Kapitel VI Kirche
Omka verlor noch drei Kinder. Jedes Mal wurde sie ins Krankenhaus gebracht und medizinisch nachversorgt, bekam Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und zweimal musste man die Gebärmutter ausschaben, weil die aufgebaute Schleimhaut sich nicht von selbst löste. Im Krankenhaus bat man sie, sich die Ultraschallbilder anzusehen, weil das wichtig sei, um mit dem Vorgefallenen umzugehen, und man bot ihr die Möglichkeit, die Kinder zusammen mit Josef zu begraben, aber sie lehnte ab. Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung für das, was passiert war. Das Gefühl des Mangels war wie eine runde, flache Stelle in ihrem Inneren, dort, wo eigentlich etwas sein sollte – das Herz oder etwas Ähnliches, dachte sie sich, um sich selbst im nächsten Moment furchtbar leidzutun. Mehr und mehr verlor sie den Glauben daran, dass sie etwas Eigenes besaß oder jemand Eigenes war. Josef hatte ihr einmal gesagt, dass er etwas Kühles, Berechnendes an ihr gefunden hatte und dass er glaube, dass es nicht zu ihr gehöre. Daraufhin hatte sie gesagt, dass etwas Kühles, Berechnendes immerhin etwas sei. Und dass sie es nicht absichtlich tat. Der Traum mit der Möwe fiel ihr wieder ein und das eiskalte Wasser, das sich nach und nach wärmer anfühlte, und dass sie dann wusste, dass das ihr Ende war. Ihre Gleichgültigkeit darüber machte sie nachdenklich und traurig. Josef umsorgte sie, aber seine Teilnahme und sein stilles Mitleid ärgerten Omka, denn sie kamen ihr irgendwie unehrlich vor, weil er kein einziges Mal sagte, wie er sich fühle, denn schließlich waren es auch seine Kinder gewesen. Als betrachte sie sich ständig selber aus der Ferne, hatte sie den Eindruck, etwas sei unecht oder gelogen, sie wusste aber nicht, was. Sie fühlte sich sicher und wurde ruhiger, wenn sie etwas gegen seinen Willen tat, sich ihm aufzwang und merkte, dass er nachgab, dass er tat, was sie wollte, und sie sich fühlte, als stehe sie über ihm und alles läge in ihrer Hand. In diesen Momenten, wenn es Nacht war und sie sein Gesicht mit der Hand niederdrückte, überkam sie immer die Vorstellung, sie würde etwas atmen hören, leise, aber schwer und unregelmäßig, und hielt manchmal inne, um angestrengt hinzuhören. Dann wurde das Atmen vielstimmig, so als würden mehrere kleine Tiere nach Luft ringen, und sie hielt den Atem an, um zu hören, ob es nicht ihr eigener war oder Josefs oder der Wind. Aber sie konnte es nie genau sagen.
Einmal an einem Nachmittag, der schon Abend werden wollte, fuhr sie mit dem Fahrrad an einer Kirche vorbei, es begann gerade zu regnen. Sie beschloss, hineinzugehen, stellte das Rad ab und drückte die schwere Pforte auf. Drinnen war es kühl, still und dunkel und roch nach altem Stein. Sie war konfessionslos aufgewachsen, kannte keinen Ritus und kein Gebet, und ohne genau zu wissen, was sie überhaupt in der Kirche machte, setzte sie sich in eine Bank. Die hohen, bunten Glasscheiben gefielen ihr, und die alten Mauern beruhigten sie. Sie sah Statuen von Menschen, die Sägen und Kreuze hielten, und einen Mann, dem Pfeile aus der Brust, den Beinen und dem Hals ragten, und er tat ihr leid. Manche von ihnen hoben einen Zeigefinger zum Himmel und schlossen dabei Mittelfinger und Daumen zu einem Kreis, in der Mitte der Kirche hing ein bleicher Gekreuzigter auf einem dunklen, übergroßen Holzkreuz, dem das Blut aus vielen Wunden floss, sodass man die einzelnen Tropfen wie Perlen den Beinen und Armen entlangrinnen sah. Am Altar stand ein Mann und löschte die Kerzen aus. Er trug eine lange Stange in der Hand und schritt die einzelnen Kerzen ab, die hoch oben in Leuchtern entzündet waren, und löschte eine nach der anderen. Als er fertig war, bemerkte er Omka, die in der Kirchenbank saß wie ein aufgepfropfter Ast, sah auf die Uhr und sagte: »Wenn Sie beichten wollen, sind Sie spät dran, meine Liebe. Der Priester ist im Begriff zu gehen, aber wenn Sie möchten, kann ich ihn noch holen.«
Omka merkte erst nicht, dass der Mann sie gemeint hatte, zuckte kurz in sich zusammen, sah ihn an und nickte ihm stumm zu wie zum Gruß, und der Mann stellte die Stange ab und ging eiligen Schrittes davon. Nach einiger Zeit ging die vordere kleine Tür auf, und ein hochgewachsener, dünner Priester kam heraus mit einer Nase wie ein Haken und gütigem, mildem Blick. Er kam direkt auf Omka zu und wies mit einer Hand zum Beichtstuhl, öffnete die Tür, und Omka stand schnell auf und nahm im Beichtstuhl Platz. Sie war erschrocken über ihre eigene Kühnheit, denn weder hatte sie eine Ahnung, wie man beichtete, noch, wie man betete. Ihre Mutter hatte sich damals entschieden, sie konfessionslos zu erziehen. Das Kreuzzeichen konnte sie schlagen, aber es würde dem Pfarrer bestimmt sofort auffallen, dass sie noch nie gebeichtet hatte, und er würde glauben, sie wolle ihn zum Besten halten und ihm nur die Zeit stehlen. Die Tür schloss sich, und ein kleines, vergittertes Fensterchen öffnete sich. In das Metall waren kleine Kreuze eingestanzt, sodass man das Gesicht nicht genau erkennen konnte. Omka wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gesicht oder was sie davon sah, schaute sie an und zog die Brauen hoch.
»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Priester.
»Ich« … sagte sie, »ich … war noch nie hier. Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.«
Das Rauschen des Regens war leise zu hören. Der Pfarrer war an Leute wie sie mittlerweile gewöhnt und sagte: »Nun ja. Das macht nichts. Möchten Sie ein klassisches Beichtgespräch führen, dann antworten Sie mit ›In Ewigkeit, amen‹, und dann ist der erste Satz ›Vater, vergib mir, denn ich habe schwere Schuld auf mich geladen‹. Wenn Sie das nicht wollen, können Sie auch einfach erzählen, was Sie bedrückt und welche Sünden Sie begangen haben, und der Herr wird Ihnen vergeben. Wissen Sie, die meisten Menschen sind nicht mehr vertraut mit dem klassischen Ablauf einer Beichte.«
Einen Moment lang war es still.
Omka überlegte. »Können Sie vielleicht noch einmal …«
»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Priester.
»In Ewigkeit. Amen«, sagte Omka. Dann sagte sie: »Vater, vergib mir, denn ich habe schwere Schuld auf mich geladen.«
Erfreut darüber, dass ihr offenbar wenigstens am Ritus gelegen war, richtete sich der Pfarrer auf und sagte nach einer kurzen Pause: »Kind, bringen Sie Ihre Schuld vor Gott und sie wird Ihnen vergeben. Was möchten Sie beichten?«
Es dauerte einige Zeit, bis sie begann zu sprechen. In der Luft hing der leichte Geruch von Weihrauch, altem Stein und ausgeblasenen Kerzen, und es war kalt. »Ich habe vier Kinder verloren«, sagte Omka. Der Ort, an dem sie sich befanden, führte dazu, dass der Priester hörte, dass sie die Tötung unschuldigen Lebens im Mutterleib beichten wollte. Dass sie im letztmöglichen Moment gekommen war und man ihn extra noch fast auf dem Nachhauseweg aufgehalten hatte, führten dazu, dass er schon sicher war, dass es sich um eine besonders dringende und schwerwiegende Angelegenheit handeln musste, und bestärkten seine Vermutung.
Seine Hände begannen zu zittern.
Der Schwangerschaftsabbruch gehörte zu den wenigen Dingen, die der Priester wirklich für eine schreckliche Sünde hielt, und die Absolution fiel ihm in solchen Fällen besonders schwer. Neid, Geiz oder Wollust schienen ihm dagegen fast schon lässlich, auch wenn sie zu den Todsünden zählten.
»Und der Vater dieser Kinder ist traurig darüber und behandelt mich wie … es ist ein Fall aus mir geworden, und ich ärgere mich über ihn, obwohl er sich wirklich Mühe gibt und mir bei allem hilft. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil es mich ja eigentlich nicht ärgern dürfte, und ich glaube, ich tue ihm Unrecht, aber ich kann nicht anders, es ist ein Gefühl, und ich mache es nicht mit Absicht.« »Nun, das macht eine gute christliche Ehe aus, dass man sich gegenseitig auch in schlechten Zeiten unterstützt«, sagte der Priester, weil er etwas Gutes sagen wollte. Im Beichtstuhl war es dunkel.
»Wir sind nicht verheiratet«, sagte Omka.
Der Priester verdrehte die Augen etwas. Nicht verheiratet, offenbar nicht christlich, zum ersten Mal bei der Beichte. Das hätte er sich gleich denken können. In der letzten Zeit kamen viele Leute zu ihm, verwirrte junge und sehr überzeugte ältere, aber immer mehr suchten Zuspruch, verlangten nach einem Sakrament oder wollten jemanden haben, mit dem sie sprechen konnten, ohne geringste Kenntnis der Schrift, ohne Bekenntnis und ohne Interesse an der Religion, aber sie kamen doch. Nur, was sollte er machen? Was sollte er als katholischer Priester jemandem raten oder sagen, der weder christlich war noch irgendwie vertraut mit Ritual und Gebet? Höchstens Allerweltsantworten konnte er dann geben, und dazu brauchte es doch nicht unbedingt einen Priester. Bei der Frau, die ihm gegenüber im Beichtstuhl saß und nervös ihre Hände an die Handtasche presste, konnte es sich eigentlich um nichts anderes als um so etwas handeln. Der Priester atmete ein und langsam wieder aus. Musste er nicht froh über jeden sein, der noch den Weg in ein Gotteshaus fand? Aber wie schon gesagt, hier fiel es ihm schwer, einen nüchternen, vernünftigen Standpunkt zu behalten und ein verwirrtes Kind Gottes in ihr zu sehen und nicht etwas Ähnliches wie eine gemeine Mörderin. Die Bedingung der Lossprechung fiel dem Priester wieder ein, und er fragte schnell, aber in würdigem Tonfall: »Bereust du, was vorgefallen ist?«
Omka antwortete genauso schnell: »Natürlich bereue ich es, Sie glauben gar nicht, wie leid es mir tut, es ist einfach furchtbar!«
»Nun …«, sagte der Priester mit einem Tonfall, der sein Missfallen verriet, »war das alles, was du vor Gott bringen wolltest?«
»Ich …«, sagte Omka, »verraten Sie das auch niemandem?«
Der Priester ärgerte sich und sagte mürrisch: »Das darf ich nicht, selbst wenn ich es wollte!«
Omka war erleichtert, das konnte er an ihrem Atem hören.
»Nun«, frage der Priester, als Omka noch immer schwieg.
»Manchmal frage ich mich, ob ich meinen Mann eigentlich überhaupt …«
Jetzt reichte es dem Priester. Das hier war schließlich kein Kaffeeklatsch, und Fragen um Liebe, noch dazu außerehelicher Art, gehörten nicht in den Beichtstuhl. Er unterbrach ihren Satz mit den Worten: »Gott, der allmächtige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und uns den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von all deinen Sünden: Im Namen das Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, sagte der Priester, und zu seiner Verblüffung sagte sie: »Amen.«
Er sah sie erstaunt an, und sie sagte dann: »Das sagt man doch immer so, oder?« Der Priester überlegte, ob es in diesem Fall überhaupt Sinn hätte, Bußgebete aufzugeben, die sie wahrscheinlich nur aus dem Gebetbuch würde ablesen können. Er sah sie an und begann, sich über sich selbst zu ärgern. Da setzte sich diese kleine Frau zu ihm in den Beichtstuhl, konnte nicht einmal das Vaterunser sprechen und wusste wahrscheinlich auch nicht einmal, dass sie in einer katholischen Kirche war, nur hatte ihr einmal jemand erzählt, dass man alle Schuld, die man hatte, in den Beichtstuhl tragen könnte und weiß und rein wie der frische Morgen wieder herauskommen würde und dazu nicht einmal irgendeine Religion zu haben brauche. Buße war ihr offenbar auch fremd, man war weder imstande, sie zu tadeln, weil man ja nicht richten dürfe, noch könne man ihr die Vergebung versagen, denn dazu hatte man das Recht nicht, wenn sie ihre Schuld bekannte und bereute. Er öffnete die Beichtstuhltür und trat heraus, dann öffnete er die Nebentür.
Omka fragte noch im Sitzen: »Und was passiert jetzt?«
Verwirrt sagte der Priester: »Ich habe Sie von Ihren Sünden losgesprochen, das ist das Ende der Beichte.«
»Aber«, sagte Omka, »Sie haben mir ja gar nicht geholfen, ich meine, Sie haben mir ja nicht gesagt, was ich jetzt tun soll. Ich bin gekommen, weil ich mich wegen meines Gefühls schäme, das ich meinem Mann gegenüber habe und es aber nicht absichtlich habe, ich kann nichts dafür.«
Ihm fiel auf, dass sie zwar gesagt hatte, sie sei nicht verheiratet, aber trotzdem von ihrem Mann sprach und nicht »Partner« oder etwas in der Art sagte, aber angesichts der Tatsache, dass es bei einer wie ihr überhaupt nichts ändern würde, wenn er sie jetzt darauf ansprach, dass es einen Unterschied mache, ob man verheiratet sei oder nicht, schwieg der Priester. Er hielt sie für eine schlechte Frau, ohne es zu wollen. Seine Finger schlossen sich um das Kruzifix, er bemerkte, dass seine Stola verrutscht war und auf einer Seite auf den Boden hing.
»Herr, steh mir bei«, dachte er sich, »sie ist nur ein verwirrtes Kind Gottes.« Langsam stand Omka auf und stieg aus dem Beichtstuhl. Der Priester atmete tief ein und wieder aus und sagte dann: »Ich kann Ihnen nur sagen, dass das die geringere Sünde ist, die Sie mir heute gebeichtet haben. Die andere sollte sie mehr beschäftigen, denn was man unwillentlich tut, ist dem Menschen nicht so schwer anzulasten wie das, was er willentlich tut.«
Omka verstand ihn nicht und hatte den Eindruck, das hänge damit zusammen, dass sie keine religiöse Bildung erhalten hatte. Aber obwohl sie im Beichtstuhl gewesen war und obwohl sie der Priester von ihren Sünden losgesprochen hatte, fühlte sie sich nicht anders und auch nicht erlöst und dachte, das sei ihre Schuld, weil sie etwas falsch gemacht hatte.
Der Priester mit den gütigen Augen und der gebogenen Nase war gegangen, nachdem er nochmals das Kreuzzeichen über sie geschlagen hatte, und Omka stand noch neben dem Beichtstuhl. Sie bemerkte links von sich die Figur einer Frau mit schönem, gütigem, aber irgendwie leerem und ausdruckslosem Gesicht, die ein Kind auf dem Arm hielt. In der anderen Hand hielt sie eine große, weiße Lilie. Sie stand auf einer Mondsichel und trug ein weißblaues Gewand, ihr Kopf war von einem weißen Schleier halb verhüllt, worunter dunkle Locken hervorquollen und über das Gewand lang nach unten liefen. Das Kind war nackt, trug eine Krone auf dem Kopf und hielt einen goldenen Ball mit einem nach oben gerichteten kleinen Kreuz in der linken Hand, die Rechte hatte es zum Himmel erhoben und drei Finger ausgestreckt, die anderen zwei waren in der kleinen Faust verborgen.
Unter der Figur standen in goldumrahmten Lettern auf weißem Grund die Worte: »Salve Regina«. Vielleicht lag es an dem Regen und der beginnenden Dunkelheit, vielleicht an der Beichte vorher, die Omka völlig durcheinandergebracht hatte, oder auch daran, dass die Amnesie noch nicht vollständig verschwunden war, aber Omka erkannte die Gottesmutter nicht.
Was sie aber verwirrte, war der Schriftzug. »Salve Regina«, las Omka leise. Regina war der Name ihrer Mutter, und sie fragte sich, was sie mit dieser Frau im weißblauen Gewand mit dem Kind auf dem Arm zu tun habe.
Vor der Figur brannten Kerzen. In der Bank, die vor der Figur mit den Kerzen stand, saß eine alte Frau, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Zwischen ihren Fingern hing eine Kette mit Perlen und einem Kreuz daran, die ein bisschen wie eine Halskette aussah. Omka wunderte sich. Sie trat einen Schritt auf die Figur zu und setzte sich auch in die Bank, aber am anderen Ende. Sie sah zu der Frau, die die Augen geschlossen hatte, ihre Lippen bewegten sich, und sie zog die Perlenschnur durch ihre Finger, sodass immer wieder eine kleine Perle auf der anderen Seite ihrer Hand herabfiel. Als sie die Augen öffnete, bekreuzigte sie sich und steckte die Perlenschnur in ihre kleine Handtasche. Dann bemerkte sie Omka, lächelte sie an und nickte, und ein wohliges Gefühl durchströmte sie, und sie fragte sie leise: »Entschuldigen Sie bitte … aber wer ist das?« und zeigte auf die Frauenfigur mit dem Kind.
Die Frau sagte freundlich: »Das ist die Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind.« »Haben Sie jetzt gerade mit ihr gesprochen?«
Die Frau nickte.
»Kann ich das auch machen?«, fragte sie weiter.
Die alte Frau setzte sich zurück in die Bank und rückte etwas näher heran. »Natürlich können Sie das«, sagte sie. »Vielleicht möchten Sie ihr eine Kerze anzünden, und dann sprechen Sie zu ihr.«
Omka trat an die Figur heran, sah die dunkle Büchse mit dem Schlitz unter den Kerzen und ging zurück in die Bank. Die alte Frau kramte in ihrer Handtasche, fand, was sie suchte, und drückte Omka eine Münze in die Hand. Einen kurzen Moment lang spürte sie die trockene, heiße Hand der alten Frau, die sich anfühlte wie Sand und die ihre Finger um die Münze bog.
»Auf Wiedersehen, meine Liebe«, sagte sie, »Gott beschütze Sie.«
Dann schluckte das Dunkel der Kirche die alte Frau, und ein knarrendes Geräusch verriet, dass sie die Pforte hinter sich geschlossen hatte. Omka stand nochmals auf, ging nach vorne, steckte die Münze in den Schlitz der Büchse und hörte das metallene, kurze Geräusch, das sie machte, als sie am Boden der Büchse auftraf. Dann nahm sie eine der weißen, dünnen Kerzen und steckte sie an einer anderen Kerze an. Am Boden der Kerze war ein dünnes, langes Loch, damit man die Kerzen auf lange, eiserne Spitzen stecken konnte. Omka fühlte sich unsicher, blickte sich um, aber es war niemand außer ihr da. »Gottesmutter«, sagte sie dann leise und schämte sich, »ich habe eine Kerze für dich.« Sie stockte und wusste nicht weiter. Nach einer langen Pause sagte sie dann: »Bitte, schenk mir ein Kind.«
Sie kniete sich kurz hin, wie sie es bei der alten Frau gesehen hatte, wollte gehen, nach ein paar Schritten fiel ihr etwas ein, sie lief schnell zurück zu der Figur und fügte hinzu: »Und bitte, lass es mich nicht wieder verlieren.«
Dann machte sie einen unbeholfenen Knicks und ging.
Als sie wieder auf ihr Fahrrad stieg, hatte der Regen fast aufgehört. Pfützen waren auf der Straße, es dämmerte, und sie fuhr nach Hause. Als sie langsam durch die nassen Straßen fuhr, schalteten sich die Straßenlaternen ein und man sah die kleinen, undeutlichen Kreise, die sich in den Pfützen ausbreiteten. Die Dunkelheit des Himmels spiegelte sich in ihnen, und es sah so aus, als wären Flecken vom Himmel auf die Straße gefallen. Es roch nach frischer Luft, Kälte, und aus der Ferne roch es nach Schnee. Etwas in ihr fühlte sich anders an, sie wusste aber nicht genau, was es war.
Weil das keine wahre Geschichte ist, dauerte es nicht sehr lange, und Omka war wieder schwanger. Sie sagte lange nichts zu Josef, weil sie seine zärtliche Umsorgung und ihren damit verbundenen Ärger fürchtete. Deshalb lag das Kind drei Monate lang versteckt in ihrem Bauch.
Der Winter kam und bedeckte die Erde mit einem weißen Tuch.