dunstabzugshaube in der Mitte kauerte Sybil auf dem kalten Fliesenboden.

Das lange blonde Haar war ihr ins Gesicht gefallen. Sie hantierte am Ventil einer riesigen Gasflasche. Daneben lagen Drähte, einige Kerzen und eine Streichholzschachtel auf den Kacheln.

Evelyn trat näher. »Sybil?«, flüsterte sie.

Die junge Frau schreckte hoch. Mit einer Hand wischte sie sich die Haare aus der Stirn. Gleichzeitig riss sie jedoch die andere Hand hoch - aus ihrer Faust ragte der kurze Lauf eines Damenrevolvers.

»Nehmen Sie die Waffe runter, Sybil. Ich will Ihnen nichts tun.« Evelyn versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen, doch ihre Stimme zitterte, sodass sie die Worte nur mühsam herausbrachte.

Sie sah, dass der Hahn der Waffe gespannt war. Ein antiquierter Trommelrevolver. Die Mündung deutete geradewegs auf ihren Kopf.

»Sie sind zu früh gekommen.« Sybils Stimme klang kräftig und selbstbewusst. Und der norddeutsche Akzent - eine perfekte Imitation von Lisas Stimme. Mit den feinen, schmalen Gesichtszügen und den eindrucksvollen blauen Augen sah sie Lisa zum Verwechseln ähnlich.

Sybil deutete mit der Waffe zum Kühlschrank. »Setzen Sie sich dort an die Wand.«

»Ich bin nicht Greta Hockinson«, erklärte Evelyn, während sie zurückwich.

»Das weiß ich!«, fuhr Sybil dazwischen. »Ich kenne Greta.«

Evelyn stockte in der Bewegung. Sie konnte Greta nicht kennen, höchstens von Lisas Erzählungen oder von dem Einbruch vor zwei Monaten.

»Woher? Sie haben Greta nie gesehen!«, behauptete Evelyn.

Sybil kniff die Brauen zusammen. »Was wissen Sie schon? Sie ist bestimmt zehn Jahre älter als Sie und hat diese harten Gesichtszüge, die ich nie im Leben vergessen werde. Sie hat sich im Lauf der Jahre kein bisschen verändert.«

Im Lauf der Jahre? Evelyn runzelte die Stirn. Hatte sie sich verhört? Glaubte Sybil tatsächlich, was sie sagte? Oder simulierte sie bloß die Geisteskranke? Andererseits sprachen ihre Augen die Wahrheit. Evelyn kannte niemanden, der sich so perfekt verstellen konnte. Dazu musste sie schon eine verdammt gute Schauspielerin sein. »Sybil, woher kennen Sie Greta?«

Die junge Frau presste die Lider für einen Moment zusammen, als plagte sie eine heftige Migräneattacke. Dann riss sie die Augen wieder auf. Wahnsinn flackerte in den Pupillen. Ihre Hand sank kurz herunter, aber im nächsten Atemzug richtete sie die Waffe wieder auf Evelyn.

»Sybil?«, wiederholte die junge Frau zögernd. »Die hat keine Ahnung, was mir angetan wurde.«

»Aber Sie sind Sybil«, widersprach Evelyn. »Ihr Name ist Sybil Woska.«

»Ruhe!«, fauchte die Frau. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, als würde sie innere Kämpfe ausfechten.

»Erinnern Sie sich an Marty, den Zivildienstleistenden?«, fragte Evelyn. »Er arbeitet in Ochsenzoll in der Station 46. Er will sich das Rauchen abgewöhnen. Marty mochte Sie. Doch Sie brachen die Therapie ab und zogen in ein betreutes Wohnheim nach Kiel. Allerdings sind Sie von dort mit dem Inhalt der Küchenkasse ausgebüchst.«

»Nein! Nein! Nein!« Sybil presste die Faust mit dem Damenrevolver an die Stirn, als wollte sie die Worte aus ihrem Kopf vertreiben.

»Sybil.« Evelyn senkte die Stimme. »Sie sind zwei Jahre älter als Lisa … und in Wien aufgewachsen.« Sie versuchte zu lächeln. »Ich stamme ebenfalls aus Wien. Erinnern Sie sich an den Prater? An das Riesenrad und die Geisterbahn mit dem grünen Monster? An die Allee, die Kastanienbäume im Herbst, an die Au und die …?«

»Ruhe!« Sybil wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Evelyn machte einige Schritte auf sie zu und kniete sich vor ihr auf den Boden. »Sie sind auf der Straße aufgewachsen«, fuhr sie fort. »Ottakring, Meidling, Favoriten … sagen Ihnen diese Bezirke etwas?«

»Nein, ich …« Schließlich sank die Hand mit der Waffe auf die Fliesen. Der Revolver glitt ihr aus den Fingern.

In diesem Moment wirkte Sybil nicht länger wie eine gefährliche und geisteskranke Mörderin. Sie kauerte auf dem Boden, zog die Knie ans Kinn und starrte auf ihre Handgelenke. Unter dem Saum des Pullovers ragte eine schlecht verheilte Narbe hervor, bei deren Anblick Evelyns Herz zerspringen wollte.

»Sybil Woska …« Evelyn griff vorsichtig nach der Waffe, löste den Hahn und steckte sie in den Hosenbund. »Du bist dieses nette Mädchen aus Wien.«

Sybil sah kurz auf. Ihre Wangen waren vom Weinen gerötet. So sieht keine Mörderin aus, dachte Evelyn. Viel eher wirkte Sybil wie ein verwirrtes Mädchen auf der Suche nach ihrer Identität. Und wie es schien, war Lisa ihre einzige Bezugsperson im Leben.

»Hast du außer Lisa noch andere Freunde?«, fragte Evelyn.

Sybil weinte so heftig, dass sie die Wörter nur stoßweise herausbrachte. »Nein, ich …« Sie hob den Blick und sah Evelyn aus geschwollenen, rot geränderten Augen an. »Sind Sie Ärztin in der Klinik? Wie geht es Lisa?«

Evelyn stutze beim Klang von Sybils Stimme. Schlagartig war der norddeutsche Akzent verschwunden.

»Ich bin keine Ärztin«, antwortete Evelyn. »Aber ich kenne Lisa und habe mit ihr gesprochen. Es geht ihr gut. Sie spielt mit Rubiks Zauberwürfel.«

»Sie braucht nur eine Minute dafür.« Der Gedanke daran zauberte ein Lächeln auf Sybils Gesicht.

»Wann bist du ihr zum ersten Mal begegnet?«

»In der Klinik. Ich war schon länger dort. Dann kam sie dazu. Sie redete nie viel und wusste nicht, weshalb sie dort war. Jahre später, als ich siebzehn war, mussten wir uns ein Zimmer in der Station teilen. Eines Nachts sprach sie im Schlaf…«

Daher kannte Sybil also Lisas Geschichte. Doch reichte das aus, um völlig in die Identität einer anderen Person zu kippen und deren Rachepläne zu übernehmen? Evelyn erinnerte sich an Pulaskis Worte. Was immer hinter der Geschichte steckte, sie würde es irgendwann herausfinden. Doch zunächst war sie Anwältin und musste einen Mord verhindern. Langsam griff sie nach der Hand des Mädchens. »Das Töten muss ein Ende haben«, flüsterte sie.

»Die haben damit begonnen«, schluchzte sie.

»Aber dadurch bist du um nichts besser als sie.«

»Sie dürfen nicht weiterleben.«

»Ich verstehe, dass sie ihre gerechte Strafe erhalten sollen, aber dadurch hast du etwas viel Schrecklicheres ins Rollen gebracht.«

Sybil hob den Blick. »Was kann schrecklicher sein, als monatelang auf einem Schiff eingepfercht zu sein und nur zu einem einzigen Zweck aus der Kabine gezerrt zu werden?«

Evelyn zögerte einen Moment, doch um Sybil zu stoppen, musste das Mädchen die Wahrheit erfahren. »Bolten hat begonnen, die Opfer von damals der Reihe nach zu töten.«

»Ich hab das Schwein angezündet.«

»Ich weiß, ich habe es gesehen, aber das Morden muss jetzt aufhören. Lisa ist am Leben. Ein anderes Mädchen namens Lesja auch, doch drei Kinder mussten sterben - wie Lisas Bruder.«

»Und ich bin daran schuld?« Sybil kaute an den Fingernägeln. Plötzlich würgte sie. Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. »Was hab ich getan?« Ihr Oberkörper wippte vor und zurück.

Evelyn setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. Sie musste Sybil nicht an sich drücken - deren Kopf sank von allein auf ihre Brust. Sie spürte, wie sich der zitternde Körper an sie schmiegte. Sybil wirkte so kalt, als wäre sie halb erfroren. Plötzlich hatte Evelyn das Bedürfnis, sie zu streicheln und ihren Körper zu wärmen. Während sie dem Mädchen über Schulter und Rücken strich, umklammerten Sybils Arme ihre Taille. Dann schluchzte das Mädchen los, wie Evelyn noch nie jemanden schluchzen gehört hatte.

In diesem Moment fühlte sich Evelyn, als hielte sie ihre Schwester in den Armen. Was hätte sie nur für diesen Moment gegeben! Wenn sie ihre Schwester doch nur hätte retten können … und damit auch ihre Eltern.

Sie strich Sybil durchs Haar. »Es wird alles gut, das verspreche ich dir. Ich bleibe an deiner Seite.«

Sybil versuchte, den Kopf zu schütteln.

»Lass mich dir helfen …« Plötzlich verstummte Evelyn.

Ein Geräusch im Haus!

Sie fuhr hoch und lauschte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ein Schlüsselbund klimperte in der Tür. Dann erfüllten Schritte die Villa.

»Alfons?«

Beim Klang der Stimme, die durch den Vorraum hallte, versteifte sich Sybils Körper. Greta Hockinson hatte das Haus betreten.

 

63

 

»Keinen Laut!«, flüsterte Evelyn. Sie sprang auf, lief auf Zehenspitzen zur Küchentür und legte den Lichtschalter um.

Schlagartig wurde es finster. Hinter dem Küchenfenster wiegten sich die Zweige im Wind. Dahinter schien der Mond.

Evelyn versuchte, sich zu erinnern. Von der Grundstücksauffahrt und dem Hauseingang war unmöglich zu erkennen, ob in der Küche Licht brannte oder nicht. Mit etwas Glück hatte Greta nichts bemerkt.

Erst jetzt ging im Korridor die Deckenbeleuchtung an. Reflexartig schob Evelyn die Tür zu. Durch den schmalen Spalt hörte sie, wie jemand in den Gang trat.

»Alfons? Deine Wagentür steht offen.«

Evelyn wartete. Sybil saß zusammengekauert in der Ecke und gab nur leise Atemgeräusche von sich. Hoffentlich hielt sie den Mund.

»Alfons?« Diesmal klang Gretas Stimme näher - mit einem skeptischen Unterton.

Evelyn hörte, wie sich die Tür zu Gretas Arbeitszimmer öffnete. Das Klicken des Lichtschalters folgte.

Sie spähte durch den Türspalt zum Ende des Gangs, sah aber nur einen Schatten an der Bücherwand des Arbeitszimmers. Kurz darauf erklang ein weiteres metallenes Klicken … wie das Öffnen einer Glasvitrine.

Evelyn erstarrte, als sie daran dachte, was sich in der Vitrine befand. Sie hörte, wie eine Schachtel geöffnet wurde und danach eine Sehne knarrte. Vielleicht bildete sie sich das Geräusch nur ein, aber im Geiste stellte sie sich vor, wie Greta ihre Sportarmbrust spannte und einen Bolzen auf die Schiene legte.

Evelyn ließ die Küchentür einen Spaltbreit offen und schlich in der Dunkelheit an den Platz zurück, wo Sybil saß. Dabei stieß sie die Gasflasche mit dem Fuß um.

»Scheiße!«, zischte sie. Rechtzeitig fing sie die Flasche am Ventil auf, bevor sie scheppernd zu Boden fallen konnte.

Ihr Puls beschleunigte sich. Sie lauschte. Nichts.

Greta hatte aufgegeben, nach Alfons zu rufen. Mittlerweile musste sie begriffen haben, dass etwas nicht stimmte.

Evelyn stellte die Flasche vorsichtig hin und tastete nach Sybils Beinen. Endlich fand sie das Mädchen und hockte sich neben sie hin.

»Sybil, wir müssen von hier weg«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Steh auf, wir schleichen zur Terrassentür raus.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Evelyn griff nach ihrer Hand und spürte, wie sich Sybils Finger verkrampften. Sie versuchte, die Starre zu lösen, doch Sybil verwandelte sich mehr und mehr in einen Felsblock.

»Wir müssen raus!«

»Ich kann nicht.«

Wenn Sybil nicht mithalf, würde sie sie unmöglich hochbekommen.

Draußen kamen Schritte an der Küchentür vorbei. Evelyn erstarrte. Falls Greta jetzt die Tür aufstieß und das Licht anmachte, waren sie erledigt. Evelyn legte Sybil die Hand auf den Mund, um ihr Wimmern zu ersticken. Sie spürte Sybils Atem auf ihrer Handfläche.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Da die Haustür abgesperrt gewesen war, konnte sie nur hoffen, dass Greta darauf verzichten würde, alle Räume zu durchsuchen.

Sie hörte, wie Greta in der Schublade einer Kommode kramte und das Fach anschließend zuschob. Danach entfernten sich die Schritte wieder. Im Vorraum blieb das Licht brennen. Kurz darauf sperrte Greta die Eingangstür ab. War sie draußen oder im Haus? Evelyn lauschte, doch es war nichts zu hören.

Langsam nahm sie die Hand von Sybils Mund.

»Hier können wir nicht bleiben«, flüsterte sie.

Sybil schüttelte ruckartig den Kopf. Sie war ebenso paralysiert wie Evelyn vor einer Stunde, als ihr Kopf im Jutesack gesteckt hatte.

Verzweifelt dachte sie nach. Sie konnte das Mädchen nicht allein im Haus zurücklassen. Denk nach, hämmerte sie sich ein. In der kurzen Zeit hatte sie nicht herausfinden können, weshalb Sybil Lisas Identität angenommen hatte. Der Grund dafür lag tief verborgen in ihrer Seele.

Doch das Warum war im Moment auch unwichtig.

»Was würde Lisa an deiner Stelle tun?«, wisperte Evelyn in Sybils Ohr.

»Lisa?«

»Ja, denk an Lisa. Sie würde aufstehen und mir folgen. Sie würde mit mir gemeinsam das Haus verlassen, nicht wahr?«

Evelyn spürte, wie sich Sybils Muskeln unter dem Pullover entspannten. Sie packte das Mädchen unter den Achseln und hob es hoch. Bereitwillig folgte Sybil der Bewegung.

»Geh mir nach«, wisperte Evelyn. Sie nahm Sybil an der Hand und zog sie hinter sich her. Die Finger der jungen Frau waren eiskalt. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an Evelyns Hand.

Als sie die Tür erreichten, spähte Evelyn durch den Spalt in den leeren Gang. Möglicherweise hielt sich Greta irgendwo versteckt und wartete nur darauf, dass sie die Küche verließen, um ihnen einen Bolzen in den Rücken zu jagen. Vielleicht glaubte sie sogar, mit der Erklärung durchzukommen, zwei Einbrecher auf frischer Tat ertappt zu haben.

Evelyn hielt den Atem an und lauschte. Schließlich hörte sie das Schlagen einer Autotür auf dem Vorplatz.

»Jetzt!« Sie schob die Tür auf und zog Sybil hinter sich her. So schnell wie möglich liefen sie durchs Wohnzimmer in den Wintergarten. Der Mond hatte sich hinter einer Wolke verkrochen. Aber durch die Scheiben der Terrasse schien das Licht des Leuchtturms. Im nächsten Moment war es verschwunden, tauchte aber nach wenigen Sekunden wieder auf.

Evelyn tastete sich zur Tür, deren Scheibe Sybil eingeschlagen hatte. Als sie ins Freie trat, spürte sie den kühlen Nachtwind und den salzigen Geschmack der Meeresluft. Sybils Finger glitten durch Evelyns Hand. Das Mädchen stand immer noch im Türrahmen, als hinderte eine unsichtbare Macht sie, das Haus zu verlassen.

»Komm!«, drängte Evelyn.

Sybil rührte sich nicht vom Fleck.

»Greta darf uns hier nicht finden«, flüsterte Evelyn.

Sybil erstarrte. »Sie wird uns töten«, presste sie hervor.

Wo war das selbstbewusste Mädchen von vorhin? In diesem Moment wäre Lisas Identität hilfreicher gewesen.

»Denk an Lisa!«, schärfte Evelyn ihr erneut ein.

»Aber ich bin nicht Lisa! Am liebsten wäre ich unsichtbar …«

»Wir müssen nur über die Terrasse in den Garten und ums Haus laufen. Vor dem Eingang parkt mein Wagen. Wir springen rein und fahren los.«

»Das schaffen wir nicht.«

»Und ob wir das schaffen!« Evelyn griff nach Sybils Hand und zog sie zu sich ins Freie. »Vertrau mir. Du musst dicht hinter mir bleiben.«

Sybil zitterte am ganzen Leib. Evelyn umarmte sie und drückte sie fest an sich. »Wir schaffen es! Komm!«

Sie lief über die Steinstufen zur Wiese und schlich an der Hausmauer entlang zur Vorderseite des Grundstücks. Sybil folgte ihr. An der Ecke stoppte Evelyn. Sie spürte Sybil hinter sich. Vorsichtig spähte sie um die Mauer. Wenige Meter vor ihr stand Greta Hockinson mit dem Rücken zu ihnen auf der Treppe, die zum Haupteingang führte. Sie trug ein enges schwarzes Lederdress und schwere Motorradstiefel. Ihre Mähne war zu einem Zopf geflochten. Vor dem Haus parkten Boltens Mercedes und Evelyns Leihwagen. Dahinter stand ein metallicschwarzes Motorrad quer in der Auffahrt. Ein Vollvisierhelm hing am Lenker.

Im Schein der Türbeleuchtung sah Evelyn, dass Greta tatsächlich die Armbrust in der Hand hielt, wobei sie den Kolben in die Hüfte stemmte. Sie hatte sogar ein Zielfernrohr aufgesteckt und trug fingerfreie Lederhandschuhe und einen Schutz am Handgelenk. Als sich Greta ein wenig zur Seite drehte, bemerkte Evelyn spitze Bolzen, die aus ihrer Brusttasche ragten.

Evelyn rechnete damit, dass Greta sich jeden Moment umdrehen konnte. Was sollte sie tun? Solange Greta den Weg zum Auto versperrte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als hier stehen zu bleiben und abzuwarten. Da Bolten ihr Handy zerstört hatte, konnte sie nicht einmal Hilfe holen.

Sybil drängelte hinter ihr. Evelyn griff nach ihr und bekam ihre Hand zu fassen, während sie weiter nach vorne spähte. In diesem Moment zog Greta eine Fernbedienung aus der Tasche und betätigte eine Taste. Plötzlich flackerten die zahlreichen Lampen einer Flutlichtanlage rund ums Haus auf. Es wurde taghell.

Evelyns Kopf zuckte wie im Reflex zurück. Einen Moment lang tanzten Lichtkreise vor ihren Augen. Neben ihr begann Sybil zu wimmern. Evelyn drehte sich zur Seite und legte ihr die Hand auf den Mund.

»Leise!«, zischte sie ihr ins Ohr.

Dann drängte sie das Mädchen an der Hausmauer zurück zu einer dichten Heckenreihe, die von der Villa weg quer durchs Grundstück verlief. Perfekt! Solange Greta in der Auffahrt stand, konnten sie sich hinter den Sträuchern verstecken.

»Komm!« Evelyn ging in die Hocke und kroch im Schatten der Hecken über die Wiese. Das Gras war feucht, und Erde blieb an ihren Händen kleben. Schon bald spürte sie die Feuchtigkeit durch die Jeans.

Sybil folgte ihr.

In einigen Metern Entfernung vom Haus blieben sie hinter den Hecken liegen. Das Gesicht dicht am Boden, spähte Evelyn zwischen den Stämmen und Wurzeln zur Auffahrt. Greta ging zu Boltens Mercedes, zog den Zündschlüssel ab, schlug die Autotür zu und sperrte ab.

»Ich nehme an, der Audi gehört Ihnen, Frau Meyers?«, rief sie in den Garten. Langsam marschierte sie um den Sixt-Leihwagen und warf einen Blick auf das Kennzeichen. »Sie hätten nach Hamburg zurückfahren sollen, wie Sie es gesagt haben, dann würden wir uns das jetzt ersparen.«

Evelyns Atem beschleunigte sich. Zum Glück hatte sie den Autoschlüssel abgezogen und in die Tasche ihrer Jeans gesteckt.

Greta beugte sich zum Fenster der Fahrerseite und blickte ins Wageninnere. Sie zog an der Tür. Abgeschlossen. Dann ging sie einige Schritte zurück und hob die Armbrust.

Evelyn robbte näher an die Hecken, um mehr zu sehen. Greta war doch sicher nicht so verrückt, die Scheibe einzuschießen? Im nächsten Augenblick hörte sie das Klicken des Abzugs.

Der Bolzen schoss los. Kurz darauf drang das Zischen des Autoreifens über die Wiese zu ihrem Versteck herüber.

»Miststück!«, entfuhr es Evelyn.

Neben ihr begann Sybil zu wimmern. Evelyn griff nach ihrer Hand. »Keine Sorge, wir kommen heil hier raus«, flüsterte sie.

Währenddessen war Greta zur Rückseite des Wagens gegangen und hatte einen neuen Bolzen in die Vorrichtung eingelegt. Sie spannte die Armbrust und schoss einen zweiten Reifen platt. Die Luft zischte heraus, und der Wagen sackte zur Seite.

Evelyn beobachtete, wie Greta erneut auf die Fernbedienung drückte, worauf sich die beiden Seiten des automatischen Gartentors schlossen. Anschließend zog sie ein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

Eine Weile lang passierte nichts. Greta ging mit dem Handy am Ohr um den Wagen herum und spähte in den Garten, als ahnte sie, dass sich Evelyn in der Nähe versteckte.

»Hallo?«, sagte sie endlich. »Hier spricht Greta Hockinson. Ein oder mehrere Einbrecher sind in mein Haus eingedrungen.«

Sie nannte ihre Adresse. »Ich fürchte, sie befinden sich noch auf dem Grundstück.«

Evelyn stockte der Atem. War diese Frau verrückt? Weshalb verständigte sie die Polizei? Das konnte nur bedeuten, dass sie Evelyn und Sybil töten musste, bevor die Beamten eintreffen würden.

»Ja, schicken Sie bitte so schnell wie möglich einen Streifenwagen her.« Greta unterbrach die Verbindung und steckte das Handy weg.

Sie verließ den Platz vor dem Haupteingang und ging mit großen Schritten in den Garten.

»Frau Meyers!«, rief sie, während sie die Armbrust an die Schulter legte. »Bringen wir es zu Ende!«

 

64

 

Im Flutlicht warf Greta Hockinsons Körper einen langen Schatten über den Rasen. Sie ging direkt auf den Holzpavillon zu. Was hatte sie vor? Sobald sie an der Laube vorbei war, würde sie nicht einmal zehn Sekunden benötigen, bis sie die Heckenreihe erreichte, hinter der Evelyn und Sybil lagen.

Evelyn blickte zu ihrem Wagen. Für einen Moment dachte sie daran, mit Sybil zur Auffahrt zu laufen und sich im Auto zu verstecken. Mit zwei Platten wäre eine Flucht zwar möglich, doch würde sie mit dem Audi unmöglich das geschlossene Gartentor durchbrechen können. Für diesen Wagen war das Eisengitter zu massiv. Außerdem stand Gretas Motorrad im Weg.

Während sich Sybils Finger in Evelyns Pullover verkrallten, hielt Evelyn nach Greta Ausschau. Die Hausherrin näherte sich der Gartenlaube und der Heckenreihe. Hastig sah Evelyn sich um. Sie konnten ins Haus zurücklaufen - es sei denn …

Greta marschierte direkt auf den Pavillon zu. Offensichtlich vermutete sie sie in der Laube. Dachte sie tatsächlich, Evelyn wäre so dumm, sich in der kleinen Hütte zu verstecken, die keinerlei Fluchtmöglichkeit bot?

Die Holztür war einen Spaltbreit offen. Daneben standen die Werkzeugkiste und einige Kabeltrommeln. Mit der Armbrust im Anschlag schob Greta den Stiefel in den Spalt und stieß die Tür auf. Flink visierte sie jeden Winkel in der Hütte an.

Evelyns Herz raste. Der Schlüssel steckte im Schloss. Wenn sie Glück hatten, sperrte Greta die Tür der Gartenlaube nicht ab und ließ den Schlüssel stecken.

Greta unterdrückte einen Fluch. Zornig trat sie die Tür zu, machte kehrt und ging zum Seerosenteich. Während sie sich von Evelyns Versteck entfernte, lag deren Blick noch auf dem Pavillon.

»Komm mit«, wisperte Evelyn. Sie erhob sich und lief gebückt an den Hecken entlang. Als sie sich kurz umwandte, sah sie, dass Sybil ihr folgte. Gras und nasse Erde klebten auf ihrer Hose und dem Pullover.

Am Ende der Heckenreihe stoppten sie. Von dieser Stelle bis zum Pavillon waren es nur wenige Meter über die freie Wiese. Sie mussten den richtigen Zeitpunkt abwarten - wenn Greta hinter einem Baum verschwunden war -, um dann rasch loszulaufen.

»Evelyn?«, rief Greta. »Ich weiß, dass Sie hier sind.« Gar nichts weißt du, dachte Evelyn.

Mit der Armbrust im Anschlag ging die Hausherrin am Ufer des Seerosenteichs entlang. Gleich würde sie hinter dem Schilf und einigen Tannen verschwinden.

Evelyn wartete angespannt.

»Jetzt!« Sie lief los und zog Sybil hinter sich her. Nach wenigen Schritten erreichten sie die Seitenwand der Gartenlaube und pressten sich an die Bretter. Es roch nach Harz und Teerpappe. Die Regenrinne führte in ein volles Wasserfass, in dem einige Tannennadeln trieben.

Evelyn warf einen kurzen Blick zu Sybil. Ihr Gesichtsausdruck wurde von einer quälenden Ungewissheit überschattet. Einmal mehr fragte sie sich, wie diese junge Frau so viele Männer hatte ermorden können. In dieser Verfassung - zitternd und kurz vor einer Ohnmacht - wäre sie nicht einmal imstande, das Tor zu erreichen, ohne vorher zusammenzubrechen. Evelyn nahm ihre Hand und zog sie weiter, an der Bretterwand entlang. Greta musste bereits den Seerosenteich umrundet haben und war jetzt bestimmt auf dem Weg zur Terrasse.

Vorsichtig spähte Evelyn um die Ecke. Von Greta nichts zu sehen. Sie griff nach der Klinke. Hoffentlich quietschte das verdammte Ding nicht. Vorsichtig zog sie die Tür einen Spaltbreit auf. Beinahe hätte sie eine der Kabeltrommeln umgestoßen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie stieg über die Trommel, öffnete die Tür und schlüpfte ins Dunkel.

»Schnell«, wisperte sie.

Sybil folgte ihr.

Evelyn schob die Tür zu, riskierte aber nicht, das Schloss einschnappen zu lassen, sondern lehnte die Tür nur an. Der Schein der Flutlichtanlage fiel durch die verschmierte Fensterscheibe. Die Laube war vollgestellt mit Fahrrädern, Farbeimern, Gartenrechen, einem Rasenmäher, Düngersäcken, Campingstühlen, Sitzauflagen, Tischtüchern und Wandtellern, die an der Bretterwand hingen. Hier waren sie vorerst sicher.

Es roch muffig. Nirgends gab es Platz, um sich hinzusetzen. Die Hütte war so vollgestopft, dass sie sich nicht einmal in eine Ecke auf den Boden kauern konnten.

Sybils Kopf sank an Evelyns Brust. Ihr Körper bebte. Evelyn nahm sie in die Arme und presste sie an sich. Nur noch wenige Minuten, dachte sie. Dann würde die Polizei auf dem Grundstück erscheinen, um nach den vermeintlichen Einbrechern zu suchen. Wie gern würde Evelyn sich den Beamten stellen, um wegen Ruhestörung oder Hausfriedensbruchs festgenommen zu werden …

Sie spähte durch die schmutzige Scheibe. Greta war nirgends zu sehen. Außerdem hatte sie aufgehört, nach Evelyn zu rufen.

In diesem Moment begann Sybil laut zu schluchzen.

»Still«, zischte Evelyn, doch Sybil konnte sich nicht beruhigen.

Evelyn strich ihr übers Haar und drückte sie an sich. »Wir haben es gleich geschafft.«

Wieder spähte sie durchs Fenster. Mittlerweile stand Greta vor der Terrasse. Hoffentlich bemerkte sie die eingeschlagene Scheibe in der Tür des Wintergartens und betrat das Haus. Evelyn schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Und tatsächlich ging Greta die Steintreppe zur Terrasse hinauf und betrachtete das kaputte Glas. Dann verschwand sie ins Haus. Evelyn stieß die angehaltene Luft aus. Bis Greta sämtliche Räume der Villa nach Einbrechern durchsucht hatte, würde einige Zeit vergehen.

»Wir haben es bald überstanden«, flüsterte Evelyn.

Jetzt war eine günstige Gelegenheit, um abzuhauen. Doch wohin, ohne Auto? Sollte sie mit Sybil im Schlepptau über das verschlossene Gartentor klettern? Auch wenn die Sekunden nur zäh vergingen, war es besser, in der Gartenlaube auf die Polizei zu warten. Andernfalls würde Greta den Beamten eine haarsträubende Geschichte auftischen.

Offensichtlich spürte das Mädchen Evelyns Unruhe, da sie wieder laut zu schluchzen begann.

»Beruhige dich, Greta ist ins Haus gegangen …« Mist! Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen - als Sybil Gretas Namen hörte, bekam sie erneut einen Weinkrampf.

Evelyn starrte durchs Fenster. Im Haus gingen einige Lichter an.

Sybil weinte sich die Seele aus dem Leib.

»Was hat man dir nur angetan?«, flüsterte Evelyn, als sie die vielen Tränen und das erbärmliche Heben und Senken des Brustkorbs spürte.

»Die Friedberg.« Die Tränen liefen Sybil übers Kinn.

»Du warst nie auf der Friedberg«, erwiderte Evelyn. Glaubte Sybil das immer noch? »Du kennst dieses Schiff nur aus Lisas Erzählungen.«

Sybil schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich war vor Lisa auf dem Schiff. Es ist zwölf Jahre her …«

Evelyn rieselte ein Schauer über den Rücken. Während Sybil weitersprach, erkannte sie endlich die schreckliche Wahrheit.

 

65

 

»Sie setzten mich an der französischen Küste aus«, schluchzte Sybil.

Evelyns Gedanken rotierten. Was hatte Pulaski noch gemurmelt, als sie mit ihm in der Cafeteria der Klinik gesprochen hatte? In Frankreich und Griechenland waren ebenfalls Kinder in Küstennähe ausgesetzt worden!

Von Smolle wusste sie, dass Hockinsons neuntägige Kreuzfahrten durchgehend von Mai bis August stattgefunden hatten. Doch nun begriff sie, dass die Schiffsreisen nicht nur 1998, sondern jedes Jahr veranstaltet worden waren. Stets auf einer anderen Route. An der Adria, Riviera, Ägäis oder an der Cote d’Azur. Wie lange schon?

Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Wäre Manuel damals nicht gestorben, hätten die Fahrten vermutlich noch weitere Jahre angedauert. Wie viele Kinder waren während dieser Jahre an Bord gewesen?

»Worüber hat Lisa in deinem Zimmer im Schlaf gesprochen?«, fragte sie. »Hat sie von dem Schiff erzählt?«

Sybil schüttelte den Kopf. »Sie hat nur einen Namen erwähnt… Paul Smolle. Da erinnerte ich mich an das Schiff. Smolle war der einzige Name, den ich hinter der verschlossenen Kabinentür je gehört hatte. Er brachte mir Essen, Seife und Kleider.« Sybil verkrampfte sich, dann hustete und würgte sie. »In diesem Moment wusste ich, was mit Lisa geschehen war.«

»Hast du je mit ihr darüber gesprochen?«

»Anfangs nicht. Aber nachdem wir Freundinnen geworden waren, habe ich ihr meine Geschichte erzählt. Eines Tages sprach sie von Manuel. Er starb an Bord …«

»Ich weiß, Smolle hat mir davon erzählt. Ich war bei ihm, so wie du. Sybil, warum hast du das alles getan?«

Sybil nahm die Hand hoch und kaute wieder an den Fingernägeln. »Lisa ist meine einzige Freundin, aber sie haben sie zerstört. Ich musste sie retten, musste das für sie tun. Sie hat sonst niemanden.«

»Hat sie dich darum gebeten?«, fragte Evelyn, obwohl sie ahnte, dass Lisa keine Ahnung hatte, was in den letzten beiden Monaten außerhalb der Anstalt passiert war.

»Lisa hätte es selbst getan, doch die würden sie nie unbeaufsichtigt aus der Anstalt lassen.« Sybil stopfte die Fingerkuppen in den Mund, als wollte sie den Fluss der Tränen stoppen. »Ach, hätte ich doch nur ihren Zorn und ihren eisernen Willen.«

»Deshalb hast du mit einundzwanzig Jahren die Therapie abgebrochen und bist ins Wohnheim übersiedelt?«

»Ich musste Smolle finden«, presste Sybil hervor. »Er war der Einzige, der uns helfen konnte.«

Uns? Augenscheinlich tat sie es für Lisa, aber nur, um vom wahren Grund abzulenken. Doch mittlerweile wurde Evelyn klar, dass Sybil in Wahrheit gar nicht ihrer Freundin helfen wollte. Evelyn konnte es sich nur so erklären, dass Sybils Psyche jahrelang nach einem Weg gesucht hatte, ihre eigene verdrängte Vergangenheit zu bewältigen - und ihn schließlich gefunden hatte. Es klang verrückt, aber vermutlich musste Sybil in Lisas Rolle schlüpfen und sich deren Aggression aneignen, um das zu tun, was sie allein nie zustande gebracht hätte: sich an den Männern zu rächen und den eigenen Schmerz in Wut zu verwandeln. Offenbar hatte sie auf diese Weise versucht, sich selbst zu heilen.

Sybil begann wieder zu schluchzen.

Erst jetzt fiel Evelyn auf, dass sie völlig vergessen hatte, die Terrassentür im Auge zu behalten. Was, wenn Greta die Villa in der Zwischenzeit verlassen hatte und wieder durch den Garten schlich?

»Leise!«, flüsterte Evelyn.

Sie spähte durchs Fenster. Der Rasen wurde nach wie vor in gleißendes Flutlicht getaucht - doch von Greta fehlte jede Spur. Kein Schatten hinter den Fenstern der Villa. Wann tauchte die Polizei endlich auf? Sie standen bestimmt schon zehn Minuten in der Hütte.

Da hörte sie ein Geräusch vor dem Schuppen. Augenblicklich versteifte sie sich. Im nächsten Moment wurde die Tür der Gartenlaube einen Spaltbreit geöffnet.

 

66

 

Ein Lichtstrahl fiel ins Innere. Evelyn hielt den Atem an. Unwillkürlich nahm sie Sybil in die Arme und presste sie fester an sich. Das Mädchen zitterte unaufhörlich und wollte sich überhaupt nicht mehr beruhigen.

Im düsteren Licht des Raums sah Evelyn, wie sich die Klinke bewegte. Die Tür schwang auf, und Greta stand im Eingang, die Armbrust im Anschlag. Der Bolzen zeigte genau auf Evelyns Kopf.

Greta wollte bereits den Auslöser betätigen, als sie zurückzuckte. Verwirrt starrte sie auf Sybil. Offensichtlich hatte sie damit gerechnet, Evelyn allein vorzufinden.

»Ich werde verrückt«, murmelte Greta. Fasziniert starrte sie auf Sybils langes blondes Haar. »Gratuliere. Sie haben die Frau auf dem Phantombild tatsächlich gefunden … und auch noch hergebracht. Hinter welchem Stein hatte die Kleine sich verkrochen?« Greta neigte den Kopf, um zwischen Sybils Haaren einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. »Wie hat es diese kleine Schlampe nur geschafft, meinen Vater mit einem Seidenschal zu erwürgen?«

Beim Klang von Gretas Stimme begann Sybil wie bei einem epileptischen Anfall zu zucken. Evelyn hatte Mühe, sie ruhig zu halten. Noch dazu war der Bolzen immer noch auf ihren Kopf gerichtet.

»Sie kommen mit Ihrer Einbrechergeschichte niemals durch«, presste Evelyn hervor. Ihr Gaumen war trocken.

»Welche Einbrechergeschichte?« Gretas Stimme strotzte vor Hohn. »Herzchen, Sie dachten doch nicht wirklich, ich würde die Bullen rufen?«

Evelyns Herzschlag setzte für einen Moment aus. Aber sie hatte die Frau doch telefonieren hören!

»Wen, glauben Sie, habe ich angerufen?« Greta kostete den Augenblick der Macht genüsslich aus.

Da dämmerte es Evelyn. Sie war so dumm gewesen. »Alfons Bolten«, krächzte sie.

»Kluges Kind. Sein Wagen steht in meiner Einfahrt, und von ihm fehlt jede Spur.« Sie betrachtete Sybil. »Ich wusste gar nicht, dass die Kleine Auto fahren kann.«

Sie machte einen Schritt zurück und sah sich kurz um. »Er ist nicht ans Telefon gegangen. Was haben Sie mit ihm gemacht?«

Evelyn schluckte. Bestimmt war es keine gute Idee, Greta die Wahrheit zu erzählen. Wie hatte Bolten es formuliert, als er mit ihrem Handy den Anruf der Kripo Flensburg entgegengenommen hatte?

»Er ist gerade unpässlich«, erwiderte sie.

»Unpässlich? Was haben Sie mit ihm gemacht?«, brüllte Greta. Im gleichen Atemzug senkte sie die Armbrust und zielte damit auf Evelyns Oberschenkel. Der Finger krümmte sich um den Abzug.

»Er ist unpässlich!«, presste sie hervor. Wie tief würde ein solcher Bolzen wohl in Fleisch dringen?

Da ertönte in der Ferne das Signalhorn eines Einsatzfahrzeugs. Greta legte den Kopf schief, um zu lauschen. Evelyn hielt den Atem an. Das Fahrzeug näherte sich. Aber es war nicht die Tonfolge der Polizei. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Wer verdammt war das?

Der Ton wurde lauter. Evelyn blinzelte. Hinter Greta sah sie, wie das Licht einer blauen Einsatzlampe von den Tannenwipfeln reflektiert wurde. Sie hörte das Quietschen von Reifen. Im nächsten Moment ließ sie ein metallenes Krachen zusammenzucken.

Als Greta herumführ, tat Evelyn einen Schritt in Richtung Türrahmen, um mehr zu sehen.

Die beiden Flügel des Gartentors wurden in der Mitte auseinandergerissen und flogen knirschend auf. Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene donnerte durch die Einfahrt den Schotterweg hinauf.

Kurz bevor das Fahrzeug das abgestellte Motorrad rammte, quietschten die Bremsen. Das Hinterteil schlitterte nach vorne, und die Reifen gruben sich in den Schotter. Kaum stand der Wagen, flog auch schon die Fahrertür auf. Ein Mann rutschte vom Sitz. Walter Pulaski! Er stolperte und fiel beinahe auf den Boden. Mühsam rappelte er sich auf und zog sich am Seitenspiegel der Tür hoch.

»Hier drüben!«, rief Evelyn.

Sie sah, wie Pulaski zu ihr herüberblickte und die Dienstwaffe aus dem Holster zog.

Im gleichen Moment legte Greta den Schaft der Armbrust wie ein Gewehr an die Schulter. Während sie auf Pulaski zuging, visierte sie ihn an.

»Vorsicht!«, kreischte Evelyn, doch Greta hatte bereits den Abzug betätigt.

 

67

 

Der Bolzen zischte über die Wiese und traf Pulaski in die Schulter. Die Wucht schleuderte ihn gegen die Motorhaube des Krankenwagens, und der Aufprall riss ihm die Waffe aus der Hand. Die Pistole schlitterte unter den Wagen.

Evelyn war wie gelähmt. Ihr Atem stand still. Die nächsten Sekunden kamen ihr wie in Zeitlupe vor. Während Pulaski mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht zu Boden glitt, zog Greta einen neuen Bolzen aus der Brusttasche der Lederjacke und legte ihn in die Armbrust.

Breitbeinig stand sie vor Pulaski, spannte den Bogen und legte auf ihn an. »Sagen Sie mir, wer Sie sind. Sie haben zwei Sekunden!«

Pulaski drückte die Hand auf die Wunde. »Sie sind verhaftet«, presste er hervor.

»Dass ich nicht lache! Wer zum Teufel sind Sie?«

Sybil regte sich in Evelyns Umklammerung. »Die Waffe«, flüsterte sie.

Welche Waffe?

Sybils Finger lösten sich aus der Umarmung. Zittrig tastete sie nach Evelyns Hosenbund.

Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Der Damenrevolver! Sie zog die Kleinkaliberwaffe, die sie Sybil im Haus abgenommen hatte, aus dem Hosenbund und spannte den Hahn.

»Der Lauf zieht nach links«, flüsterte Sybil.

»Danke.« Evelyn hatte die Gartenlaube bereits verlassen und lief über die Wiese.

»Zum letzten Mal. Wer - sind - Sie?«, brüllte Greta.

»Kriminalpolizei Leipzig.«

»Scheiße!«, zischte Greta. Sie richtete den Bolzen auf Pulaskis Brust. Es sah aus, als würde sie die Nerven verlieren und abdrücken.

»Waffe fallen lassen!«, rief Evelyn.

Wenige Meter vor Greta blieb sie stehen, streckte die Arme von sich, wie Pulaski es ihr erklärt hatte, und umklammerte den Revolver mit beiden Armen. Kimme und Korn sollten eine Oberkante bilden, schärfte sie sich ein, aber ihre Hände zitterten so, dass sie Mühe hatte, Greta anzuvisieren.

Greta fuhr herum.

Evelyn atmete aus, schloss für einen Moment die Augen und drückte ab. Der Knall ließ sie zusammenfahren.

Sie sah, wie Greta einen Schritt zurückstolperte. Der Bolzen löste sich aus der Armbrust und fuhr durch die Seiten- und Windschutzscheibe des Krankenwagens. Die Scherben prasselten auf Pulaski herab.

»Spannen Sie den Hahn!«, rief Pulaski.

Verwirrt blickte Evelyn auf die Waffe. Der Abzug ließ sich nicht betätigen. Sie spannte den Hahn, sodass sich die Trommel bewegte. Dann legte sie erneut auf Greta an. Für einen kleinen Revolver hatte das Ding einen heftigen Rückstoß.

Greta lehnte keuchend am Wagen. Perplex starrte sie auf die Waffe. Sie betastete eine Stelle unter ihren Rippen und verzog das Gesicht. Ihre Finger waren blutig.

Evelyn ging auf sie zu. »Legen Sie die Armbrust weg!«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Pulaski seine Waffe unter dem Wagen hervorzog. Er hielt sie in der linken Hand, da der Bolzen in seiner rechten Schulter steckte. Evelyn bemerkte die durchtrennte Kette der Handschellen, die an seinen Handgelenken hingen.

»Ich laufe ins Haus und rufe den Notarzt«, sagte sie und merkte im gleichen Moment, wie absurd das klang, angesichts des Krankenwagens vor ihren Augen.

»Nicht nötig.« Er rappelte sich auf. »Ich habe die Sache unter Kontrolle, danke. Polizei und Sanitäter müssten jeden Augenblick hier eintreffen.« Er deutete zur Gartenlaube. »Kümmern Sie sich um Ihre Freundin.«

Evelyn sah zum Pavillon hinüber. Sybil kauerte im Türrahmen. »Ich hoffe, Sie werden nicht ohnmächtig.«

»Keine Sorge«, erwiderte Pulaski, »im Moment habe ich so viel Adrenalin im Blut, dass ich einen Marathon laufen könnte.« Er trat zu Greta. »Auf die Knie. Hände über den Kopf, Gesicht zu Boden. Sie sind verhaftet…«

Während Pulaski seinen Spruch aufsagte, lief Evelyn zum Pavillon.

Als sie näher kam, streckte Sybil ihr bereits zögerlich die Hände entgegen. Sie wollte umarmt werden.

So sehr Evelyn sich bis zu diesem Moment auch zusammengerissen hatte, jetzt liefen ihr zum ersten Mal selbst die Tränen übers Gesicht.

 

68

 

Eine Viertelstunde später standen zwei weitere Krankenwagen und eine Menge Polizeieinsatzfahrzeuge in der Auffahrt zur Hockinson-Villa.

Die Beamten sperrten das Grundstück ab. Einige durchsuchten das Haus von oben bis unten, andere patrouillierten mit Hunden durch den Garten. Greta war von einer Sondereinheit der Kripo verhaftet und abtransportiert worden.

Evelyn bahnte sich einen Weg zu dem Krankenwagen, in dem Pulaski lag.

Die Hecktür stand offen. Pulaski hing an mehreren Infusionsflaschen. Die Sanitäter hatten sein Hemd aufgeschnitten und die Blutung mit einem Druckverband gestillt. Er roch nach Antiseptika und sah schrecklich aus. Der Bolzen ragte immer noch aus seiner Schulter.

Evelyn kletterte in den Wagen und setzte sich neben ihn. »Wie geht es ihm?«, fragte sie den Arzt.

»Prächtig«, antwortete Pulaski, bevor der Sanitäter etwas sagen konnte. »Die haben mir ein Mittel gespritzt, das ziemlich high macht.« Er versuchte zu lächeln, verzog aber schmerzvoll das Gesicht.

»Nicht bewegen!«, ermahnte ihn der Arzt.

»Vielleicht komme ich nach Bremerhaven ins Krankenhaus«, murmelte Pulaski. »Dort kenne ich einen Chirurgen … Doktor Vobelski… zu dem habe ich Vertrauen. Die haben kürzlich auf ein neues Computersystem umgestellt, aber der Mann kann operieren, sag ich Ihnen. Er war früher auf der Intensivstation, aber mittlerweile ist er Chefarzt der Inneren Medizin.«

Evelyn warf dem Arzt einen fragenden Blick zu. Dieser tippte mit dem Finger auf eine Infusionslösung, die über Pulaski an einem Gestänge hing.

»Verstehe.« Evelyn beugte sich näher zu Pulaski. »Ich weiß nicht, ob wir uns so bald wiedersehen. Ihr Wagen steht noch in Hamburg.«

»Kein Problem. Die alte Schrottmühle wird mir so schnell keiner klauen.«

Hinter ihr marschierten Beamte vorbei, die sich über Funk unterhielten. Einige Hunde kläfften.

»Sie haben ein ziemliches Aufgebot herbestellt.«

Er grinste. »Als ich in Boltens Keller an den Heizungsrohren hing, habe ich einen Krankenwagen gerufen und meinen Chef in Leipzig verständigt. Er hat sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt und für diesen Rummel gesorgt.«

»Ist gar nicht so übel, oder?«

»Leipzig?«

»Nein, Ihr Chef.«

»Ach, Horst Fux?« Pulaski verzog den Mund. »Er wird mir zwar die Leviten lesen, aber er ist schon in Ordnung.«

Evelyn berührte die Handschellen, die immer noch an Pulaskis Handgelenken hingen. »Wie konnten Sie sich befreien?«

Er lächelte. »Die Sanitäter, die mich im Keller gefunden haben, haben mich mit der Kneifzange befreit und mir ein Gegenmittel injiziert. Während sie auf der Wiese Boltens Überreste bewunderten, ließ die Wirkung des Botox nach. Da habe ich mir ihren Wagen ausgeliehen. Die armen Kerle stehen wahrscheinlich immer noch dort.«

»Ausgeliehen?«, wiederholte Evelyn. »Und dabei die Kühlerhaube zu Schrott gefahren?«

»Ich wollte Sie retten.«

Sie sah ihn lange an. »Was Sie nicht sagen.«

»Nein, ehrlich. Als ich das Flutlicht und das geschlossene To sah, wusste ich, dass etwas nicht stimmt.«

»Sie sind ein schlechter Lügner!«, stellte sie fest.

Er sah zur Decke. »Ja«, seufzte er. »Ich konnte mein Bein nicht bewegen und rechtzeitig vom Gaspedal nehmen … aber verraten Sie das niemandem!«

»Keine Sorge.« Sie schmunzelte. »Sehen wir uns wieder?«

»Falls Sie mal nach Leipzig kommen«, antwortete er. »Am Wochenende fahre ich mit meiner Tochter in den Johannapark, wo wir mit dem Nachbarhund Frisbee spielen. Rex ist ganz verrückt danach.«

»Dieses Wochenende fahren Sie nirgendwohin«, unterbrach ihn der Notarzt und gab ihm eine Spritze direkt in die Wunde.

Pulaski biss die Zähne zusammen. »Dann eben nächstes Wochenende«, knirschte er.

»Möglich, hängt von Ihnen ab.« Der Arzt zog die Nadel raus.

Evelyn sah für einen Moment zur Seite. »Wenn Sie wieder auf den Beinen sind, würde ich Sie und Ihre Tochter gern nach Wien einladen. Der Prater könnte Ihnen gefallen.«

»Klingt gut.« Pulaski verdrehte die Augen.

Der Arzt wandte sich an Evelyn. »Wir müssen jetzt fahren und so schnell wie möglich operieren.«

»Alles klar.« Sie machte Anstalten, aus dem Wagen zu klettern.

»Einen Moment noch.« Pulaski versuchte, sich aufzusetzen, doch der Sanitäter drückte ihn sanft auf die Trage zurück.

Evelyn beugte sich zu ihm. »Was denn?«

Pulaski starrte zur Decke. »Ich weiß, Sie halten mich im Moment für ein wenig weggetreten, wegen diesem Zeug, das die mir hier spritzen … aber glauben Sie mir, ich bin völlig klar im Kopf.«

»Sicher … machen Sie rasch!«, drängte der Arzt.

»Diese Frau hat mir das Leben gerettet!«, fuhr Pulaski ihn an. »Da darf man doch wohl noch etwas sagen.«

Evelyn versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich höre.«

»Ich bin nicht blind, wissen Sie. Und ich habe an diesem Tag einiges über Sie erfahren. Was in Ihrer Vergangenheit passiert ist, tut mir leid …« Er blickte ins Freie, als suchte er nach den richtigen Worten. »Ich bekomme fast täglich mit, wie man das Leben junger Leute zerstören kann - aber Sie sind stark.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie diesem Patrick eine Chance geben sollten. Er ist ein Glückspilz.« Pulaski ließ sie los.

Evelyn stieg aus dem Krankenwagen, stand wie paralysiert auf dem Kiesweg und brachte keinen Ton heraus.

»Okay, das war’s. Abfahrt!« Der Sanitäter warf die Hecktür zu.

Der Fahrer startete den Motor, und Evelyn sah dem Wagen nach, der das Grundstück verließ. Als die Rücklichter verschwunden waren, wandte sie sich um und ging zu dem zweiten Krankenwagen, der neben Gretas Motorrad parkte. Sybil saß im Fond. Ein Arzt kümmerte sich um sie. Daneben stand ein Kripobeamter, der sie im Auge behielt.

Der Fahrer ließ soeben den Motor an, und der Kripobeamte kletterte zu dem Arzt ins Wageninnere. Eilig lief Evelyn zu dem Auto.

»Halt, warten Sie! Ich möchte mitfahren.«

»Sind Sie eine Angehörige?«, fragte der Polizist. »Sybil hat keine Angehörigen.«

»Und wer sind Sie dann?«

»Evelyn Meyers, Anwältin.«

»Anwältin?« Der Beamte und der Arzt warfen sich einen kurzen skeptischen Blick zu. »Sie machen wohl einen Witz, oder?«

»Kein Witz.« Obwohl ich euch eine Menge Anwaltswitze erzählen könnte, dachte Evelyn.

»Wir fahren in die psychiatrische Klinik Hamburg. Steigen Sie ein, wenn Sie möchten«, entschied der Arzt. »Die Fahrt dauert aber mindestens zwei Stunden.«

»Ich weiß.« Evelyn kletterte in den Wagen und setzte sich neben Sybil auf die Trage. Automatisch griff das Mädchen nach ihrer Hand. Evelyn hielt sie und strich ihr mit der anderen Hand übers Haar. Währenddessen injizierte der Arzt dem Mädchen ein Beruhigungsmittel.

Sobald die Kleine schlief, musste sie Patrick anrufen, um ihm zu erzählen, dass alles überstanden war. Sie würde sich während der Fahrt das Handy des Kripobeamten ausborgen. Wenn Sybil schlief und Patrick sich keine Sorgen mehr machte, blieb ihr Zeit genug, um über alles nachzudenken.

Sie lehnte den Kopf an die Rückwand und schloss für einen Moment die Augen. Die Fahrt nach Hamburg würde lange dauern. Sie konnte die Ereignisse gewiss ein Dutzend Mal Revue passieren lassen. Doch eines würde sie auch dann nicht begreifen: Wie war es diesem zerbrechlichen Mädchen gelungen, Hockinson zu erwürgen und all die anderen Männer zu töten?

War Sybil überhaupt bewusst, dass sie die Morde begangen hatte?

 

Eine Woche zuvor

 

69

 

Die Tachonadel zitterte. Hundertzehn km/h.

Das Cabrio holperte über die letzte Bodenwelle und raste in die steil nach links abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte. »Ich weiß es nicht!«, brüllte Hockinson.

Und ob der Scheißkerl es wusste! Lisa spürte, wie die Fliehkraft sie aus dem Sitz hob. Unwillkürlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal.

Sogleich trat Hockinson auf die Bremse. Die Reifen quietschten.

Es war wie bei einem Achterbahnlooping. Der Fahrtwind zerzauste ihr Haar, die Möwen kreischten, und sie spürte das salzige Meerwasser auf den Lippen. Wenn sie sterben würde, musste es eben sein. Aber zumindest würde der Scheißkerl mit ihr krepieren. Sie riss die Arme hoch und schrie.

Währenddessen umklammerte Hockinson das Lenkrad. Der Wagen rutschte gefährlich nahean den Klippen über die Straße. Sie beugte sich aus dem Wagen. Zwei Räder waren auf dem Asphalt, unter den anderen beiden spritzten Kieselsteine in den Abgrund.

Hockinsons Gesicht war so weiß wie der Kalkstein der Felsen. Schweiß lief ihm über die Stirn. Wie ein Rallyefahrer riss er das kleine Sportlenkrad herum und schaltete hektisch herunter, sodass das Getriebe gequält aufkreischte.

Am Ende der Steilkurve bekam er den Wagen unter Kontrolle.

Fünfundsechzig km/h.

Er ließ den Wagen ausrollen und lenkte ihn auf der nächsten Anhöhe zum Straßenrand. Einige Meter vor den Klippen hielt er. Unter ihnen lag der Leuchtturm auf der vorgelagerten Felseninsel.

Hockinson zog die Handbremse an. Der Motor tuckerte immer noch im Leerlauf.

Das Radio spielte »Stairway to Heaven«.

»Unglaublich!« Lisa strich sich das Haar aus dem Gesicht.

Hockinson sackte im Sitz zusammen. Seine Hände zitterten. Bestimmt stand er knapp vor einem Herzinfarkt.

Lisa fühlte sich so lebendig wie nie zuvor. Sie rückte auf dem Sitz herum. »Gratuliere, Eddie, du bist noch am Leben. Wie lautet der letzte Name auf der Liste?«

Hockinson sah sie nicht einmal an. »Steigen Sie aus«, keuchte er. »Sofort!«

Mit einem Satz hockte sie rittlings auf ihm. Er wollte sich wehren, doch bevor er seine Hände nach oben bekam, hielt sie bereits den Schal umklammert und zog an beiden Seiten.

Einige Perlen sprangen ab und verteilten sich im Fußbereich des Wagens.

»Ich weiß es nicht«, röchelte Hockinson. »Der Name!«, brüllte Lisa.

Sie zog fester. Der Seidenschal schnitt tief in seinen Hals, sodass sich die Hautfalten über den Stoff wölbten. Binnen Sekunden lief sein Kopf dunkelrot an. Er versuchte nach ihren Haaren zu greifen, doch sie straffte den Schal so sehr, dass seine Augen hervortraten und ihm Tränen über die Wangen liefen.

»Der Name!«, brüllte sie.

Er brachte keinen Ton heraus. Sein Mund klaffte auf, die Zunge hing wie ein aufgequollener Fremdkörper in seinem Rachen.

Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm. Es kostete sie nicht einmal besonders viel Mühe, so fest zu ziehen, dass sie glaubte, sein Kopf könnte jeden Moment von den Schultern springen.

Psychisch Kranke bringen oft enorme, unerklärliche Kräfte auf… Wer hatte das gesagt? Marty? Doktor Gessler?

»Der Name«, flüsterte sie.

Doch Hockinson konnte schon längst nicht mehr antworten. Seine Augen starrten in den blauen Himmel, wo die Möwen über demWagen kreisten. Möglicherweise war er jetzt ebenfalls dort oben. Nein, nicht dort oben, korrigierte sie sich und blickte auf den in der Hitze flimmernden Asphalt. Der Knabe schmorte in der Hölle. Sie ließ ihn los.

Hockinsons Augen bewegten sich nicht. Sein Kopf fiel schlaff zur Seite.

Hastig blickte sie zum Leuchtturm, dann in beide Richtungen der Küstenstraße. Weder Mensch noch Auto weit und breit. Wie viel Zeit blieb ihr?

Sie sprang aus dem Wagen, spannte den Sicherheitsgurt über Hockinsons Bauch und ließ den Verschluss einrasten. Anschließend fing sie den Seidenschal ein, den der Wind herumwirbelte, und kroch damit unter den Wagen.

Es stank nach Benzin und verbranntem Gummi. Sie wickelte das Ende des Schals um die Radaufhängung der hinteren Achse. Sie durfte keinen Knoten machen. Es musste natürlich aussehen.

Nachdem der Schal straff herumgewickelt war, kroch sie unter dem Wagen hervor.

»Scheiße!«, fluchte sie. Nun war der Absatz ihres Stöckelschuhs tatsächlich abgebrochen. Rasch schlüpfte sie aus den Schuhen und warf sie an den Straßenrand. Danach beugte sie sich ins Wageninnere, um die Handbremse zu lösen.

Es fiel ihr nicht schwer, den Wagen anzuschieben. Die Kieselsteine knirschten unter den Rädern. Nach einigen Metern straffte sich der Schal. Hockinsons Kopf wurde nach hinten gezogen und gegen die Nackenstütze gepresst.

»Schlaf gut, mein Prinz«, flüsterte sie.

Nur noch wenige Meter bis zum Abgrund.

Aus dem Auspuff qualmte eine stinkende Wolke.

Schließlich rollten die Vorderreifen über die Klippe. Lisa stemmte sich ein letztes Mal gegen das Heck. Der Schal war mittlerweile zum Zerreißen gespannt.

Plötzlich gab der Widerstand nach, das Cabrio glitt über die Kante. Mit einem Splittern und Krachen stürzte der Wagen den Abhang hinunter, überschlug sich und blieb wenige Meter vor dem Leuchtturm liegen.

Lisa wandte sich ab. Sie blickte auf ihre dreckigen Hände und an ihrem ölverschmierten Kleid hinunter. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie barfuß war.

Wo waren ihre Schuhe?

Sie sah sich um.

Ihr schwindelte.

Am Straßenrand lag ein Paar eleganter Schuhe. Lisas Stöckelschuhe! Wie kamen die dorthin?

Wo war Lisa überhaupt? Sybil sah sich um.

Am Ende des Abgrunds lag ein verbeulter Wagen mit einer männlichen Leiche darin. Das Bild vor ihren Augen flimmerte. Sie griff sich an die Schläfen. Plötzlich waren wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen da. Dieser Anblick! Hatte sie es schon wieder getan? Wie konnte das nur passieren? Das schlechte Gewissen krampfte ihren Magen zusammen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Schädel jeden Moment zerspringen.

Ich habe es für Lisa getan, schärfte sie sich ein. Um diese Sache endlich zu erledigen. Sie wiederholte den Satz wie ein Mantra. Immer und immer wieder.

Ich habe es für Lisa getan!

Endlich ließ der Druck nach.

Mit den Schuhen in der Hand lief sie über den Asphalt der Küstenstraße zum nächsten Ort. »Ich wollte dir doch nur helfen«, murmelte sie. Dir doch nur helfen.

 

Epilog

 

Drei Tage nach den Ereignissen in Cuxhaven wurde Pulaski endlich aus dem Krankenhaus entlassen.

Während er ans Bett gefesselt war, hatten die Ärzte permanent an seiner Schulter herumgedoktert. Zumindest hatten ihm die Quacksalber ein Einzelzimmer mit Blick auf den Park an der Delitzscher Straße gegeben. Er hatte nicht einmal Bukowskis Hot Water Music zu Ende lesen können, da ihn seine Tochter und die Kollegen vom Revier besuchten, die Beamten des LKA Sachsen, die Ermittler aus Flensburg und sogar die hohen Tiere aus Hamburg und vom LKA Niedersachsen. Außerdem hatte sich Staatsanwalt Kohler, der Lackaffe, in sein Krankenzimmer bequemt, um ein Gespräch unter vier Augen mit ihm zu führen. Wenn er das schon hörte - unter vier Augen!

Trotz des ganzen Trubels kam Pulaski glimpflich davon. Horst Fux hatte ihn während der gesamten letzten Woche in den Dienst gestellt, und er hatte in dieser Zeit immerhin mehrere Morde aufgeklärt, Boltens Leichnam sichergestellt sowie Sybil und Greta Hockinson verhaften können. Ohne die junge Anwältin aus Wien wäre das natürlich nie so rasch über die Bühne gegangen. Aber der Zufall wollte es nun mal, dass er sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort getroffen hatte.

Natürlich zog der Fall einen Rattenschwanz an bürokratischen Komplikationen mit sich, aber für so etwas waren die Sesselpupser in den Ministerien zuständig. Ein wenig gefiel sich Pulaski sogar in der Rolle des »Helden«, wie ihn ein Reporter der Leipziger Volkszeitung in einem Artikel nannte. Zumindest war Pulaski das für seine Tochter, denn er hatte wie versprochen den Mörder von Natascha Sommer gefunden. Ein Lokalsender hatte sogar eine kurze Reportage über ihn gebracht, und er war für etwa dreißig Sekunden im Krankenbett zu sehen gewesen, wie er interviewt wurde und in die Kamera winkte.

Doch trotz all der Besucher - eine Person war nicht gekommen. Er hatte es sich gerade noch verkneifen können, Staatsanwalt Kohler nach ihr zu fragen. Außerdem hatte er sich vorgenommen, sie anzurufen, sobald er das Krankenhaus verlassen und statt des lächerlichen Anstaltskittels endlich wieder seine eigene Kleidung tragen konnte. Hoffentlich hatte Sonja Willhalm seinen peinlichen Fernsehauftritt nicht gesehen.

Pulaski trat ins Freie, den Arm in der Schlinge und den Mantel über der lädierten Schulter. Die Sonne schien. Ein warmer Herbsttag. Vor dem Haupteingang der Klinik wartete seine Tochter auf ihn. Sie trug Fetzenjeans mit Rissen über den Knien, die angeblich total in waren, Turnschuhe und eine blaue Windjacke und hielt ihr Skateboard mit den abgewetzten Rollen unter dem Arm. Sie hatte die gleichen Sommersprossen und dieselben spitzen Knie wie ihre Mutter, dachte er.

»Schulfrei?« Er blickte auf die Armbanduhr. Zehn Uhr vormittags.

Jasmin strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe frei bekommen - Pflegeurlaub! Meine Klassenkameraden haben dich im Fernsehen gesehen.«

»Du auch?«

Sie grinste schief. »Ich hab’s auf Video aufgenommen. Du warst nur kurz im Bild und sähst schrecklich aus - tust du übrigens immer noch! Wann rasierst du dich?«

Er strich sich über den Dreitagebart. »Heute Abend.« Dann langte er in die Manteltasche und kramte die Zigarettenpackung hervor. Seit seinem Besuch in Ochsenzoll hatte er die Glimmstängel nicht mehr angerührt. »Damit höre ich endgültig auf.« Er zerdrückte die Schachtel und warf sie in den Mülleimer neben der elektrischen Schiebetür. Ebenso das Feuerzeug.

»Mama wäre stolz auf dich.«

»Und du?«

»Natürlich auch.« Sie drückte ihn.

»Vorsicht.« Er musste lachen, weil sie sich wie ein Kleinkind an ihn quetschte. Sicherheitshalber schob er den angeschlagenen Arm zur Seite.

Während sie zur Busstation gingen, nahm er das Handy aus der Tasche.

»Hör mal kurz weg - ich muss ein Gespräch unter Erwachsenen rühren.«

»Klar doch.« Sie schlüpfte unter seinen Mantel und sah gelangweilt den vorbeifahrenden Autos nach.

Zumindest tat sie so. In Wahrheit spitzte sie garantiert die Ohren, damit ihr kein Wort entging.

Pulaski wählte Sonja Willhalms Nummer. Nach dem fünften Klingeln hob sie ab. »Störe ich Sie bei einer Therapie?«

»Ich mache gerade Pause«, antwortete sie. Es folgte eine peinliche Schweigesekunde, ehe sie weitersprach. »Sind Sie noch im Krankenhaus?«

»Wurde soeben entlassen.«

»Ich hätte Sie gern besucht, aber wir hatten rund um die Uhr Leute von den verschiedensten Behörden hier, die alles auf den Kopf stellten. Meine Patienten reagierten dementsprechend.«

»Die Todesfälle von Natascha und Martin haben bestimmt eine Menge Staub aufgewirbelt.«

»Dank Ihnen.« Er hörte sie lachen. »Sie sind ein Held, ich habe Sie gestern Abend in den Nachrichten gesehen.«

»Meine Tochter sagt, ich habe schrecklich ausgesehen.«

»Na ja …« Sie lachte erneut. »In echt sehen Sie besser aus.«

Das war das Stichwort. Plötzlich schlug sein Herz schneller. »Ich bin Ihnen noch ein Abendessen schuldig.«

»Sie haben Ihr Versprechen nicht vergessen?«

»Wie könnte ich das?«

Er spürte, wie sich Jasmin aus der Umarmung löste. Sie sah ihn mit zwei zu großen Fragezeichen geformten Augen an.

Und? Wer ist sie?, las er auf ihren Lippen. »Diesen Freitagabend? Ich hole Sie um acht Uhr ab.« Gib mir bloß keinen Korb, dachte er. Gib mir bloß … »Das würde mich sehr freuen.«

Für einen Moment war er sprachlos. Immerhin war es sein erstes ernstzunehmendes Date seit Jahren.

Jasmin boxte ihn in die Seite. Wer ist das?

»Fahr mit dem Skateboard zur Bushaltestelle!«, flüsterte er, wusste aber im gleichen Moment, dass Jasmin keine Sekunde von seiner Seite weichen würde, solange er telefonierte.

»Mit wem sprechen Sie?«

»Mit meiner Tochter. Sie ist ein Quälgeist.«

»Ich würde sie gern kennenlernen.«

»Was?« Pulaskis Herz machte einen Satz. Diese Aufregung hatte er während der letzten Jahre kein einziges Mal verspürt - nicht einmal im Dienst.

»Ich … wir könnten …«, murmelte er. »Vielleicht sollten wir…«

Da nahm ihm Jasmin das Telefon aus der Hand, sprang aufs Skateboard und rollte den Bürgersteig entlang.

»Hallo? Hier spricht Jasmin«, sagte sie.

»Bist du verrückt? Gib mir das Telefon!«, zischte er.

Doch Jasmin war schon zu weit entfernt, als dass er sie einfangen konnte.

»Falls Sie Lust haben, könnten Sie uns am Wochenende begleiten«, schlug Jasmin vor. »Wenn uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht, gehen Papa und ich mit dem Hund unseres Nachbarn in den Johannapark. Spielen Sie Frisbee? Tatsächlich? Der Hund ist komplett verrückt danach. Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Haben Sie Papa übrigens in den Nachrichten gesehen? Genau. Er sah schrecklich aus, oder?« Sie kicherte.

Nach einer Weile kam Jasmin auf dem Skateboard zurück und hielt ihm das Handy frech vor die Nase. »So macht man das.«

Kommentarlos nahm er das Telefon und warf einen Blick auf das Display. Die Verbindung war unterbrochen.

»Wenn du das noch einmal machst…«

»Sie ist nett«, fiel ihm Jasmin ins Wort. »Ich freue mich schon darauf, sie am Wochenende kennenzulernen.«

»Ich sollte dich besser zu Hause lassen.«

»Kommt gar nicht in Frage. Nicht mal, wenn du mich mit Handschellen an ein Heizungsrohr kettest«, sagte sie in Anspielung auf die Fernsehreportage.

Dieses Biest! Er dachte an Sonja Willhalm. Was würde sie jetzt wohl von ihm denken? Dass er einen kleinen Drachen als Tochter und bei der Erziehung total versagt hatte? Aber immerhin schienen sich die beiden gut unterhalten zu haben. Zumindest hatten sie über ihn gescherzt. Frauen! Dabei hatte er ganz vergessen, Sonja zu erzählen, dass Lesja Prokopowytsch den Mordversuch in Göttingen trotz des starken Blutverlusts überlebt hatte. Sie befand sich wieder in der psychiatrischen Anstalt Herberhausen in Doktor Pinsgers Obhut. Der Arzt mit dem Blick eines aufgeschreckten Huhns hatte ihn gestern angerufen, um ihm von ihrer Genesung zu erzählen.

Egal, es würde noch weitere Gelegenheiten geben, um mit Sonja darüber zu reden - allein!

»Das nächste Gespräch ist beruflich, also schwirr ab!«

»Ja, Paps.«

Er sah ihr nach, wie sie grinsend ihre Runden auf dem Skateboard zog.

Mittlerweile hatte Pulaski die Bushaltestelle erreicht. Es wurde Zeit, nach Wien zu telefonieren. Er setzte sich auf die Holzbank und wählte eine Nummer, die er vor zwei Tagen per SMS erhalten hatte.

 

Kurz nach zehn Uhr vormittags war Evelyn mit allem fertig. Sie hatte sich am Montag auch noch Urlaub genommen und war erst an diesem Morgen in der Kanzlei erschienen. Seit Stunden arbeitete sie in ihrem Büro, und nun war die letzte Schachtel voll. Sie riss das Klebeband ab und warf die Rolle in die leere Schublade.

Ihr neues Handy klingelte. Eine deutsche Vorwahl erschien auf dem Display.

»Evelyn Meyers«, meldete sie sich.

»Können Sie mir eine gute Anwältin empfehlen?«

Sie lachte. »Herr Pulaski! Wie geht’s Ihnen?« Sie warf sich in den Stuhl und legte die Beine auf den Tisch.

»Wie sagt ihr Wiener doch immer? Ich kann nicht klagen!« Er erzählte ihr von dem Trubel der letzten Tage, bis er schließlich zum wichtigsten Punkt kam. »Seit gestern graben die Beamten mit rund einhundert freiwilligen Helfern die Dünen an der Küstengegend vor Wremen um.«

»Werden sie Manuels Leiche je finden?«

»Bestimmt«, antwortete Pulaski. »Die Kollegen gehen nicht gerade zimperlich mit Greta um. Sie ist ziemlich kooperativ und hat die Stelle genau beschrieben, an der sie und Bolten die Leiche des Jungen verscharrt haben. Zehn Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber es wurden schon Tote gefunden, die länger unter der Erde lagen.« Er machte eine Pause. »Wie ist es bei Ihnen gelaufen?«

»Die letzten Tage waren hart, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen. Ich sprach mit Ihren Kollegen aus Flensburg wegen Smolles Selbstmord auf Sylt und mit Frau Doktor Melanie Gessler aus der Klinik in Ochsenzoll.«

»Oh, unsere gemeinsame Freundin.«

»Diesmal war sie sogar freundlich zu mir.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Ich habe auch meine Kaffeehausrechnung bezahlt.« Er lachte, dann wurde er ernst. »Wie geht es Sybil?«

»Sie ist zurzeit bei Gessler in Behandlung.«

»Und wie geht es Ihnen?«

Evelyn seufzte. »Wenn man bedenkt, dass alles mit den Nachforschungen in zwei harmlosen Rechtsfällen begann … Aber mittlerweile ist die Wahrheit ja ans Licht gekommen. Das Bundeskriminalamt muss nun die anderen >Unfälle< aufrollen, die Sybil initiiert hat.«

»Und auch die Morde an den drei Jugendlichen. Die Beamten haben alle Hände voll zu tun. Bei der Durchsuchung von Boltens Haus sind übrigens ein paar schreckliche Dinge ans Tageslicht gekommen.«

Evelyn dachte an das Zimmer mit der roten Lampe, den Stofftieren und den Videokassetten.

»Ich erspare Ihnen die Details - aber eines ist sicher: Es ist kein Schaden, dass dieser Mistkerl nicht mehr unter uns weilt.«

Sie schwiegen eine Weile. Für einen Moment dachte sie an den Mann mit dem Kastenwagen, der sie vor zwanzig Jahren in die Jagdhütte verschleppt hatte. Wo immer er jetzt lebte - sie hatte sich vorgenommen, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Alfons Bolten war an seiner Stelle verbrannt und mit ihm ihr Hass und alle Schuldgefühle.

»Erinnern Sie sich noch an das, was ich Ihnen im Krankenwagen gesagt habe?«, fragte Pulaski.

»Als Sie im Delirium waren?«

»Ich war vollkommen klar!«, widersprach er.

Evelyn lachte. »Ja, ich erinnere mich.«

»Und?«

»Ich werde Ihren Ratschlag befolgen - aber nicht nur das. Einige Dinge in meinem Leben ändern sich gerade zum Positiven.« Sie blickte auf die zugeklebten Schachteln, die auf dem Boden ihres leeren Büros standen.

»Das freut mich zu hören.«

»Ich erzähle Ihnen mehr, sobald Sie nach Wien kommen.«

»Abgemacht, ich bin schon neugierig.«

»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Sie verabschiedeten sich, und Evelyn legte auf. Ein Gefühl der Wehmut überkam sie, als sie an die Kanzlei dachte. Wie lange hatte sie hier gearbeitet? Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie bereits während des Studiums jedes Jahr ihre Ferialpraxis hier absolviert. Elf Jahre in diesen Räumen waren eine verdammt lange Zeit. Anfangs war auch Patrick noch bei seinem Vater beschäftigt gewesen, später hatte Holobeck sie unter seine Fittiche genommen. Während dieser Zeit erlebte sie alle Höhen und Tiefen einer Rechtsanwaltskanzlei mit. Doch elf Jahre waren mehr als genug. Sie legte den Schlüssel zu ihrem Büro auf den leeren Schreibtisch und erhob sich.

Hinter der Milchglastür zeichnete sich ein Schatten ab. Die Klinke wurde niedergedrückt. Krager trat ein. Der Pitbull machte seinem Spitznamen alle Ehre. Wortlos und mit zusammengekniffenen Augen sah er sich in ihrem Büro um. In der Hand hielt er das gefaltete Kündigungsschreiben, mit dem er nervös gegen seinen Oberschenkel trommelte.

»So schnell ist es also nun gegangen«, knurrte er. »Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung über Peter Holobeck, und ich habe Ihnen nicht geglaubt. Das tut mir leid.«

Evelyn hob die Augenbrauen. Sie hätte nicht gedacht, diese Worte jemals aus seinem Mund zu hören.

»Ist das der Grund, weshalb Sie mich verlassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihren Ratschlag beherzigt.«

Er blickte sie fragend an.

»Meine Vergangenheit aufgearbeitet. Mittlerweile weiß ich, was ich will.«

»Und was wollen Sie?«

»Sie haben mir immer davon abgeraten, aber es ist meine Berufung. Ich mache mich als Verteidigerin für Strafrechtsfälle selbständig.« Sie merkte, wie ein klein wenig Stolz in ihrer Stimme mitschwang.

»Womit denn?«, fragte Krager zähneknirschend.

Sie hatte diese Frage vermutet.

»Demnächst werde ich meinen ersten Fall übernehmen«, antwortete sie. »Sybil Woska ist einundzwanzig Jahre alt und österreichische Staatsbürgerin. Sie wird innerhalb der nächsten Wochen von Deutschland ausgeliefert und des Mordes an zehn Männern beschuldigt.« Sie machte eine Pause. »Ich verteidige sie.«

»Ist das Mädchen vermögend?«

Die Frage sah ihm ähnlich. »Wohl kaum. Aber wir werden genug Medienpräsenz und Sponsoren finden, um die Pflichtverteidigung zu finanzieren.«

Krager nickte langsam. »Ein starkes Programm für den Anfang. Falls Sie meine Hilfe benötigen …«Er machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass er jederzeit für sie da war.

»Danke.«

»Und …« Krager zögerte. »Richten Sie meinem Sohn schöne Grüße aus.« Er reichte ihr die Hand.

Sie sah ihn erstaunt an. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Mache ich.«

 

Draußen wartete Patrick auf sie. Sein linkes Hosenbein war an der Seite aufgeschnitten. Der Spaltgips reichte bis zur Hüfte. Er lehnte auf seinen Krücken schief in einer Toreinfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Irgendwie wirkte er wie eine desolate Ausgabe von James Dean.

Sie lief zu ihm hinüber.

»Hallo, Spitzmausigel.«

»Hallo, mein Großer.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Einen schönen Gruß von deinem alten Herren.«

»Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Doch - irgendwie habe ich den Eindruck, dass ihn die ganze Angelegenheit geläutert hat. Vielleicht lädt er dich ja eines Tages zum Mittagessen ein.«

»Ein Essen mit Staranwalt Krager? Nein, danke. Apropos, da fällt mir ein Witz ein.«

»Schieß los!« Sie konnte es kaum erwarten.

»Schieß los?«, wiederholte er verblüfft. »Sonst willst du meine Witze doch nie hören.«

»Diesmal schon. Los, erzähl!«

Sie gingen die Straße zum Park hinunter, wo Evelyns Wagen stand.

»Also, eine Jacht ist auf hoher See mitten im Haigebiet gesunken. Alle Passagiere wurden von den Haien gefressen, bis auf einen, der ein Anwalt war. Warum?«

»Weil er schneller schwimmen konnte?«

»Weil Haie sich nicht an Artgenossen vergreifen!« Er lachte laut auf.

Evelyn schmunzelte. »Was machst du eigentlich heute Abend?«

»Soll ich dich auf deiner Joggingrunde durch den Stadtpark begleiten?«

»Nein, ich meine es ernst.«

»Mein Bein hochlagern und fernsehen. Warum?«

»Wenn ich dich mit dem Wagen abhole, schaffst du es ins Marriot zu einem Candle-Light-Dinner?«

»Sag bloß, du …?« Sein Mund klappte herunter. »Aber so schnell werden wir keinen Tisch bekommen.«

Schmunzelnd dachte sie an den alten, grauhaarigen Kripobeamten aus Leipzig, der im Krankenwagen versucht hatte, sich neben den Infusionsflaschen aufzurappeln. Er hatte Recht behalten. An diesem Abend war er tatsächlich bei klarem Verstand gewesen.

»Ich habe vor drei Tagen telefonisch einen Tisch reserviert und gehofft, du würdest ja sagen.«