Gohar war jetzt wach; er hatte gerade geträumt, daß er ertrinken würde. Er richtete sich auf einem Ellbogen auf und schaute sich mit unsicherem Blick, noch benommen vom Schlaf, um. Er träumte nicht mehr, die Realität jedoch ähnelte seinem Traum so sehr, daß er einen Moment lang unschlüssig verharrte, obwohl ihm bewußt war, daß ihm eine Gefahr drohte. »Bei Allah! Hochwasser!« dachte er. »Der Fluß wird alles wegschwemmen.« Angesichts der drohenden Katastrophe machte er aber keine Anstalten zu fliehen; er klammerte sich im Gegenteil am Schlaf fest wie ein Schiffbrüchiger an einem Wrack und schloß die Augen.
Er brauchte lange, um wieder zu sich zu kommen, wollte sich die Augen reiben, unterließ es aber gleich wieder: seine Hände waren feucht und glitschig. Er schlief vollkommen angezogen auf einem Lager aus kleinen Haufen alter Zeitungen auf dem nackten Fußboden. Das Wasser hatte alles überschwemmt und bedeckte beinahe den gesamten Boden des Zimmers, der mit Steinfliesen ausgelegt war. Es floß lautlos auf ihn zu, mit der beklemmenden Unabwendbarkeit eines Alptraums. Gohar hatte das Gefühl, sich auf einer von Fluten umgebenen Insel zu befinden, und er wagte nicht, sich zu bewegen. Die unerklärliche Gegenwart dieses Wassers tauchte ihn in tiefes Erstaunen. Dennoch nahm sein anfänglicher Schrecken in dem Maße ab, in dem er sich der Realität wieder bewußt wurde. Jetzt begriff er, daß seine Vorstellung vom hochwasserführenden Fluß, der auf seinem Weg alles verwüstet, lediglich einer Verwirrung des Geistes entsprang. Er versuchte also herauszufinden, woher dieses geheimnisvolle Wasser kam, und entdeckte sehr schnell seine Quelle: es sickerte unter der Tür der Nachbarwohnung hindurch.
Gohar zitterte wie unter dem Eindruck eines unsagbaren Grauens: der Kälte. Er versuchte aufzustehen, aber der Schlaf steckte noch in ihm und machte seine Gliedmaßen taub, hielt ihn mit unlösbaren Banden zurück. Er fühlte sich schwach und hilflos. Er trocknete seine Hände an den Stellen seiner Jacke ab, an denen der Stoff nicht feucht war; jetzt konnte er sich die Augen reiben. Dies tat er ganz ruhig, sah auf die Tür der Nachbarwohnung und dachte: »Sie reinigen bestimmt gerade die Steinfußböden. Trotzdem hätten sie mich beinahe ertränkt!« Die unvermutete Reinlichkeit seiner Nachbarn erschien ihm überaus verwunderlich und empörend. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. In diesem verfallenen und dreckigen Haus des Alten Viertels, das von armen, ausgehungerten Kreaturen bewohnt wurde, reinigte man niemals die Steinfußböden. Bestimmt waren diese Leute neue Mieter, boshafte Menschen, die im Viertel Eindruck schinden wollten.
Gohar war immer noch verblüfft, so als hätte ihn die Entdeckung dieser unsinnigen Reinlichkeit betäubt. Ihm schien, es müsse etwas unternommen werden, um dieser Überschwemmung Herr zu werden. Aber was? Am besten wartete man einfach ab; sicher würde ein Wunder geschehen. Diese absurde Situation erforderte eine Lösung durch übernatürliche Kräfte. Gohar fühlte sich da ganz und gar machtlos. Er wartete einige Minuten, aber nichts geschah, keine geheime Macht kam ihm zu Hilfe. Schließlich erhob er sich und blieb regungslos stehen, in der Haltung eines Menschen, der an Halluzinationen leidet, wie ein geretteter Schiffbrüchiger; dann bewegte er sich ungemein vorsichtig über den aufgeweichten Boden und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand. Außer diesem Stuhl gab es nur noch eine umgedrehte Holzkiste, auf der ein Spirituskocher, eine Kaffeekanne und ein Tonkrug mit Trinkwasser thronten. Gohar lebte in äußerst bescheidenen materiellen Verhältnissen. Die Vorstellung des elementarsten Komforts war seit langem aus seinem Gedächtnis getilgt. Er verabscheute es, sich mit Gegenständen zu umgeben; Gegenstände trugen die verborgenen Keime des Elends in sich, und zwar des schlimmsten von allen, des leblosen Elends; desjenigen Elends, das durch seine hoffnungslose Gegenwart unweigerlich Schwermut hervorruft. Nicht daß er für die äußeren Erscheinungsformen des Elends empfänglich gewesen wäre; ihnen maß er keinerlei tatsächlichen Wert bei, sie blieben für ihn immer abstrakt. Er wollte seinen Blick einfach vor einem deprimierenden Durcheinander bewahren. Für Gohar besaß die Ärmlichkeit dieses Zimmers die Schönheit des Unfaßbaren, in ihm atmete er eine Luft des Optimismus und der Freiheit. Die meisten Möbel und Gebrauchsgegenstände kränkten seinen Blick, denn sie konnten seinem Bedürfnis nach menschlicher Phantasie keine Nahrung bieten. Allein die menschlichen Wesen mit ihren unzähligen Verrücktheiten besaßen die Gabe, ihn zu zerstreuen.
Einen Augenblick lang verharrte er nachdenklich und betrachtete seine verwüstete und nicht mehr zu benutzende Schlafstätte. Die alten Zeitungen, die ihm als Matratze dienten, waren völlig durchnäßt; sie begannen bereits, auf dem Boden zu treiben. Der Anblick des Unheils gefiel ihm wegen seiner primitiven Einfachheit. Da, wo nichts war, tobte der Sturm vergeblich. Die Unverletzbarkeit Gohars gründete in dieser vollkommenen Mittellosigkeit; er bot den Verwüstungen keine Angriffspunkte. Er erinnerte sich wieder an seine extravaganten Nachbarn und fragte sich nach den Gründen für diese ungewöhnliche Reinlichkeit. Was hatten sie vor? Das Haus würde einer solchen Behandlung niemals standhalten; es war bereits bis in die hintersten Ecken hinein vermodert und wartete nur noch auf ein Zeichen, um einzustürzen. Sie würden alle umkommen, daran bestand kein Zweifel.
Gohar zerbrach sich den Kopf über die möglichen Absichten dieser verdammten Nachbarn, als ein aus mehreren Kehlen dringender ungeheurer Schrei, ein Schrei so lang wie eine Schreckensnacht, in der Nachbarwohnung erschallte. Die Wände des alten Hauses schwankten unter der Gewalt der Erschütterung; auf seinem Höhepunkt angekommen, brach der Schrei ab; eine beängstigende Stille trat ein, gefolgt von dunklem Geheul. Gohar verstand die Bedeutung dieser entsetzlichen Raserei nicht sofort. Dann ging ihm ein Licht auf, blitzartig. Es bestand kein Zweifel, das waren Klageweiber. Innerhalb einer Sekunde erfaßte er das ganze Grauen des Ereignisses: In der Nachbarwohnung lag ein Toter, und das weiße, seifige Wasser, das ihn in seinem Schlaf heimgesucht hatte, war das Wasser, mit dem man den Leichnam gewaschen hatte.
Zunächst nagelte ihn die Bestürzung auf seinem Stuhl fest, dann der Ekel, der ihm den Atem raubte. Niedergeschlagen betrachtete er seine noch feuchten, zitternden Hände, seine vom Tod besudelten Kleider. Dann schüttelte er sich heftig, so als würde er die schädlichen Keime des Todes weit von sich schleudern, und lief zu dem Tonkrug mit dem Wasser. Aber der Tonkrug war leer; Gohar sah sich verstört nach allen Seiten um, suchte in seiner Verzweiflung einen nicht vorhandenen Wasserhahn. Wie sollte er sich die Hände waschen? Er streckte sie von sich und fragte sich, an welcher Krankheit sein Nachbar gestorben sein könnte. Vielleicht hatte er eine ansteckende Krankheit gehabt. »Bakterien!« dachte er ängstlich. Aber fast im gleichen Moment erschien ihm die Angst vor Bakterien lächerlich. »Wenn man an Bakterien sterben würde«, dachte er, »dann wären wir alle schon lange tot.« In einer so lächerlichen Welt verloren selbst die Bakterien ihre Virulenz. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und dachte lange über die Komik seines Abenteuers nach. Er hatte seine Ruhe wiedergefunden, alles war einfach und leicht, außerordentlich durchschaubar. Kein Unheil hatte die Kraft, ihn in einen Zustand von Traurigkeit zu versetzen: sein Optimismus triumphierte über die schlimmsten Katastrophen. Mit einem Gefühl vollkommener Gleichgültigkeit betrachtete er nochmals den vom Wasser überschwemmten Boden, die verstreuten alten Zeitungen, die unwirkliche Nacktheit seines Zimmers, und ein seltsames Lächeln erhellte einen Augenblick lang sein weiches und asketisches Gesicht.
In der Nachbarwohnung hatten sich die Klageweiber jetzt entschieden in ihrem Unglück eingerichtet; ihr Geheul hatte ein unerbittliches Ausmaß erreicht und die Atmosphäre eines endgültigen und blutigen Dramas geschaffen. Kein menschlicher Wille war in der Lage, ihrem schwindelerregenden Geschäft Einhalt zu gebieten. Gohar war von diesem unheimlichen Klagen ganz verzaubert. Er war besessen von dem Wunsch, jenseits der Schreie etwas zu fassen zu bekommen, das ihn heiter stimmen könnte. Diese gekünstelten Schreie jedoch, die aus käuflichen Kehlen hervordrangen, klangen in seinem Ohr wie der Ruf eines fremden Universums; er erkannte darin kein Anzeichen einer menschlichen und vertrauten Welt. Dieses Universum simulierter und kreischender Schmerzen erfüllte seinen Kopf mit einem vergifteten Lärm, der ihn schwindelig machte.
Zu ungewohnter Stunde war er jäh geweckt worden, und er hatte Lust, noch weiter zu schlafen. Aber wie sollte er mit diesen verdammten Klageweibern auf der anderen Seite der Wand den Schlaf wiederfinden? Sie würden kein Erbarmen kennen. Gohar zitterte, ihm war kalt. Er wurde ganz steif ließ einen langen Augenblick verstreichen und erhob sich dann von seinem Stuhl. Er hatte beschlossen auszugehen.
Er hob seinen Tarbusch auf, der in einer von der Überschwemmung verschonten Ecke des Zimmers herumlag, setzte ihn sich auf den Kopf, ergriff seinen Gehstock und trat ins Treppenhaus hinaus. Die Tür seiner Nachbarn stand weit auf; Gohar, der ziemlich verschreckt aussah, zögerte lange. Sein Instinkt riet ihm, vorsichtig zu sein; von diesen entfesselten Klatschweibern befürchtete er das Schlimmste. Sie waren dazu fähig, beim Anblick eines Mannes allein aus Eitelkeit ihre Raserei noch weiter zu treiben. Gohar erschauderte bei diesem Gedanken, und ohne zu überlegen stürzte er die wackelige Treppe hinunter und nahm das flüchtige Bild eines Haufens dicker, in weite schwarze Gewänder gehüllter Frauen mit, die, das Gesicht und die Hände Waschblau gefärbt, in einem Kreis auf dem Boden hockten. Während sie ihre dämonischen Schreie ausstießen, schlugen sie sich auf die Brust. Gohar hatte plötzlich das Gefühl, er würde ohnmächtig und die Treppe gäbe unter seinen Schritten nach. Er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er auf die Straße hinausgekommen war.
Es war fast Mittag. In der breiten El-Azhar-Straße, die von einer bunten und sorglosen Menge überquoll, gelangte Gohar wieder in den Vollbesitz seiner Kräfte. Hier, inmitten dieser trägen Menge, die sich trotz des dichten Verkehrs der Autos, Droschken, Eselskarren und selbst der Straßenbahnen, die mit der Geschwindigkeit tödlicher Boliden dahinrasten, gleichgültig über die Gehsteige und die Fahrbahn ausbreitete, befand er sich in seinem ihm vertrauten Universum. Die milde Wintersonne ergoß ihre wohltuende Wärme über dieses unentwirrbare Gewimmel. Milane schwebten hoch am Himmel, tauchten in die Menge hinab, nahmen dann ihren Flug wieder auf, wobei sie in ihrem Schnabel ein Stück verdorbenes Fleisch mit sich forttrugen; niemand schenkte ihren geschickten Manövern Beachtung. Gruppen von Frauen standen vor den Geschäften der Stoffhändler; stundenlang handelten sie hartnäckig den Kauf irgendeines bedruckten Tuches aus. Kinder machten sich einen Spaß daraus, Fahrzeugführer zu ärgern, indem sie sich ihnen absichtlich in den Weg stellten. Die Fahrer überhäuften sie mit Verwünschungen, verfluchten sie, sie und ihre abwesenden Mütter, und manchmal überfuhren sie auch einige von ihnen. Aus allen Cafes, die die Straße säumten, ertönte aus dem Radio dieselbe heulende Stimme eines bekannten Sängers. Die Begleitmusik war traurig; der Text beschrieb ausführlich sein Unglück und seine Trauer über eine verhinderte Liebe. Gohar erinnerte sich an seinen toten Nachbarn, an die gellenden Schreie der Klageweiber, und beschleunigte seinen Schritt. Aber es gab keine Möglichkeit, dieser trauernden Stimme zu entkommen, sie war überall und übertönte den Straßenlärm.
Gohar blieb instinktiv stehen, als erahnte er eine Zone der Annehmlichkeit, das Versprechen einer köstlichen Freude inmitten des ihn umgebenden unbestimmten Lärms. Vor einem leeren Geschäft sah er einen älteren, sorgfältig gekleideten Mann würdevoll auf einem Stuhl sitzen, der mit unbeteiligtem und königlichem Gesichtsausdruck die Menge der Passanten beobachtete. Der Mann hatte eine überaus auffallende majestätische Haltung. »Das ist ein Mann nach meinem Geschmack«, dachte er. Dieses leere Geschäft und dieser Mann, der nichts verkaufte, waren für ihn eine unschätzbare Entdeckung. Gohar ahnte, daß das Geschäft lediglich als Dekor diente; er nutzte es, um seine Freunde zu empfangen und ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten. Das war der Gipfel des Überflusses und der Großzügigkeit. Gohar grüßte ihn wie einen alten Bekannten, und der Mann erwiderte seinen Gruß mit einem sanften, kaum wahrnehmbaren Lächeln, so als würde er verstehen, daß man ihn bewunderte.
»Erweise mir die Ehre«, sagte der Mann. »Habe die Güte und laß dich zu einer Tasse Kaffee einladen.«
»Danke«, sagte Gohar, »ein andermal. Ich bitte um Vergebung.«
Sie sahen sich einen Augenblick mit sichtlicher Freude, beinahe zärtlich an, dann setzte Gohar seinen Weg durch die Menge fort. Er war vollkommen glücklich. Es war immer das gleiche: dieses Entzücken, das er gegenüber der absurden Einfachheit des Lebens empfand. Alles war lächerlich und einfach. Er brauchte sich nur umzusehen, um sich davon zu überzeugen. Das wimmelnde Elend, das ihn umgab, hatte nichts Tragisches; es schien einen geheimnisvollen Überfluß in sich zu bergen, die Schätze eines unerhörten und ungeahnten Reichtums. Eine wunderbare Sorglosigkeit schien das Schicksal dieser Menge zu lenken; alle Verworfenheiten erhielten hier den Charakter der Unschuld und der Reinheit. Gohar fühlte sich von einer brüderlichen Zuneigung erfüllt; die Nichtigkeit dieses ganzen Elends begegnete ihm auf Schritt und Tritt und entzückte ihn.
Eine gelbe Straßenbahn fuhr mit höllischem Lärm durch die Straße; sie ließ unaufhörlich ihre Glocke ertönen, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die die Schienen versperrte. Gohar ging an einem Restaurant vorüber, in dem es gekochte dicke Bohnen gab; der Essensduft verursachte bei ihm ein leichtes Unwohlsein; er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und wartete. Nein, es war nicht der Hunger. Hunger zeitigte bei ihm keine Wirkung, er konnte mehrere Tage lang nur von einem Stück Brot leben. Dieses Unwohlsein bedeutete etwas anderes. Er machte einige Schritte, begriff die Ursache für sein Unwohlsein und war beunruhigt. Die Droge! Er hatte die Droge vergessen. Der Tod dieses unwissenden Nachbarn hatte seine Gewohnheiten gewaltig durcheinandergebracht. Gohar erwachte gewöhnlich erst nach Einbruch der Dunkelheit; es war noch zu früh, um sich die Droge zu besorgen. Sein einziger Lieferant war Yeghen, und den konnte er erst am Abend treffen. Es war ausgeschlossen, ihn jetzt zu finden; Yeghen hatte keinen festen Wohnsitz, er wohnte nirgendwo.
Wie sollte er ohne Droge bis zum Abend durchhalten? Diese Aussicht erschreckte ihn ein wenig; er würde leiden, das war ihm klar, und er bereitete sich gelassen auf dieses Leiden vor. Er nahm ein kleines zerknittertes Tütchen aus seiner Tasche, holte eine Pfefferminzpastille heraus und begann sie langsam und eifrig zu lutschen. Sie hatte nicht den herben Geschmack des Haschischkügelchens, aber dieser Ersatz reichte, um ihn zu beruhigen.
Ein wenig weiter lächelte er, als er den unausbleiblichen Bettler erblickte, der in seiner gewohnten Ecke hockte. Es war immer dasselbe Ritual: Jedesmal wenn er an ihm vorüberging, hatte Gohar kein Geld; also entschuldigte er sich, und es entwickelte sich ein amüsantes Gespräch zwischen ihnen. Gohar kannte ihn seit langem und schätzte seine Gesellschaft. Er war ein Bettler ganz besonderer Art, denn er klagte nicht und litt an keinem Gebrechen. Er strotzte im Gegenteil vor Gesundheit, und sein tadelloser Djellaba war fast sauber. Er hatte den bohrenden Blick eines professionellen Bettlers, der die Fähigkeit besitzt, seinen Kunden auf Anhieb richtig einzuschätzen. Gohar bewunderte ihn, weil er nicht einmal daran dachte, den Schein zu wahren. In dem allgemeinen Durcheinander schien niemand seinem Zustand eines gesunden und blühenden Bettlers Bedeutung beizumessen. Inmitten so vieler tatsächlicher Absurditäten erschien das Betteln wie eine Arbeit unter anderen, die einzige vernünftige Arbeit im übrigen. Er saß immer auf demselben Platz, mit der gleichen Würde wie ein Beamter hinter seinem Schreibtisch. Die Leute warfen ihm im Vorübergehen einen Obolus zu. Manchmal fuhr er den Spender an: er hatte gerade eine falsche Münze bekommen. Dann begannen nicht enden wollende Palaver, bei denen die Beleidigungen das Gewicht der Ewigkeit hatten. Er sprach davon, die Polizei zu rufen. Die Sache ging immer zu seinen Gunsten aus.
Gohar blieb stehen, um ihn zu begrüßen.
»Sei gegrüßt«, sagte der Bettler. »Ich sah dich schon von weitem kommen; ich habe dich erwartet.«
»Ich bitte um Vergebung«, sagte Gohar. »Ich habe kein Geld; beim nächsten Mal.«
»Wer hat dir gesagt, daß ich Geld will?«
»Warum nicht? Ich glaube fast, du verachtest mich.«
»Fern liegt mir dieser Gedanke«, verwahrte sich der Bettler. »Allein dich zu sehen entzückt mich; ich plaudere gern mit dir. Deine Gegenwart ist mehr wert als alle Schätze der Erde.«
»Du schmeichelst mir«, sagte Gohar. »Gehen die Geschäfte gut?«
»Gott ist groß!« antwortete der Bettler. »Aber was zählen schon die Geschäfte. Es gibt so viele Freuden im Leben. Kennst du nicht die Geschichte von den Wahlen?«
»Nein, ich lese keine Zeitung.«
»Diese Geschichte stand nicht in der Zeitung. Jemand hat sie mir erzählt.«
»Also, ich höre.«
»Nun! Sie ereignete sich vor einiger Zeit in einem kleinen Dorf in Unterägypten bei den Bürgermeisterwahlen. Als die Regierungsangestellten die Urnen öffneten, bemerkten sie, daß auf den meisten Wahlzetteln der Name Barghout stand. Den Regierungsangestellten war dieser Name unbekannt; er stand auf keiner Parteiliste. Ratlos holten sie Erkundigungen ein, und verblüfft erfuhren sie, daß Barghout der Name eines Esels war, der im ganzen Dorf wegen seiner Weisheit geschätzt wurde. Fast alle Bewohner hatten für ihn gestimmt. Was hältst du von dieser Geschichte?«
Gohar strahlte vor Freude; er war entzückt. »Sie sind unwissend und Analphabeten«, dachte er, »und doch haben sie das Klügste getan, was die Welt jemals erlebt hat, seit es Wahlen gibt.« Das Verhalten dieser Bauern dort in ihrem abgelegenen Dorf war das ermutigende Zeugnis, ohne das das Leben unmöglich würde. Gohar war gerührt vor Bewunderung. Seine Freude wirkte so nachhaltig, daß er den Bettler einen Augenblick lang ganz entgeistert ansah. Ein Milan hatte sich einige Schritte von ihnen entfernt auf die Fahrbahn gesetzt, pickte mit dem Schnabel auf der Suche nach etwas Verfaultem herum, fand nichts und flog wieder davon.
»Wunderbar!« rief Gohar. »Und wie endet die Geschichte?«
»Selbstverständlich wurde er nicht gewählt. Stell dir nur vor, ein vierbeiniger Esel! Was die da oben wollten, das war ein Esel auf zwei Beinen.«
»Für eine so wunderbare Geschichte verdienst du wirklich eine Belohnung. Du hast mein Herz erfreut. Was kann ich für dich tun?«
»Deine Freundschaft genügt mir«, sagte der Bettler. »Ich wußte von vornherein, daß dir die Geschichte gefallen würde.«
»Du erweist mir eine zu große Ehre«, sagte Gohar. »Bis bald, hoffe ich.«
Gohar wandte sich nach links, bog in eine schmutzige, relativ ruhige Gasse ein und steuerte das Cafe des Miroirs an. Er wußte, daß er zu dieser Tageszeit dort niemanden antreffen würde, aber es gefiel ihm, Wunder herauszufordern.
Das Cafe des Miroirs lag am Schnittpunkt zweier Gassen; es nahm den größten Teil der Fahrbahn aus gestampftem Lehmboden ein, die für schwere Fahrzeuge gesperrt war und auf der sich lediglich die fliegenden Händler mit ihren Karren zu fahren getrauten. Riesige Zeltplanen waren über seine gewundene Terrasse gespannt, wie bei einem überdachten Markt. Beeindruckend viele Spiegel mit geschnitzten und vergoldeten Rahmen hingen überall, selbst an den Fassaden der umliegenden baufälligen Häuser. Das Cafe des Miroirs war berühmt für seinen grünen Tee und seine erlesene Kundschaft, die aus Fuhrleuten, Intellektuellen und ausländischen Touristen bestand, die es nach Lokalkolorit dürstete. Im Augenblick waren nicht viele Menschen im Cafe. Gohar überquerte die Terrasse und schlängelte sich auf der Suche nach einem Bekannten zwischen den Tischen hindurch. Beinahe regungslos rauchten einige bedeutend aussehende Personen ruhig ihre Wasserpfeifen; andere spielten Tricktrack und nippten an einem Glas Tee. Einige wenige Abkömmlinge vom Stamm der Kippensammler, die vor den anderen aufgestanden waren, widmeten sich mit gutmütiger Sorglosigkeit ihrer Tätigkeit; sie fürchteten keine Konkurrenz.
»Sei gegrüßt, Meister!«
Gohar drehte sich um; El Kordi hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben und reichte ihm die Hand.
»Wie!« sagte Gohar. »Bist du heute nicht im Ministerium?«
»Ich war dort, bin aber sofort wieder weggegangen; ich konnte nicht arbeiten. Meister, ich bin äußerst unglücklich.«
»Was hast du denn schon wieder, mein Sohn?«
»Ich war bei ihr«, sagte El Kordi mit einem geheimnisvollen Ton in der Stimme. »Sie ist kränker als je zuvor. Ich habe sie schlafen lassen.« Dann, als er merkte, daß Gohar noch stand: »Aber setz dich doch, Meister.«
Gohar setzte sich; El Kordi rief den Kellner.
»Was nimmst du?«
»Einen Tee«, antwortete Gohar.
»Für mich das gleiche«, sagte El Kordi.
Der Kellner entfernte sich wieder, wobei er seine Bestellung mit der singenden Stimme eines Homosexuellen aufgab. Gohar sah El Kordi an, und ein Anflug von Bosheit leuchtete in seinen Augen. El Kordi sah ausgesprochen unglücklich aus, das heißt, er tat alles, um diesen Eindruck zu erwecken. Er war ein gutaussehender junger Mann, sorgfältig gekleidet, mit einem tadellosen Tarbusch, leichten Schlitzaugen und einem sinnlichen und verbitterten Mund. Seine Tätigkeit als einfacher Schreiber in einem Ministerium kränkte seine romantische Seele. Man sah ihm sofort an, daß er zudem ein Gerechtigkeitsfanatiker war.
»Ich kann nicht zulassen, daß sie so weiterlebt«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Ich muß etwas unternehmen. Gib mir einen Rat, wenn nicht, bringe ich mich um.«
Gohar antwortete nicht sofort. Er lutschte immer noch an seiner Pfefferminzpastille und fand Gefallen an diesem Ersatz, der ihn den quälenden Gedanken an die Droge vergessen ließ.
»Warum willst du dich umbringen?«
»Verstehst du denn nicht. Ich muß sie aus diesem Bordell herausholen. Ich kann es nicht zulassen, daß sie, krank wie sie ist, weiterhin ihren Körper verkauft. Und dann diese niederträchtige Bordellbetreiberin, diese Set Amina! Stell dir vor, sie erlaubt ihr noch nicht einmal, sich zu erholen. Wenn ich an all das Geld denke, das sie ihr einbringt. Eine Schande ist das! Ich werde mich umbringen, sag ich dir.«
Gohar schien nicht besonders beeindruckt von El Kordis Erklärung. El Kordis Sorgen waren immer von dieser krankhaften und unerbittlichen Art. Im Moment sah er aus, als würde der Kummer der ganzen Welt auf seinen Schultern lasten. Es handelte sich jedoch nur um eine Befindlichkeit, die er sich von Zeit zu Zeit auferlegte, um an seine Würde zu glauben. El Kordi dachte nämlich, daß allein Unglück und Verzweiflung Würde besitzen. Es war die Lektüre westlicher Literatur, die seinen Geist so irregeleitet hatte.
Die gegenwärtigen Qualen El Kordis verdankten sich dem pathetischen Gesicht einer jungen tuberkulösen Prostituierten, die in einem nahe gelegenen Bordell im Sterben lag. Es handelte sich um ein ziemlich ärmliches Bordell, dessen Kundschaft sich aus den kleinen Beamten und den schäbigen Lebemännern des alten Stadtviertels rekrutierte. Anfangs hatte der junge Mann zwei-oder dreimal mit ihr geschlafen, ohne dem große Bedeutung beizumessen; erst als er erfuhr, daß sie krank war, hatte sich El Kordi, der immer auf der Lauer nach sozialer Ungerechtigkeit lag, unsterblich in sie verliebt. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, sie aus dem Bordell herauszuholen und vor einem schmachvollen Tod zu bewahren, aber er besaß nicht genügend Geld, um sich diese Art von Rettungstat leisten zu können. So ersann er unaufhörlich feinsinnige Lösungen für seine unglückliche Liebe. Im Augenblick hatte er sich für Selbstmord entschieden; allerdings schien es, als sollte dies kein unumstößlicher Entschluß sein, denn er fragte:
»Was soll ich tun?«
Gohar schwieg; er sah aus, als amüsierte er sich auf eine seltsame Art und Weise. In seinem unbewegten Gesicht spiegelten allein die Augen seine innere Freude wider. Nach einer kurzen Pause sagte er:
»Hör zu, ich werde dir eine wunderbare Geschichte erzählen.«
»Was für eine?« fragte El Kordi.
Gohar erzählte ihm die Geschichte vom Esel Barghout, der wegen seiner großen Weisheit von einigen Bauern in Unterägypten zum Bürgermeister gewählt worden war.
El Kordi hatte zu lächeln begonnen, sich aber sofort wieder gefaßt. Dies war mit Sicherheit nicht der geeignete Augenblick für Scherze. Man mußte im Gegenteil die Gelegenheit nutzen, um Gohar zu beweisen, daß es im Leben auch ernste Dinge gab. Plötzlich wurde er heftig.
»Das ist ja entsetzlich«, sagte er. »Was für Barbaren!«
»Findest du, es sind Barbaren?«
»Ja. Und die Regierung mißbraucht ihre Unwissenheit.«
»Aber sie haben deiner Regierung gerade eine ordentliche Lektion erteilt.«
»Meister, zunächst einmal ist das nicht meine Regierung«, sagte El Kordi erhitzt. »Und dann bevorzuge ich im Kampf gegen die Unterdrückung andere Methoden. Du wirst wohl zugeben, daß es ernste Dinge im Leben gibt.«
»Wo siehst du etwas, was ernst ist, mein Sohn?«
Auf der Suche nach einem Beispiel für Ernst oder Größe schaute sich El Kordi instinktiv um; aber sein Blick blieb lediglich auf einem kleinen, schmutzigen, mit Lumpen bedeckten Kippensammler haften, der seit kurzem in der Nähe ihres Tisches herumschlich und ihr Gespräch belauschte. Er verrichtete sein Geschäft mit der Feierlichkeit eines genau festgelegten Rituals und suchte noch an den entlegensten Stellen nach Zigarettenstummeln. Irritiert durch dieses Umherstreifen, stand El Kordi auf und verrückte seinen Stuhl, damit er den Boden besser absuchen konnte. Trotzdem ging der Junge immer noch nicht weg; er schien wie mit einem unsichtbaren Seil mit ihnen verbunden zu sein. El Kordi setzte sich wieder, und während er den Jungen ansah, sagte er mit einem ironischen und verletzenden Ton in der Stimme:
»Nun, mein Bey, trinkst du eine Tasse Kaffee mit uns?«
»Danke«, antwortete das Kind, »ich habe gerade eine im Cafe Bosporus getrunken.«
Das Bosporus war ein luxuriöses Cafe in gediegenem Stil, in das El Kordi noch niemals seinen Fuß gesetzt hatte.
»Hundesohn!« sagte er wutentbrannt. »Verschwinde, oder ich erwürge dich!«
Das Kind verzog verächtlich den Mund und ging fort. Als es sich ein Stück entfernt hatte, brach El Kordi in Gelächter aus.
»Hast du das gehört, Meister? Wieviel Witz er hat! Wunderbar, dieses Kind.«
Gohar lächelte und sah den jungen Mann mit dem Ausdruck wohlwollender Ironie an. Was ihm vor allem an ihm gefiel, war seine ungeheure Bedeutungslosigkeit. El Kordi war ein Revolutionär, er dachte über die Zukunft der Massen und die Freiheit der Völker nach; trotzdem war er bedeutungslos, er entkam dieser lächerlichen Welt nicht. Er mochte gegen die Unterdrückung aufbegehren, sich und ein ganzes Volk verfolgt glauben, aber sobald er instinktiv reagieren mußte, wurde er oberflächlich und gefiel sich in den nichtigsten Handlungen.
Jetzt schien er seine Verbitterung abgelegt zu haben. Der Zwischenfall mit dem kleinen Kippensammler hatte ihn all seiner Sorgen entledigt; er gab sich einer kindlichen Freude hin. Er empfand lebhafte Befriedigung darüber, mit Gohar zusammenzusein; mit Gohar wurde alles so einfach. Die Gegenwart Gohars machte alle Schwierigkeiten des Lebens hinfällig; die größten Katastrophen schienen plötzlich ungewöhnlich komisch. In seiner Nähe fand El Kordi zu seiner kindlichen Unbefangenheit zurück.
»Und die Reise, Meister?«
»Ich vergesse sie nicht, mein Sohn.«
»Du solltest verreisen«, sagte El Kordi herzlich. »Das wäre wunderbar für dich.«
Wenn man mit ihm über diese Reise sprach, schloß Gohar die Augen, so als würde die Sehnsucht nach einer weit entfernten Landschaft all seine Aufmerksamkeit erfordern. Verreisen, den Zug nach Syrien nehmen. Das war ein Traum, den er seit langem hegte, der einzige, den er sich zugestand, und das, weil er mit dem Quell seiner Glückseligkeit verknüpft war. In Syrien gab es kein Verbot von Drogen. Das Haschisch wuchs dort frei auf den Feldern, wie gewöhnlicher Klee.
Gohar hatte diese außergewöhnlichen Tatsachen einst beiläufig erfahren, und seither träumte er unaufhörlich davon. Dieses kleine Nachbarland schien ihm ein paradiesischer Ort zu sein. Es war wirklich ungerecht, dazu verurteilt zu sein, hier zu leben, während nur wenige Stunden entfernt die Droge für jedermann frei zugänglich war. Gohar wägte das gesamte Ausmaß dieser Ungerechtigkeit ab; er konnte es dem Schicksal nicht nachsehen, daß er auf dieser Seite der Grenze geboren war. In seinem tiefsten Innern war er überzeugt davon, niemals in dieses Land zu kommen; und doch lebte er manchmal in Gedanken dort. Für ihn war Syrien der Inbegriff einer Landschaft mit sattgrünem Gras, Gras, das nichts anderes als die Droge in ihrer natürlichen Gestalt, ihrem ersten Aufblühen war. In schwierigen Augenblicken, wenn er schon lange kein Rauschgift mehr bekommen hatte, reichte ihm der Gedanke an diese einfache Landschaft, um sich zu berauschen.
»Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du riesige Felder mit Haschisch bestellst«, sagte El Kordi.
»Zunächst einmal müßte ich dort hinfahren«, sagte Gohar. »Und das ist nicht einfach.«
»Ach ja, das Geld! Hör zu, Meister, ich möchte dich um einen Rat bitten.«
»Ich stehe ganz zu deiner Verfügung«, sagte Gohar.
El Kordi gebärdete sich wie ein Verschwörer und sagte:
»Nun, also, ich muß dieses arme Mädchen retten. Selbst wenn ich dafür zum Dieb werde. Verstehst du, selbst wenn ich zum Dieb werde. Was hältst du davon?«
Gohar überlegte. Er hatte nichts gegen Diebstahl; alle stahlen. Nur gab es hierbei verschiedene Formen und Nuancen, die El Kordi sicherlich abgehen würden. Er mochte den jungen Mann sehr; es hätte ihm mißfallen, mitansehen zu müssen, wie er im Gefängnis endete. Er würde ihm fehlen. Außerdem war El Kordi nicht in der Lage, der Sicherheit, die einem das Gefängnis bot, die entsprechende Wertschätzung entgegenzubringen, er würde sich seelisch aufreiben und sich idiotische Gedanken über die Freiheit machen. Trotzdem hielt Gohar es für unnötig, ihm das alles zu erklären.
»Du überraschst mich«, sagte er. »Ein ehrbarer Beamter wie du!«
»Dem ehrbaren Beamten, wie du ihn nennst, ist die Feder aus der Hand genommen worden«, sagte El Kordi. »Weißt du, daß mein Bürovorsteher mir die Feder aus der Hand genommen hat? >Diese arme Regierungsfeder verrostet in deiner Hand, mein lieber Effendi El Kordi, ich denke, daß andere sich ihrer besser zu bedienen wissen<, das hat er mir gesagt. Du siehst mich hier als einen Schreiber ohne Feder vor dir sitzen.«
»Um so besser für dich«, sagte Gohar. »Ich gratuliere dir.«
An einem Nebentisch diskutierten zwei völlig erblindete alte Scheichs über den künstlerischen Wert einer berühmten Moschee. Schließlich beschimpfte der eine den anderen als falschen Blinden. Diese offene Beleidigung beendete ihr Gespräch abrupt. Sie verließen sofort ihren Tisch, und jeder ging seines Weges, wobei sie Beschimpfungen von hoher literarischer Qualität vor sich hin brummten. El Kordi schien sein Vorhaben, ein Dieb zu werden, genauso vergessen zu haben, wie er vergessen hatte, sich umbringen zu wollen. Es war bereits zwei Uhr, und er wußte nicht, wie er seinen Nachmittag verbringen sollte.
»Ißt du mit mir zu Mittag, Meister?«
»Nein, ich esse niemals um diese Zeit«, sagte Gohar. »Außerdem habe ich keinen Hunger.«
Er mußte an seine Droge herankommen; seine quälenden Gedanken wurden unerträglich. Es wurde ihm bewußt, daß er die ganze Zeit auf das Eintreffen von Yeghen gewartet hatte.
»Hast du Yeghen heute noch nicht gesehen?«
»Doch, ich habe ihn bei Set Amina gesehen, als ich Naila besuchte. Er schlief auf dem Sofa im Vorzimmer. Ich wollte ihn nicht aufwecken; ich glaube, er hat die Nacht dort verbracht.«
Panik ergriff Gohar. Die Vorstellung, daß Yeghen an einem Ort war, wo er ihn treffen könnte, ließ ihn hochfahren.
»Ich muß dich verlassen, mein lieber El Kordi. Wir sehen uns heute abend wieder.«
»Wie, du überläßt mich einfach so meinem traurigen Schicksal«, sagte El Kordi und setzte ein bedauernswertes Gesicht auf
»Ich bitte um Vergebung, aber ich muß. Gehab dich wohl!«
Gohar durchschritt das Cafe in fiebriger Hast. Gäste luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, aber er schlug ihr Angebot höflich aus. Als er sich ein wenig entfernt hatte, spuckte er die Pfefferminzpastille aus, die langsam Übelkeit bei ihm hervorrief Der Gedanke an das nahe Haschisch flößte ihm neue Energie ein. Leichten Schrittes verschwand er im Gewirr der Gassen, die von wackeligen, baufälligen Häusern gesäumt waren, die bestimmt bald einstürzen würden.