Vierundzwanzig

Die piana del crasticeddru, die Crasticeddru-Ebene, die sich von der Felsnase aus erstreckte, hielt sich nicht einmal im Traum für eine Ebene: Senken, Kuppen, Schlammlöcher gaben den idealen Ort für ein Geländerennen ab. Der Tag war eindeutig ein Vorbote des Sommers, und die Leute warteten nicht bis nachmittags, um auf die Piana zu gehen; sie kamen schon vormittags mit Oma, Opa, Kind und Kegel und alle mit dem Vorsatz, nicht nur das Rennen, sondern vor allem einen Ausflug ins Grüne zu genießen.

Vormittags hatte Montalbano Nicolò Zito angerufen. »Kommst du heute nachmittag mit zum Motocross-Rennen?«

»Ich? Wozu denn das? Wir schicken einen Sportreporter und einen Kameramann hin.«

»Nein, ich meine, ob wir zusammen hingehen, du und ich, zu unserem Vergnügen?«

Sie trafen um halb vier an der Piana ein, und dort war vom Beginn des Rennens noch gar keine Rede, aber es herrschte ein ohrenbetäubendes Getöse vor allem von den Motoren der etwa fünfzig Motorräder, die getestet und aufgewärmt wurden, und von den Lautsprechern, die in voller Lautstärke eine Höllenmusik übertrugen.

»Seit wann interessierst du dich denn für Sport?« wunderte sich Zito.

»Hin und wieder packt's mich.«

Obwohl sie im Freien waren, mußten sie schreien, um sich zu verständigen. So bemerkten nur wenige Leute das kleine Sportflugzeug mit dem Werbeband am Heck, das plötzlich hoch über dem Crasticeddru aufgetaucht war; das Motorengeräusch des Fliegers, das einen sonst unwillkürlich zum Himmel blicken läßt, drang den Leuten nicht bis ans Ohr. Vielleicht begriff der Pilot, daß er so nie die Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Also drehte er noch drei kleine Runden über dem Crasticeddru, steuerte dann auf die Piana und die Menge zu, ging elegant auf Sturzflug und flog knapp über den Köpfen der Leute. Er zwang die Menschen praktisch, das Werbeband zu lesen und ihm dann mit dem Blick zu folgen, während er leicht hochzog, drei weitere Runden drehte, im Sinkflug fast den Boden vor dem offenen Eingang der Waffenhöhle berührte und dann Rosenblätter regnen ließ. Die Menge verstummte, alle dachten an die beiden Toten vom Crasticeddru, während das Flugzeug abdrehte, wieder zurückkam, knapp über dem Erdboden flog und diesmal unzählige kleine Zettel abwarf. Dann steuerte es auf den Horizont zu und verschwand. Die Aufschrift auf dem Werbeband hatte schon große Neugierde geweckt, weil sie weder für ein Getränk noch für eine Möbelfabrik warb, sondern lediglich zwei Namen trug – Lisetta und Mario.

Beim Abwurf der Blütenblätter hatten die Menschen schon fast eine Gänsehaut gekriegt, aber als sie die Zettel lasen, die alle identisch waren, da war großes Rätselraten angesagt, und sie ließen sich zu den wildesten Vermutungen und Hypothesen hinreißen. Was hatte Lisetta und Mario verkünden ihr Erwachen zu bedeuten? Eine Hochzeitsanzeige war das nicht, auch keine Taufanzeige. Aber was dann? Im Wirrwarr der Fragen waren sich die Leute nur über eines klar: Das Flugzeug, die Rosenblätter, die Zettel, das Werbeband hatten etwas mit den Toten vom Crasticeddru zu tun.

Dann begann das Rennen, die Leute ließen sich ablenken und schauten zu. Als das Flugzeug die Blütenblätter abwarf, hatte Nicolò Zito zu Montalbano gesagt, er solle sich nicht von der Stelle rühren, und war in der Menge verschwunden.

Nach einer Viertelstunde kam er mit dem Kameramann von »Retelibera« zurück. »Gewährst du mir ein Interview?«

»Gern.«

Montalbanos unerwartete Bereitwilligkeit bestätigte den Verdacht, den der Journalist bereits hegte, nämlich daß Montalbano bis über beide Ohren in dieser Flugzeuggeschichte mit drinsteckte.

»Vor wenigen Minuten ist während der Vorbereitungen für das Motocross-Rennen, das hier in Vigàta stattfindet, etwas Ungewöhnliches geschehen. Ein kleines Werbeflugzeug...«

Und dann schilderte er, was geschehen war. »Durch einen glücklichen Zufall ist auch Commissario Salvo Montalbano hier, dem wir jetzt ein paar Fragen stellen wollen. Wer sind Ihrer Meinung nach Lisetta und Mario?«

»Ich könnte Ihre Frage umgehen«, erklärte der Commissario ganz offen, »und sagen, daß ich nichts darüber wüßte, daß es sich womöglich um ein Brautpaar handelt, das seine Hochzeit auf originelle Weise feiern will. Aber dem widerspräche der Text auf den Zetteln, in dem nichts von Hochzeit, sondern von Erwachen steht. Deshalb will ich Ihre Frage aufrichtig beantworten: Lisetta und Mario sind die Namen der beiden jungen Menschen, die hier ermordet gefunden wurden, in der Grotte im Crasticeddru, der Felsnase, an der wir hier stehen.«

»Aber was hat das alles zu bedeuten?«

»Das weiß ich auch nicht, man müßte die Person fragen, die den Flug organisiert hat.«

»Wie haben Sie die beiden denn identifiziert?«

»Durch Zufall.«

»Können Sie uns sagen, wie sie mit Nachnamen hießen?«

»Nein. Ich weiß es, aber ich werde es nicht sagen. Ich verrate nur, daß sie ein junges Mädchen aus unserer Gegend und er ein Matrose aus dem Norden war. Ich möchte noch sagen, daß derjenige, der so spektakulär an die Entdeckung der beiden Leichen erinnern wollte, die er als ‚Erwachen’ bezeichnet, den Hund vergessen hat, der arme Kerl hatte nämlich auch einen Namen. Er hieß Kytmyr und war ein arabischer Hund.«

»Aber wozu soll der Mörder das alles inszeniert haben?«

»Moment – wer sagt denn, daß der Mörder und derjenige, der das inszeniert hat, dieselbe Person sind? Ich glaube das zum Beispiel nicht.«

Nicolò Zito warf ihm einen sonderbaren Blick zu und sagte dann: »Ich schneide den Bericht jetzt sofort.«

Dann kamen die Leute von »Televigàta«, von den Regionalnachrichten der RAI, von anderen Privatsendern. Montalbano beantwortete alle Fragen höflich und – gar nicht typisch – ungewöhnlich entspannt.

Er hatte einen Mordshunger und schlug sich in der Osteria San Calogero mit antipasti di mare den Bauch voll, dann fuhr er schnell nach Hause, machte den Fernseher an und stellte »Retelibera« ein. Nicolò Zito bauschte die Nachricht von dem mysteriösen Flugzeug gehörig auf und machte eine Riesengeschichte daraus. Doch die Krönung war nicht sein eigenes Interview, das in voller Länge gesendet wurde, sondern das für den Commissario völlig unerwartete Interview mit dem Chef der Werbeagentur »Publiduemila« in Palermo, die Zito leicht ausfindig gemacht hatte, weil sie in ganz Westsizilien die einzige Agentur war, die über ein Flugzeug für Reklamezwecke verfügte.

Der Chef war ganz aufgeregt und sagte, eine bildschöne junge Frau (»Mein Gott, was für eine Frau! Wirklich ganz unwirklich schön, wie so ein Model aus der Illustrierten, meine Güte, war die schön!«), jedenfalls eine Ausländerin, weil sie schlecht italienisch gesprochen habe (»Habe ich ‚schlecht’ gesagt? Das stimmt natürlich nicht, von ihren Lippen klangen unsere Worte süß wie Honig«), nein, über ihre Nationalität könne er keine genauen Angaben machen, Deutsche oder Engländerin, diese Frau also sei vor vier Tagen in die Agentur gekommen (»Mein Gott! Was für eine Erscheinung!«) und habe sich nach dem Flugzeug erkundigt. Sie habe ganz genau erklärt, was auf dem Werbeband und auf den Zetteln stehen müsse. Ja, sie habe die Rosenblätter bestellt. Ach, und wie detailliert sie die Örtlichkeiten beschrieben habe. Sehr präzise. Der Pilot, sagte der Agenturchef, habe dann selbst die Initiative ergriffen: Anstatt die Zettel aufs Geratewohl auf die Küstenstraße fallen zu lassen, habe er sie lieber über einer Menschenmenge abgeworfen, die bei einem Rennen zugesehen habe. Die Signora (»Madonna santa, jetzt sage ich lieber nichts mehr, sonst bringt mich meine Frau noch um!«) habe im voraus und bar gezahlt, die Rechnung habe sie sich auf den Namen Rosemarie Antwerpen ausstellen lassen, und die Adresse sei in Brüssel gewesen. Er habe der Unbekannten (»Meine Güte!«) keine weiteren Fragen gestellt, warum auch? Die Frau wollte schließlich keine Bombe abwerfen lassen! Sie war so schön! So fein! So freundlich! Und ihr Lächeln! Ein Traum.

Montalbano amüsierte sich königlich. Das war seine Idee gewesen: »Ingrid, du mußt dich noch schöner machen. Dann begreifen die Leute, wenn sie dich sehen, überhaupt nichts mehr.«

Auch »Televigàta« stürzte sich auf die geheimnisvolle Schöne, nannte sie die »wiederauferstandene Nofretete« und bastelte eine phantastische Geschichte zusammen, die die Pyramiden mit dem Crasticeddru in Verbindung brachte, aber es war klar, daß sich der Sender an Nicolò Zitos Bericht im Konkurrenzsender dranhängte. Auch die regionale Ausgabe der RAI widmete sich der Geschichte ausgiebig.

Echo, Aufsehen, Spektakel – Montalbano hatte erreicht, was er wollte, er hatte mit seiner Idee einen Volltreffer gelandet.

»Montalbano? Hier ist der Questore. Gerade habe ich die Geschichte mit dem Flugzeug gehört. Gratuliere, das war ja genial.«

»Es ist Ihr Verdienst, Sie sagten doch, ich solle dranbleiben, erinnern Sie sich? Ich versuche unseren Mann aus seinem Versteck zu locken. Wenn er sich nicht innerhalb einer angemessenen Zeit meldet, dann heißt das, daß er nicht mehr unter uns ist.«

»Viel Glück. Halten Sie mich auf dem laufenden. Ach ja, das Flugzeug haben natürlich Sie bezahlt?«

»Klar. Ich vertraue auf die versprochene Sonderzulage.«

»Commissario? Hier ist Preside Burgio. Meine Frau und ich sind voller Bewunderung für Ihre Initiative.«

»Jetzt können wir nur hoffen.«

»Noch etwas, Commissario: Lassen Sie es uns unbedingt wissen, falls Lillo zufällig auftaucht.«

In den Spätnachrichten berichtete Nicolò Zito ausführlicher über die Geschichte und brachte Bilder der beiden Toten vom Crasticeddru, die er heranzoomte und im Detail zeigte.

Und die der eifrige Jacomuzzi freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, dachte Montalbano. Zito zeigte nacheinander den Leichnam des Jungen, den er Mario nannte, und den des Mädchens, das er Lisetta nannte; er zeigte, wie das Flugzeug die Rosenblätter fallen ließ und eine Großaufnahme des Textes auf den Zetteln. Und dann entspann er eine ebenso mysteriöse wie herzzerreißende Story, die eigentlich nicht zum Stil von »Retelibera«, sondern eher zu »Televigàta« paßte. Warum war das junge Liebespaar ermordet worden? Welches traurige Schicksal hatte es so enden lassen? Wer hatte es so pietätvoll in der Höhle zurechtgelegt? War die wunderschöne Frau, die in der Werbeagentur erschienen war, vielleicht aus der Vergangenheit auferstanden, um im Namen der Ermordeten Sühne zu verlangen? Und welche Verbindung gab es zwischen der Schönen und dem jungen Paar von vor fünfzig Jahren? Was bedeutete Erwachen? Wie kam es, daß Commissario Montalbano sogar dem Hund aus Terracotta einen Namen geben konnte? Was wußte er über das Geheimnis?

»Salvo? Ich bin's, Ingrid. Hoffentlich hast du nicht gedacht, ich würde mit deinem Geld abhauen.«

»Ich bitte dich! Warum, ist denn noch was übrig?«

»Ja, es hat nicht mal die Hälfte der Summe gekostet, die du mir gegeben hast. Den Rest habe ich, du kriegst ihn, sobald ich wieder in Montelusa bin.«

»Von wo aus rufst du denn an?«

»Aus Taormina. Ich habe jemanden getroffen. In vier oder fünf Tagen bin ich wieder zurück. War ich gut? Ist alles so gelaufen, wie du es wolltest?«

»Du warst einfach klasse. Viel Vergnügen!«

»Montalbano? Hier ist Nicolò. Haben dir die Berichte gefallen? Du kannst dich bei mir bedanken.«

»Wofür?«

»Ich habe genau das getan, was du wolltest.«

»Ich hatte dich um nichts gebeten.«

»Na ja, nicht direkt. Aber ich bin ja nicht blöd, mir war schon klar, daß um die Geschichte möglichst viel Wirbel gemacht und sie so präsentiert werden sollte, daß sie die Leute mitreißt, das wolltest du doch. Ich habe Dinge gesagt, für die ich mich Zeit meines Lebens schämen werde.«

»Danke, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wofür ich dir danken soll.«

»Weißt du, daß unsere Vermittlung mit Anrufen bombardiert wird? Die RAI, die Fininvest, die Ansa, alle italienischen Zeitungen wollen die Aufzeichnung haben. Du hast ganz schön auf den Putz gehauen. Darf ich dich was fragen?«

»Natürlich.«

»Wieviel hat dich die Miete des Flugzeugs gekostet?«

Er schlief wunderbar, so wie Götter schlafen, wenn sie mit ihrem Werk zufrieden sind. Er hatte sein Möglichstes und sogar Unmöglichstes getan, jetzt konnte er nur noch auf eine Antwort warten; die Botschaft war auf den Weg gebracht, jetzt mußte nur noch jemand den Code entschlüsseln, um es mit Alcide Maraventato zu sagen.

Der erste Anruf kam um sieben Uhr morgens. Es war Luciano Acquasanta vom »Mezzogiorno«, der sich in seiner Meinung bestätigt wissen wollte. Könnte es nicht sein, daß das junge Paar bei einem satanischen Ritus geopfert wurde?

»Warum nicht?« sagte Montalbano höflich und für alles offen.

Der zweite Anruf kam eine Viertelstunde später. Die Theorie von Stefania Quattrini von der Zeitschrift »Essere donna« bestand darin, daß Mario beim Liebesakt mit Lisetta – man kennt doch die Seeleute von einer anderen eifersüchtigen Frau erwischt wurde, die alle beide kaltgemacht hat. Dann floh sie ins Ausland, vertraute sich aber, kurz bevor sie starb, ihrer Tochter an, die wiederum ihrer Tochter die Schuld der Großmutter eingestand. Um das irgendwie wiedergutzumachen, kam das Mädchen nach Palermo – sie sprach doch mit ausländischem Akzent, nicht wahr? – und arrangierte die Geschichte mit dem Flugzeug.

»Warum nicht?« sagte Montalbano höflich und für alles offen.

Cosimo Zappalà von dem Wochenblatt »Vivere!« teilte ihm seine Hypothese um sieben Uhr fünfundzwanzig mit. Lisetta und Mario pflegten, trunken vor Liebe und jugendlichem Überschwang, nackt wie Adam und Eva und händchenhaltend spazierenzugehen. Eines schlimmen Tages liefen sie einer Abteilung deutscher Soldaten über den Weg, die sich im Rückzug befanden und ebenfalls trunken waren, vor Angst und Grausamkeit, und wurden vergewaltigt und erschossen. Kurz bevor er starb, vertraute sich einer der Deutschen... Und hier knüpfte die Geschichte merkwürdigerweise an die von Stefania Quattrini an.

»Warum nicht?« sagte Montalbano höflich und für alles offen.

Um acht stand Fazio vor der Tür und brachte ihm, wie ihm am Abend zuvor befohlen, alle Tageszeitungen, die in Vigàta zu bekommen waren. Während Montalbano weiter Telefonanrufe beantwortete, blätterte er sie durch. In allen spielte die Nachricht eine mehr oder weniger große Rolle. Am meisten amüsierte ihn die Schlagzeile des »Corriere«. Da hieß es: Kommissar identifiziert Hund aus Terracotta, der vor fünfzig Jahren starb. Aus allem ließ sich etwas machen, auch aus der Ironie.

Adelina wunderte sich, daß der Commissario zu Hause war, was sonst nie vorkam.

»Adelina, ich werde ein paar Tage daheim bleiben, ich erwarte nämlich einen wichtigen Anruf, und du mußt mir mein Einsiedlerdasein bitte möglichst angenehm gestalten.«

»Ich versteh' nicht, was Sie da sagen.«

Montalbano erklärte ihr, daß es ihre Aufgabe sei, ihm seinen freiwilligen Gefängnisaufenthalt mit einer Extraportion an Phantasie bei der Zubereitung von Mittag- und Abendessen zu erleichtern.

Gegen zehn rief Livia an.

»Was ist denn bei dir los? Das Telefon ist dauernd besetzt!«

»Tut mir leid, ich kriege jede Menge Anrufe wegen einer Sache, die...«

»Ich weiß, worum es geht. Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Du warst unbefangen und schlagfertig, ganz anders als sonst. Anscheinend geht's dir besser, wenn ich nicht da bin.«

Er rief Fazio im Büro an und bat ihn, ihm die Post nach Hause zu bringen und eine Verlängerungsschnur für das Telefon zu kaufen. Die Post, fügte er hinzu, müsse ihm täglich gebracht werden, sobald sie angekommen sei. Und das solle er den anderen sagen: Wenn jemand nach ihm frage, müsse dieser Person in der Vermittlung ohne langes Getue seine Privatnummer gegeben werden. Es verging keine Stunde, da kam Fazio auch schon mit zwei bedeutungslosen Postkarten und der Verlängerungsschnur.

»Was reden sie im Büro?«

»Was sollen sie schon reden? Nichts. Sie ziehen halt wie ein Magnet die großen Geschichten an, und Dutturi Augello zieht den ganzen Kleinkram an, geklaute Handtaschen, kleine Diebstähle, ab und zu eine Schlägerei.«

»Wie meinst du das, daß ich die großen Geschichten anziehe?«

»So wie ich es gesagt habe. Meine Frau zum Beispiel fürchtet sich vor Mäusen. Und trotzdem, das müssen Sie mir glauben, lockt sie sie an. Wo sie auch hingeht, es sind immer Mäuse da.«

 

Seit achtundvierzig Stunden lag er wie ein Hund an der Kette, sein Aktionsradius war gerade so groß, wie es die Verlängerungsschnur erlaubte, er konnte also weder an den Strand runter noch joggen gehen. Das Telefon trug er immer mit sich herum, sogar wenn er aufs Klo ging, und manchmal – was ihm nach den ersten vierundzwanzig Stunden zur Manie wurde – nahm er den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr, um zu kontrollieren, ob das Telefon auch funktionierte. Am Morgen des dritten Tages dachte er: Warum wäschst du dich eigentlich, wenn du doch nicht raus kannst?

Der nächste Gedanke, der eng mit dem ersten zusammenhing, lautete: Wozu rasierst du dich dann überhaupt? Adelina erschrak, als sie ihn am Morgen des vierten Tages sah – dreckig, unrasiert, in Hausschlappen und immer noch demselben Hemd.

»Maria santissima, dutturi, was ist los mit Ihnen? Sind Sie krank?«

»Ja.«

»Warum rufen Sie denn nicht den Arzt?«

»Meine Krankheit ist nichts für einen Arzt.«

Er war ein berühmter Tenor, der in der ganzen Welt gefeiert wurde. Heute abend mußte er in der Oper von Kairo singen, in der alten, die noch nicht in Flammen aufgegangen war; er wußte genau, daß die Flammen auch sie bald verschlingen würden. Er hatte einen Bediensteten gebeten, ihm sofort Bescheid zu sagen, wenn Signor Gegè seinen Platz eingenommen hätte, den fünften von rechts in der zweiten Reihe. Er war im Kostüm, an seine Maske war gerade noch mal letzte Hand gelegt worden. Er hörte den Ruf »nächste Szene!«. Er rührte sich nicht, atemlos kam der Bedienstete angelaufen und teilte ihm mit, daß Signor Gegè – der nicht tot, das wußte man, sondern nach Kairo geflüchtet war – noch nicht erschienen sei. Er stürzte auf die Bühne und warf durch einen schmalen Schlitz im Vorhang einen Blick in den Saal: Das Theater war vollbesetzt, nur der fünfte Platz von rechts in der zweiten Reihe war leer. Da faßte er spontan einen Entschluß. Er kehrte in seine Garderobe zurück, zog das Kostüm aus und seine Kleider wieder an; die Schminke, den langen grauen Bart und die buschigen weißen Augenbrauen ließ er unberührt. Niemand würde ihn mehr erkennen, er würde also nicht mehr singen. Er wußte genau, daß seine Karriere zu Ende war, daß er sich etwas einfallen lassen mußte, um zu überleben, aber er wußte nicht, was er sonst tun sollte: Ohne Gegè konnte er nicht singen.

Schweißgebadet wachte er auf. Er hatte auf seine Weise einen klassischen Freudschen Traum zusammengeträumt, den vom leeren Platz. Was bedeutete er? Daß er vergebens auf Lillo Rizzitano wartete und damit sein Leben ruinierte?

»Commissario? Hier ist Preside Burgio. Ich habe schon eine ganze Weile nichts von Ihnen gehört. Gibt's irgendwas Neues von unserem gemeinsamen Freund?«

»Nein.«

Montalbano war einsilbig und kurz angebunden, auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen. Lange oder überflüssige Telefongespräche mußte er abblocken, denn wenn Rizzitano sich entschloß anzurufen und das Telefon besetzt war, überlegte er es sich vielleicht anders.

»Ich glaube, wenn wir mit Lillo sprechen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig – verzeihen Sie mir diesen Quatsch –, als eine spiritistische Sitzung zu veranstalten.«

Mit Adelina gab es einen fürchterlichen Krach. Die Haushälterin war kurz zuvor in die Küche gegangen, wo er sie schimpfen hörte. Dann erschien sie bei ihm im Schlafzimmer.

»Sie haben gestern weder zu Mittag noch zu Abend gegessen!«

»Ich hatte keinen Appetit, Adeli.«

»Ich rackere mich hier ab und koche die feinsten Sachen, und Sie verschmähen sie!«

»Ich verschmähe sie nicht, ich habe einfach nur keinen Appetit.«

»Und das ganze Haus ist ein Saustall! Ich darf nicht putzen und die Wäsche nicht waschen! Seit fünf Tagen haben Sie dasselbe Hemd und dieselbe Unterhose an! Sie stinken!«

»Bitte entschuldige, Adelina, es ist bald vorbei.«

»Dann sagen Sie mir Bescheid, wenn es vorbei ist, dann komm' ich wieder. Vorher setze ich keinen Fuß mehr in dieses Haus. Wenn es Ihnen bessergeht, können Sie mich ja anrufen.«

Er ging in die Veranda, setzte sich auf die Bank, stellte das Telefon neben sich und sah aufs Meer hinaus. Er konnte nichts anderes tun, lesen, denken, schreiben, nichts. Nur das Meer anschauen. Er begriff, daß er dabei war, im bodenlosen Brunnen einer Obsession zu versinken. Ein Film, den er einmal gesehen hatte und dem vielleicht ein Roman von Dürrenmatt als Vorlage gedient hatte, fiel ihm ein: Da wartete ein Kommissar beharrlich auf einen Mörder, der an einer bestimmten Stelle in den Bergen vorbeikommen mußte, jedoch nie mehr vorbeikommen würde, aber das wußte der Kommissar nicht, er wartete, wartete immer weiter, und inzwischen vergingen die Tage, die Monate, die Jahre...

Gegen elf an diesem Vormittag klingelte das Telefon. Nach dem Gespräch mit dem Preside am Morgen hatte niemand mehr angerufen. Montalbano hob nicht ab, er war wie gelähmt. Er wußte mit absoluter Sicherheit – den Grund dafür konnte er sich nicht erklären –, wer am anderen Ende der Leitung war. Dann gab er sich einen Ruck und nahm den Hörer ab.

»Pronto? Commissario Montalbano?«

Eine schöne, tiefe Stimme, wenn auch die eines alten Mannes. »Ja, ich bin's«, antwortete der Commissario und fügte – er konnte nicht anders – hinzu: »Endlich!«

»Endlich«, sagte auch der andere.

Sie schwiegen einen Augenblick und lauschten nur ihrem Atem.

»Ich bin gerade in Punta Ràisi gelandet. Um dreizehn Uhr dreißig könnte ich spätestens bei Ihnen sein. Wenn Ihnen das paßt, erklären Sie mir bitte genau, wo ich Sie finde. Ich war schon lang nicht mehr im Dorf. Seit einundfünfzig Jahren.«