"Ja, meine Werkstatt." Steven nickte. "Schauen Sie sich ruhig um. Heute morgen habe ich beschlossen, wieder hier weiterzuarbeiten. Damals... Nun, ich habe Winslow Manor sehr plötzlich verlassen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, hier zu leben." Er blickte zu der noch nicht ganz vollendeten Skulptur. "Maureen, die verstorbene Frau meines Bruders."

"Die Ähnlichkeit mit dem großen Bild im Salon hätte mir eigentlich auffallen müssen", bemerkte Sharon. Sie strich leicht über die fein modellierten Gesichtszüge der Skulptur. Konnte es sein, daß Steven Winslow die Frau seines Bruders geliebt hatte? Empfand Lord Winslow deshalb so viel Zorn gegen seinen Bruder?

"Ich sehe, Ihre Gedanken galoppieren", bemerkte der junge Bildhauer. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich habe mir in Bezug auf Maureen nichts zu schulden kommen lassen", fügte er hinzu. "Vincent mag anders darüber denken, aber er war schon immer extrem eifersüchtig."

Julie hatte sich weiter im Atelier umgesehen. "Schau, Mommy." Sie wies auf ein Wachsmodell. "Bin ich das?"

"Nein, das bist nicht du, Julie", antwortete Steven an Sharons Stelle. "Das ist Viola. Sie hat mir genau wie ihre Mutter Modell gesessen." Er fuhr der Kleinen durch die rotblonden Locken. "Wenn du möchtest, werde ich auch dich modellieren."

"Darf ich, Mommy?" Julie blickte bittend zu ihrer Mutter auf.

"Ich werde darüber nachdenken", antwortete Sharon ausweichend. Sicher würde Lord Winslow dagegen sein. Andererseits, Julie war ihre Tochter. Wenn sie ihr erlaubte, Steven Modell zu sitzen, so ging das nur sie alleine etwas an.

Wieder umhuschte Stevens Mund ein Lächeln. "Sie denken an Vincent", bemerkte er.

"Sie sollten aufhören, in meinen Gedanken zu lesen", erwiderte sie ärgerlich.

"Eine alte Gewohnheit." Er lachte auf. "Bitte, seien Sie mir nicht böse, Mistreß Miles."

"Schon gut."

"Mister Winslow...", begann Julie.

"Warum nennst du mich nicht Onkel Steven?"

Wieder sah das Mädchen seine Mutter an.

"Ich habe nichts dagegen, Julie", sagte Sharon.

"Fein." Julie wies durch die Verbindungstür. "Darf ich die Treppe hinaufsteigen? Ich würde so gerne ganz oben auf dem Turm stehen."

"Nein, das darfst du nicht", verbot ihr Steven. "Die Treppe mag zwar noch einigermaßen sicher sein, aber ich bin nicht davon überzeugt, daß es auch die oberen Stockwerke des Turms sind. Es ist besser, du unterläßt derartige Exkursionen." Er zwinkerte ihr zu. "Wenn du möchtest, fahre ich aber einmal mit dir zu einem Aussichtsturm, der sich hier ganz in der Nähe befindet." Er wandte sich Sharon zu. "Sie sind zu diesem Ausflug natürlich auch herzlich eingeladen."

Julie entdeckte eine Vitrine mit kleinen Marmorfiguren. Steven benutzte die Gelegenheit, um Sharon zu fragen, was sie außer ihrer Arbeit noch mit seinem Bruder verband.

"Was sollte mich wohl noch mit Lord Winslow verbinden?" fragte die junge Frau abweisend. "Sie verstehen es ausgezeichnet, andere Menschen gegen sich aufzubringen, Mister Winslow, wissen Sie das?" Jedesmal, wenn sie dabei war, ihm ihr Vertrauen zu schenken, tat er etwas, das sie wieder vorsichtig werden ließ. "Davon abgesehen arbeite ich gern für Ihren Bruder. Es war für Julie und mich ein großes Glück, daß er mir diese Stelle bot."

Steven antwortete nicht sofort. Er blickte zu Julie hinüber, die verliebt ein kleines Pferdchen betrachtete. "Mein Bruder ist nicht immer völlig zurechnungsfähig, Mistreß Miles. Bei Vincent muß man mit allem rechnen."

"Wie meinen Sie das?" Sharon runzelte die Stirn. "Finden Sie nicht auch, daß Sie jetzt zu weit gehen? Was auch immer zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen sein mag, es gibt Ihnen nicht das Recht, derartig über ihn zu sprechen."

Das Gesicht des jungen Mannes wurde hart. "Ich meine es nur gut, Mistreß Miles. Ich mache mir Sorgen, große Sorgen sogar." Er holte tief Luft. "Ja, Vincent ist mein Bruder, und ich sollte nicht so von ihm sprechen, aber ich kenne ihn. Vincent kann es nicht ertragen, wenn er nicht ständig im Mittelpunkt steht. Er ist ein umgänglicher Mensch, solange sich alles nach seinem Willen richtet, aber wehe, man leistet ihm Widerstand."

Sein Blick glitt zur Skulptur seiner verstorbenen Schwägerin. "Mein Bruder hat seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht. Maureen mußte ihm über jeden Augenblick, jede Sekunde ihres Tages Rechenschaft ablegen. Sie war verzweifelt." Mit zwei Fingern berührte er den kühlen Stein. "Maureen hätte sich von Vincent scheiden lassen, wenn nicht ihr Tod dazwischen gekommen wäre."

Sharon sah ihn an. Auch wenn er es nicht ausgesprochen hatte, sie spürte, was er mit seinen Worten hatte sagen wollen. "Glauben Sie wirklich, daß Ihr Bruder für den Tod seiner Frau und seiner Tochter verantwortlich ist?" fragte sie widerwillig.

"Mein Bruder ist nicht der Mann, für den Sie ihn halten." Der Bildhauer umfaßte ihre Schultern. "Überlassen Sie meinen Vincent Frauen wie Jessica Price. Sie verdient nichts Besseres. Aber Sie..."

"Sie sollten sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, Mister Winslow", entgegnete Sharon wütend und schüttelte seine Hände ab. "An Ihrer Stelle würde ich mich schämen, in Grund und Boden schämen." Sie drehte sich halb um. "Julie, komm, wir gehen."

Ihre Tochter sprang auf. "Was habt ihr denn?" fragte sie und griff nach Sharons Hand.

"Es ist nichts, Julie, nur ein kleiner Streit." Steven lächelte ihr zu. "Deine Mutter braucht Zeit, über das nachzudenken, was ich ihr gesagt habe. Also, mach dir keine Gedanken."

"Ich habe nicht vor, über Ihre Worte nachzudenken", erklärte die junge Frau. Sie umfaßte Julies Händchen fester, dann verließ sie mit ihrer Tochter das Atelier. Sie spürte, daß Steven Winslow ihr nachschaute. Es fiel ihr schwer, sich nicht umzudrehen.

"Warum bist du so wütend, Mommy?"

War sie wütend? Sharon war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie wirklich Wut empfand. Sie gestand sich ein, daß sie Steven Winslow mochte. Nichts, was er an diesem Vormittag gesagt hatte, hatte sie tief getroffen. Lord Winslow konnte sehr selbstherrlich sein, das stimmte. Sie traute es ihm durchaus zu, seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht zu haben, zumal, wenn er dahintergekommen war, daß Steven sie liebte.

Julie löste sich von der Hand ihrer Mutter, um alleine den Klippenpfad hinunterzusteigen. Gerade noch im letzten Augenblick konnte Sharon sie daran hindern. Sie beschloß, nicht länger über die beiden Brüder nachzudenken, sondern sich voll und ganz ihrer Tochter zu widmen. Keiner der Brüder hatte das Recht, sie in ihre Streitigkeiten hineinzuziehen. Sie war nach Winslow Manor gekommen, um hier zu arbeiten. Das Privatleben der Winslow ging sie nichts an.

 

13. Kapitel

 

Nach und nach schien sich die Atmosphäre auf Winslow Manor zu entspannen. Es sah aus, als hätte sich Lord Winslow mit der Anwesenheit seines Bruders abgefunden. Die gemeinsamen Mahlzeiten verliefen wieder ruhiger und in freundlicher Stimmung. Beide Brüder schienen alles zu vermeiden, was einen Streit vom Zaun brechen konnte. Lord Winslow duldete sogar, daß sich sein Bruder hin und wieder um Julie kümmerte. Selbst als Steven ihm sagte, daß ihm das kleine Mädchen Modell sitzen würde, ging er schweigend darüber hinweg.

Drei Wochen nach Stevens Ankunft erwachte die junge Frau wieder von der hellen Kinderstimme, die 'twinkle, twinkle, little star ...' sang. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Nur zwei Meter von ihrem Bett entfernt, stand das kleine Mädchen, das sie während ihres Aufenthaltes auf Winslow Manor schon öfters gesehen hatte.

Es schien ganz in bläuliches Licht getaucht.

"Bist du Viola?" fragte sie und richtete sich langsam auf. Ein Teil ihres Selbst fand es lächerlich, auch nur einen Gedanken an Gespenster zu verschwenden, der andere war sich bewußt, daß es sich bei dieser Lichtgestalt um kein Hirngespinst handelte, sondern um ein sehr reales Wesen.

Das Lied verstummte. Das Mädchen sah sie an. Es streckte die Hand nach ihr aus, seine Lippen bewegten sich. Aber Sharon verstand kein Wort von dem, was das Kind zu ihr sagte.

"Du mußt lauter sprechen", flüsterte sie heiser.

Das Mädchen wiederholte, was es gesagt hatte, doch noch immer war es der jungen Frau unmöglich, auch nur ein Wort davon zu verstehen.

Das Gesicht des Kindes verzerrte sich vor Angst. Seine Augen wurden groß vor Entsetzen. Dann verblaßte das Licht. Von einer Sekunde zur anderen löste sich die Gestalt auf. Aber plötzlich erklang wieder das Lied. Es wurde leiser und leiser und verstummte.

Sharon strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Je länger sie über die Erscheinung nachdachte, um so sicherer wurde sie sich, daß das Mädchen sie hatte warnen sollen. Aber wovor? Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihnen auf Winslow Manor eine Gefahr drohte.

Die junge Frau stand auf und trat barfuß auf den Balkon hinaus. Ihr Blick glitt weit über den Park bis zu den Klippen. Das Rauschen der Brandung erfüllte die Luft. Ein feiner Geruch von Fisch und Tang wehte bis zu ihr hinüber. Sie legte den Kopf zurück und sah zum sternenübersäten Himmel hinauf. Kühler Nachtwind streifte ihr Gesicht.

Absichtslos beugte sich Sharon über die Balkonbrüstung und bemerkte, daß im Arbeitszimmer noch Licht brannte. Sie fragte sich, was Lord Winslow um diese Zeit noch an seinem Schreibtisch tat. Dann sagte sie sich, daß es sie nichts anging. Auch wenn man sie auf Winslow Manor wie einen geehrten Gast behandelte, sie war nur die Privatsekretärin, nicht mehr und nicht weniger.

Die junge Frau kehrte in ihr Zimmer zurück, ging jedoch nicht sofort zu Bett sondern durchquerte den kleinen Wohnraum, um nach Julie zu sehen. Im Mondlicht sah sie, daß ihre kleine Tochter im Schlaf lächelte. Sie beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn.

Ich habe dich so lieb, dachte sie. Es gibt niemanden, den ich mehr lieben würde als dich. Es fiel ihr schwer, sich vom Bett ihrer Tochter abzuwenden. Sie hatte plötzlich Angst, sie alleine zu lassen, obwohl sie sich ganz sicher war, daß ihr hier keine Gefahr drohte.

Lautlos kehrte Sharon in ihr eigenes Schlafzimmer zurück. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie sich den Besuch des kleinen Mädchens nicht doch nur eingebildet hatte. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lag sie im Bett und dachte noch einmal über alles nach. Weshalb hätte das Kind sie warnen sollen? Vor allen Dingen, wovor? - Nein, ihre Phantasie hatte ihr ganz sicher einen Streich gespielt.

Und wenn nicht? Sharon hielt sich für realistisch genug, sich nicht Dinge einzubilden, die nicht existierten. Außerdem hatte sie dieses Kind nicht nur einmal sondern schon mehrmals gesehen, und da war auch noch dieses Lied. Als sie nach Winslow Manor gekommen waren, hatte es Julie nicht gekannt.

Die junge Frau schloß die Augen. Wie in ihrer ersten Nacht auf Winslow Manor sah sie im Traum ihre Tochter auf einen Mann zulaufen. Er stand nahe der Klippen und hatte die Arme ausgebreitet. Julie warf sich in sie hinein. Er hob das kleine Mädchen hoch und wirbelte es herum.

Sharon lächelte im Schlaf. "Steven", flüsterte sie kaum hörbar. "Steven."

14. Kapitel

 

"Julie, man stützt sich beim Essen nicht mit den Ellbogen auf", ermahnte Lord Winslow das kleine Mädchen freundlich. "So etwas würde eine Lady niemals tun. Außerdem würde sie beim Trinken auch nicht schlürfen."

"Ich weiß, Onkel Vincent." Julie setzte sich anständig hin. "Werde ich wirklich eine Tages eine Lady sein?"

"Aber natürlich", antwortete er und zwinkerte Sharon zu. "Wir werden aus der jungen Dame schon eine Lady machen, nicht wahr, Mistreß Miles?"

Es war nicht das erstemal, daß Lord Winslow versuchte, Julie zu erziehen. Seine Sekretärin war nicht immer damit einverstanden, doch sie wußte, daß er es gut meinte und zudem, daß es Julie auf keinen Fall schaden würde.

"Wenn ich eine Lady bin, werde ich dann einen Prinzen heiraten und Königin?"

"Warum solltest du nicht eines Tages einen Prinzen heiraten, Julie?" antwortete Lord Winslow lachend.

"Sie sollten Julie keine Flausen in den Kopf setzen, Lord Winslow", mahnte Sharon.

"Wer kann in die Zukunft sehen, Mistreß Miles?" Vincent hob die Schultern. "Manchmal wünschte ich, ich könnte es. Aber vielleicht ist es sogar gut, daß uns Sterblichen dieser Weg verwehrt ist. Es..." Sein Gesicht wurde dunkel. "Hätte ich damals in die Zukunft sehen können, ich hätte nicht zugelassen, daß meine Frau und Viola... Ich sollte nicht so oft daran denken." Er wandte sich wieder Julie zu. "Beeil dich mit dem Frühstück, du mußt gleich zur Schule."

Julie nickte. "Ich freue mich schon so auf die Geburtstagsfeier bei Dennis. Es wird jede Menge Torte geben." Sie griff nach ihrem Milchglas und nahm einen Schluck.

"Gegen elf kommt Mister Donell", wandte sich Lord Winslow an Sharon. "Doch zuvor müssen wir uns noch ausführlich unterhalten. Es gibt einiges, was ich mit Ihnen klären muß, Mistreß Miles."

"Inwiefern?" fragte Sharon verwundert.

"Später."

John Kelly, der Chauffeur der Winslows, kam, um Julie zur Schule zu bringen. Das kleine Mädchen rutschte von seinem Stuhl und verabschiedete sich. Fröhlich winkte es ihnen zu, als es vor John das Zimmer verließ.

"Wir sollten etwas mehr auf Julies Umgang achten", meinte Sharons Arbeitgeber, kaum daß sich die Tür hinter dem Chauffeur geschlossen hatte. "Ich will ehrlich sein: mir gefällt es nicht, daß Julie mit den Bartons verkehrt."

"Warum, Lord Winslow?" Seine Sekretärin sah ihn überrascht an. "Ich halte die Bartons für sehr nette Leute. Dennis ist Julies bester Freund. Sie freut sich seit Tagen auf seinen Geburtstag. Soviel ich weiß, wird sie Dennis auch zu ihrem eigenen Geburtstag einladen."

"Für dieses Jahr soll es noch recht sein, doch Julie wird andere Freunde finden. Freunde aus Familien, die ich akzeptieren kann." Lord Winslow erhob sich. "Das, was wir miteinander zu besprechen haben, ist nicht für den Frühstückstisch geeignet, Mistreß Miles." Zuvorkommend bot er ihr die Hand. "Machen wir einen kleinen Spaziergang."

"Wie Sie meinen, Lord Winslow." Sharon stand ebenfalls auf.

Gemeinsam verließen sie das Haus und gingen durch den Park auf eine Hügelgruppe zu. Robin jagte ihnen voraus. Es überraschte die junge Frau, die Dogge an diesem Morgen zu sehen. Seit Stevens Rückkehr hielt sich der Hund sehr oft im Atelier auf.

Als hätte Lord Winslow ihre Gedanken erraten, sagte er: "Steven ist heute morgen nach Bodmin gefahren. Er hat dort etwas zu erledigen."

Sie hatten die kleine Hügelgruppe erreicht. Eine schmale Treppe führte zu einem steinernen Pavillon hinauf, der auf dem höchsten der Hügel stand. Hintereinander stiegen sie die Treppe nach oben. Lord Winslow ging voraus. Bei den letzten Stufen drehte er sich halb um und reichte Sharon die Hand.

"Als ich noch ein kleiner Junge war, hat mich mein Vater einmal auf diesen Hügel mitgenommen und gesagt: 'So weit dein Blick reicht und darüber hinaus, das ist alles unser Land und wird eines Tages dir gehören'."

"Ein wundervoller Besitz", bemerkte Sharon, weil sie annahm, daß Lord Winslow so etwas von ihr erwartete.

Schweigend ließ er seinen Blick bis zu den Klippen wandern. "Ich habe große Pläne mit Julie", sagte er schließlich. "Ein Kind wie Ihre Tochter ist etwas ganz Besonderes. Ich möchte, daß Julie die besten Schulen des Landes besucht, daß sie alles lernt, was für ihr späteres Leben wichtig ist, und vor allen Dingen, daß ihr jede Tür offensteht. Was immer Julie eines Tages studieren wird, ich werde sie nach Kräften fördern."

"Julie ist noch nicht einmal sechs, Lord Winslow. Wer weiß, ob sie überhaupt studieren möchte. Könnte es nicht sein, daß sie nach dem Abitur einen netten Mann kennenlernt und heiratet?"

"Ich glaube kaum, daß Julie den Erstbesten heiraten wird", wandte er ein. "Zudem kann man nicht früh genug die Zukunft eines Kindes planen, vor allen Dingen eines Kindes, das einem so viel bedeutet."

Sie sah ihn an. "Ich weiß, daß Sie manchmal in Julie Ihre verstorbene Tochter zu sehen glauben, Lord Winslow. Aber Julie ist nicht Ihre Tochter. Eines Tages wird Ihnen das bewußt werden. Was geschieht dann?"

"Wie können Sie nur so eine Frage stellen, Mistreß Miles? Ihre Tochter wird mir auch in zwanzig Jahren noch dasselbe bedeuten wie heute. Viola ist tot. Für sie kann ich keine Zukunft mehr planen, aber es hilft mir und auch Julie, wenn ich versuche, ihr alle Wege zu ebnen." Er legte eine Hand auf ihre Schulter. "Es kommt nur auf Sie an, Mistreß Miles."

Einen Augenblick lang befürchtete Sharon, er könnte ihr einen Heiratsantrag machen. Hin und wieder hatte sie darüber nachgedacht, ob es jemals so weit kommen würde. Lord Winslow schien sehr viel für sie übrig zu haben.

"Mistreß Miles, ich möchte Julies Vormund werden", fuhr Vincent fort. "Wie gesagt, niemand kann in die Zukunft sehen. Julie muß abgesichert sein, sollte Ihnen jemals etwas passieren." Ein Lächeln huschte um seine Lippen. "Was ich allerdings nicht hoffen möchte. Doch eine Mutter sollte an alles denken. Ich kann Julie das Leben bieten, das ihr zusteht."

Die junge Frau wußte nicht, was sie sagen sollte. Natürlich würde es für ihre Tochter gut sein, einen Mann wie Lord Winslow an ihrer Seite zu haben. Andererseits befürchtete sie, ihr Arbeitgeber könnte zu viel Einfluß auf Julie bekommen. Schon jetzt versuchte er ja, sie zu erziehen.

"Sie sollten in erster Linie an das Kind denken, Mistreß Miles", drängte er. "Nur aus diesem Grund habe ich Mister Donell aus London kommen lassen. Er wird heute mit uns den nötigen Vertrag aufsetzen. Und vergessen Sie nicht, ich verlange ja nur die Vormundschaft für den Fall, daß Ihnen etwas zustoßen sollte. Sie haben keine Angehörigen. Julie würde dann völlig allein auf der Welt stehen. Ich wäre für sie nur ein Fremder, jedenfalls dem Gesetz nach. Wenn Sie mir jedoch die Vormundschaft übertragen, würde ich immer für Ihre Tochter einstehen können."

Sharon leuchtete ein, was er sagte. Wenn ihr etwas passierte, stand Julie tatsächlich alleine auf der Welt. Gut, sie hatte einiges gespart, aber das reichte noch lange nicht aus, um die Zukunft ihrer Tochter zu sichern. Zudem wollte sie nicht, daß Julie dann in ein Kinderheim kam. "Ich bin einverstanden, Lord Winslow", erwiderte sie.

"Das freut mich", sagte er herzlich. "Glauben Sie mir, Mistreß Miles, Sie werden diese Entscheidung niemals bereuen. Julie wird für mich stets wie ein eigenes Kind sein."

Kurz vor elf traf Mr. Donell ein. Sie zogen sich ins Arbeitszimmer zurück und setzten den Vertrag auf. Sharon stellte fest, daß Lord Winslow bereits alles mit seinem Anwalt telefonisch besprochen hatte. Die Fragen, die sie zu dem Vertrag noch hatte, wurden schnell und ohne Zögern von beiden Männern beantwortet. Es sah aus, als hätte der Herr von Winslow Manor ganz fest mit ihrer Zustimmung gerechnet.

"So, hier müssen Sie unterschreiben." Mr. Donell reichte ihr den vorbereiteten Vertrag.

Sharon griff nach dem Füllhalter. Sie zögerte einen Augenblick, setzte dann jedoch ihre Unterschrift sicher auf das Papier.

"Eine sehr kluge Entscheidung, Mistreß Miles", bemerkte auch der Anwalt.

Hoffentlich, dachte Sharon, als sie wenig später das Arbeitszimmer verließ. Sie fragte sich, ob sie wirklich das Richtige getan hatte. Gut, der Vertrag trat erst in Kraft, wenn ihr etwas zustieß, aber hatte sie nicht durch ihre Unterschrift das Schicksal herausgefordert?

Steven Winslow kam quer durch die Halle auf sie zu. Bei seiner Rückkehr aus Bodmin hatte er den Wagen des Anwalts auf dem Parkplatz stehen sehen. "Hallo, Mistreß Miles", grüßte er. "Haben Sie eine Ahnung, was der alte Donell hier mitten in der Woche tut?"

"Ja, es handelt sich um Julie", erwiderte sie und erzählte ihm, daß sein Halbbruder sie gebeten hatte, ihm die Vormundschaft über Julie zu übertragen.

"Und Sie haben da so einfach zugestimmt?" Steven sah sie bestürzt an.

"Hätte ich nicht zustimmen sollen?"

Der Bildhauer blickte sich um. Sie waren völlig alleine in der Halle. "Mistreß Miles, ich habe Sie schon einmal vor meinem Bruder gewarnt", sagte er. "Vincent ist nicht der selbstlose Mann, für den Sie ihn halten."

"Sie irren sich, Mister Winslow", nahm Sharon ihren Arbeitgeber in Schutz. "Ihr Bruder handelt im Interesse Julies. Er möchte, daß sie abgesichert ist, sollte mir etwas passieren."

Steven lachte auf. "Scheinbar sehen Sie in meinem Bruder immer noch den rettenden Engel, der nichts anderes zu tun hat, als anderen Menschen seine Hilfe anzutragen. Ich kenne Vincent besser. Er tut nichts, ohne nicht seinen eigenen Vorteil im Auge zu haben. Vincent bezweckt irgend etwas, ich fühle es. Er..."

"Sie sollten endlich aufhören, in Ihrem Bruder einen reißenden Wolf zu sehen, Mister Winslow", unterbrach ihn die junge Frau. "Warum wollen Sie nicht endlich akzeptieren, daß Ihr Bruder auch gute Seiten hat. Sie müssen doch zugeben, daß er Julie liebt. Er würde niemals etwas tun, das meiner Tochter schaden könnte. Zudem gilt der Vertrag nur für den Fall, daß ..."

"Daß Ihnen etwas zustößt."

"Ja."

Steven stieß heftig den Atem aus. "An Ihrer Stelle hätte ich nicht zugestimmt, und wenn Sie klug wären, dann würden Sie jetzt in das Arbeitszimmer meines Bruders gehen und den Vertrag für null und nichtig erklären."

"Gibt es einen konkreten Grund, weshalb ich das tun sollte, Mister Winslow?" fragte Sharon ärgerlich. Sie wollte nicht in die Streitigkeiten der Brüder hineingezogen werden. Was immer es auch zwischen ihnen geben mochte, es ging sie nichts an.

Steven zögerte einen Augenblick, dann sagte er: "Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen darüber sprechen, Mistreß Miles. Bitte, glauben Sie mir, Sie haben einen großen Fehler gemacht."

"Scheinbar vergessen Sie, daß ich volljährig bin und seit Jahren gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen, Mister Winslow", erwiderte die junge Frau erregt. "Es ..."

"Mag sein. Nur feit Sie das noch lange nicht davor, das Falsche zu tun", erklärte er wütend. "Aber bitte, ich habe Sie gewarnt. Außerdem ist Ihnen ohnehin nicht zu helfen, solange Sie nicht erkennen, daß mein Bruder nicht der Mann ist, für den Sie ihn halten. Er..."

"Ich habe zu tun", fiel ihm Sharon ins Wort. "Entschuldigen Sie mich." Ohne sich weiter um Vincents Bruder zu kümmern, ging sie zur Bibliothek.

Steven wollte ihr folgen, doch dann besann er sich und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Außer sich vor Zorn schlug er wenig später die Zimmertür hinter sich zu.

Sharon setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie stützte den Kopf in beide Hände. War es wirklich ein Fehler gewesen, was sie getan hatte? Lord Winslow hatte recht, niemand konnte in die Zukunft sehen. Wenn sich ihr die Chance bot, Julie abzusichern, so mußte sie sie nutzen. Sie fand es außerordentlich großzügig von ihrem Chef, daß er sich um ihre Tochter kümmern wollte. Was konnte dagegen sprechen?

Die Bibliothekstür schwang auf. Julie rannte, gefolgt von Robin, über den dicken Teppich. "Wir müssen uns mit dem Mittagessen beeilen, Mommy", sagte sie, als sie ihre Mutter umarmte. "Kann ich mich jetzt schon umziehen? Zu Dennis` Geburtstag möchte ich mein schönstes Kleid tragen."

Sharon hob ihre Tochter hoch. "Nein, umgezogen wird sich erst nach dem Lunch", erwiderte sie, "oder möchtest du mit Soßenflecken auf dem Kleid zur Geburtstagsfeier gehen?"

"Eine Lady bekleckert sich nicht", erklärte die Kleine und sah sie selbstbewußt an. "Eine Lady weiß immer, was sich gehört."

"Wollen wir es hoffen", meinte Sharon und stellte Julie auf den Boden. Ich habe das Richtige getan, dachte sie. Es war kein Fehler, den Vertrag zu unterschreiben. Mit Lord Winslow an ihrer Seite würde Julie in eine glänzende Zukunft gehen.

 

15. Kapitel

 

Sharon blickte ihrer kleinen Tochter nach, die von John Kelly zur Vorschule gefahren wurde. Sie wollte sich gerade wieder dem Haus zuwenden, als sie Jessica Price quer durch den Park reiten sah. Die junge Frau erschien ihr wie eine leibhaftig gewordene Göttin Diana. Auch wenn sie für Miß Price nichts übrig hatte, sie für geistlos, eingebildet und intrigant hielt, sie mußte zugeben, daß sie auf dem Pferd eine ausgezeichnete Figur machte. Kein Wunder, daß ihr die Männer zu Füßen lagen und sie sich vor Verehrern kaum retten konnte.

Die Sekretärin nahm an, daß es das war, was Lord Winslow für Jessica so reizvoll machte. Der Herr von Winslow Manor zeigte der jungen Frau nur allzu deutlich, daß sie für ihn nicht mehr als eine Freundin war. Scheinbar hatte sie sich vorgenommen, ihn unter allen Umständen einzufangen.

Miß Price brachte ihr Pferd kurz vor Sharon zum Stehen. Sie beugte sich zu der jungen Frau hinunter. "Lord Winslow und ich sind zum Reiten verabredet. Wissen Sie, ob er bereits zu den Stallungen gegangen ist?"

"Vor zehn Minuten, Miß Price", erwiderte Sharon freundlich.

"Danke." Jessica schenkte ihr ein hochmütiges Nicken, dann preßte sie ihre Schenkel in die Seiten des Pferdes und galoppierte davon.

Sharon stieg die Eingangsstufen hinauf und betrat die Halle. Sie wandte sich gleich der Bibliothek zu. Für diesen Vormittag hatte sie sich eine Menge Arbeit vorgenommen. Es gab einiges, was sie aufarbeiten mußte. Zudem war sie gerade mit einem besonders interessanten Teil der Chronik beschäftigt.

Nach wie vor machte ihre Arbeit der jungen Frau große Freude. Manchmal träumte sie sogar nachts von der Familiengeschichte der Winslows. Man konnte nicht gerade sagen, daß die einzelnen Mitglieder dieser Familie ein langweiliges Leben geführt hatten. Immer wieder waren sie im Laufe der Jahrhunderte in bedeutsame Ereignisse verwickelt gewesen.

Aber dennoch konnte sich Sharon an diesem Vormittag nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Immer wieder blickte sie auf, stützte den Kopf in die Hände und dachte an Steven. Sie verachtete sich dafür. Sie verstand nicht, warum gerade Steven Winslow einen derartigen Eindruck auf sie machte. Gut, er war nett und freundlich, aber es gab auch einiges, was gegen ihn sprach. Abgesehen davon, daß sie ihm nicht restlos vertraute, war sie sich gar nicht so sicher, ob er nicht doch mit der Frau seines Bruders ein Verhältnis gehabt hatte. Maureen mußte ihm jedenfalls eine ganze Menge bedeutet haben. Kein Wunder, daß Vincent ihn immer noch haßte, auch wenn er versuchte, es nicht mehr so offen zu zeigen.

"Und kannst du etwa Lord Winslow restlos vertrauen?" fragte sie sich halblaut. Nachdenklich blickte sie zum Fenster. Woher wollte sie wissen, ob er sie nicht angelogen hatte?

Sharon zwang sich, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Sie war gerade dabei, ein paar Sätze in die Maschine zu tippen, als ein fürchterliches Krachen und Poltern sie zusammenfahren ließ. Erschrocken sprang sie auf und rannte zum Fenster. Fassungslos sah sie, wie aus der Tür des alten Turms dicker weißlicher Staubnebel quoll.

Ohne weiter darüber nachzudenken, stürzte die junge Frau in die Halle hinaus und stieß fast mit dem Butler zusammen, der ebenfalls auf dem Weg nach draußen war.

"Seien Sie vorsichtig, Mistreß Miles!" rief er ihr nach. "Ich habe Master Steven immer gewarnt, ihm gesagt, daß eines Tages die Decke einstürzen wird. Aber er wollte ja nicht auf mich hören."

Sharon achtete nicht auf seine Worte. Sie rannte auf den Turm zu. "Mister Winslow!" rief sie. "Mister Winslow, ist Ihnen etwas passiert?" Ihr wurde nicht einmal bewußt, daß sie aus Angst um Steven beinahe den Verstand verlor. Selten zuvor hatte sie eine so entsetzliche Angst empfunden wie in diesen Minuten. "Mister Winslow! Mister Winslow!" Ihre Stimme hallte durch den Park.

Die junge Frau erreichte den Turm. Aus allen Richtungen waren die Bediensteten der Winslows herbeigestürmt, aber keiner von ihnen hatte es gewagt, in das alte Gemäuer einzudringen. Die warnenden Zurufe ignorierend ging Sharon geduckt durch die Tür. Der dichte, schwere Staub raubte ihr fast den Atem.

Sharon kam nicht weit. Schon zwei Meter hinter dem Eingang versperrte ihr ein Teil der herabgestürzten Decke den Weg. "Mister Winslow", rief sie wieder und versuchte verzweifelt, etwas zu erkennen. Doch es war fast unmöglich; der Staub hatte sich noch nicht gelegt. Hustend, fast blind versuchte sie, sich mit den Händen einen Weg zu ertasten.

Plötzlich hörte sie ein schwaches Stöhnen. Es kam ganz aus der Nähe.

"Steven - Mister Winslow!"

"Mistreß Miles", hörte sie Steven flüstern. "Hier bin ich. Ich bin eingeklemmt. Ich ..." Der Rest seiner Worte wurde von einem Hustenanfall erstickt.

"Seien Sie vernünftig, Mistreß Miles." Die beiden Gärtner zogen Sharon ins Freie. "Wir erledigen das", versprachen sie und kehrten in den Turm zurück.

Sharon sah ein, daß sie zu schwach war, um Steven unter den Trümmern der Decke hervorzuziehen. An Mrs. Hale gedrängt, beobachtete sie, wie auch einige der anderen Männer den Turm betraten. Sie hörte Fluchen und Poltern, einen halb unterdrückten Schmerzensschrei.

"Hat jemand schon den Notarzt verständigt?" fragte sie und sah Jones an.

"Ein Krankenwagen ist bereits unterwegs", beruhigte sie der Butler.

"Wir schaffen es", drang eine vor Staub heisere Stimme aus dem Turm. Keine fünf Minuten später wurde Steven nach draußen getragen und vorsichtig auf den Rasen gelegt.

Sharon kniete sich neben ihn. "Wie geht es Ihnen?" fragte sie. Besorgt blickte sie in das verschrammte Gesicht des Bildhauers.

"Es ging mir schon besser", murmelte er. "Ich begreife das nicht. Die Deckenbalken sind äußerst stabil." Er versuchte, den Kopf in Richtung Turm zu drehen.

"Die Balken hätten erneuert werden müssen", bemerkte Jones vorwurfsvoll. "Warum haben Sie nicht auf mich gehört, Master Steven? Das Atelier hat jahrelang leergestanden, niemand hat es benutzt. Sicher haben die Balken zu faulen angefangen." Er drückte die Hand des jungen Mannes. "Sie hatten großes Glück."

Stevens Körper wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Er preßte eine Hand auf seine Lippen. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

"Vermutlich haben Sie sich ein paar Rippen gebrochen, Master Steven", meinte Mrs. Hale. "Daß Sie aber auch immer etwas anstellen müssen. So waren Sie schon als kleiner Bub. Niemals konnte man sicher sein, Sie heil und gesund zurückzubekommen."

"Da kommt der Krankenwagen!" rief eines der Hausmädchen.

"Wo ist mein Bruder?" fragte Steven.

"Mit Miß Price ausgeritten", erwiderte Sharon. "Er ..." Überrascht sah sie, wie Lord Winslow und Jessica Price quer über den Rasen auf den Turm zuritten. Sie hatte angenommen, daß sie nicht vor dem Lunch von ihrem Ausritt zurückkommen würden.

Der Krankenwagen hatte wenige Meter von ihnen entfernt gehalten. Zwei Sanitäter rannten mit einer Trage auf Steven zu. Der Notarzt folgte ihnen. Er kniete sich neben Steven ins Gras und begann, ihn zu untersuchen.

"Was ist denn hier passiert?" Lord Winslow sprang vom Pferd.

"Die Atelierdecke ist eingestürzt", berichtete Mrs. Hale. "Ihr Bruder hatte großes Glück, nicht von ihr erschlagen zu werden, Euer Lordschaft. Wie es aussieht, ist ihm nicht allzu viel passiert." Kopfschüttelnd blickte sie zu dem jungen Mann. "Gott sei Dank ist Master Steven unter einem guten Stern geboren worden."

Lord Winslow murmelte etwas Unverständliches. Er blickte durch die offene Turmtür in das dahinterliegende Tohuwabohu. "Wir hätten den Turm schon längst abreißen lassen sollen", bemerkte er, als er sich umwandte. "Es war verrückt, dort ein Atelier einzurichten. Ich hätte niemals meine Erlaubnis dazu geben dürfen." Mit wenigen Schritten war er bei seinem Bruder. "Wie sieht es aus?" fragte er den Arzt, der noch immer neben dem Patienten kniete.

"Bis auf mehrere gebrochene Rippen, Prellungen und Abschürfungen scheint Ihr Bruder keine besonderen Verletzungen davongetragen zu haben, Lord Winslow", erwiderte der junge Arzt und schaute zu ihm auf. "Natürlich werden wir Mister Winslow in der Klinik röntgen."

"Du scheinst wirklich Glück gehabt zu haben, Steven." Der Lord beugte sich über Steven. "Hast du große Schmerzen?"

"Es geht", antwortete der Bildhauer gepreßt.

Sein Bruder richtete sich auf. "Ich werde dich begleiten", sagte er.

"Das ist nicht nötig, Vincent", lehnte Steven ab. "Ich komme ganz gut alleine zurecht."

"Das sieht man." Lord Winslow wies zum Turm. "Es war irrsinnig, dort ein Atelier einzurichten. Hätte ich nur niemals ..."

"Wir sollten gehen." Der Arzt wies die Sanitäter an, die Trage mit dem jungen Mann vorsichtig hochzuheben.

"In Gedanken bin ich bei Ihnen, Mister Winslow." Sharon drückte die Hand des Verletzten. "Alles Gute."

"Danke." Steven lächelte ihr zu. "Machen Sie sich keine Sorgen. Unkraut vergeht nicht."

"Wie kommst du nur auf die Idee, daß sich Mistreß Miles um dich sorgen könnte?" bemerkte sein Bruder.

"Ich nehme an, daß es an dem ist", erklärte Steven und schloß erschöpft die Augen.

Im Kreise der anderen beobachtete Sharon, wie Stevens Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Die Türen schlossen sich. Lord Winslow nahm neben dem Fahrer Platz. Keine zwei Minuten später fuhr der Krankenwagen durch die Allee auf die Auffahrt zu.

"Er schafft es doch immer wieder, sich in den Mittelpunkt zu drängen", meinte Jessica Price sarkastisch. Sie hatte sich den Vormittag mit Lord Winslow anders vorgestellt. Es war ihr ohnehin nicht recht gewesen, daß er den Reitausflug so frühzeitig beendet hatte. Erbittert preßte sie die Hände zusammen.

"Mister Winslow wird seinen Unfall kaum geplant haben", sagte Sharon alles andere als freundlich. Miß Price wurde ihr mit jedem Tag unsympathischer. Sie konnte nicht verstehen, daß Lord Winslow sie zu seinen Freunden zählte.

"Woher wollen Sie das so genau wissen?" fragte die junge Frau und sah sie böse an. "Steven hat schon ganz andere Sachen fertig gebracht." Sie wandte sich um und ging zu ihrem Pferd, das sie neben dem Lord Winslows an eine Platane gebunden hatte.

 

16. Kapitel

 

Lord Winslow kehrte erst am späten Nachmittag aus dem Krankenhaus zurück. Er kam mit dem Taxi. Wenige Minuten nach ihm wurde sein Bruder mit dem Krankenwagen gebracht. Zwei Sanitäter trugen Steven zu seinem Zimmer hinauf. In ihrer Begleitung befand sich eine ältere Krankenschwester, die während der nächsten Tage die Pflege des Bildhauers übernehmen sollte. Sie hieß Abigail Winter und machte einen sehr energischen Eindruck.

"Mit der ist bestimmt nicht gut Kirschen essen", bemerkte Mrs. Hale zu Sharon. "Ich kenne diese Sorte Frauen. Miß Winter wird sich in alles und jedes einmischen. Gar nichts wird man ihr recht machen können."

"Sehen Sie da nicht zu schwarz, Mistreß Hale?" fragte Sharon lachend. "Ich bin überzeugt, Miß Winter wird sich nur um Mister Winslow kümmern." Beiläufig fügte sie hinzu: "Wissen Sie inzwischen, wie schwer seine Verletzungen sind?"

"Nein, bis jetzt noch nicht, Mistreß Miles. Aber es kann nichts Lebensbedrohliches sein, sonst hätte man Master Steven nicht schon nach Hause entlassen."

Sharon trat ans Fenster und schaute zum Turm hinüber. Noch vom Krankenhaus aus hatte Lord Winslow eine Baufirma beauftragt, mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Zudem sollte untersucht werden, wie es zum Einsturz der Decke kommen konnte. Die junge Frau sah ihren Chef mit dem Vorarbeiter zusammenstehen.

"Ich wünschte, Master Steven hätte nach seiner Rückkehr genau überprüft, ob die Trägerbalken der Decke in den letzten Jahren nicht vermodert sind", bemerkte Edda Hale. "Es war leichtsinnig, einfach wieder mit der Arbeit zu beginnen."

"Die Balken sahen eigentlich ziemlich stabil aus", meinte Sharon. Bei ihrem ersten Besuch im Atelier waren ihr die massiven Deckenbalken sofort aufgefallen. Zudem hatte es weder faul noch modrig gerochen.

"Und doch müssen sie durch und durch morsch gewesen sein." Die Hausdame seufzte auf. "Nun ja, jetzt ist daran nichts mehr zu ändern. Das Unglück ist schon passiert. Ich hoffe nur, daß die Skulpturen von Master Steven nicht allzu großen Schaden genommen haben."

Sharon setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, kaum daß Mrs. Hale die Bibliothek verlassen hatte. An diesem Tag war sie noch nicht sehr weit mit ihrer Arbeit gekommen. Dabei hatte sie sich am Morgen so viel vorgenommen gehabt. Aber wie sollte sie in Ruhe arbeiten, wenn sie sich Sorgen machte? Gut, es schien Steven nicht allzu viel passiert zu sein, aber es blieb noch immer die Frage, wieso die Decke eingestürzt war. An die morschen Balken glaubte sie nach wie vor nicht.

Die Sekretärin war gerade dabei, eine Tagebucheintragung aus dem achtzehnten Jahrhundert zu entziffern, als Lord Winslow in die Bibliothek trat. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, wie wütend er war. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen. Ohne ein einziges Wort ging er zum Fenster und blickte zum Turm hinüber. Dann drehte er sich abrupt um.

"Ich habe vor zwei Minuten mit der Polizei telefoniert", sagte er. "Der Einsturz der Turmdecke muß näher untersucht werden. Wie es aussieht, ist einer der Trägerbalken absichtlich beschädigt worden."

"Absichtlich?" wiederholte Sharon fast atemlos. "Aber wer kann denn so etwas getan haben? Und vor allen Dingen warum?"

Ihr Arbeitgeber ballte die Hände. "Nun, ich habe da schon so eine Idee", bemerkte er erbittert. Zornig preßte er die Lippen aufeinander.

Sharon wagte es nicht, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge brannte. Derart außer sich hatte sie Lord Winslow noch niemals erlebt. Schweigend sah sie ihn an.

Vincent Lord Winslow atmete mehrmals tief durch, bevor er sagte: "Wenn der Balken tatsächlich absichtlich beschädigt worden ist, dann wird es Steven selbst getan haben." Er trat an den Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen auf. "Machen Sie nicht so ein entsetzten Gesicht, Mistreß Miles. Sie kennen meinen Bruder nicht, wie ich ihn kenne."

"Aber das Ganze ergibt doch keinen Sinn, Lord Winslow", wagte Sharon einzuwenden. "Ihr Bruder hätte doch damit rechnen müssen, bei dem Unfall ums Leben zu kommen."

"Unfall!" Er lachte hart auf. "Man kann meinen Bruder nicht mit normalen Maßstäben messen, Mistreß Miles. Außerdem ist ihm kaum etwas passiert. Ein paar Schrammen und Prellungen, eine gebrochene und zwei angebrochene Rippen."

"Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft gebrochene Rippen sein können."

"Steven gehört nicht gerade zu den wehleidigen Menschen, und wenn der Preis hoch genug ist, dann nimmt er auch Schmerzen in Kauf."

"Der Preis?"

Lord Winslow nickte. "Ich nehme an, mein Bruder hofft, daß man mich dieser Tat beschuldigen wird."

Eine eisige Kälte schien plötzlich die Bibliothek zu durchströmen. "So etwas kann er doch nicht tun. So etwas würde er nicht tun", stammelte seine Sekretärin entsetzt.

"Wie gesagt, Sie kennen meinen Bruder nicht, Mistreß Miles." Der Herr von Winslow Manor ging um den Schreibtisch herum und umfaßte ihre Hand. "Es wäre nicht das erstemal, daß er mich einer furchtbaren Tat beschuldigt. Damals... damals..."

"Lord Winslow, Sie müssen nicht mit mir darüber sprechen", sagte Sharon, weil sie spürte, wieviel Kraft es ihren Arbeitgeber kostete, ihr sein Herz auszuschütten.

"Aber ich muß es!" stieß Vincent hervor. "Sie müssen alles wissen, nur dann können Sie mich verstehen." Er drückte ihre Hand etwas fester. "Als meine Frau und meine Tochter bei dem Absturz unserer Privatmaschine starben, beschuldigte mich mein eigener Bruder, sie ermordet zu haben. Er scheute nicht einmal davor zurück, Strafanzeige gegen mich zu erstatten."

Sharon blickte fassungslos zu ihm auf. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade hörte. Deshalb dieser tiefe Haß, den Lord Winslow gegen seinen Halbbruder empfand. Wie hatte sich Steven nur dazu hinreißen lassen können, seinen Bruder des Mordes zu bezichtigen? Er mußte doch gewußt haben, mit welch tiefer Liebe Vincent an Viola hing. Die junge Frau war davon überzeugt, daß Lord Winslow niemals etwas getan hätte, was seiner kleinen Tochter schadete. Für ihn war sie das Wichtigste im Leben gewesen.

"Ich sagte ja, daß Sie meinen Bruder nicht so kennen, wie ich ihn kenne", erklärte Lord Winslow. Er setzte sich ihr gegenüber. "Steven ist ein Mensch, der alles vernichtet, was sich ihm in den Weg stellt. Eine Zeitlang hoffte ich, er hätte sich geändert, aber dieser angebliche Unfall heute beweist mir, daß es nicht an dem ist." Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Es fiel Sharon schwer, nicht aufzustehen und ihm tröstend den Arm um die Schultern zu legen.

 

17. Kapitel

 

Die polizeilichen Untersuchungen erbrachten kein konkretes Ergebnis. Es konnte nicht mit hundertprozentiger Sicherheit festgestellt werden, ob an einem der Trägerbalken manipuliert worden war. Doch eines schien festzustehen: daß das Holz keineswegs verfault war und auch nicht morsch. Etwas, das scheinbar keinerlei Spuren hinterlassen hatte, hatte die Decke zum Einsturz gebracht.

Vincent Lord Winslow besuchte seinen Bruder nicht ein einziges Mal. Nach wie vor schien er davon überzeugt zu sein, daß Steven selbst für den Einsturz der Decke verantwortlich war. Wie Sharon zu ihrem Entsetzen feststellte, teilte er diese Meinung mit einem großen Teil des Personals und auch den Leuten aus dem nahen Ort. Außer ihr schien es nur zwei Menschen zu geben, die an Stevens Unschuld glaubten: Edda Hale und Jones.

Jessica Price verbrachte fast jeden Nachmittag auf Winslow Manor. Sharon kam es vor, als würde die junge Frau langsam an Terrain gewinnen. Lord Winslow schien sich über ihre Besuche zu freuen; jedenfalls begrüßte er sie jedesmal sehr herzlich. Meist gingen sie miteinander spazieren und tranken später auf der Terrasse Tee.

Obwohl man Sharon stets aufforderte, ihnen beim Tee Gesellschaft zu leisten, verzichtete sie meist darauf. Von Anfang an hatte sie Miß Price nicht gemocht, und daran hatte sich nichts geändert. Außerdem verabscheute sie es, wie diese Frau alles tat, um dem Herrn von Winslow Manor zu gefallen. Sie nahm an, daß sich Jessica nicht einmal scheuen würde, ihm zu Füßen zu sinken, wenn es sie ihrem Ziel, Lady Winslow zu werden, näherbrachte.

Meistens besuchte Sharon in der Zeit, in der Lord Winslow und Jessica Price auf der Terrasse Tee tranken, Steven in seinem Zimmer. Der junge Mann litt noch immer starke Schmerzen, aber er saß schon aufrecht in seinem Bett und hatte hundert Pläne. Wäre Mrs. Winter nicht gewesen, er hätte alle Warnungen in den Wind geschlagen und längst sein Krankenlager verlassen.

Als die junge Frau an diesem Nachmittag nach oben kam, skizzierte er gerade Robin, der vor dem Bett auf dem Teppich lag. Bei Sharons Eintritt hob die Dogge den Kopf und wandte sich ihr zu. Freundlich wedelte er mit dem Schwanz.

"Ein feiner Kerl bist du, Robin", lobte Sharon und tätschelte den Rücken des Hundes.

"Ein Hund, wie er sein sollte", bestätigte Steven. Er zeigte ihr die Skizze. "Habe ich ihn nicht gut getroffen?"

"Phantastisch", lobte Sharon. "Sie haben den Ausdruck seines Kopfes wirklich wunderbar eingefangen."

"Sobald ich wieder aufstehen kann, werde ich nach der Skizze ein Wachsmodell anfertigen." Steven Winslow seufzte auf. Er sah sie an. "Was halten Sie davon, wenn ich mein neues Atelier im Untergeschoß des Westflügels einrichte? Das Licht ist dort günstig; außerdem bin ich weit genug vom bewohnten Teil des Hauses entfernt, um niemanden zu stören."

"Zukunftsträume, Mister Winslow", warf die Schwester ein. "Vorläufig werden Sie nicht mit Hammer und Meißel umgehen dürfen."

"Schwester Abigail, Sie haben sich doch sicher eine Pause verdient", meinte der junge Bildhauer. "Warum gehen Sie nicht in die Küche hinunter und trinken eine Tasse Tee? Oder machen ganz einfach einen Spaziergang? Etwas frische Luft wird Ihnen guttun."

"Das war deutlich", bemerkte die Krankenschwester. "Also gut, wie Sie wünschen, Mister Winslow." Sie legte ihr Strickzeug auf eine Kommode und verließ das Zimmer.

"Das ist vielleicht ein Drachen." Steven verdrehte die Augen. "Allerdings muß ich zugeben, ich bin auch nicht gerade ein geduldiger Patient. Schwester Abigail hat einiges mit mir zu tun, um mich im Bett zu halten."

"Sie sollten sich Mühe geben, sie nicht gegen Sie aufzubringen."

"Schwester Abigail ist nicht so. Sie ist einiges gewohnt, nehme ich an." Er lachte. "Ich dürfte nicht der schlimmste ihrer Patienten sein. Ich... Verdammt!" Er verzog vor Schmerz das Gesicht. Unbewußt hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. "Sagen Sie, Mistreß Miles, regt sich mein Bruder nicht jedesmal fürchterlich auf, wenn Sie mich besuchen? Er hat mich doch sozusagen in Acht und Bann getan."

"Miß Price und Ihr Bruder trinken auf der Terrasse Tee."

"Die gute Jessica." Wieder verdrehte er die Augen. "Ehrlich gesagt, ich würde es Vincent gönnen, auf sie hereinzufallen." Sein Gesicht verdüsterte sich. "Behauptet mein Bruder immer noch, ich hätte meinen Unfall selbst herbeigeführt, um ihn zu beschuldigen?"

Sharon blickte ihm in die Augen. "Haben Sie es?"

Ein flüchtiges Lächeln umhuschte seine Lippen. "Nein. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die um einem anderen zu schaden, mit ihrem Leben spielen würden", antwortete er. "Außerdem schlage ich nicht hinterrücks zu. Das ist nicht mein Stil."

Sharon glaubte ihm. "Aber was ist dann passiert?" fragte sie. "Was hat die Decke zum Einsturz gebracht?"

"Ich wünschte, ich wüßte darauf eine klare Antwort", meinte Steven Winslow. Düster fügte er hinzu: "Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der mich haßt: meinen Halbbruder."

"Wollen Sie etwa behaupten..."

"Sharon, nehmen Sie endlich Ihre rosarote Brille ab", bat der junge Bildhauer. "Vincent ist nicht der Mann, für den Sie ihn halten. Er ist gefährlich, sehr gefährlich sogar." Er griff nach den Händen der jungen Frau. "Je eher Sie der Wahrheit ins Gesicht sehen, um so besser wird es sein. Vincent..."

Mit einem heftigen Ruck entzog ihm Sharon ihre Hände. "Ich weiß nur eines, Mister Winslow", sagte sie. "Sie sind genauso verbohrt und ihm Haß gefangen wie Ihr Bruder." Wütend stand sie auf und ging zur Tür.

"Mistreß Miles, bitte, laufen Sie nicht davon. Sharon..."

Sharon warf Steven einen letzten Blick zu, dann schloß sie die Tür hinter sich. Eilig stieg sie die Treppe zur Halle hinunter. Sie verbot es sich, darüber nachzudenken, ob an Stevens Worten nicht doch etwas Wahres sein konnte. Sie hatte keinen Grund, an Lord Winslow zu zweifeln. Weshalb hätte er denn so etwas Furchtbares tun sollen? Nicht einmal tödlicher Haß würde einen Mann wie Vincent Lord Winslow zu einer derartigen Tat treiben können.

 

18. Kapitel

 

Leise schlich sich die kleine Julie am frühen Morgen in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Auf Zehenspitzen huschte sie zu deren Bett, doch dann warf sie sich mit einem heftigen Ruck auf sie. "Aufwachen, Mommy!" rief sie. "Heute habe ich Geburtstag. Heute bin ich endlich sechs Jahre alt."

Sharon hatte schon ein Weilchen wach gelegen. Sie hatte an den Traum gedacht, den sie in der Nacht gehabt hatte. Ganz deutlich hatte sie Viola vor sich gesehen. Das kleine Mädchen hatte die Arme nach ihr ausgestreckt. Wieder hatte es versucht, ihr etwas zu sagen.

Und wenn es gar kein Traum gewesen war. Konnte sie nicht wieder in der Nacht von Violas Lied aufgewacht sein? - Aber Viola war tot! Das Kind, das sie so oft im Haus und im Park zu sehen glaubte, war nur eine Ausgeburt ihrer Phantasie.

"Mommy!"

Sharon riß sich zusammen. Sie zog ihr Töchterchen in die Arme. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Lovely", wünschte sie und küßte die Kleine. "Heute ist wirklich ein besonderer Tag für dich. Immerhin wird man nur einmal in seinem Leben sechs Jahre alt."

"Wie war das, als du sechs Jahre alt geworden bist, Mommy?"

"Wunderschön", erwiderte Sharon. "Ich habe von meinen Eltern ein großes Puppenhaus geschenkt bekommen. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag mit ihm gespielt, aber am Nachmittag gab es eine große Party für mich."

"So eine große Party, wie Onkel Vincent heute nachmittag für mich gibt?"

"Nein, nicht ganz so groß", sagte Sharon und richtete sich auf. "So, aber nun ziehen wir uns am besten an. Bald wird es Frühstück geben. Außerdem möchtest du doch sicher deine Geburtstagsgeschenke sehen."

"Was bekomme ich denn von dir?"

"Erst anziehen." Sharon schwang ihre Beine über den Bettrand. "Mal sehen, wer zuerst fertig ist."

Es war Julie, die zuerst mit der Toilette fertig wurde. Erwartungsvoll stand sie in dem kleinen Wohnraum neben dem Tisch, auf dem ihre Geburtstagsgeschenke lagen. Sharon hatte sie mit einem Tuch zugedeckt. Sie beobachtete ihre Tochter vom Schlafzimmer aus und amüsierte sich darüber, wie Julie versuchte, trotz des Tuches zu erraten, was sie wohl bekommen würde.

Schließlich brachte sie es nicht fertig, Julie noch länger auf die Folter zu spannen. Sie zog das Tuch vom Tisch. "Simsalabim", rief sie.

"Eine neue Puppe!" Julie griff nach der Babypuppe, die auf dem Tisch lag, und drückte sie an sich. "Und Bücher! Und eine Handtasche!" Strahlend sah sie ihre Mutter an. "Die Puppe werde ich Viola nennen", bestimmte sie. "Ob sich Onkel Vincent darüber freut?"

Es war Sharon alles andere als recht, daß Julie ihre Puppe Viola nennen wollte, aber sie konnte es ihr auch nicht verwehren, ohne einen konkreten Grund dafür anzugeben. Aber diesen Grund gab es nicht. Sie ahnte, daß Lord Winslow mehr als erfreut darüber sein würde. "Ja, nenne sie Viola", meinte sie resignierend und küßte sie.

Hand in Hand gingen sie nach unten. In der Halle stand das Personal von Winslow Manor und wünschte Julie alles Gute zu ihrem Geburtstag. Dann kam Lord Winslow, ergriff das kleine Mädchen bei der Hand und führte es ins Frühstückszimmer. Auf einem Tisch beim Fenster lagen die Geschenke für sie. Neben dem Tisch stand ein riesiges Puppenhaus. Sharon hatte dieses Puppenhaus schon einmal gesehen. Es hatte früher Viola gehört und davor deren Großmutter.

"Ist das alles für mich?" fragte Julie überwältigt. Sie blickte sich zu ihrer Mutter um.

Sharon legte ihre Hände auf die Schultern des Kindes. Sie hatte nicht erwartet, daß Lord Winslow ihre Tochter so reichlich beschenken würde, und vor allen Dingen mit Sachen, die zuvor Viola gehört hatten.

"Ja, das ist alles für dich, meine kleine Prinzessin", erwiderte Lord Winslow. "Freust du dich?"

Julie nickte. "So ein schönes Puppenhaus habe ich mir schon immer gewünscht." Sie kniete sich daneben. "Schau nur, Mommy, es gibt sogar eine richtige Kutsche und einen Kutscher." Wieder blickte sie sich zu ihrer Mutter um.

"Du mußt sehr vorsichtig damit umgehen", sagte die junge Frau. "Eigentlich ist so ein Puppenhaus viel zu wertvoll, als daß ein kleines Mädchen damit spielt." Sharon sah Lord Winslow an. "Es gehörte ins Museum."

"Nein, es gehört zu einem kleinen Mädchen, das es liebt", erwiderte ihr Arbeitgeber. Dann griff er nach einem pastellfarbenen Kleidchen und hielt es Julie hin. "Ich möchte, daß du dieses Kleid heute nachmittag trägst. Viola hat es nur ein einziges Mal anziehen können."

Sharon brauchte ihre ganze Beherrschung, um nicht aufzuschreien. Sie kannte dieses Kleid. Das kleine Mädchen, dem sie so oft begegnete, trug es.

Julie sprang auf. Sie drängte sich an ihre Mutter. Sharon fühlte, daß ihre Tochter das Kleid nicht mochte, aber nicht wagte, es Lord Winslow zu sagen.

"Gefällt es dir nicht?" fragte der Lord enttäuscht. "Viola hat es sich selbst ausgesucht."

Julie kämpfte mit sich. "Doch, es gefällt mir", behauptete sie, obwohl offensichtlich war, daß sie log. Sie berührte den zarten Stoff, zuckte zurück.

"Ich glaube, wir sollten frühstücken gehen", schlug Sharon vor.

"Aber nicht, bevor Julie mein Geschenk ausgepackt hat", erklärte Steven Winslow und trat durch die Tür. Er hielt ein schmales, in buntes Papier gewickeltes Päckchen in der Hand.

"Guten Morgen, Onkel Steven. Bist du wieder gesund? Fein, daß du aus deinem Zimmer gekommen bist." Julie rannte ihm entgegen, stoppte jedoch, bevor sie ihn erreichte. "Ich darf dich ja nicht drücken", sagte sie. "Wenn man gebrochene Rippen hat, tut so etwas sehr weh."

"Fein, daß du daran denkst, Lovely." Steven beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf die Stirn. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Julie."

"Dir scheint es besserzugehen, Steven", bemerkte Lord Winslow. "Das freut mich. Wir hatten nicht erwartet, dich heute hier unten zu sehen."

"Ich habe sogar vor, an Julies Party teilzunehmen", erklärte sein Halbbruder. "An einem Tag wie heute, wäre es ein Verbrechen gewesen, einfach liegen zu bleiben." Er wandte sich Sharon zu. "Mistreß Winter ist natürlich anderer Meinung. Sie behauptet, morgen könnte ich keinen Finger rühren."

"Aber wie ich Sie kenne, berührt Sie das im Moment noch nicht", meinte Sharon lachend. Sie freute sich, daß Steven den Tag mit ihnen verbringen wollte.

"Da ist etwas Wahres dran", sagte Steven. Sein Blick fiel auf die Geburtstagsgeschenke. Sekundenlang erstarrte er. "Vincent, es ..." Er schluckte und atmete tief durch. "Gehen wir zu Tisch", schlug er vor. "Im Bett schmeckt es lange nicht so gut wie in deiner Gesellschaft, Julie." Er reichte ihr sein Päckchen. "Ich hoffe, daß auch mein Geschenk dir gefallen wird. So etwas Prächtiges wie dieses Puppenhaus ist es allerdings nicht."

 

19. Kapitel

 

Es war eine wunderschöne Kinderparty gewesen. Julie hatte ihre ganzen Klassenkameraden einladen dürfen. Zudem hatte Lord Winslow auch einige seiner Nachbarn an diesem Nachmittag nach Winslow Manor gebeten. Von Jessica Price hatte das kleine Mädchen ein Buch über den Umgang mit Pferden geschenkt bekommen. Julie war dafür noch zu klein, aber wegen der vielen bunten Fotos hatte sie sich trotzdem darüber gefreut.

Die meisten der Gäste hatten sich bereits verabschiedet. Lord Winslow unterhielt sich mit Jessica Price. Sie standen neben den Resten des kalten Büffets und sprachen über ein Konzert, das das Kinderhilfswerk ganz in der Nähe veranstaltete. Julie war ins Haus gelaufen und kniete vor ihrem Puppenhaus. Sharon wollte ihr gerade folgen, als Steven Winslow sie fragte, ob sie ein paar Minuten Zeit für ihn hätte.

"Natürlich", sagte sie.

"Vertreten wir uns etwas die Füße", schlug er vor und nahm ihren Arm. "Ich glaube, Julie hat die Party gefallen. Es ist lange her, daß unser Park und das Haus von Kinderlachen widerhallten." Wehmütig schaute er von der Terrasse aus zu den Klippen. "Sehr lange her."

"Sie denken an Viola."

Er nickte. "Schade, daß Sie meine Nichte nicht gekannt haben. Kommen Sie, gehen wir zum Meer." Ohne ihre Antwort abzuwarten, stieg er mit ihr die Terrassenstufen hinunter.

Lord Winslow, der sich noch immer mit Jessica unterhielt, blickte auf. Sein Gesicht verdüsterte sich. Am liebsten wäre er den jungen Leuten gefolgt. Die Stimme seiner Nachbarin nahm er kaum noch wahr.

"Ich wollte den ganzen Tag schon mit Ihnen reden, Mistreß Miles", bemerkte Steven, als sie die Klippen erreicht hatten. "Auch wenn ich mich nicht gerne wiederhole, ich mache mir große Sorgen."

Sharon seufzte vernehmlich auf. "Muß denn das sein, Mister Winslow?" fragte sie ärgerlich. "Müssen Sie selbst an diesem Tag gegen Ihren Bruder intrigieren?"

Er ließ ihren Arm los. "Ich intrigiere keineswegs gegen Vincent", antwortete er. "Aber mir geht es um Julie. Mein Bruder plant irgend etwas." Er umfaßte ihre Schultern. "Ist es Ihnen denn nicht unangenehm, daß Julie Violas Kleid trägt? Mein Bruder ist kein Mensch, der auch nur einen Federstrich ohne einen Grund tun würde. Dieses Kleid hat er selbst Viola gekauft."

"Mir wäre auch lieber gewesen, er hätte Julie dieses Kleid nicht geschenkt", gab Sharon zu. "Doch wenn es Ihrem Bruder Freude macht, so soll es meine Tochter ruhig tragen." Sie dachte an das kleine Mädchen, das sie schon so oft gesehen hatte. Am liebsten hätte sie sich Steven anvertraut, aber sie wagte es nicht. Sie befürchtete, von ihm ausgelacht zu werden, da sie sich nicht vorstellen konnte, daß der junge Mann an Geistererscheinungen glaubte.

"Vincent ist nicht der Mensch, für den Sie ihn halten."

"Bitte, hören Sie auf, Steven", sagte Sharon. Sie errötete. "Ich meinte natürlich Mister Winslow."

"Können wir es nicht dabei belassen?" Er blickte ihr in die Augen. "Sagen Sie noch einmal Steven. Bitte!"

"Nein, Mister Winslow." Sharon straffte die Schultern. "Und was Ihren Bruder betrifft, so glaube ich, daß er in Julie mehr als nur meine Tochter sieht. Julie sieht in gewisser Hinsicht Viola ähnlich. Ihr Bruder hat seine Tochter über alles geliebt. Für ihn ist es wichtig, wieder ein Kind zu haben, dem er seine Liebe schenken kann."

"Vincent hat Viola vergöttert", sagte Steven. "Er hing mit einer geradezu unnatürlichen Liebe an ihr. Es gab keinen Wunsch, den er ihr nicht erfüllte. Vergeblich versuchte Maureen, seine Liebe in normale Bahnen zu lenken. Sie befürchtete, daß er Viola schaden könnte, wenn er ihr jeden Wunsch erfüllte. Maureen und er stritten sich sehr oft über die Erziehung des Kindes."

"Nun, diesen Fehler wird Ihr Bruder nicht noch einmal machen", meinte Sharon und blickte auf das Meer hinaus. "Er hat Julie Grenzen gesetzt, die sie respektieren muß."

"Ich habe Angst um Julie, Mistreß Miles. Bitte versuchen Sie wenigstens, mich zu verstehen. Vincent..."

"Es reicht, Mister Winslow."

"Warum müssen Sie so vertrauensselig sein?" brauste er auf. "Sie und die Kleine bedeuten mir unendlich viel, Mistreß Miles. Ich könnte es nicht ertragen, wenn..."

"Ich habe keine Lust, Ihren Anklagen noch länger zuzuhören, Mister Winslow", unterbrach sie ihn. "Sie sollten sich schämen. Es war so ein wunderschöner Tag. Ihr Bruder hat alles getan, um Julie glücklich zu machen, und Sie..." Sharon drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte zum Haus zurück.

Obwohl sich die junge Frau vornahm, nicht über Stevens Worte nachzudenken, gelang es ihr nicht. Während sie Julie zu Bett brachte, ging ihr das, was er gesagt hatte, nicht aus dem Sinn.

Konnte es wirklich sein, daß Lord Winslow etwas plante? Etwas, das Julie oder ihr schaden würde? - Nein, so gut glaubte sie ihn zu kennen. Vincent Lord Winslow war nicht der Mann, der wissentlich einem anderen Schaden zufügen würde.

Obwohl Sharon der Haß, den die Brüder füreinander empfanden, oft zu denken gab, hielt sie ihren Arbeitgeber nicht nur für einen großzügigen sondern auch für einen wertvollen Menschen. Hatte er nicht alles getan, um ihnen zu einem Leben zu verhelfen, wie sie es nicht in ihren kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte? Es war Unsinn, auch nur in Erwägung zu ziehen, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Sie hatte kein Recht, an ihm zu zweifeln.

Als Julie schlief, ging Sharon nach unten, um sich noch etwas in den Salon zu setzen. Doch kaum war sie in der Halle, bat Jones sie in das Arbeitszimmer seiner Lordschaft.

"Ich habe bereits auf Sie gewartet, Mistreß Miles", sagte Lord Winslow und ging ihr entgegen. Er ergriff ihre Hände. "War es nicht ein bemerkenswerter Tag? Selten habe ich unsere kleine Julie so strahlen gesehen. Entzückend, wie sie in Violas Kleid aussah." Versonnen blickte er zum Kaminfeuer. "Julie hat wieder Freude in mein Leben gebracht, eine Freude, wie ich sie kaum noch für möglich gehalten hätte."

"Das beruht auf Gegenseitigkeit", bemerkte die junge Frau aus tiefstem Herzen.

Lord Winslow führte sie zu einem bequemen Sessel und bat sie, Platz zu nehmen. Er schenkte Sherry ein. "Es mag noch etwas früh sein, darüber zu sprechen, Mistreß Miles, doch ich möchte nicht länger warten." Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf einem Tischchen ab. Minutenlang blickte er ihr in die Augen, dann sagte er: "Werden Sie meine Frau, heiraten Sie mich."

Sharon zuckte erschrocken zusammen, obwohl sie damit gerechnet hatte, daß ihr Arbeitgeber sie womöglich eines Tages bitten würde, seine Frau zu werden.

"Ich wollte Sie nicht erschrecken, Mistreß Miles", fuhr Lord Winslow fort, "aber sehen Sie, ein Mann in meinen Jahren, ein Mann, der das Liebste auf Erden verloren hat, der... Ich liebe Sie, aber es ist nicht nur das. Sie sind würdig, Lady Winslow zu werden." Er strich sanft über ihren Arm. "Ich hätte nicht gedacht, daß ich jemals wieder eine Frau bitten würde, mich zu heiraten, doch dann sind Sie mir begegnet, und alles sah plötzlich ganz anders aus."

"Es kommt so plötzlich, Lord Winslow", stammelte die junge Frau.

"Ist es wegen Steven?" fragte er scharf. "Lieben Sie meinen Bruder?"

"Ich habe noch nicht darüber nachgedacht", versuchte Sharon auszuweichen und fühlte im selben Moment, daß sie Steven tatsächlich liebte. Aber sie wußte auch, daß sie das Lord Winslow nicht so unverblümt sagen durfte. Er würde es nicht verstehen. Nach allem, was er für sie getan hatte, für sie und Julie, konnte sie ihn nicht so vor den Kopf stoßen.

Er zwang sich zu einem Lächeln. "Wir haben Zeit, Mistreß Miles. Ich werde vernünftig sein und in Geduld Ihre Entscheidung abwarten." Er schenkte ihr einen innigen Blick. "Fühlen Sie sich bitte nicht von mir gedrängt. Wie immer auch Ihre Entscheidung ausfallen wird, ich werde sie akzeptieren."

"Danke, Lord Winslow", erwiderte Sharon. Sie hätte sich gern in die Einsamkeit ihres Zimmers geflüchtet, doch sie wollte ihren Arbeitgeber jetzt nicht alleine lassen. Überrascht stellte sie fest, wie gut es ihr gelang, ganz einfach Konversation zu machen, und sie fragte sich, ob es auch Lord Winslow so leicht fiel, andere zu täuschen.

20. Kapitel

 

Die nächsten Wochen vergingen in trügerischem Frieden. Steven und sein Bruder schienen jetzt besser miteinander auszukommen. Sharon verstand zwar nicht, wodurch dieses Wunder geschehen war, aber sie freute sich darüber. Sie überlegte sogar, ob man es ihrem Einfluß zuschreiben konnte, denn immerhin hatte sie versucht, in jedem der Brüder Verständnis für den anderen zu wecken.

Anfang September lud Steven Winslow Sharon und Julie ein, mit ihm einen Tag auf dem Wasser zu verbringen. Wie in früheren Zeiten wollte er wieder einmal in seinem Motorboot aufs Meer hinausfahren. Die junge Frau hatte bereits zugesagt, als Lord Winslow beschloß, mit ihnen nach Tintagel zu fahren. Er hielt es für wichtig, Julie die Burg König Artus' zu zeigen.

"Am Sonntag fahre ich noch einmal hinaus", versprach Steven und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, "aber dann müssen Sie und Julie auf jeden Fall mitkommen." Lächelnd sah er sie an. "Das heißt, falls Sie nicht seekrank werden. So eine Fahrt ist nicht jedermanns Sache."

"Ich bin noch nie seekrank geworden, Mister Winslow", erwiderte sie lachend. "Und wie ich Julie kenne, so würde ihr eine Bootsfahrt große Freude machen."

Zusammen mit Lord Winslow verbrachten sie einen wunderschönen in Tintagel. Er führte sie durch die Burgruine und zeigte ihnen auch noch andere Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Julie langweilte sich nicht einen Augenblick. Vincent verstand es ausgezeichnet, das Interesse des Kindes zu wecken. Jetzt, am späten Nachmittag, kehrten sie nach Winslow Manor zurück. Sie waren alle bester Laune und noch erfüllt von den Erlebnissen des Tages.

Kaum hatte Lord Winslows Wagen vor dem Hauptportal des Hauses gehalten, stieg Julie auch schon aus und umarmte Robin, der ihnen zur Begrüßung entgegenrannte. Laut berichtete sie dem Hund, wie schön der Ausflug gewesen war, und daß er auch ihm gefallen hätte. Sie drehte sich halb den Erwachsenen zu. "Das nächstemal müssen wir Robin mitnehmen, Onkel Vincent", bat sie. "Ihm macht es bestimmt auch Spaß, in den Ruinen herumzuklettern."

"Das glaube ich kaum", erwiderte der Lord, "aber ich verspreche dir, daß wir auch mal einen Ausflug mit Robin machen." Er wandte sich Sharon zu. "Wir sehen uns dann beim Dinner. Ich habe noch einige wichtige Telefonate zu führen."

"Muß ich heute noch etwas für Sie erledigen, Lord Winslow?" erkundigte sich die junge Frau.

"Nein, Sie haben sich auch etwas Ruhe verdient, Mistreß Miles", sagte er. "Julie!"

"Ja, Onkel Vincent?" Das kleine Mädchen richtete sich auf.

"Vergiß nicht, dich vor dem Dinner umzuziehen. Eine Lady erscheint nämlich niemals in Jeans und T-Shirt bei Tisch."

So eitel Julie in London gewesen war, hier auf dem Land rannte sie am liebsten in Jeans und T-Shirt herum. Ergeben nickte sie. "Ich verspreche es, Onkel Vincent", sagte sie und rannte den Erwachsenen vorweg ins Haus.

Während Sharon mit ihrer Tochter die Treppe zu ihrer Suite hinaufstieg, verschwand Lord Winslow in der Bibliothek. Robin machte es sich in seinem Korb unterhalb der Treppe bequem.

Mrs. Hale kam ihnen im ersten Stock entgegen. Auch ihr erzählte Julie, wie schön der Ausflug gewesen war. "Schade, daß Sie nicht dabei waren", meinte sie.

"Nun, für alte Burgen habe ich nicht so viel übrig, Julie", verriet die Hausdame. Dann wurde ihr Gesicht ernst. "Master Steven ist noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt", berichtete

sie Sharon. "Dabei hatte er versprochen, bis zum Tee wieder hier zu sein." Nervös umklammerte sie das Treppengeländer.

"Vielleicht wollte Mister Winslow etwas länger auf See bleiben", erwiderte die junge Frau. "Sie sollten sich keine Sorgen machen, Mistreß Hale." Lächelnd fügte sie hinzu: "Mister Winslow ist erwachsen."

Edda Hale verzog das Gesicht. "Ich weiß, ich bin eine alte Unke, aber ich habe ein ungutes Gefühl." Ihre Augen wurden schmal. "Es ist nicht das erstemal, daß mir so etwas passiert. Damals, als Lady Winslow und Miß Viola..." Sie seufzte auf. "Nein, ich sollte nicht daran denken. Was soll auch passiert sein? Immerhin kennt sich Master Steven auf See aus." Sie ging weiter.

Sharon machte sich keine Sorgen um Steven. Dazu gab es keinen Grund. Kaum hatten sie ihre Suite betreten, bat sie Julie sich auszuziehen. "Ein Bad wird dir heute guttun", meinte sie.

"So schmutzig bin ich doch gar nicht", protestierte die Kleine.

"Schmutzig genug", argumentierte ihre Mutter.

"Ob Viola sich auch andauernd umziehen mußte?" fragte Julie, als sie wenig später in die Badewanne kletterte.

"Das nehme ich doch an."

Ihre Tochter blickte sie nachdenklich an. "Manchmal ist Onkel Vincent richtig komisch", bemerkte sie. "Neulich hat er mich Viola genannt. Dabei weiß er doch ganz genau, daß ich Julie bin." Sie legte ihr Köpfchen schief. "Onkel Steven ist da ganz anders. Er mag mich auch als Julie."

"Lord Winslow ist noch immer traurig, daß seine kleine Tochter nicht mehr bei ihm ist", nahm Sharon ihren Arbeitgeber in Schutz. Sie hob ihre Tochter aus dem Wasser und hüllte sie in ein langes Frottiertuch.

Eine halbe Stunde später spielte Julie im Bademantel mit ihrem Puppenhaus. Sharon saß im Wohnraum der Suite und schrieb einen Brief an eine Londoner Freundin. Doch sie konnte sich nicht recht auf diesen Brief konzentrieren, obwohl sie ihrer Freundin sehr vieles zu berichten hatte. Ihre Gedanken glitten immer wieder zu Steven. Der Ausflug mit Vincent Lord Winslow war schön gewesen, aber sie mußte sich eingestehen, daß sie hundertmal lieber mitSteven auf See gewesen wäre.

Ein Glück, daß Lord Winslow nichts davon weiß, überlegte sie. Aufseufzend stützte sie den Kopf in die Hände und blickte aus dem Fenster. Warum soll er eigentlich nichts davon wissen? fragte sie sich dann. Ich bin nur seine Angestellte. Es müßte ihm völlig gleich sein, was ich für Steven empfinde. - Aber es ist nicht an dem, sagte sie sich dann. Immerhin hat er mir einen Heiratsantrag gemacht und von seiner Liebe zu mir gesprochen. Auch wenn sich Lord Winslow an sein Versprechen, sie nicht zu bedrängen, gehalten hatte, ahnte sie, daß er von Tag zu Tag auf eine positive Antwort hoffte.

Kurz vor dem Dinner zog Sharon ihrer Tochter ein hübsches Kleidchen an und machte auch sich etwas zurecht. Hand in Hand stiegen sie die Treppen hinunter. Sie waren fast in der Halle angekommen, als die junge Frau plötzlich am Fuß der Treppe ein kleines Mädchen stehen sah. Wieder trug es das pastellfarbene Kleid, das Lord Winslow Julie geschenkt hatte. Die rotblonden Haare des Kindes waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es streckte ihnen die Hände entgegen.

"Viola!" rief Sharon. Im selben Augenblick verschwand die Kleine.

Julie sah ihre Mutter verwundert an. "Warum hast du Viola gerufen, Mommy?" wollte sie wissen. "Viola ist doch tot."

"Ich war in Gedanken", wich Sharon aus. Wie sollte sie Julie erklären, daß sie die verstorbene Tochter ihres Schloßherrn immer wieder zu sehen glaubte und daß sie das Gefühl hatte, das kleine Mädchen oder vielmehr der Geist des kleinen Mädchens wollte ihr etwas sagen?

Sie durchquerten die Halle und wollten gerade das Speisezimmer betreten, als Lord Winslow aus dem Arbeitszimmer kam. Erschrocken blieb Sharon stehen. Nie zuvor hatte sie ihren Arbeitgeber so aufgelöst gesehen. Er schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Sein Gesicht wirkte hager und eingefallen. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen.

"Was ist passiert, Lord Winslow?" fragte sie und bemühte sich, die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken.

"Ich habe gerade einen Anruf der Polizei erhalten", sagte er dumpf. "An Bord von Stevens Boot hat es eine Explosion gegeben. Es muß schon heute mittag geschehen sein. Die Trümmer des Bootes treiben auf dem Meer. Von Steven selbst fehlt jede Spur. Man nimmt an, daß er bei der Explosion ums Leben gekommen ist."

Sharon klammerte sich an das kleine Tischchen, das neben der Tür zum Speisezimmer stand. Die Beine drohten unter ihr nachzugeben. "Das ist doch unmöglich", stammelte sie. "Es kann nicht sein."

"Leider ist es die Wahrheit", erwiderte Lord Winslow. Er schüttelte verständnislos den Kopf. "Ich kann es nicht fassen. Ich..." Impulsiv schloß er die junge Frau in die Arme.

 

21. Kapitel

 

Vergeblich wurden das Meer und die Küste nach Stevens Leichnam abgesucht. Das einzige, was außer den Wrackteilen des Schiffes gefunden wurde, war ein zerrissener Parka, der sich in einem Felsen an der Küste verfangen hatte. Vincent identifizierte ihn als den, den sein Bruder an diesem Morgen getragen hatte. Für ihn schien es keinen Zweifel daran zu geben, daß Steven bei der Explosion an Bord seines Bootes umgekommen war. Doch Sharon wollte die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn sie ahnte, daß alles Hoffen vergeblich sein würde."

"Ist Onkel Steven jetzt beim lieben Gott?" fragte Julie am Sonntag nachmittag, als ihre Mutter sie für den Kirchgang anzog. "Sicher unterhält er sich dort mit Onkel Edward und meinem Daddy. Sie werden Freunde sein. Er wird ihnen von uns erzählen und davon, wie lieb Onkel Vincent zu uns ist."

Sharon zog ihre Tochter stumm an sich. Sie schloß die Augen und glaubte, Stevens Gesicht vor sich zu sehen, sein lausbubenhaftes Grinsen, seine braunen, immer etwas wirren Haare und seine dunklen Augen, die oft das Lächeln seines Gesichtes Lügen gestraft hatten. Sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Herzens nach ihm.

In mehreren Wagen fuhren sie zur Kirche. Der ganze Haushalt Lord Winslows wollte am Gedenkgottesdienst für Steven teilnehmen. Sharon beachtete kaum die Leute, die sie neugierig anstarrten, als sie neben Lord Winslow durch den Mittelgang der Kirche schritt. Sie hörte auch nicht ihr Tuscheln und nicht die Bemerkungen, die sie machten. Im allgemeinen nahm man an, daß sie über kurz oder lang die neue Lady Winslow werden würden.

Stumm nahm sie mit Julie neben Lord Winslow in der alten Kirchenbank Platz, die seit Generationen den Winslows vorbehalten war. Das Personal des Hauses suchte sich Plätze zwischen den anderen Leuten. Wie in Trance stand sie auf, als der Pfarrer die Gemeinde aufforderte, ein Gebet zu sprechen.

Vincent Lord Winslow schien vor Schmerz wie erstarrt zu sein. Es kostete ihn sichtlich Mühe, nicht zusammenzubrechen. Er schien nicht einmal Jessica Price zu bemerken, die ihnen gegenüber in der Bankreihe ihrer Familie saß. Doch Sharon spürte sehr deutlich die Blicke der jungen Frau, und sie ahnte auch, wie heftig sich Jessica wünschte, jetzt an ihrer Stelle zu sein. Der Haß, den Miß Price ausstrahlte, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken.

Der Gedenkgottesdienst zog sich endlos dahin. Sharon achtete kaum auf die Worte, die gesprochen wurden. Sie schienen Steven ohnehin nicht gerecht zu werden und klangen zudem nach reiner Heuchelei. Obwohl Lord Winslow stets behauptet hatte, Steven hätte mit seinem Charme alle Herzen im Sturm erobert, gab es hier nicht viele Leute, die den Bildhauer gemocht hatten. Die meisten waren der Überzeugung, daß der junge Mann alles getan hatte, um seinem Bruder zu schaden. Für sie war und blieb Steven das schwarze Schaf der Familie. Man rechnete es Lord Winslow hoch an, daß er dennoch einen solch prächtigen Gedenkgottesdienst für seinen Bruder abhalten ließ.

Als sie die Kirche verließen, regnete es in Strömen. Sie hatten es eilig, nach Hause zu kommen, wurden jedoch immer wieder aufgehalten. Schließlich verwickelte Jessica Price Lord Winslow noch in ein längeres Gespräch. Immer wieder beteuerte sie, daß sie jederzeit für ihn dasein würde.

"Du weißt, daß du auf mich bauen kannst, Vincent", sagte sie, als sie ihm zum Abschied die Hand reichte. "Freunde müssen in solchen Zeiten zusammenhalten. Wenn du möchtest, komme ich für ein paar Tage nach Winslow Manor. Es würde mir nichts ausmachen."

Das kann ich mir denken, dachte Sharon ironisch.

"Wir telefonieren miteinander, Jessica", erwiderte Lord Winslow ausweichend. "Im Moment weiß ich kaum, wo mir der Kopf steht." Er drückte ihre Hand. "Bis später."

"Ich kann dich sehr gut verstehen, Vincent." Jessica lächelte ihm zu. "Ich werde auf deinen Anruf warten."

Schweigend gingen sie zum Wagen. Auch auf der Fahrt zu seinem Besitz sprach Lord Winslow kein Wort. Gleich nach ihrer Rückkehr ging er in sein Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich.

"Onkel Vincent ist schrecklich traurig", sagte Julie, als Sharon ihr etwas anderes anzog. "Aber ich bin auch traurig. Ich habe Onkel Steven so lieb gehabt." Sie schmiegte sich an ihre Mutter.

"Ich habe Mister Winslow auch sehr gemocht, Julie", erwiderte Sharon. Sie dachte Vincent. Sie hätte viel dafür gegeben, jetzt heimlich sein Arbeitszimmer zu betreten, nur um zu sehen, was er tat. Auch wenn sie sich dafür schämte, sie konnte nicht recht an die Trauer glauben, die Lord Winslow so offen zeigte. Immerhin wußte sie ja, daß er nichts für seinen Bruder übrig gehabt hatte. Auch wenn sich die Brüder während der letzten Wochen vertragen hatten, hieß das noch lange nicht, daß er seinen Groll auf Steven überwunden hatte.

Sharon ging mit ihrer Tochter in den Wintergarten, um dort Tee zu trinken. Nach wie vor konnte sie nicht fassen, daß Steven niemals wiederkommen würde. Sehnsüchtig wünschte sie sich, die Tür des Wintergartens würde sich öffnen und er plötzlich vor ihnen stehen.

An diesem Abend wollte beim Dinner kein rechtes Gespräch aufkommen. Selbst Julie, die sonst stets dafür sorgte, daß es bei Tisch nicht still wurde, brachte kaum ein Wort über die Lippen. Unlustig schob sie mit ihrer Gabel Fleisch und Gemüse von einer Seite des Tellers zur anderen.

"Ich bringe Julie zu Bett, Lord Winslow. Bitte, entschuldigen Sie mich." Sharon stand auf. "Ihr fallen fast die Augen zu."

"Ja, es wird das beste sein, Mistreß Miles", erwiderte Vincent. "Unser Prinzeßchen ist einfach zu müde, um noch länger wach zu bleiben. Komm, sag mir gute Nacht, Julie." Er rückte etwas vom Tisch ab und breitete die Arme aus.

"Gute Nacht, Onkel Vincent." Julie umarmte ihn.

"Gute Nacht, Lovely." Zärtlich drückte er die Kleine an sich. "Was sollte ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte? Du hast wieder Sonne in mein Leben gebracht." Er küßte sie auf die Stirn.

Sharon brachte ihre Tochter nach oben und blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Dann ging sie noch einmal ins Erdgeschoß hinunter, um nach ihrem Arbeitgeber zu sehen. Obwohl sie keine Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten, weil sie noch viel zu sehr in ihrer Trauer um Steven gefangen war, wollte sie auchnicht, daß er den Abend total alleine verbrachte.

Sie fand Lord Vincent im Salon. Er saß vor dem Kamin und starrte in die Flammen. Als sie eintrat, wandte er sich ihr zu.

"Schön, daß Sie kommen, Mistreß Miles", sagte er und stand auf. "Ich hatte es gehofft." Er ging ihr entgegen und ergriff ihre Hände. Lange sah er sie an. "Erinnern Sie sich, daß ich Sie vor einigen Wochen bat, meine Frau zu werden?"

"Ja." Wie hätte sie das jemals vergessen sollen?

"Das Leben ist so vergänglich; man muß jede Sekunde nutzen", meinte er. "Haben Sie sich inzwischen entschieden? Könnten Sie sich vorstellen, Lady Winslow zu werden, an meiner Seite zu leben, alles was ich besitze, mit mir zu teilen?" Er berührte ihre Wange. "Ich liebe Sie. Wie sehr ich Sie liebe, ist mir heute in der Kirche bewußt geworden."

Sharon brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Sie hatte nicht erwartet, daß er ihr an diesem Abend schon wieder diese Frage stellen würde. "Es tut mir leid, Lord Winslow", erwiderte sie, "aber ich kann Sie nicht heiraten." Sie merkte, wie sein Gesicht fahl wurde. "Ich liebe Sie nicht."

Er riß sich zusammen, zwang sich zu einem Lächeln. "Ich hätte Ihnen nicht heute abend diese Frage stellen dürfen", sagte er. "Wir sind alle etwas gereizt, alle von Stevens Tod benommen." Er stieß den Atem aus. "Ich hatte versprochen, Sie nicht zu drängen. Verzeihen Sie mir, ich werde Ihnen Zeit lassen, soviel Zeit, wie Sie wollen."

Hatte sie sich nicht klar und deutlich ausgedrückt? Warum wollte er nicht verstehen? "Ich kann Sie nicht heiraten, Lord Winslow", wiederholte Sharon. "Es geht nicht."

Vincents ganze Haltung versteifte sich. Wütend starrte er seine Sekretärin an. Nur mit Mühe schaffte er es, seine Stimme normal klingen zu lassen. "Dieses Nein werde ich nicht akzeptieren, Mistreß Miles", erklärte er. "Ich weiß, daß Sie zu mir gehören, Sie und Julie. Ich denke nicht daran, Sie frei zu geben."

"Lord Winslow, bitte, nehmen Sie Vernunft an." Die junge Frau dachte nicht daran, dieses Gespräch fortzusetzen. "Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe", meinte sie. "Morgen früh können wir uns noch einmal darüber unterhalten." Sie drehte sich um.

Lord Winslow straffte die Schultern. Er entschuldige sich erneut. "Stevens Tod hat mich völlig durcheinander gebracht", meinte er. "Dazu kommt, daß ich Sie liebe, über alles liebe." Er zwang sich zu einem Lächeln. "Ja, sprechen wir nicht mehr davon. Ich kann warten, lange warten."

"Gute Nacht, Lord Winslow", wünschte Sharon. Sie hielt es keine Minute länger im Salon aus. Entschlossen wandte sie sich der Tür zu.

"Gute Nacht, meine Liebe." Lord Winslow machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

Die junge Frau schloß rasch die Tür hinter sich, dann blickte sie sich in der Halle um. Eine tiefe Wehmut erfaßte sie. Sharon kam es vor, als würde sie nicht mehr lange auf Winslow Manor bleiben können. Als Robin von seinem Lager aufstand und auf sie zutrabte, beugte sie sich zu ihm hinunter und streichelte ihn.

In dieser Nacht fand Sharon lange keinen Schlaf. Es gab zu vieles, was ihr durch den Kopf ging. Nicht nur Stevens Tod belastete sie. Auch der Heiratsantrag, den ihr Lord Winslow gemacht hatte und das Wissen, über kurz oder lang von Winslow Manor Abschied nehmen zu müssen.

Plötzlich hörte die junge Frau, wie die Gangtür geöffnet wurde. Eine dunkle Gestalt schob sich ins Zimmer. "Steven!" schrie sie fassungslos auf. Im selben Moment wich die Gestalt zurück, die Tür fiel zu.

Sharon sprang aus dem Bett, rannte zur Tür und riß sie auf. Im Gang brannte das Nachtlicht. Barfuß eilte sie den Korridor entlang bis zur Treppe, aber von Steven war weit und breit nichts zu sehen.

Sharon kehrte wenig später niedergeschlagen in ihr Zimmer zurück. Sie war sich ganz sicher, einem Wachtraum erlegen zu sein. Ihre Sehnsucht nach Steven war so groß, daß sie jetzt sogar schon glaubte, ihn leibhaftig vor sich zu sehen.

Mutlos kroch sie ins Bett und verbarg ihr Gesicht im Kissen. Sie merkte nicht, wie sich die Tür erneut öffnete und zwei dunkle Augen sehnsuchtsvoll zu ihr hinüberblickten.

 

22. Kapitel

 

Die Tage zogen sich gleichförmig dahin. Seit Stevens Tod schien auf Winslows Manor nichts mehr zu sein wie vorher. Lord Winslow vergrub sich meistens in seinem Arbeitszimmer. Selbst das Werk über seine Familie schien ihn kaum noch zu interessieren. An einem Nachmittag bekam Sharon mit, daß er sogar Miß Price bat, ihre häufigen Besuche einzustellen. "Ich habe jetzt nicht den Sinn nach zwangloser Unterhaltung, Jessica", sagte er, als sie ihn anrief, um ihren Besuch anzukündigen. "Mein Bruder ist tot. Ich muß mich erst damit abfinden."

Tat sie ihm vielleicht unrecht? Trauerte Lord Winslow wirklich um seinen Bruder? Sharon hätte viel dafür gegeben, hätte sie die Wahrheit gewußt. Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen, daß sie in der Nacht nach dem Trauergottesdienst geglaubt hatte, Steven zu sehen. Nach wie vor war sie davon überzeugt, daß es sich um einen Wachtraum gehandelt haben mußte.

"Onkel Steven war heute nacht bei mir", überraschte Julie sie fast vierzehn Tage nach Stevens Tod. "Er stand an meinem Bett und hat gesagt, ich soll nicht traurig sein."

"Das wirst du geträumt haben, Julie", meinte ihre Mutter erschrocken.

"Nein, ich habe nicht geträumt", erklärte Julie. "Er hat mein Gesicht berührt. Es war Onkel Steven." Ihre Augen strahlten. "Was meinst du, wie sich Onkel Vincent freuen wird, wenn ich es ihm erzähle."

"Das darfst du nicht, Julie." Sharon umfaßte die Schultern ihrer Tochter. "Versprich mir, daß du mit niemandem darüber sprichst."

Die Kleine dachte nach. "Ich habe mich schon so gefreut", beschwerte sie sich.

"Julie."

"Schon gut, Mommy." Ich werde mit niemandem darüber sprechen. Großes Ehrenwort." Julie blickte zu ihr auf. "Aber warum nicht? Warum darf es niemand wissen?"

"Weil es noch ein Geheimnis ist", erklärte Sharon. Sie zog an Julies Löckchen. Sie konnte kaum glauben, was ihre Tochter gesagt hatte. Es mußte ein Traum gewesen sein. Dennoch begann sie wieder zu hoffen. Vielleicht lebte Steven doch. Aber warum zeigte er sich dann nicht offen? Was sollte diese Geheimnistuerei?

Am späten Nachmittag saß sie mit Lord Winslow beim Tee auf der Terrasse. Julie tobte mit Robin im Park herum. Ihr kam es vor, als hätte sich Vincents Verhältnis zu ihr geändert. Manchmal erschien es ihr, als würde er sie regelrecht lauernd beobachten. Dann sagte sie sich wieder, daß sie sich das nur einbildete. Dennoch fiel es ihr schwer, unbefangen mit ihm zu sprechen.

"Jetzt hätte ich fast etwas vergessen", meinte Lord Winslow und schlug sich an die Stirn. "Heute sind die Bücher gekommen, die ich bestellt habe. Sie hätten abgeholt werden müssen."

Sharon wußte, daß es sich um sehr wertvolle Bücher handelte. Es war für die Greens, die eine große Buchhandlung im Ort besaßen, nicht leicht gewesen, sie zu beschaffen. "Warum schicken Sie nicht Mister Kelly?" fragte sie.

"Er hat sich diesen Nachmittag freigenommen." Lord Winslow runzelte die Stirn. "Zu ärgerlich. Wie konnte ich das nur vergessen?" Er sah Sharon erwartungsvoll an. "Ich würde ja selber fahren, aber ich erwarte ein wichtiges Telefonat. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Bücher abzuholen?" Er schnitt eine Grimasse. "Es ist kindisch, ich weiß. An und für sich könnte ich auch bis morgen warten, aber Sie wissen ja, manchmal sind Männer wie kleine Kinder."

"Nein, es macht mir nichts aus, Lord Winslow", erklärte Sharon. "Ich werde sofort fahren." Sie wollte aufstehen.

"Nein, trinken Sie erst noch in Ruhe Ihren Tee", bat ihr Arbeitgeber. "So wichtig ist es nun auch wieder nicht. Auf fünf Minuten mehr oder weniger kommt es nicht an." Er wandte sich dem Park zu. "Wie reizend unsere Julie heute wieder aussieht. Wir sollten ein paar Fotos von ihr machen."

"Wir haben sie doch erst vor drei Wochen fotografiert, Lord Winslow", bemerkte Sharon lachend. "Während der Monate, die wir jetzt hier sind, besitze ich schon mehr Fotos von ihr als aus den Jahren zuvor."

"Fotografieren ist nun einmal mein Hobby", erklärte er. "Außerdem hat man nicht alle Tage so ein reizendes Fotomodell." Liebevoll beobachtete er das kleine Mädchen.

Zwanzig Minuten später stieg Sharon in ihren Wagen, um in die Stadt zu fahren. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl. Ihr war es etwas schwindelig, und sie hatte heftige Kopfschmerzen. Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben und hätte sich auf ihr Bett gelegt, aber sie wollte Lord Winslow nicht enttäuschen.

Jetzt war es ihr ganz recht, daß ihr Arbeitgeber dagegen gewesen war, Julie in den Ort mitzunehmen. Er hatte sich selbst noch etwas mit dem Kind beschäftigen wollen, während er auf sein Gespräch wartete.

Die junge Frau hatte Winslow Manor bereits hinter sich gelassen, als es ihr so schwindelig wurde, daß sie überlegte, ob sie nicht für einige Minuten anhalten sollte. Dann sagte sie sich jedoch, daß das kaum etwas helfen würde. Am besten, sie brachte die Fahrt so schnell wie möglich hinter sich.

Angestrengt saß Sharon hinter dem Steuer und starrte auf die Straße hinaus, die zum Teil parallel der Klippen verlief. Ihr wurde immer übler, ihre Kopfschmerzen verstärkten sich. Verzweifelt fragte sie sich, ob sie vielleicht etwas Schlechtes gegessen hatte, aber zum Mittagessen hatte es Thunfisch gegeben, und der war sicher einwandfrei gewesen.

Plötzlich begann sie, die Straße doppelt zu sehen. Jede Kurve stellte für sie ein fast unüberwindliches Hindernis dar. Vor ihr tauchte ein Lastwagen auf. Gerade noch im letzten Augenblick gelang es ihr, den Wagen zur Seite zu ziehen und dadurch einen Zusammenstoß zu verhindern. Abrupt bremste sie und hielt am Straßenrand. Ihr war so schwindelig, daß sie über dem Steuer zusammenbrach.

Der Lastwagen hatte ebenfalls gehalten. Der Fahrer eilte über die Straße und riß die Tür von Sharons Wagen auf. "Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?" schrie er sie an. "Was...?" Er runzelte die Stirn. "Was haben Sie denn? Sie werden doch nicht am hellichten Tag betrunken sein?" Er umfaßte Sharons Arm und lehnte die junge Frau gegen den Sitz. "Nein, betrunken sind Sie nicht", stellte er fest.

Sharon stöhnte. "Mein Kopf", flüsterte sie. "Mir ist es so schwindelig, so übel."

"Ich glaube, ich bringe Sie zu einem Arzt." Der Mann drehte sich zu seinem Fahrzeug um. "Wir müssen Ihren Wagen hier stehenlassen. Ich kann es nicht riskieren, daß man mir die Ladung klaut, während wir mit Ihrem Wagen zum Arzt fahren. Können Sie aussteigen?"

"Nein, kein Arzt", lehnte die junge Frau ab. "Es reicht, wenn Sie mich nach Winslow Manor bringen." Sie versuchte, aus dem Wagen zu klettern, doch es gelang ihr erst, als der Fremde ihr half.

 

23. Kapitel

 

Sharon erwachte. Mit geschlossenen Augen lag sie im Bett und versuchte, sich zurechtzufinden. Sie erinnerte sich, daß sie über dem Steuer ihres Wagens zusammengebrochen war und man sie nach Winslow Manor zurückgebracht hatte.

Noch immer fühlte sich die junge Frau ziemlich schwach. Dr. Thyron, der Hausarzt der Winslows, hatte sie gründlich untersucht und festgestellt, daß sie an einem extrem niedrigen Blutdruck litt. Er war der Meinung gewesen, daß ihr Zusammenbruch damit zusammenhing, aber so recht konnte sie nicht daran glauben. Zudem hatte sie noch nie unter niedrigem Blutdruck gelitten.

"Mistreß Miles?"

Sharon schlug die Augen auf. Sie blickte in das besorgte Gesicht der Hausdame. "Ich fühle mich schon wieder besser", sagte sie leise. "Waren Sie die ganze Zeit über bei mir, Mistreß Hale?"

Edda Hale nickte. "Seine Lordschaft hat mich darum gebeten."

"Wie spät ist es denn?"

"Halb neun. Sie haben nach der Spritze, die Ihnen Doktor Thyron gegeben hat, mehrere Stunden geschlafen." Mrs. Hale stand auf. "Möchten Sie etwas trinken?" Sie reichte der Patientin ein Glas.

"Danke." Sharon trank nippte an dem Mineralwasser. "Ich würde gerne etwas essen", sagte sie.

"Ich lasse Ihnen gleich etwas bringen." Mrs. Hale verließ das Zimmer, um in der Küche Bescheid zu sagen, daß für Sharon noch ein Imbiß gerichtet werden mußte.

Die junge Frau blieb nicht lange alleine. Lord Winslow kam mit Julie. Sie breitete die Arme aus und zog ihre Tochter an sich.

"Sie machen vielleicht Sachen", bemerkte ihr Arbeitgeber. "Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie sich nicht wohl fühlen? Hätte ich es gewußt, ich hätte Sie niemals gebeten, die Bücher abzuholen, sondern hätte Sie zu Bett geschickt."

"Bist du richtig krank, Mommy?" Julie sah sie ängstlich an.

"Nein, mir geht es schon wieder gut", beruhigte sie ihre Tochter. "Es ist nichts Ernstes."

"Nicht auszudenken, wenn Ihnen auch noch etwas passiert wäre." Lord Winslow hob Julie von Sharons Bett und drückte sie an sich. "Wir brauchen doch deine Mutter, nicht wahr, Lovely."

Julie nickte. "Wir haben dich nämlich lieb, Mommy", bekannte sie und schmiegte sich an ihn. "Onkel Vincent hat mir Märchen erzählt, damit die Zeit schneller vergeht."

Es klopfte. Peggy kam mit einem vollen Tablett ins Schlafzimmer. Sie stellte es auf den Nachttisch. "Soll ich Julie jetzt zu Bett bringen, Mistreß Miles?" fragte sie.

"Ja." Sharon nickte. Sie wünschte ihrer Tochter eine gute Nacht und versprach, bis zum nächsten Morgen wieder frisch und munter zu sein.

"Julie hat sich große Sorgen um Sie gemacht", berichtete der Lord, nachdem die Kleine mit Peggy das Zimmer verlassen hatte. "Sie war kaum zu beruhigen." Er zog sich einen Sessel an Sharons Bett und setzte sich. "Ihren Wagen habe ich übrigens inzwischen holen lassen."

"Danke, Lord Winslow." Sharon fühlte sich plötzlich wieder unendlich müde. Selbst Appetit hatte sie nicht mehr, obwohl der Imbiß, den Mrs. Hale für sie hatte richten lassen, verlockend aussah.

"Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Sie heute fast ums Leben gekommen wären", fuhr Lord Winslow fort. "Ich habe mich ausführlich mit Mister Brenner, das ist der junge Mann, der Sie nach Haus gebracht hat, unterhalten." Er holte tief Luft. "Gott sei Dank, haben wir für Julie vorgesorgt. Sie ..."

Die junge Frau erstarrte innerlich. Sie hoffte, daß man ihr nicht anmerkte, welch entsetzlicher Verdacht ihr gerade kam. Noch konnte sie es kaum glauben, doch es sprach alles dafür, daß Lord Winslow einen Anschlag auf ihr Leben versucht hatte. Nur seiner Vorliebe für Julie hatte sie die Stelle auf Winslow Manor zu verdanken. Vincents lag nichts an ihr, obwohl er ihr zweimal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Doch Julie glich seiner verstorbenen Tochter. Sie wollte er haben.

"Bitte, entschuldigen Sie, Lord Winslow, aber ich bin sehr müde", meinte sie und zwang sich zu einem Lächeln. "Es wird am besten sein, wenn ich jetzt schlafe."

Er stand sofort auf. "Natürlich, Mistreß Miles." Sanft nahm er ihre Hand. "Schlafen Sie sich aus. Morgen wird die Welt schon wieder anders aussehen." Er beugte sich über sie und berührte mit seinen Lippen ihre Stirn. "Gute Nacht, meine Liebe."

Sharon erschauderte vor Abscheu. Es fiel ihr schwer, ihn nicht von sich zu stoßen. "Gute Nacht, Lord Winslow", sagte sie gepreßt.

Der Herr von Winslow Manor verließ die Suite. Sharon lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihren Kissen zurück. Steven hatte sie vor seinem Bruder gewarnt, doch sie hatte nicht auf ihn hören wollen. Indem sie Lord Winslow zu Julies Vormund bestimmt hatte, hatte sie sich völlig in seine Hände begeben. Sie mußte mit ihrer Tochter Winslow Manor verlassen, bevor Stevens Bruder einen erneuten Anschlag auf sie plante. Am besten, sie floh mit Julie noch in dieser Nacht. Ein Glück, daß ihr Wagen wieder in der Garage stand.

 

24. Kapitel

 

Es war lange nach Mitternacht, als Sharon Miles ihre kleine Tochter weckte. Julie war viel zu verschlafen, um Fragen zu stellen. Fast völlig apathisch ließ sie sich anziehen und stolperte dann müde neben ihrer Mutter her zur Hintertreppe des Hauses.

Sharon hatte nur eine Reisetasche mit den wichtigsten Sachen gepackt. Alles andere wollte sie sich später von Mrs. Hale nach London schicken lassen. Jetzt kam es erst einmal darauf an, unbemerkt von ihrem Arbeitgeber dessen Besitz zu verlassen.

"Twinkle, twinkle, little star ..."

Die junge Frau zuckte zusammen. Ganz deutlich hörte sie das Kinderlied. Es schien von den Wänden des Hauses widerzuhallen.

"Hör, Mommy", flüsterte Julie munter geworden. "Wer ist dieses Mädchen, das immer singt?"

"Das kann ich dir nicht so genau sagen, Lovely", erwiderte Sharon. "Komm." Sie öffnete die Tür, die zur Hintertreppe des Gebäudes führte.

"Wo gehen wir hin?"

"Wir fahren nach London zurück."

"Ohne Onkel Vincent auf Wiedersehen zu sagen?" Julie blieb empört stehen.

"Julie, jetzt sei brav", befahl die junge Frau. "Später erkläre ich dir alles." Sie umfaßte etwas fester die Hand ihres Töchterchens und zog es zur Treppe.

Das kleine Mädchen sah ein, daß jeder Widerstand zwecklos war. Resignierend stieg es mit seiner Mutter die staubigen Stufen hinunter. "Ich habe Onkel Vincent lieb", murmelte es vorwurfsvoll. "Ich ..."

"Julie, sei leise." Sharon mußte sich zwingen, nicht wütend zu werden. Ihre Tochter traf keine Schuld. Wie sollte das Kind verstehen, was vor sich ging?

Sie hatten die Hintertür erreicht. Erschrocken hielt Sharon den Atem an, als die Tür beim Öffnen ein lautes Quietschen von sich gab. Minutenlang lauschte sie in die Dunkelheit, dann schob sie Julie ins Freie und folgte ihr. "Wir müssen zu den Garagen", flüsterte sie. "Und jetzt kein Wort mehr. Niemand darf uns hören."

Sie hatten fast die Garagen erreicht, als ihnen plötzlich Lord Winslow den Weg verstellte. "Wo wollen Sie denn hin, Mistreß Miles?" fragte er mit einer Stimme, die aus der Tiefe eines Grabes zu kommen schien.

"Onkel Vincent!" Bevor sich Sharon von ihrem Schock erholt hatte, riß sich Julie von ihrer Hand los. "Wir gehen fort!" Sie rannte zu ihm. "Jetzt kann ich dir auf Wiedersehen sagen. Es ..."

"Julie!" Sharon wollte ihre Tochter an sich ziehen, doch der Herr von Winslow Manor hielt die Kleine unerbittlich fest. "Bitte, geben Sie Julie frei, Lord Winslow", bat sie. "Julie ist nicht Ihre Tochter. Sie ..."

"Da irren Sie sich, Mistreß Miles", erwiderte er und umklammerte das Kind. "Gleich, als ich Julie damals in London zum ersten Mal gesehen habe, wußte ich, daß sie die Reininkarnation meiner verstorbenen Tochter ist. Julie gehört zu mir."

"Bitte, seien Sie vernünftig, Lord Winslow." Sharon streckte die Arme aus. Sie zwang sich, die Ruhe zu bewahren. Es half nichts, wenn sie jetzt die Nerven verlor.

Der Mann gab ihr keine Antwort. Mit dem Kind in den Armen rannte er auf die Klippen zu. Erst kurz davor stoppte er. "Bleiben Sie zurück!" schrie er Sharon zu. "Wenn Sie mir Julie nehmen wollen, dann stürze ich mich mit ihr hinunter."

Julie bekam plötzlich Angst. "Ich will zu meiner Mommy, Onkel Vincent", flüsterte sie. "Bitte, Onkel Vincent." Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu winden.

"Ganz ruhig, Viola, es wird dir nichts passieren", versprach er. "Du bist bei deinem Daddy in Sicherheit."

Erst jetzt erkannte Sharon, daß Lord Winslow den Verstand verloren hatte. "Bitte, geben Sie mir Julie", bat sie erneut. "Sie wollen doch ihr Bestes. Sie wollen ihr doch nicht schaden."

"Ich habe Sie gewarnt." Lord Winslow wich einen Schritt zurück.

"Vincent!"

Sharon erschrak genauso wie ihr Arbeitgeber, als Steven plötzlich neben ihr auftauchte. Fassungslos sah sie ihn an. "Du bist doch tot", stammelte Lord Winslow.

"Dein Plan ging nicht auf, Vincent", sagte Steven und machte zwei Schritte auf seinen Bruder zu. "Willst du noch mehr Unglück anrichten? Du liebst sie doch. Bitte, gib sie frei." Er streckte die Hände nach dem Kind aus.

"Nein!"

"Onkel Vincent." Julie kämpfte verzweifelt gegen die Arme an, die sie hielten. "Ich will zu meiner Mommy", weinte sie.

"Ruhig, Viola, ruhig." Lord Winslow umklammerte das Kind noch fester. "Wir gehören zusammen. Wir ..."

Direkt neben ihm erschien ein bläuliches Licht. Mitten im Licht manifestierte sich ein kleines, rotblondes Mädchen, das ein pastellfarbenes Kleid trug. Mit ausgebreiteten Armen stand es da. "Willst du mich noch einmal töten, Daddy?" fragte es.

"Viola!" schrie Lord Winslow ungläubig und ließ Julie los. "Viola!" Er taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts über die Klippen zum Strand hinunter. Im selben Augenblick erlosch das Licht und mit ihm verschwand auch das kleine Mädchen.

Sharon riß ihre Tochter an sich. "Jetzt ist alles vorbei, Lovely", schluchzte sie. "Es ..." Das Kind an sich gedrückt, wandte sie sich Steven zu. "Wo kommst du denn her?" fragte sie und wurde sich nicht einmal bewußt, daß sie ihn duzte. "Also habe ich mich nicht geirrt. Dann warst du es tatsächlich, der an meiner Tür stand."

"Ja, ich war es", erwiderte Steven Winslow. Er schloß die Arme um die beiden Menschen, die er über alles liebte. Erst nach langen Minuten löste er sich von ihnen, um zum Strand hinunterzugehen.

 

25. Kapitel

 

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages verließen Sharon und Steven, der neue Lord Winslow, die kleine Grabkapelle, in der Vincent aufgebahrt worden war. Noch in der Nacht und am Vormittag waren sie von der Polizei verhört worden.

Steven hatte den Beamten erklären müssen, warum er es zugelassen hatte, von aller Welt für tot gehalten zu werden. Bis auf den alten Jones hatte keiner gewußt, daß er noch am Leben war. Er hatte von der Sprengladung erzählt, die er zufällig in seinem Motorboot entdeckt hatte und daß er sicher gewesen war, daß ihm sein eigener Bruder nach dem Leben trachtete.

"Also ging ich an Land und ließ das Boot aufs Meer hinausfahren", hatte er gesagt. "Ich wollte meinen Bruder heimlich beobachten, um zu verhindern, daß er weiteres Unglück anrichtet." Erbittert hatte er hinzugefügt: "Leider wäre es mir fast nicht gelungen."

"Ob uns die Polizei glaubt, daß dein Bruder nicht völlig normal gewesen ist", fragte Sharon, als sie durch den Park gingen. Aus der Ferne hörten sie Julies Stimme. Das kleine Mädchen tobte mit Robin durch den Park. Seinen Schock hatte es längst überwunden.

"Wenn nicht, wäre ich gezwungen, ihnen Vincents Tagebuch zu geben", erwiderte Steffen. "Ich habe es heute morgen in seinen Sachen gefunden. Ich wußte, daß ein Tagebuch existieren muß, deshalb habe ich danach gesucht." Er führte sie zu einer Bank. "Setzen wir uns", schlug er vor.

"Hat dein Bruder den Anschlag auf dich im Tagebuch niedergeschrieben?" fragte die junge Frau überrascht.

"Nicht nur diesen Anschlag." Steffen legte den Arm um sie. "Was ich schon immer vermutet habe, Maureens Flugzeug ist nicht wegen eines technischen Defekts abgestürzt, sondern weil Vincent dafür gesorgt hat. Allerdings hatte er keine Ahnung gehabt, daß Maureen Viola mitnehmen würde."

"Dann hat er also tatsächlich Frau und Tochter ermordet", bemerkte Sharon erschüttert.

"Er ist auch für den Tod von Edward Brown verantwortlich", fuhr Steffen fort. "Als mein Bruder Julie bei der Modenschau zum ersten Mal sah, stand für ihn fest, daß er das Kind bei sich haben muß. Für ihn war Julie die wiedergeborene Viola. Also ließ er dich beobachten. Er ..."

"Ich spürte, daß etwas nicht stimmt", flüsterte Sharon entsetzt. "Ich sprach noch mit Edward darüber. Es ..." Sie vergrub für Sekunden ihr Gesicht in den Händen. "Ich konnte nie an Edwards Selbstmord glauben. Es gab dafür keinen Grund."

"Dein früherer Chef starb durch die Hand eines gedungenen Mörders", sagte Steven. "Dann bot Vincent dir an, als seine Sekretärin nach Winslow Manor zu kommen. Er war fest davon überzeugt, daß er dich zu einer Heirat überreden könnte. Daß es nicht klappte, dafür gab er mir die Schuld. Sein erster Anschlag auf mich schlug fehl. Ich kam beim Einsturz der Turmdecke mit dem Leben davon. Also beschloß er, mein Boot in die Luft zu sprengen. Als du dich ihm nach meinem angeblichen Tod immer noch widersetzt hast, versuchte er dich durch einen Unfall umzubringen. Er ..." Steven schüttelte den Kopf. "Sprechen wir nicht mehr darüber, Darling. Vincent ist tot, er kann niemanden mehr ein Leid antun."

"Wäre ich nicht gewesen, wäre Edward nicht ermordet worden", meinte Sharon niedergeschlagen. "Er hat mich geliebt. Er wollte mir und Julie ein Heim bieten und mußte dafür mit dem Leben bezahlen."

"Dich trifft keine Schuld an seinem Tod", erwiderte Steven. "Wir sollten versuchen, die Vergangenheit soweit es geht zu vergessen. Wichtig ist die Zukunft und was wir aus ihr machen."

Sharon blickte ihm in die Augen. Sie las in ihnen, wie sehr er sie liebte. "Wie konnte ich dir nur jemals mißtrauen?" fragte sie und berührte sein Gesicht. "Warum erkannte ich nicht, was dein Bruder für ein Mensch ist?"

"Wollten wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen?" Steven küßte sie zärtlich. "Für die neue Lady Winslow stellen sich unsagbar viele Aufgaben, die ihren ganzen Einsatz erfordern werden."

"Und die wären?" fragte Sharon verliebt.

"In erster Linie, stets für ihren Gatten dazusein, ihn zu lieben und zu ehren, ihn ..."

"Hör auf, sonst überlege ich es mir noch einmal und reise mit Julie doch nach London zurück", fiel ihm seine zukünftige Frau ins Wort.

"Das würde ich niemals zulassen", schwor Steven. "Ihr beide gehört für immer und ewig zu mir." Leidenschaftlich zog er Sharon an sich und küßte sie. Glücklich schmiegte sie sich an ihn und die Schrecken der vergangenen Nacht verblaßten gegen die Geborgenheit, die sie in seinen Armen empfand.

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