ALTE UND NEUE MONSTER
Elfen existierten nicht mehr. Sie waren sämtlich tot und dahin, absorbiert und ermordet von mächtigeren Denkern, so wie sie es immer befürchtet hatten. Allerdings ging ihre Vernichtung nicht von ihrem verhasstesten Feind aus, dem Massenbewusstsein der Überseele, sondern von den eigenen Bundesgenossen und Gründern, den Überespern. Diese hatten sich gegen die Elfen gewandt, deren Abwehr überwältigt und ihre Persönlichkeiten gefressen, sodass von den abtrünnigen Espern keine Spur mehr zu finden war. Nur die Überesper gab es noch, diese alten und schrecklichen Monster, sowie die Armeen von Besessenen, die unter ihrem Befehl standen. Fünf groteske, unmenschliche Persönlichkeiten, die Hunderttausende besessene Körper lenkten.
Das Trümmermonster. Die Spinnenharfen.
Kreischende Stille. Der Graue Zug. Höllenfeuer Blau.
Alte Monster, alte Dämonen, älter als die meisten Menschen ahnten.
Ungezählte Jahrhunderte lang warteten, intrigierten und planten sie
schon in den Schattengefilden des Imperiums. Wenn man ewig zu leben
erwartet, kann man sich eine langfristige Perspektive erlauben.
Kleinere Übel kamen und gingen, aber die Überesper blieben und
sahen jetzt ihre Zeit gekommen. Jahrhunderte hatten sie dafür
aufgewendet, endlich eine Entscheidung darüber zu treffen, was und
wie sie es tun wollten, hatten natürlich die ganze Zeit miteinander
gestritten, aber niemals daran gezweifelt, dass sie eines Tages
erleben würden, wie sich die ganze Menschheit vor ihnen
beugte.
Jahrelang waren sie gezwungen, sich zu verstekken, zuerst
niedergehalten von der Autorität der Mater Mundi und dann durch die
Angst vor Owen Todtsteltzer und den übrigen Überlebenden aus dem
Labyrinth des Wahnsinns, schließlich von einem goldenen Zeitalter,
das einfach zu vernünftig und stabil war, als dass sie sich darin
hätten festsetzen können. Aber jetzt hatte sich alles verändert.
Die alten Widersacher waren verschwunden, das goldene Zeitalter
hatte sich als im Kern verrottet erwiesen und niemand blieb auf
Logres zurück, der die Überesper hätte daran hindern können, die
ganzen Gräuel zu verüben, von denen sie Jahrhunderte geträumt
hatten. Der Imperator war geschwächt, die Überseele und die
Labyrinthleute waren fortgegangen und die Überesper ... hatten sich
zu Göttern aufgeschwungen. Mit dem Energiepotenzial
Hunderttausender Besessener fühlten sie sich endlich stark genug,
um alles zu tun, was sie wollten. Und so taten sie es.
Sie starteten erste Angriffe auf Imperator Finns weit verstreute
Truppen. Von denen traf man außerhalb von Parade der Endlosen nicht
mehr viele an, nur ein paar Bataillone, die zwischen den übrigen
Großstädten hin- und herfuhren und durch dramatische
Machtentfaltung die Ordnung zu wahren suchten. Dazu kamen ein paar
Dutzend Kriegswagen und Schlachtkreuzer, ausgegrabene Relikte aus
der Epoche Löwensteins, große staubige Stahlungeheuer, die am
Himmel dräuten und mehr von ihrer Reputation als von ihrer
Feuerkraft lebten. Samt und sonders erwiesen sie sich als leichte
Ziele für Psistürme, die ohne Vorwarnung aus dem Nichts
hervorbrachen. Die Überesper zerpusteten die Kriegsmaschinen aus
der Ferne, rissen mit Gedankenkraft Stahlschotten ab und überluden
die Triebwerke, bis sie explodierten. Psychokinetische Angriffe
zermalmten die schweren Metallschiffe mit unsichtbaren Fäusten,
während Psikräfte Lektronen löschten und technische Geräte
verhexten. Kraftfelder brachen zusammen, und Geschütze feuerten
nicht mehr. Menschen am Boden schrien entsetzt auf, als brennende
Gravobarken bedächtig vom Himmel herabtrudelten und Gravoschlitten
zusammenprallten wie Spielzeug in den Händen verrückter Götter.
Schwarzer Rauch quoll von den zerstückelten Überresten der Truppen
Finns auf.
Der nächste Schritt war die Inbesitznahme der Soldaten am Boden.
Die Überesper streckten gierig ihr Bewusstsein aus und griffen auf
die Kraft der absorbierten Elfen zurück, und in einem Bataillon
nach dem anderen brüllten die Soldaten hilflos in den Köpfen, als
sie übernommen wurden und fremde Gedanken die Steuerung der Körper
übernahmen. Was einmal Finns Armee gewesen war, marschierte in die
Städte, die man ursprünglich nur hatte unterwerfen wollen, und
ergriff von jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind Besitz. Die
Besessenen brauchten gar nicht jede Persönlichkeit umzubringen,
taten es aber trotzdem aus Spaß an der Sache. Was an Verteidigern
zur Stelle war, gab vor Entsetzen und Panik auf, als massenhafte
Besitzergreifung in einer unaufhaltsamen Welle durch die Straßen
und über die Plätze schwappte. Die Überesper waren inzwischen so
stark, dass ein Besessener einen anderen übernehmen konnte, indem
er ihm einfach nur in die Augen blickte. Die Besessenheit war
ansteckend geworden. Sie breitete sich wie ein Buschbrand in der
wild flüchtenden Menschenmenge aus. Menschen rannten, fanden aber
nirgendwo Zuflucht. Die Soldaten hatten die Städte
umstellt.
Jeder Versuch, Widerstand zu leisten, war von Anfang an zum
Scheitern verurteilt, da niemand mehr einem anderen trauen konnte.
Der engste Freund oder Verwandte konnte schon besessen sein oder
jeden Augenblick übernommen werden. Die Menschen versteckten sich
in den Häusern und verrammelten Türen und Fenster, aber die
Besessenen drangen trotzdem ein und scherten sich nicht darum, wie
stark sie die manipulierten Körper dabei verletzten. Männer und
Frauen mit zerschlagenen Händen und zerschnittenen Armen lächelten
triumphierend durch die schartigen Löcher, die sie geschlagen
hatten, und zwangen sich den schutzlosen Seelen im Haus auf. Einige
Gedankensklaven konnten sogar im Auftrag der sie lenkenden
Überesper Esperfähigkeiten manifestieren, wenn auch nur kurz. Sie
folgten kichernd den Straßen, und auf beiden Seiten explodierten
Häuser oder gingen in Flammen auf. Straßen platzten auf, und die
Kanalisation schleuderte stinkende Abwässer herauf. Manchmal
pusteten die Esperbesessenen Menschen mit nur einem Blick oder
einem Wort auseinander oder zwangen sie dazu, das eigene Fleisch zu
verzehren oder sonst etwas zu tun, was den Überespern gerade in den
Sinn kam.
Die Städte wurden zur Hölle auf Erden, erstickt vom Rauch und
Gestank des Blutes. Die Überesper ließen die Besessenen über die
brennenden Straßen tanzen und nur so zum Spaß alles niederreißen.
Und als nichts mehr übrig war außer Feuer, Schutt und
Leichenbergen, schickten die Esper ihre Gedankensklaven aus einer
Stadt in die nächste. Und so setzte es sich fort, in einer Stadt
nach der anderen, einer Bevölkerung nach der anderen, bis
regelrechte Armeen von Besessenen auf ganz Logres umherzogen und
das Getreide auf den Feldern niedertrampelten. Niemand war mehr
übrig, der sie hätte aufhalten können.
Städte, die auf dem Weg der Besessenen lagen, wandten sich um Hilfe
an den Imperator, aber der konnte ihnen nichts schicken. Was ihm an
Truppen verblieben war, das wurde gebraucht, um Parade der Endlosen
zu verteidigen. Nicht dass Finn Hilfe geschickt hätte, falls er sie
hätte erübrigen können. Er sah keinen Sinn darin, noch mehr seiner
Streitkräfte an die Besessenen zu verlieren. Und so errichteten die
Städte Straßensperren auf den Zufahrtswegen, und verzweifelte
Menschen hielten Wache mit dem, was sie an Waffen fanden. Jeder,
der sich einer Stadt näherte, wurde auf Sicht erschossen, ohne
Warnung, ohne Ausnahme. Es war der einzig sichere Weg zu
überleben.
Bis die Armee der Gedankensklaven heranmarschiert kam, eine Reihe
nach der anderen ins Abwehrfeuer lief und die Überlebenden über die
Gefallenen hinwegtrampelten, bis sie die Straßensperre überwanden
und die Persönlichkeiten der Verteidiger verschlingen konnten.
Danach zogen sie weiter in die nächste Stadt.
Nina Malaperts Berichterstattung aus dem Slum lief rund um die Uhr,
und mit Hilfe ferngesteuerter Kameras landeten die neuesten
Meldungen und Bilder auf den Monitoren. Die Redaktion meldete
Gefahrenzonen und besonders die am gefährdetsten Städte, so schnell
sie nur konnte. So erfuhren ganz Logres und sämtliche zusehenden
Planeten des Imperiums, was jetzt geschah, nachdem Imperator Finn
die Zügel aus der Hand geglitten waren. Ninas Nachrichtensprecher
wurden heiser und erschöpft und weiß im Gesicht, während sie die
unaufhörlichen Gräueltaten, Massenmorde und die um sich greifende
Besessenheit in den brennenden Städten auf ganz Logres meldeten.
Nina erschöpfte sich selbst, während sie versuchte, über alles auf
dem Laufenden zu bleiben, Warnungen so früh wie möglich zu senden
und Zufluchtsorte anzugeben. Sie schickte die ferngesteuerten
Kameras von einer Stadt in die nächste und sendete live, was
geschah. Die Überesper störten sie dabei nicht. Sie wollten
schließlich, dass alle erfuhren, was auf sie zukam.
Sogar die Sprecher von Finns Propagandasendern schlossen sich dem
an und scherten sich nicht mehr um das normale Programm. Sie
konnten eine echte Notlage erkennen, wenn sie sie sahen. Sie
teilten ihre Quellen mit Ninas Redaktion und bemühten sich,
nützliche Informationen an die zu senden, die sie brauchten. Nach
einiger Zeit der Zusammenarbeit fühlten sie sich wieder wie
richtige Nachrichtenleute und scherten sich nicht weiter um die
sich türmenden Stapel von Propagandameldungen sowie die immer
wütenderen Anweisungen von Finns Zensoren; lieber blieben sie bei
der echten Story.
Gewaltige Flüchtlingsmassen ergossen sich über die Straßen und
nahmen sogar den Flugverkehr in Beschlag, um die Städte zu
verlassen, die im Weg der Überesperhorden lagen. Die Menschen
flüchteten aus ihren Häusern und ihrem gewohnten Leben und nahmen
nur mit, was sie tragen konnten. Sie wussten nicht recht, wohin sie
gehen sollten, und auch nicht, ob sie irgendwo jemals wieder
Sicherheit fanden. Sie verstopften die Straßen zu Millionen und
ließen eine Spur aus weggeworfenen Habseligkeiten zurück, die ihnen
zu schwer geworden waren. Sie liefen, so schnell sie konnten, und
rasteten so wenig wie möglich. Die Besessenen folgten ihnen ohne zu
ermüden oder langsamer zu werden.
Einige Groß- und Kleinstädte nahmen die Flüchtlinge auf, andere
wiesen sie ab. Manche schossen sofort auf sie, sobald sie sie
erblickten. Die gastfreundlicheren Städte waren bald übervölkert
von Menschen, die einfach zu erschöpft waren, um weiterzuziehen.
Viele setzten sich unvermittelt hin, wo die Kräfte sie verließen,
zu benommen, um sich noch um irgendetwas zu scheren, sogar zu
erschöpft, um zu essen. Alle Einrichtungen brachen alsbald
zusammen, und selbst die grundlegendsten Dienstleistungen kamen zum
Erliegen. Die Vorräte reichten nicht. Der Transport von
Lebensmitteln zwischen den Städten stoppte. Auf der Heimatwelt des
Imperiums zerfiel die Zivilisation.
Die Überesper saugten die Energien von Millionen gebannter Hirne auf, und ihre Macht erblühte wie nie zuvor. Sie vermochten Dinge zu tun, die ihre wildesten Träume überstiegen. Und als die Kreaturen, die sie nun mal waren, musterten sie sich gegenseitig mit wachsendem Argwohn. Sie hatten einander noch nie vertraut, von der zutreffenden Überlegung ausgehend, dass jeder von ihnen sich jederzeit auf jeden anderen stürzen würde, der ihm gefährlich mächtig oder einladend schwach erschien. Eine Zeit lang diskutierten sie den Plan, sich zu verstreuen, auf andere Planeten umzuziehen, damit jeder seine eigene Welt hatte, die er unterwerfen und mit der er spielen konnte, sicher vor der Einmischung und Gefahr durch die Ambitionen der anderen. Die Vorstellung war verlockend.
Aber sie wussten, dass sie zusammen mächtiger waren als jemals einzeln, und außerdem bestand bei einer Trennung die Gefahr, dass sich zwei miteinander verbündeten und in aller Heimlichkeit über einen dritten herfielen. Das durften sie nicht riskieren. Und zusätzlich meldete sich eine seltsame Kraft ganz unerwartet gegen die Idee einer Trennung zu Wort: Es war eine innere Stimme, die flüsterte, dass es eine wirklich schlechte Idee wäre, falls sich die Überesper jemals voneinander trennten.
Und so beschlossen sie, zunächst die Herrschaft über Logres an sich reißen und dann die Besessenen auszuschicken, auf dass sie die übrigen Planeten eroberten. Sobald sie erst mal in den Imperialen Palast vorgedrungen wären und Besitz von Imperator Finn ergriffen hätten, könnten sie sämtliche Meldungen von den Ereignissen abschalten, eine Zeit lang abwarten, und schließlich würden glücklich lächelnde Gesichter auf allen Sendern erklären, der Notstand wäre vorüber und alles wieder in Ordnung. Daraufhin würde der ebenfalls glücklich lächelnde Imperator den übrigen Planeten befehlen, ihre Raumhäfen für Botschafter des guten Willens zu öffnen, die er ihnen schickte ... und so konnte die Seuche der Besessenheit von einem Planeten zum nächsten überspringen ...
Die Überesper lachten, trunken von Blut, Leid und Macht und dem Versprechen von so viel mehr davon!
Die Welle massenhafter Besessenheit schwappte von einer Stadt zur nächsten über und breitete sich innerhalb von Wochen über den ganzen Planeten aus. Nichts vermochte sie aufzuhalten oder auch nur abzubremsen. Sie sprang von Auge zu Auge, von Kopf zu Kopf, oft bevor überhaupt Argwohn aufkam. Die schwächeren Hirne fielen ihr als Erste zum Opfer, und so wurden aus Kindern und sogar Babys besessene Wechselbälger. Sie griffen ihre Eltern und Geschwister mit allem an, was sie in die Finger bekamen, und glucksten vor fremder Schadenfreude über das Blut, das ihre kleinen Hände nässte. Die Überesper schworen von jeher auf das nackte Grauen, um Widerstände zu brechen. Und sie genossen so sehr den Geschmack starker Gefühle, während sie an Gehirnen pickten wie Aaskrähen auf dem Schlachtfeld! Auf ihre Weisung hin liefen die Gedankensklaven wie verrückt durch die Straßen und mordeten aus schierer Lust, bis sie ihrerseits umgebracht wurden. Schock, Entsetzen und Panik zerstörten jede Verteidigung, die die Städte vielleicht hätten aufbieten können.
Aber da wartete noch ein abschließendes
Grauen, das noch über das hinausging, was schon geschah.
Diana Vertue entdeckte es. Sie führte ihre Gefolgsleute, die
Wahnschlampen, aus dem Slum und aus Parade der Endlosen. Sie flogen
wie bunte Kriegsfalken hoch über den Himmel von Logres, um die
nächste Stadt auf dem Weg der Besessenen zu schützen. Douglas
Feldglöck hatte nicht gewollt, dass sie loszogen. Er fühlte mit den
Menschen, aber er glaubte nicht, dass gegen die geballte Macht der
Überesper etwas auszurichten war, und er fürchtete, Diana und die
Wahnschlampen zu verlieren. Falls von ihnen Besitz ergriffen wurde,
konnte niemand sagen, wie viel Schaden sie womöglich anrichteten.
Diana nickte auf seine Einwände hin, äußerte ihr Verständnis und
informierte ihn dann darüber, dass sie und die Schlampen trotzdem
aufbrechen würden. In ihrem Tonfall musste etwas von der alten
Johana Wahn mitgeklungen haben, denn Douglas nickte nur und wandte
sich ab.
Diana und die Wahnschlampen erreichten Delta City am frühen Morgen
und stürzten sich wie Racheengel aus dem roten Schimmer der
aufgehenden Sonne. Sie bezogen Stellung an den Ausläufern der
Stadt, an einer verlassenen Straßensperre aus aufgetürmten Möbeln.
Sie verbanden sich geistig miteinander, um den anrückenden
Besessenen eine Gedankenbarriere entgegenzustellen. Die Barriere
schimmerte wie Hitzedunst in der Morgenluft, durchwabert von
glänzenden Energieströmen. Diana hörte die Gedankensklaven schon
lange, bevor sie sie sah. Der Marschtritt so vieler Füße, einer
Armee ungezählter Besessener, erschütterte die Straße mit
einstudierter Böswilligkeit. Langsam tauchte das Heer am Horizont
auf, erst ein Haufen Menschen, dann eine ganze Armee, dann noch
viel mehr als das. Eine unüberschaubare Streitmacht in perfektem
Marschtritt, der wie Donner über die Straße lief.
Die Überesper mussten schon von der Gedankenbarriere gewusst haben,
aber sie unternahmen nichts, um den Vormarsch ihrer Gedankensklaven
zu bremsen. Letztere marschierten weiter und zeigten alle das
gleiche entsetzliche Lächeln, dieselben grauenhaften Blicke, und
brachen mitten durch die Barriere. In dem Augenblick, in dem ein
Besessener sie durchquerte, brach die Gedankenverbindung zu den
Überespern ab und wurde der lenkende Verstand aus dem Körper
geworfen. Dieser kippte einfach nach vorn, blieb schlaff und reglos
liegen, das Gesicht leer, die Augen tot. Immer mehr Besessene
drängten sich durch das Hindernis und brachen zu immer höheren
Bergen regloser Leichen vor Diana und ihren entsetzten
Anhängerinnen zusammen.
Dies war der Gipfel des Grauens: die Überesper waren so mächtig
geworden, dass sie jedes Gehirn völlig auslöschten, wenn sie einen
Verstand übernahmen und verspeisten. Die alte Persönlichkeit war
dahin, für immer absorbiert. Ein Gedankensklave war dann nur noch
eine Hülse, ein Leerkörper, mit dem die Überesper nach Belieben
verfahren konnten. Die Besessenen konnten nicht mehr befreit
werden, nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren. Die
Besessenheit war gleichbedeutend mit dem Tod des
Verstandes.
Diana betrachtete die leeren Leiber, die sich vor ihr auftürmten,
und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte niemanden mehr
retten und auch nicht zusammen mit den Schlampen die Barriere
endlos aufrechterhalten. Früher oder später würde die schiere Masse
der Besessenen sie überwältigen. Also senkte Diana den Schirm und
flog mit den Wahnschlampen wortlos zurück in den Slum. Den einzigen
Ort, den sie glaubte, noch verteidigen zu können. Delta City blieb
sich selbst überlassen und fiel.
Später meldete sie sich bei Douglas Feldglöck zurück. Ich kann für die Sicherheit des Slums sorgen, sagte
sie ihm.
Wie steht es um Parade der Endlosen?,
fragte Douglas.
Was soll schon damit sein?, lautete Dianas
Gegenfrage.
Der Slum war jetzt als einziger Ort auf Logres immun gegen die Besitzergreifung durch die Überesper. Die Kombination aus Mensch- Esper- und Fremdwesenverstand trotzte dem Zugriff dieser Monster von jeher, und der neue Schutzschirm rings um das vergrößerte Gebiet des Slums sorgte für die Sicherheit aller Bewohner vor allen Formen gedanklicher Angriffe. Und die Überesper hatten gute Gründe, sich vor Diana Vertue, auch bekannt als Johana Wahn, zu hüten. Sie hatten vor über hundert Jahren zusammengearbeitet, um sie zu ermorden, und doch war sie wieder da; sie hatten keine Ahnung wieso. Nicht mal sie selbst glaubten, von den Toten zurückkehren zu können. Außerdem bestand die Gefahr, dass Diana mit der abgereisten, aber weiterhin verhassten Überseele Verbindung aufnahm, wohin auch immer sich diese mit der Stadt Neue Hoffnung begeben hatte. Die Überesper glaubten zwar, dass sie es mit der Überseele aufnehmen konnten, hatten es aber nicht eilig damit, die Probe aufs Exempel zu machen.
Sie sahen nur eine Möglichkeit, den Schutzschirm um den Slum zu knacken: indem sie Diana und die Wahnschlampen heraus und in einen Hinterhalt lockten. Oder die Überesper tauchten persönlich an der Grenze auf. Aber das wollten sie ganz sicher jetzt noch nicht riskieren.
Also planten sie zu warten, bis sie alle Städte auf Logres unterworfen hatten, um es dann mit Parade der Endlosen aufzunehmen, und dann ...
oh ja, dann ...Douglas Feldglöck rief zu einer Konferenz in sein Hotelzimmer. Alle wirklich wichtigen Persönlichkeiten kamen, während zwei Wahnschlampen vor der Tür Wache hielten, damit niemand die Konferenz stören oder belauschen konnte. Douglas wirkte müde und mitgenommen, was nicht weiter verwunderte. Seit Beginn des Notstandes hatte er nicht mehr richtig geschlafen oder sich ausgeruht. Panik regierte im Slum und außerhalb, und alle suchten bei ihm Antworten, Hoffnung und Rettung. Niemand erwartete irgendetwas vom Imperator, aber Douglas war der gefeierte König der Diebe, der Mann, der alles vollbringen konnte. Und dort, in seinem gedrängt vollen Zimmer, suchten Stuart Lennox, Tel Markham, Diana Vertue und Nina Malapert die Antworten, die er nicht kannte. Das durfte er ihnen natürlich nicht sagen. Er hatte sich zu ihrem Anführer aufgeschwungen, also so musste er sie auch führen. Selbst wenn er nicht wusste, wohin es ging. Douglas seufzte innerlich und gab sich Mühe, einen gelassenen und zuversichtlichen Eindruck zu machen, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte und sich die Meldungen anhörte, die ihm seine Leute vorzutragen hatten.
»Ordnen wir mal die Lage«, erklärte er rundheraus. »Der Imperator ist nicht mehr unser Hauptfeind und darf nicht mehr das Hauptziel unserer Bemühungen sein. Er hat eigene Probleme, sodass wir uns seinetwegen keine Sorgen zu machen brauchen. Alle unsere bisherigen Pläne und Strategien sind hiermit vom Tisch oder zumindest unbefristet verschoben, bis wir uns mit der Gefahr durch die Überesper auseinander gesetzt haben. Diana, fangen wir mit Euch an. Erzählt uns von Delta City.«
»Die ganze Stadt ist gefallen«, berichtete Diana. Sie konnte nicht verhindern, dass sie kleiner wirkte und sich kleiner anhörte als sonst, niedergeschlagen von allem, was sie gesehen hatte. »Die Mädchen und ich haben es aus sicherer Entfernung mitverfolgt. Die Bevölkerung von Delta City ist jetzt entweder tot oder besessen. Niemand ist lebend herausgekommen. Wer zu alt, zu jung oder zu krank war, um noch gehen zu können, wurde ausnahmslos an Ort und Stelle niedergemetzelt. Genau das werden die Überesper auch mit uns anstellen, sobald sie hier eintreffen. Wir können nicht mit ihnen verhandeln, selbst wenn irgendjemand dumm genug wäre, das vorzuschlagen; schließlich können wir ihnen nichts anbieten. Und ich weiß nicht, ob wir stark genug sind, sie abzuwehren. Wir können lediglich hoffen, dass uns die Besessenen lange genug vom Leib bleiben, bis die Überesper die Geduld verlieren und persönlich auftauchen. Dann könnte ich ein paar Sachen ausprobieren, falls sie dumm genug wären, sich einer Gefahr auszusetzen. Wahrscheinlich werden sie dies aber nicht tun.«
»Ihr klingt so, als hättet Ihr Angst vor ihnen«, meinte Stuart und runzelte die Stirn. »Ich hätte nie gedacht, dass Ihr Euch vor irgendjemandem fürchtet. Ich meine, Ihr seid Johana Wahn! Eine Gestalt aus den Legenden des alten Imperiums!«
»Seid Ihr nicht ein bisschen zu alt, um noch an Legenden zu glauben? Als die Überesper vor über hundert Jahren zum letzten Mal geballt über mich hergefallen sind, haben sie mich umgebracht.« Diana schauderte plötzlich. »Sie haben von meinem Körper nicht etwas übrig gelassen, was man hätte bestatten können. Und heute sind sie noch mächtiger.«
Alle rührten sich unbehaglich. Nina musterte Diana nachdenklich. »Ihr habt nie erklärt, wie Ihr davon zurückkehren konntet.«
»Nein«, bestätigte Diana. »Das habe ich nicht,
was?«
»Welche Möglichkeiten haben wir?«, wollte Douglas wissen. »Raus mit
der Sprache, Leute. Ich höre mir alles an, was auch nur halbwegs
vernünftig klingt.«
»Wir rühren uns nicht«, sagte Tel Markham, der wie üblich direkt
neben Douglas stand. Er war eine düstere, grimmige Präsenz in
Kleidern, die er stets makellos sauber hielt. »Wir lassen die Armee
der Überesper in Parade der Endlosen eindringen und sehen vom Slum
aus ungestört zu, wie sich Finns Soldaten Mann gegen Mann mit den
Besessenen schlagen. Mit ein bisschen Glück schwächen sie sich
gegenseitig beträchtlich. Wir stellen bewaffnete Wachen auf unsere
Barrikaden, damit niemand eindringen kann. Wir haben weder genug
Platz noch genug Ressourcen, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen.
Sobald die schlimmsten Kämpfe vorüber sind, machen wir einen
Ausfall und greifen die Überlebenden mit allem an, was wir haben.
Die Besessenen haben vielleicht die schiere Masse auf ihrer Seite,
aber weder Waffen, die mit unseren vergleichbar wären, noch unsere
Erfahrung mit Kämpfen. Wir müssten es eigentlich schaffen, eine
geschwächte Armee wieder aus der Stadt zu drängen, und können dann
Parade der Endlosen selbst besetzen. Finn wird zu schwach sein, um
uns daran zu hindern.«
»Und dann?«, wollte Stuart wissen.
Tel grinste. »Dann warten wir auf den Todtsteltzer und seine
Flotte, damit sie die Schlacht endgültig zu unseren Gunsten
wenden.«
Douglas sah Nina an, die die Achseln zuckte. »Tut mir Leid, Schatz,
aber solange sich die Flotte durch den Hyperraum bewegt, weiß man
nicht, wie weit sie noch entfernt ist.
Sie trifft vielleicht heute ein, vielleicht morgen, vielleicht
nächste Woche. Wir erfahren es erst, wenn sie fast schon in eine
Umlaufbahn einschwenkt.«
»Und bis dahin«, fragte Stuart, »sollen wir alle Einwohner der
Stadt entweder sterben lassen oder der Besessenheit ausliefern?
Während wir sicher hinter unserem Gedankenschild hocken und uns das
ansehen? Zum Teufel mit aller Welt außer uns? Das ist genau, was
ich von Euch auch erwartet hätte, Markham.«
»Die Sicherheit des Slums muss Vorrang genießen!«, raunzte Tel.
»Wir müssen den König schützen!«
»Nein«, entgegnete Douglas, und alle drehten sich zu ihm um. »Wir
marschieren hinaus in die Stadt und beschützen die Menschen. Es ist
unsere Stadt, und es ist unser Volk. Stuart, rede du mit unseren
Strategen und entwirf mit ihnen mögliche Vorgehensweisen für mich.
Wir verfügen über Mittel, wie sie keine der anderen Städte
einsetzen konnte, und ich möchte diese Mittel vorbehaltlos
einsetzen. Wir können es schaffen! Wir werden diese Stadt gegen
alles verteidigen, was die Überesper uns an die Gurgel hetzen, und
beweisen, dass sie nicht unaufhaltsam sind.«
»Wem sollen wir es denn beweisen?«, fragte Nina leise. »Soweit wir
wissen, sind alle anderen Städte auf dem Planeten schon gefallen.
Kleinere Städte werden vorläufig ignoriert, aber ... Außer uns ist
praktisch kaum jemand übrig, Douglas.«
»Dann beweisen wir es uns selbst«, antwortete Douglas. »Schließlich
muss noch jemand da sein, der Lewis wieder zu Hause begrüßt.«
Die Überesper riefen ihre Heerscharen von ganz Logres zusammen und hetzten sie auf Parade der Endlosen. Millionen Besessener marschierten aus den Ruinen der Städte hervor, und alle zeigten das gleiche Lächeln. Millionen und Abermillionen Besessene waren es, gesteuert von fünf überaus mächtigen Gehirnen, und sie marschierten zur letzten freien Stadt des Planeten, um Imperator Finn Durandal und seine Leute zu stürzen und sich anschließend die letzte Beute zu greifen: all die schmackhaften Hirne und Seelen im Slum. Das Dessert nach einem überaus zufrieden stellenden Mahl. Und die Chance auf Rache an einem ihrer ältesten Feinde. Das Leben ... war schön. Die Armeen der Besessenen füllten die Straßen und den Himmel, alle zum gleichen Ziel unterwegs, Zerstörung und Gemetzel im Sinn.
Aus seinem usurpierten Palast in Parade der Endlosen nahm Imperator Finn Durandal mit jedem Planeten des Imperiums Verbindung auf und verlangte Hilfe und militärische Verstärkung, und jeder einzelne Planet wies ihn rundweg ab. Selbst die überzeugtesten Fanatiker der Militanten Kirche und der Reinen Menschheit lachten ihm ins Gesicht und warnten ihn davor, irgendein Schiff zu ihrem jeweiligen Planeten zu schicken. Jedes von Logres kommende Schiff, so drohten sie, würde in Stücke geschossen werden, um jeder Infektion vorzubeugen. Und das schloss eindeutig jedes Schiff ein, mit dem der Imperator womöglich unterwegs war. Jeder fürchtete die Überesper inzwischen mehr als Finn. Er war nicht mehr in der Lage, Gehorsam zu erzwingen.
Der Imperator marschierte in seinen Privatgemächern auf und ab, dachte hektisch nach und notierte sich Namen für künftige Vergeltungsmaßnahmen. Er bezweifelte nicht, dass er eine Zukunft hatte. Er war zuversichtlich, dass er dieses Problem lösen konnte wie so viele Probleme zuvor. Man fand immer einen Weg. Eine Idee bildete sich fast sofort, aber er musste noch viel länger auf- und abmarschieren und ein sehr finsteres Gesicht schneiden, ehe er sich wirklich schlüssig wurde. Falls er diese ausgeflippten Esper schlagen sollte, brauchte er ein Bündnis mit seinem meistgehassten Feind, alten Freund und Waffengefährten Douglas Feldglöck. Das hinterließ einen widerlichen Nachgeschmack im Mund, aber Finn war von jeher in der Lage, das Schwierige und Notwendige zu tun. Mit den Streitkräften des Slums an der Seite seiner Klonarmee konnte er sich den Besessenen entgegenstellen und brauchte sich nicht um einen Kampf an zwei Fronten zu sorgen. Bestimmt war Douglas die Idee zuwider, aber er würde einwilligen. Denn Douglas glaubte nach wie vor an Dinge wie Pflicht, Ehre und Verantwortung. Finn glaubte nur ans Überleben. Finns Truppen waren stark geschrumpft, besonders nach dem Desaster der zweiten Sluminvasion. Jetzt blieben ihm nur noch die Klonarmee, ein paar verstreute reguläre Soldaten und Friedenshüter sowie sein persönliches Gefolge aus Fanatikern des harten Kerns - denjenigen, die ihn als Gott verehrten. Ständig behaupteten sie, sie wären bereit, für ihn zu sterben; jetzt erhielten sie die Chance, das zu beweisen. Die riesige Mehrheit von Anhängern der Militanten Kirche und der Reinen Menschheit auf Logres hatte in jüngster Zeit die Flinte ins Korn geworfen und war dem Glauben abtrünnig geworden, besonders nach der Hinrichtung ihres nominellen Oberhauptes Joseph Wallace. Finn bezweifelte nicht, dass er viele von ihnen überreden und verlocken konnte, aus ihren Löchern zu kriechen und erneut an seiner Seite zu kämpfen; als Redner war er von jeher sehr begabt. Unter den aktuellen Bedingungen jedoch musste er ihnen wohl alle möglichen Versprechungen machen. Na ja, Versprechungen waren gut und schön, aber man sollte ruhig erst mal abwarten, bis die Besessenen besiegt waren und die Stadt wieder Finn gehörte. Dann sollten die armen Trottel ruhig nach der Erfüllung seiner Versprechungen schreien. Ein Geschäft, dessen Einhaltung man nicht erzwingen konnte, war kein Geschäft.
Finn musste die Gefahr durch die Überesper niederstampfen, ehe Lewis Todtsteltzer mit seiner verdammten Flotte auftauchte. Er musste als Herrscher dieser Stadt, falls nicht des ganzen Planeten auftreten können, um aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Sobald Lewis erst mal auf Logres gelandet war und sich damit in Griffweite befand, konnte alles Mögliche geschehen ... Finn blickte finster drein. Ihm lief die Zeit weg. Die Flotte konnte jeden Augenblick eintreffen. Nein! Er musste sich auf das unmittelbare Problem konzentrieren, seine Abmachung mit Douglas treffen und ihrer beider Streitkräfte gemeinsam gegen die Überesper und ihre Gedankensklaven ins Feld schicken. Zumindest konnte sich Finn dabei recht sicher sein, dass eine ganze Menge seiner Feinde aus dem Slum umkamen, statt behaglich hinter ihren kostbaren Abwehrschilden zu hocken. Finn lächelte auf einmal. Douglas würde das Abkommen mit ihm wirklich hassen, aber sich nicht vom eigenen Stolz und den persönlichen Gefühlen daran hindern lassen, seine geliebte Stadt zu verteidigen. Und vielleicht ergab es sich im Kampfgetümmel, dass ... ein Messer im Rücken eines alten Freundes landete, wenn gerade niemand hinsah ... Ah ja! Hinter jeder Wolke kam wieder die Sonne zum Vorschein.
Und so schickte der Imperator Finn Durandal einen Sendboten in den Slum, um über die Vertragsbedingungen zu verhandeln. Sich auf ein Prinzip zu einigen war eine Sache; aber beide Seiten bestanden zum eigenen Schutz auf strengen Absprachen. Nach einigen Wortgefechten über ausgesprochen abhörsichere Leitungen einigte man sich darauf, dass Douglas in seinem Slumhotel einen Mann aus Finns engstem Kreis empfing. (Finn hatte ein Treffen in seinem Palast gar nicht erst vorgeschlagen; er wollte nicht ausgelacht werden.) Der Imperator schickte Herrn Sylvester, der im Slum wohl bekannt war. Finn hatte ihn dort vor langer Zeit aufgestöbert. Herr Sylvester war Fälscher, Hacker, Betrüger, Provokateur und erstklassiger Rufmörder, und Finn fand zum einen oder anderen Zeitpunkt für alle diese zweifelhaften Talente Verwendung.
Herr Sylvester wurde an der Grenze zum Slum äußerst gründlich durchsucht, wozu eine volle Körperabtastung im Hinblick auf Waffen, Abhörwanzen und implantierte Selbstmordbomben gehörte. Bei Finn konnte man schließlich nie wissen - und außerdem war den Wachleuten des Slums einfach danach, Herrn Sylvester ordentlich zu piesacken. Leute, die irgendwann mal freiwillig für Finn gearbeitet hatten, waren im Slum nicht mehr beliebt. Die Wachen durchsuchten auch die Gestalt in Seidenmaske, die Herrn Sylvester begleitete, aber auch dieser Mann erwies sich als sauber. Eine tapfere Seele warf einen kurzen Blick auf das, was der Maskierte in einem mit Stoff umwickelten Glaskrug mitführte, und musste sich dann entfernen und alles auskotzen, was er jemals gegessen hatte.
Herr Sylvester und sein Begleiter marschierten durch den Slum, begleitet von einer vollen Kompanie Soldaten. Der Grund für diese Vorkehrung bestand zumindest teilweise darin, Zuschauer daran zu hindern, dass sie schwere, spitze Gegenstände nach ihrem abtrünnigen Sohn warfen. Herr Sylvester blickte stur geradeaus, zeigte ein professionelles Lächeln und ignorierte die Drohungen und Beleidigungen aus den Menschenmengen, an denen sie vorbeikamen. Der maskierte Begleiter hingegen zuckte bei jedem Wort zusammen. Die Soldaten führten Herrn Sylvester schließlich in Douglas' Hotelzimmer, beharrten aber darauf, dass der Maskierte draußen blieb. Die Abmachung sah nur einen Sendboten vor. Herr Sylvester blickte sich gelassen um und hielt den mächtigen Löwenschopf stolz erhoben. Er warf den schweren Samtumhang über die Schultern zurück, um die golddurchwirkte Weste besser zur Geltung zu bringen, und lächelte die grimmigen Gesichter an, die ihm entgegenblickten.
»Geschätzte Herren und Damen, es ist mir eine Freude und eine Ehre, hier in solch erhabener Gesellschaft zu erscheinen. Douglas Feldglöck, legendärer König der Diebe und Held im Exil; Stuart Lennox, kühner und umsichtiger Paragon von Virimonde. Finn entbietet Euch seine besten Wünsche. Nina Malapert, schöner Star und lebhafte Persönlichkeit der abtrünnigen Nachrichten-Website.« Herr Sylvester wandte sich nun mit hochgezogener Braue an den Letzten der Anwesenden. »Und Tel Markham, mein lieber Kollege. Ich hatte ja keine Ahnung! Wir alle hielten Euch für tot.«
»So leicht sterbe ich nicht!«, knurrte Tel und hielt sich ganz eng an Douglas, der in seinem Sessel saß, als handelte es sich um einen Thron. Tel musterte Herrn Sylvester ohne Eile von Kopf bis Fuß und schniefte dann lautstark. »Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin, Euch als Finns Sendboten anzutreffen, Sylvester. Ihr wart schon immer wortgewandt, besonders wenn Verrat auf dem Plan steht. Aber ich muss schon sagen, dass ich Euch kaum noch wiedererkenne! Ihr habt ganz schön an Gewicht zugelegt. Man speist also gut an Finns Tafel?«
»Oh, das kann man wohl sagen.« Herr Sylvester tätschelte sich zufrieden den mächtigen Bauch, über dem sich die Weste spannte. »Ihr kennt mich, Tel. Ich lande immer auf den Füßen.«
»Mich überrascht, dass Ihr sie immer noch sehen könnt. Und ja, ich kenne Euch, Sylvester. Ihr lügt so mühelos, wie Ihr atmet, und die Wahrheitsliebe wurde Euch einfach nicht in die Wiege gelegt. Wer ist der maskierte Mann da draußen? Ihr hattet Anweisung, allein zu kommen.«
»Er bringt ein Geschenk Finns für den König. Aber das kann warten.« Herr Sylvester richtete die volle Wucht seines Lächelns jetzt auf Douglas. »Mein lieber Sir, ich habe die Ehre, für Imperator Finn zu sprechen, und wurde von ihm bevollmächtigt, in seinem Namen alle notwendigen Abmachungen zu treffen. Mein Wort ist für ihn bindend.«
»Jetzt aber mal langsam, Herr Ich-hänge-meinFähnchen-in-jeden-Wind«, sagte Tel und lächelte grausam. »Zunächst, Douglas, solltet Ihr erfahren, wer und was genau Herr Sylvester ist und was er Euch und Euren Freunden angetan hat. Dieser Mann hat Briefe gefälscht und gefälschte Dateien in Lektronen eingeschmuggelt, all das mit dem Ziel, den Ruf von Lewis und Jesamine zu ruinieren. Er hat die Medien mit Storys versorgt und Gerüchte in Umlauf gebracht und überhaupt alles getan, um Euch von den Leuten zu trennen, denen Ihr vertraut habt. Alles Schlechte, was Ihr jemals über Lewis und Jesamine vernommen habt, ging von diesem Mann hier aus.«
Herr Sylvester verbeugte sich bescheiden. »Ihr
seid zu freundlich, Tel.«
»Stimmt das wirklich?«, wollte Douglas in gefährlich kaltem und
leisem Ton wissen.
»Nun, ja«, antwortete Herr Sylvester und musterte Douglas unsicher.
»Das ist meine Arbeit, mein Gewerbe oder meine Berufung. Es war gar
nicht so schwer. Ein Brief hier, eine versteckte Datei, die dort
entdeckt wird, und schon verändert sich die gesamte Vorstellung vom
Leben eines Menschen. In Jesamines Fall musste ich nur Material
übertreiben und veröffentlichen, das schon vorlag. Beim
Todtsteltzer war es schwieriger. Ich hatte nur so wenig, womit ich
arbeiten konnte. Gut, ehrlich und nobel ... langweilig, langweilig!
Aber am Ende hat dieser Ruf sogar geholfen; Menschen glauben immer
gern das Schlechteste von denen, die besser zu sein scheinen als
sie selbst.«
»Also stimmte nichts davon?«, fragte Douglas. »Nichts von dem,
wofür ich ihn verurteilt habe?«
»Nun«, sagte Herr Sylvester und wahrte sein Lächeln nur mit Mühe.
»Wie sich herausstellte, hatte er tatsächlich eine Affäre mit Eurer
Braut. Das war durchaus hilfreich.«
»Wie konnte ich mich je von einem Schmutzfink wie Euch hinters
Licht führen lassen?«, fragte Douglas, und Herr Sylvester zuckte
zusammen über das, was im Ton des Königs mitschwang.
»Mein lieber Freund, es war nur ein Job. Das versichere ich Euch.
Nichts Persönliches!«
»Und ich habe Eure Lügen nur zu gern geglaubt«, sagte Douglas. »Ich
hätte es besser wissen müssen. Als wir noch gemeinsam Paragone
waren, habe ich mich stets darauf verlassen, dass mir Lewis den
Rücken freihielt. Damals habe ich ihm noch mein Leben
anvertraut.«
»Schade nur, dass Ihr ihm Eure Verlobte nicht anvertrauen konntet«,
gab Herr Sylvester zu bedenken. »Aber was vergangen ist, sollte
vergangen bleiben. Wir müssen über ein Bündnis
diskutieren.«
»Warum hat der Imperator ausgerechnet Euch geschickt, Herr
Sylvester?«, erkundigte sich Douglas.
»Weil er jemanden brauchte, der heikle Angelegenheiten besprechen
kann, ohne übertrieben emotional zu werden«, antwortete Herr
Sylvester, froh darüber, sich wieder auf festerem Grund zu bewegen.
»Und um die Wahrheit zu sagen: er hat nicht mehr allzu viele Leute,
denen er trauen zu können glaubt. Möglicherweise, weil er die
meisten von ihnen umgebracht hat.«
»Die ganze Idee eines Bündnisses stinkt!«, sagte Tel entschieden.
»Wir sind hier im Slum in Sicherheit. Wir brauchen Finn
nicht.«
»Die Stadt braucht uns«, wandte Douglas ein. »Und wir könnten mit
der Hilfe von Finns Leuten viel mehr erreichen.«
»Aber du kannst dich mit dem Durandal nicht verbünden!«, sagte
Stuart. »Er wird dich verraten!«
»Er wird es ganz sicher versuchen«, sagte Douglas. »Wir sprechen
hier schließlich von Finn. Aber vorläufig ... brauchen wir
einander. Und er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mich
von persönlichen Differenzen nicht davon abhalten lasse, das
Richtige zu tun. Wir müssen die Besessenen aufhalten und mein Volk
retten. Das können wir nur erreichen, wenn wir unsere Ressourcen
zusammenlegen. Somit sind wir Bundesgenossen, denn so schlimm Finn
auch ist, die Überesper sind schlimmer und stellen die bei weitem
dringlichere Gefahr dar ... Verzeiht mir, Herr Sylvester; ich denke
laut nach. Richtet Eurem Herrn aus, dass der Vertrag unter
bestimmten Bedingungen zustande kommt. Die erste davon lautet, dass
meine Hilfe etwas kostet. Im Gegenzug für dieses streng befristete
Bündnis gegen einen gemeinsamen Feind verlange ich, dass an den
verbrecherischen Wissenschaftlern, die in seinem Dienst so viel
Böses angerichtet haben, Gerechtigkeit geübt wird. Das betrifft
Personen wie Elijah du Katt, der den Klon meines Bruders James
angefertigt hat, und Dr. Glücklich für das, was er Anne Barclay
angetan hat.«
»Der Imperator hat Euren Wunsch vorhergesehen«, sagte Herr
Sylvester aalglatt. »Beide genannten Herren warten draußen. Mit
Eurer Erlaubnis ...«
Der überraschte Douglas nickte rasch. Stuart zog den Disruptor.
Herr Sylvester ging langsam zur Tür und achtete sorgsam darauf,
keine abrupten Bewegungen auszuführen. Er öffnete und winkte den
maskierten Mann herein, der auf dem Flur wartete. Dieser trat ein.
Noch immer trug er den großen Glaskrug, mit einem Tuch umwickelt.
Er hob die Hand und entfernte die Seidenmaske von seinem Gesicht.
Elijah du Katt blickte sich rasch um. Er schwitzte stark und litt
an nervösen Zuckungen.
Während er die Pistole in Stuarts Hand vorsichtig im Blick behielt,
zog du Katt das Tuch von dem großen Glasbehälter und zeigte darin
den abgetrennten Kopf von Dr. Glücklich. Der Kopf war in ganz
miserablem Zustand. Der größte Teil der Haut war verrottet, sodass
Flecken von farblosem Fleisch und Knochen freilagen. Die Lippen
hatten sich von den vorstehenden Zähnen zurückgezogen, und die
Augen waren in den Höhlen zusammengeschrumpft. Dünne Haarsträhnen
standen vom verformten Schädel ab und kräuselten sich langsam in
der Konservierungsflüssigkeit. Was den Anblick so schlimm machte:
der Kopf lebte eindeutig noch. Die Augen wanderten hin und her und
richteten sich nacheinander auf die Anwesenden, und der Mund
bewegte sich ständig, als versuchte Dr. Glücklich zu reden. Alle
Anwesenden betrachteten den Kopf mit Grauen und Abscheu
unterschiedlichen Ausmaßes, abgesehen von Nina, die sich eifrig
vordrängte.
»Oh, das ist ja einfach widerlich! Kotztakulär! Das wird sich in
unserer nächsten Nachrichtensendung echt toll machen. Damit kommen
wir auf den ersten Platz; niemand wird wegsehen können. Wir waren
alle sicher, dass Finn ihn schon vor langer Zeit umgebracht hatte.
Warum hat Finn ihn nicht umbringen lassen?«
»Es lag nicht an mangelndem Eifer«, räumte Herr Sylvester ein und
gab du Katt mit einem Wink zu verstehen, er möge den Glaskrug auf
einen nahen Tisch stellen. Der Kopf hüpfte leicht, und ein paar
Luftblasen traten aus der zerfressenen Nase aus. »Wie es scheint,
hat sich Dr. Glücklich selbst einige seiner esoterischeren Gebräue
verabreicht. Nach der Rückkehr von Haden war er nie mehr der alte.
Soweit ich es verstanden habe - und ich bin absolut bereit
zuzugeben, dass ich es nicht verstanden habe - ist der gute Dr.
Glücklich seit einiger Zeit tot, legt sich aber einfach nicht hin.
Finn hat ihn eine Zeit lang als Übungszielscheibe benutzt und ließ
ihn anschließend enthaupten, damit er nicht mehr herumlief und die
Diener erschreckte. Der Rumpf lief daraufhin jedoch erst recht wild
durchs Labor und zertrümmerte wertvolle Ausrüstung, während der
Kopf den Imperator beschimpfte. Am Ende wurde der Rumpf
eingefangen, zerschnitten und verbrannt, und man verstreute die
Asche zur Sicherheit an verschiedenen Stellen. Der Imperator
schickt Euch hier den Kopf. Ihr könnt damit tun, was Ihr möchtet,
und nein, eine Rücksendung ist nicht möglich. Das Gleiche gilt
natürlich für du Katt.«
»Was zum Teufel wollte Dr. Glücklich mit seinen Drogen erreichen?«,
fragte Nina, kniete sich vor den Glaskrug und tippte mit den
Fingern ans Glas, um den Kopf auf sich aufmerksam zu
machen.
»Niemand weiß es so recht«, antwortete Herr Sylvester unbehaglich.
»Anscheinend hat er zu irgendeinem Zeitpunkt über die Grenzen der
Wirklichkeit hinausgeblickt, und was er dort sah, hat wohl den Rest
zerstört, was von der Vernunft noch übrig war. Danach hat er nichts
mehr getan, als Sachen nach Leuten zu werfen und durch die
Palastkorridore zu spazieren und dabei Titelmelodien zu singen.
Sehr schlecht allerdings.«
Douglas' Blick ruhte längst auf dem schwitzenden, zitternden Elijah
du Katt. »Also, Klonmeister, habt Ihr irgendwas zu Euren Gunsten
vorzubringen?«
»Nichts davon war meine Idee, Eure Majestät! Das müsst Ihr mir
glauben! Alles wurde von Finn veranlasst, alles, was ich getan habe
...«
»Ja«, sagte Douglas, »alles, was Ihr getan habt. Zum Beispiel das
Grab meines Bruders zu entweihen, um die für seinen Klon benötigten
Zellproben zu gewinnen. Wie zur Einkerkerung und Ermordung meines
Vaters beizutragen. Dinge dieser Art.«
Du Katt versuchte, etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus,
und so stand er schweigend vor Douglas' anklagendem
Blick.
»Der Imperator ging davon aus, dass Ihr du Katt und Dr. Glücklich
eigenhändig zu exekutieren wünscht«, sagte Herr Sylvester. »Deshalb
schickt er sie Euch. Als Geschenk und als Zeichen ... des
Vertrauens.«
»Ja«, sagte Douglas. »Ich möchte sie umbringen - wegen all dessen,
was sie zu verantworten haben: den Schaden, das Leid, die
vergifteten und ruinierten Menschenleben. Aber ich kann sie nicht
einfach eigenhändig töten. Das wäre falsch. Persönliche Rache, die
sich als Gerechtigkeit ausgibt, ist Finns Weg. Ich muss mich als
besser erweisen. Gerechtigkeit muss geübt werden. Ein Prozess muss
stattfinden.«
»Wir haben keine Zeit für Prozesse!«, mischte sich Diana Vertue
ein, die energisch ins Zimmer marschiert kam, ohne auf eine
Einladung oder Ankündigung zu warten. »Kommt schon, Douglas! Ihr
habt doch nicht wirklich geglaubt, Ihr könntet mir verschweigen,
dass dieses Treffen stattfindet? Ich bin unter anderem Telepathin.
Was ist denn los? Habt Ihr gefürchtet, ich würde einem Bündnis mit
Finn nicht zustimmen? Verdammt, ich werde mit der Wirklichkeit
fertig, wenn es nötig wird. Ein sehr befristetes Bündnis gegen die
Überesper ist die einzig sinnvolle Antwort auf unsere derzeitigen
Probleme. Uns fehlt jedoch die Zeit, um sie für Schauprozesse gegen
solchen Müll wie den hier zu vergeuden. Falls Ihr sie nicht
umbringen könnt - ich schaffe das!«
Sie blickte Elijah du Katt an, und er brach tot zusammen. Sie
blickte den abgetrennten Kopf in seinem Glas an, und Nina prallte
quietschend zurück, als Kopf und Glas in aufleuchtenden Psienergien
verschwanden. Diana blickte Herrn Sylvester an. Der zuckte zusammen
und stieß einen Schrei aus.
»So sterben alle Verräter«, sagte Diana Vertue, die zuzeiten immer
noch Johana Wahn war. »Sagt Finn in meinem Namen hallo, Herr
Sylvester. Sagt ihm, dass ich ihn bald mal besuchen
werde.«
Herr Sylvester zitterte immer noch, als man ihn aus dem Slum
geleitete, um Finn Durandal zu melden, dass Douglas mit dem Bündnis
einverstanden war.
Douglas Feldglöck wandte sich einer gewaltigen Menge seiner Leute zu, die auf dem größten städtischen Platz des Slums zusammengeströmt waren. Es dauerte Stunden, bis alle eingetroffen waren, denn fast jeder wollte sich die Rede anhören. Ninas Kameras schwebten über den Menschen und übermittelten Douglas' Worte an den Rest der Stadt und von Logres sowie an sämtliche Planeten des Imperiums. Alle wussten von den Besessenen; alle wussten, worum es ging, also machte es Douglas kurz und bündig.
»Wir müssen hinausziehen und gegen die Besessenen kämpfen. Wir und Finns Leute sind die Letzten, die Logres vor der vollständigen Unterwerfung durch die Überesper retten können. Ich weiß, dass es Euch nicht leicht fallen wird, Seite an Seite mit Finns Soldaten zu kämpfen. Die meisten von ihnen sind Schläger, Tyrannen und Mistkerle. Aber... der Feind meines Feindes ist mein Bundesgenosse, wenn schon nicht mein Freund. Später ist noch Zeit, alte Rechnungen zu begleichen. Nachdem wir die Überesper und ihre Armee der Besessenen besiegt haben.
Und wir können sie schlagen! Dank der Ausbildung, die wir Euch gegeben haben, der Vorbereitung auf die Rebellion, seid Ihr allesamt erstklassige Krieger. Die Besessenen sind das nicht. Sie haben nicht mehr zu bieten als ihre Anzahl, und die Anzahl derer, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Stadt bringen können, stößt an Grenzen. Und da sie von Gehirnen gesteuert werden, die weit entfernt sind, können sie weder ihre Taktik ändern noch sich auf geänderte Umstände einstellen. Das müsste uns einen ausreichenden Vorteil verschaffen. Und vergesst nicht: gebt immer tödliche Schüsse ab, selbst wenn ihr jemanden zu erkennen glaubt! Die Menschen, die ihr kennt, sind tot, ihre Gehirne durch die besitzergreifenden Geister gelöscht. Wir können diese Menschen nicht mehr retten; ihre Körper sind nur noch leere Hülsen.
Also, geht jetzt und bereitet Euch auf den Krieg vor und auf den darauf folgenden Sieg. Unsere Zeit ist endlich gekommen!«
Die Menge jubelte ihm zu, bis sie heiser wurde, und schwenkte dabei ihre Waffen. Unter allen Anwesenden fragte sich nur Douglas selbst, ob er die Wahrheit gesprochen hatte.
Douglas kehrte ins Hotelzimmer zurück, um eine Zeit lang mit seinen Gedanken allein zu sein. Dort erblickte er ein altbekanntes Gesicht auf dem Monitor, den Ninas Leute für ihn aufgestellt hatten. Der Medientech, der den Anruf entgegengenommen hatte, nickte Douglas kurz zu und eilte aus dem Zimmer. Douglas ließ sich langsam im Sessel nieder, ohne den Blick von dem Gesicht auf dem Bildschirm zu wenden. Lewis Todtsteltzer lächelte ihn an.
»Douglas. Es ist lange her.«
»Ja. Ja, das ist es. Hallo Lewis.«
»Hallo Douglas. Viel hat sich verändert, seit wir
Von Jesamine Blume war auf dem Bildschirm nichts zu sehen. Douglas fragte auch nicht nach ihr. »Ich habe gerade mit einer von Finns Kreaturen gesprochen, einem Herrn Sylvester. Er hat gestanden, dass er Lügen über dich und Jes ausgeheckt und verbreitet hat. Es tut mir so Leid, Lewis. Ich hätte es wissen müssen.«
»Ich habe versucht, es dir zu erklären«, gab
Lewis zu bedenken.
»Ich weiß. Aber ich war damals ... sehr verstört. Du und Jes ... Oh
verdammt, Lewis! Kommt nach Hause. Alles ist verziehen. Ich hoffe,
du kannst mir verzeihen?«
»Natürlich«, sagte Lewis. »Wozu sind Freunde da? Auch wenn du dich
wie ein absolutes Arschloch aufgeführt hast.«
Sie lachten gemeinsam - zum ersten Mal seit langer Zeit.
»Was das Nach-Hause-kommen angeht«, sagte Lewis. »Deswegen rufe ich
an. Die Flotte ist unterwegs. Wir müssten in einem oder zwei Tagen
bei euch sein. Vielleicht früher, falls die Sternentriebwerke nicht
durch die Überlastung explodieren.«
»Das ist die beste Nachricht seit langem«, sagte Douglas. »Wir
benötigen verzweifelt Bundesgenossen mit herausragender Feuerkraft.
Bist du über die hiesigen Ereignisse auf dem Laufenden?«
»Ja. Wir verpassen Nina Malaperts Berichterstattung nie. Wie zum
Teufel konnten die Überesper nur so mächtig werden?«
»Wir haben nicht den leisesten Schimmer. Habt ihr irgendwas von
Shub gehört?«
»Nur dass sich alle ihre Maschinen abgeschaltet haben. Sämtliche
KIs unserer Schiffe sind offline.«
»Ich habe versucht, mit Shub Verbindung aufzunehmen und ihre Hilfe
zu erbitten, als hier alles zum Teufel ging«, erzählte Douglas und
blickte dabei finster drein. »Niemand hat reagiert. Keine Antwort
aus ihrer Botschaft oder von ihrem Heimatplaneten. Das muss
irgendwas zu bedeuten haben.«
»Haben die Überesper Shub womöglich ausgeschaltet? Ich hätte nicht
erwartet, dass sie künstliche Intelligenzen in Besitz nehmen
können, aber ... Oder hat vielleicht der Schrecken die Heimatwelt
von Shub erreicht?«
»Nein«, entgegnete Douglas sofort. »Das hätte ich erfahren. Allen
aktuellen Meldungen zufolge ist der Schrecken immer noch unterwegs
und Tage von seinem nächsten Ziel entfernt. Was bringst du zu
meiner Unterstützung, Lewis? Ich könnte ein paar gute Nachrichten
verkraften.«
»Siebenhundertvierzehn Sternenkreuzer, dazu Hunderte Schiffe von
Nebelwelt und Virimonde. Und ... ein paar Überraschungen. Außerdem
haben Jesamine und ich sowie Brett Ohnesorg und Rose Konstantin das
Labyrinth des Wahnsinns betreten. Wir verblüffen uns inzwischen
selbst ganz ordentlich, auch wenn das nicht in Owens Liga
geschieht. Außerdem ist Johann Schwejksam bei uns! Die
Legendengestalt persönlich! Er ist Admiral unserer
Flotte.«
Douglas beugte sich eifrig vor. »Ihr habt das Labyrinth
durchschritten! Wie war es?«
Lewis überlegte eine Zeit lang. »Ich weiß nicht, ob das Labyrinth
eine Maschine ist oder lebendig oder beides. Es öffnet einen.
Verwandelt einen in mehr, als man vorher war. Es ist, als würde man
einen fremden Ort betreten, vielleicht jenen Ort, wo wir waren, ehe
wir zur Welt kamen. Es fühlt sich an, als käme man nach Hause, als
fände man die eigene Familie. Oh verdammt, Douglas, ich finde
einfach nicht die richtigen Worte!«
»Anscheinend nicht. Mach schnell, Lewis! Wir brauchen dich und
deine Flotte sehr bald hier, oder dir bleibt nichts weiter zu tun,
als den ganzen verdammten Planeten aus dem Orbit heraus zu sengen.
Zögere nicht, genau das zu tun, falls nichts mehr übrig ist! Die
Überesper dürfen keine Gelegenheit erhalten, den Planeten zu
verlassen.«
»Ich weiß nicht recht, ob selbst eine Sengung ausreichte, um diese
Monster umzubringen«, sagte Lewis. »Aber du kannst dich darauf
verlassen, dass ich tue, was immer nötig wird.«
»Natürlich«, sagte Douglas. »Das konnte ich schon immer. Wie geht
es ihr, Lewis?«
»Es geht ihr gut.«
Sie blickten einander lange an, aber im Grunde war nichts weiter zu
sagen.
Diana Vertue und die Wahnschlampen mühten sich gemeinsam ab, um eine Psikonstruktion zu errichten, die den Slum abschirmen und beschützen sollte, während sie in der äußeren Stadt waren. Diese direkt mit ihrem Unterbewusstsein verbundene Konstruktion hielt den Psischutzschirm aufrecht, ohne dass sie ständig bewusst daran denken mussten, und das würde so bleiben, solange auch nur eine von ihnen lebte. Einige Slumbewohner würden nicht zum Kampf hinausziehen - die zu jung oder zu alt waren oder sich noch von der letzten Invasion erholten, und sie mussten vor der geistigen Inbesitznahme ebenso geschützt werden wie vor angreifenden Besessenen. Der Schutzschirm sperrte die Gedanken der Überesper aus; sie mussten schon persönlich erscheinen, um sich einen Weg hindurch zu erzwingen, und so dumm waren sie nicht.
Aber was geschieht, falls
die Überesper doch persönlich auftauchen?, fragte
jemand.
Dann rennt aus Leibeskräften auf den
nächstliegenden Horizont zu, antwortete Diana scharf. Das wird Euch zwar nichts nützen, Euch aber vom
bevorstehenden Grauen ablenken.
Ihr seid ja so tröstlich, Diana!
Ich weiß. Seid Ihr nicht froh darüber, dass ich hier bin und Euch
diese Dinge erklären kann?
Die Heerscharen der Besessenen, die in der Hand der Überesper waren, erreichten schließlich auf allen Zufahrtsstraßen zugleich Parade der Endlosen und überquerten lachend und jubelnd und hässliche Lieder singend die Stadtgrenzen. Zuzeiten gaben sie Laute von sich wie Tiere oder wie Dinge, denen es zuvor an einer Stimme gemangelt hatte. Sie strömten auf hundert Straßen in die Stadt, kamen aus hundert toten Städten; es waren Millionen besessener Männer und Frauen und sogar Kinder, geführt von fünf entsetzlich mächtigen Hirnen. In den Vororten begegneten sie keinem Opfer; die dortigen Einwohner waren schon lange fortgegangen oder hatten sich ins besser geschützte Zentrum zurückgezogen. Einige waren in die Umgebung geflüchtet, aufs Land, und hofften dort den marschierenden Heerscharen zu entgehen. Aber die darüber schwebenden Überesper entdeckten sie mühelos und verstärkten die Horde um sie. So marschierten sie zurück in die Stadt, während jemand anderes ihre Köpfe bewohnte. Die Besessenen zertrümmerten und verbrannten die Häuser, an denen sie vorbeikam, und taten es nur deshalb, weil es ihnen Spaß bereitete.
Finn zog seine Truppen in sorgfältig einstudierter Unordnung von den Stadtgrenzen zurück. Sie gaben vor, panisch zu fliehen, zogen sich aber tatsächlich gerade so langsam zurück, dass die Besessenen ihnen noch folgen konnten, lockten sie in Hinterhalte und Fallen, die Finn hatte anlegen lassen. Und während die Besessenen in die Stadt schwärmten, kamen die Menschen aus dem Slum gestürmt. Bald schon trafen sie auf die zurückweichenden Truppen, die so viel Angst hatten, dass sie sich sogar freuten, genau den Rebellen zu begegnen, die sie noch in der Vorwoche bekämpft hatten. Die meisten Klongardisten - noch immer in ihren Stahlmasken - hatten einfach nicht die praktische Erfahrung mit einer Schlacht solchen Ausmaßes und überließen es den Experten nur zu gern, ihnen zu sagen, was sie tun sollten. Sie waren so programmiert, dass sie von jedermann Befehle entgegennahmen, der sie ihnen mit ausreichender Autorität erteilte.
Die Gedankensklaven marschierten heran. Die Verteidiger stoppten den eigenen Rückzug und stellten sich ihnen entgegen, und grausame Nahkämpfe tobten auf den Straßen und Plätzen und in den Parks der Stadt. Die Verteidiger führten Schwerter und Äxte, Pistolen und Granaten. Die Besessenen waren zumeist mit improvisierten Waffen ausgerüstet und warfen eine gewaltige zahlenmäßige Übermacht in die Waagschale. Blut floss, und Menschen fielen, und die Gezeiten der Schlacht wogten blindlings hin und her. Diana Vertue und die Wahnschlampen flogen in großer Höhe darüber hinweg, hingen wie bunte Raubvögel am Himmel und wirkten einen Schutzschirm über die Verteidiger am Boden, damit die Besessenheit nicht durch Blickkontakt überspringen konnte. Die Besessenenheere und hinter ihnen die Überesper reagierten zunächst verwirrt, als ihre Haupttaktik auf einmal nicht mehr funktionierte, und sie erlitten hohe Verluste, ehe die Überesper sich wieder fassen und ihre Sklaven abermals in die offene Schlacht hetzen konnten. Die Besessenen stürmten mit Schwertern und Messern und oft nur mit ihren zupackenden, krallenden Händen vor. Ihr Vorgehen war nur auf Angriff und keinerlei Abwehr gerichtet, weil immer reichlich Ersatz für die Gefallenen bereitstand. Manchmal reichte die schiere Masse, um sogar die am besten vorbereiteten Verteidiger zu überwinden und zu überrennen. Den Überespern war klar, dass sie in Parade der Endlosen keine neuen Menschen übernehmen konnten, solange die Verteidiger nicht besiegt und Diana und ihre Schlampen nicht zur Strecke gebracht waren. Oder bis die Überesper den Mut aufbrachten, ihre Schlupfwinkel zu verlassen und persönlich anzugreifen.
Vielleicht taten sie es ja. Sie alle hielten sich in der Stadt auf oder, genauer gesagt, unter ihr. Und sie wünschten sich so sehr, diese berühmte Stadt zu unterwerfen und in Besitz zu nehmen!
Fürchterliche Kämpfe wogten auf den Straßen hin und her. Blut und Eingeweide spritzten an die Hauswände und liefen dick durch die Rinnsteine, während sich die Leichen beiderseits häuften. Ein Dutzend Besessene fielen für jeden Verteidiger, aber das Kräfteverhältnis stand tausend zu eins. Immer neue Gedankensklaven strömten in die Stadt, und noch weitere waren unterwegs. Sie verfügten über keine richtige Taktik, nur über Bewegung in der Masse und die Stimmen in ihren Köpfen, die Tötet! Tötet! schrien, aber ihre Anzahl schien unerschöpflich. Anders als die Verteidiger wurden sie niemals müde oder bekamen Angst. Die Rebellen aus dem Slum waren über die ganze Stadt verstreut und inspirierten andere durch das Vorbild ihres wütenden Kampfes, aber sie konnten nicht überall sein.
Zwei Armeen waren ineinander verbissen. Menschen fielen und standen nicht mehr auf, und der Brennpunkt der Schlacht verlagerte sich langsam, aber unerbittlich ins Zentrum der Stadt, zum Imperialen Palast.
Und während all dies geschah, war Douglas Feldglöck anderswo. Er und Tel Markham pirschten durch verlassene Nebenstraßen, wichen den Kämpfen aus und hielten Kurs auf den Imperialen Palast, um den Imperator Finn zu treffen und womöglich mit ihm zusammen den Überespern eine Falle zu stellen. Eine Falle, bestückt mit den einzigen Ködern, die sie vielleicht persönlich in den Palast lockten: einem König und einem Imperator. Douglas und Finn stimmten darin überein, dass sie nur dann eine Chance hatten, über die Besessenen zu siegen, wenn sie die Überesper aus ihren Verstecken lockten und sich ihnen persönlich entgegenstellten. Erst wenn diese fünf Monster tot waren, war die Gefahr wirklich gebannt.
Das Treffen hatte eigentlich nur zwischen Douglas und Finn stattfinden sollen, aber Tel Markham bestand darauf, Douglas zum Palast zu begleiten und dem König den Rücken freizuhalten. Tel hatte besser als jeder andere lebende Mensch erfahren, wie verräterisch der Imperator sein konnte. Douglas erhob keine Einwände. Finn hatte zwar deutlich darauf bestanden, dass Douglas allein kommen sollte, aber Douglas war nicht bereit, Befehle von Finn Durandal entgegenzunehmen.
Natürlich bestand auch das Risiko, dass Tel aus irgendwelchen verschlungenen Motiven heraus Douglas an Finn zu verraten plante, aber damit rechnete Douglas nicht. Die Hölle kann nicht grimmiger sein als ein verschmähter Intrigant.
Gemeinsam gingen die beiden Männer durch einen verlassenen Palast. Alle Wachleute und die meisten Diener waren draußen in der Stadt und kämpften, und der Rest versteckte sich. Die Lebenden hatten die dunklen und blutigen Flure den Toten überlassen. Letztere fand man inzwischen überall, noch mehr von ihnen als bei Douglas' letztem Besuch. Verwesende Leichen hingen in Schlingen oder Stahlgarrotten. Abgetrennte Köpfe steckten auf ganzen Reihen von Holzpflöcken. An manchen Stellen waren die alten Teppiche so dick und dunkel mit Blut verklebt, dass die Muster darunter verschwanden. Die Luft war dick, heiß und still und stank widerlich. Douglas schritt jetzt flott dahin und gestattete sich keine Ablenkung durch die Umgebung, während Tel finster dreinblickte und düster vor sich hinmurmelte. Sie brauchten lange, bis sie endlich den Thronsaal erreichten, wo Finn Durandal in vollem Ornat auf dem Thron saß und von dessen Podest aus auf die Besucher herablächelte. Er nickte Douglas und Tel zu.
»So, da sind wir also wieder. Nun, nun, ich wusste ja, dass du jemanden mitbringen würdest, Douglas. Also dachte ich mir, dass ich mir auch ein bisschen Gesellschaft gönne.«
Er deutete auf einen Toten, der neben dem Thron an einem Strick langsam hin- und herschwang. Herr Sylvester war noch nicht lange tot. Die Augen quollen ihm aus dem dunkel angelaufenen Gesicht, und die dunkelrote Zunge hing ihm aus dem Mund. Der mächtige Körper zuckte langsam, während der Strick laut knarrte. Finn lächelte liebevoll und stupste die Leiche mit einer Hand sachte an, damit sie sich weiter bewegte.
»Ein Friedensangebot, Douglas«, sagte er leichthin. »Um meine Aufrichtigkeit zu demonstrieren. Mir tut ja so Leid, was er alles für mich getan hat! Und er war letztlich nicht mehr nützlich für mich. Es war verdammt harte Arbeit, ihn dort hochzuziehen, während er um sich trat und strampelte. Es war auch nicht leicht, einen Strick zu finden, der sein Gewicht hielt. Die ersten beiden sind gerissen. Was ich alles für dich tue, Douglas, und du weißt es nie zu würdigen! Aber andererseits hat so alles angefangen, nicht wahr?«
»Was ist aus den beiden übrigen Thronsitzen geworden?«, wollte Douglas wissen. »Die Tradition verlangt, dass zwei weitere Throne bereitstehen - einer für die Königin und einer für den seligen Owen nach seiner Rückkehr.«
»Oh, die habe ich schon vor langer Zeit hinausgeworfen«, antwortete Finn. »Du sollst keinen Gott außer mir haben und all das. So, ich wollte doch etwas tun! Was war es noch gleich? Oh ja!«
Der Imperator zog einen getarnten Disruptor aus dem hohen Stiefel und schoss Tel Markham in die Brust. Tel schrie kurz auf, als der Aufprall ihn rückwärts schleuderte, aber er war schon tot, ehe er am Boden aufschlug, während die geschwärzte Vorderseite des schmuddeligen Hemds noch qualmte. Douglas hielt schon die eigene Pistole in der Hand, aber der Imperator lächelte nur und steckte seine wieder weg.
»Entspanne dich, Douglas. Die Show ist vorüber. Es musste geschehen; er hat mich verraten. Und manchen Dreck lasse ich mir einfach nicht gefallen. Jetzt geht es nur noch um uns beide, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Tel gehörte so wenig hierher wie Herr Sylvester. Beide waren nur Nebendarsteller in unserem Drama. Trägst du deinen EspBlocker?«
»Natürlich«, antwortete Douglas und steckte langsam die eigene Pistole ein. Er achtete darauf, nicht den toten Tel Markham anzublicken. »Den leistungsstärksten Esp-Blocker, den Diana Vertue nur konstruieren konnte. Und trotzdem besteht keinerlei Garantie, dass er ausreicht, falls die Überesper persönlich erscheinen.«
»Oh, du weißt doch, dass sie es tun werden«, sagte Finn leichthin. »Wie könnten sie nur darauf verzichten? Eine Gelegenheit, Besitz von den beiden Anführern der Stadtverteidigung zu ergreifen, den beiden Männern, die ihnen so viel Widerstand geleistet haben? Dem können sie nicht widerstehen. Ich freue mich richtig darauf, ihnen erneut zu begegnen. Sie sind wirklich spektakulär hässlich.«
Douglas stieg langsam aufs Podium, bis er neben Finns Thron stand. Er blickte durch den leeren Thronsaal. Einen Augenblick lang schwiegen beide Männer, in Erinnerungen versunken.
»Wie in den alten Zeiten, nicht wahr?«, fragteFinn schließlich.
»Nein, im Grunde nicht«, sagte Douglas. »Wir hatten auch gute
Zeiten hier«, gab Finn beinahe vorwurfsvoll zu bedenken.
»Das liegt lange zurück, in einer Zeit, als
wir noch ganz andere Menschen waren.«
»Du warst vielleicht ein anderer«, sagte Finn. »Ich war immer nur
ich. Obwohl ich heutzutage darin vielleicht ein bisschen
offenherziger geworden bin. Gefällt dir, was ich aus dem Palast
gemacht habe?«
»Es widert mich an«, sagte Douglas, ohne ihn anzusehen.
»Du hattest noch nie Geschmack. Ich habe hier wahre Wunder gewirkt.
Eine echte Veränderung.«
»Sieht sehr nach dir aus. Aber mach dir keine Sorgen. Sobald ich
mir den Palast zurückgeholt habe, werden Reinigungstrupps
wochenlang im Schichtdienst arbeiten. Niemand wird mehr sehen
können, dass du jemals hier gehaust hast.«
Wieder trat eine lange Pause ein. So viele unausgesprochene Worte
brannten zwischen ihnen, Worte von Verrat und Mord und Verbrechen
ohne Zahl, aber irgendwie war es nicht das, worüber sie reden
wollten. Sie waren einst Freunde gewesen.
»Wenn alles vorbei ist«, sagte Douglas langsam, »könntest du dich
mir ergeben. Ich garantiere dir lebenslänglich anstelle einer
Hinrichtung. Der alten Zeiten zuliebe.«
»Das Gefängnis wäre für mich genauso schlimm wie der Tod«, wandte
Finn ein. »Du könntest dich andererseits mir ergeben, aber ich rate
davon ab. Ich habe alle möglichen grauenhaften Dinge mit dir vor,
falls wir beide diese Schlacht überleben. Falls ... Ich bemühe mich
wirklich um Optimismus, aber es fällt mir nicht leicht. Die Dinge
laufen nie, wie man es erwartet, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Douglas, »das tun sie nicht.«
»So«, sagte Finn. »Du bist jetzt der König der Diebe. Ich bin
Imperator. Du hast nie in ausreichend großen Maßstäben
gedacht.«
»Mein Titel wurde mir von den Menschen verliehen. Du hast deinen
gestohlen.«
»Die beste Methode«, erklärte Finn fröhlich.
Douglas drehte sich zu ihm um. »Wie konntest du nur, Finn? Wie
konntest du nur all diese Taten begehen? Die ganzen schrecklichen
Taten ...«
»Es war leicht«, sagte Finn. »Ich habe einfach aufgehört, so zu tun
als ob. Das ist von jeher deine Schwäche, Douglas: du tust Dinge
für andere; ich tue sie für mich.«
»Nein. Es ist meine Stärke. Das hast du nie verstanden. Deshalb
halten meine Leute ja auch stand und kämpfen, und deine laufen
weg.«
»Aber ich leite ein Imperium, du nur den Teil einer Stadt. Es geht
hier um Visionen, Douglas!«
»Wie konnte ich mich nur so in dir irren? Wir waren so viele Jahre
lang Freunde, Partner, Waffengefährten ... Ich glaubte, dich zu
kennen.«
»Viele Leute haben diesen Fehler gemacht«, sagte Finn
Durandal.
Und in diesem Augenblick geschah es, dass die Überesper alle
zugleich auftauchten. Sie teleportierten in den leeren Thronsaal,
purzelten wie verfaultes Obst in die Wirklichkeit hinein. Sie
erschienen alle gleichzeitig, weil keiner von ihnen den anderen
über den Weg traute. Die Temperatur in der großen Halle stürzte in
den Keller, als die Materialisierung sämtliche Wärme aus der
Umgebung absaugte. Douglas und Finn erschauerten unwillkürlich, und
es lag nicht nur an der Kälte. Finn stand vom Thron auf, die
Pistole in der Hand. Douglas stand neben ihm und hielt ebenfalls
die Pistole bereit.
Psikräfte entluden sich rings um die Überesper in glitzernden, sich
gabelnden Blitzen und krochen wie strahlender Efeu über die Wände.
Die Präsenz der Überesper ging wie ein Hammerschlag auf die Luft
nieder, wie der Auftritt eines wandelnden Leichnams bei einer
Hochzeit, wie schlechte Nachrichten auf einer Entbindungsstation,
wie ein Krebsgeschwür, das einem der Arzt auf dem Scanner zeigt.
Fünf alte und schreckliche Monster erschienen schließlich bei Hofe,
um diesen für sich zu beanspruchen.
Der Graue Zug. Höllenfeuer Blau. Kreischende Stille. Die
Spinnenharfen. Das Trümmermonster.
Höllenfeuer Blau war groß und schlank und ähnelte einem Menschen
noch am meisten, das blauweiße Fleisch umhüllt von durchscheinender
Seide. Ihr kurzes stacheliges Haar war dicht mit Eis bepackt, und
Raureif bildete gewundene Muster im leichenblassen Gesicht. Augen
und Lippen waren blassblau von der Kälte. Sie sah aus, als hätte
sie Jahrhunderte lang in Permafrost gelegen und wäre erst vor
kurzem ausgegraben worden. Sie schenkte dem König und dem Imperator
ein entsetzliches Lächeln und saugte auch noch den letzten Rest
Wärme aus der Luft rings um sie. Langsam trat sie vor, immer einen
Schritt nach dem anderen, unerbittlich wie ein Gletscher. Ihre
Kleidung erzeugte Geräusche von brechendem Eis, wenn sie sich
bewegte, und sie zog eine Spur aus brennenden Fußabdrücken nach
sich.
Der Graue Zug hatte keinen Körper im eigentlichen Sinne. Nur eine
anhaltende Willensanstrengung ermöglichte ihm, als individuelles
Wesen fortzubestehen. Er manifestierte sich als Wolke aus grauen
Flocken, die eine mehr oder weniger menschenähnliche Form bildeten
und aus angesaugtem Staub und Schutt der Umgebung bestanden. Er
existierte nur noch als Erinnerung an das, was er einmal gewesen
war, und sollte seine Konzentration jemals schwanken, würde er
nicht mal mehr das sein. Nach wie vor enthielt er jedoch Macht,
gespeist aus seinem unversöhnlichen Willen. Die Realität selbst
erbebte, wo er wandelte, umgeformt von seinen flüchtigen Fantasien.
Die Welt war dort, wo immer er sich aufhielt, genau das, wofür er
sie jeweils hielt.
Kreischende Stille war eine gewaltige, ungesund fette Frau,
massiger, als man ertragen mochte: gute einsachtzig groß und halb
so breit. Ihre Figur war grotesk verformt; alle normalen
Kennzeichen des menschlichen Körpers verschwanden unter mächtigen
Fettwülsten. Das breite Gesicht war grellbunt bemalt und der Mund
durch den Druck der mächtigen Wangen zu einer konstanten Schnute
geformt, die an eine Rosenknospe erinnerte. Die straff gespannte
Haut glänzte von Schweiß, Urin und anderen Flüssigkeiten und war
gerötet von einer verstörenden inneren Hitze. Das graue Haar
bauschte sich wie eine Pusteblume, und die großen und runden Augen
blickten stets hungrig. Fortwährend schloss sie die dicken
Stummelfinger zu Fäusten und öffnete sie wieder und hielt sich so
bereit, nach allem zu greifen, was in ihre Nähe kam. Bekleidet war
sie lediglich mit Stahlketten, die sie vielfach um sich gewickelt
hatte; die Kettenglieder drangen an manchen Stellen ins Fleisch
ein, um dort Halt zu finden. Kreischende Stille stank nach Schweiß,
Moschus und nach Blumen, die man zu lange im Gewächshaus gelassen
hatte. Die Spinnenharfen setzten sich aus zwei verwitterten
Homunkuli mit offen stehenden Schädeln zusammen, deren knospende
Gehirne sich zu einem gewaltigen freiliegenden grauen und rosa
Gewebe türmten, das sich bis ins Nichts ausbreitete. Die beiden
verhutzelten Gestalten saßen nebeneinander auf allmählich
verrottenden Stühlen. Die eingesunkenen Gesichter wirkten tot und
leer, abgesehen von den Augen, die heiß von einer Vitalität
brannten, die einfach nicht weniger wurde. Im Bösen mumifiziert, in
Hass konserviert. Sie hielten sich an den Händen und waren an
dieser Stelle seit vielen Jahrhunderten verschmolzen. Zwei Gehirne,
schon so lange vereinigt, dass sie zu einem Hirn geworden
waren.
Und schließlich war da noch das Trümmermonster. Seine körperliche
Existenz war durch ein uraltes seelisches Trauma zertrümmert und in
Zeit und Raum verstreut worden. Der zusammengeflickte Körper setzte
sich aus verschiedenen Teilen zusammen, die aus verschiedenen
Zeiten stammten, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,
irgendwie zu einem sich ständig verändernden Konstrukt vereint. Die
Einzelheiten von Rumpf und Gliedmaßen verhielten sich nie still,
tauchten auf und verschwanden in einem fort, wuchsen und
schrumpften, rutschten durcheinander und umeinander herum und
wurden ständig durch neue ersetzt. Das Gesicht des Trümmermonsters
verschwamm und verformte sich, während sich einzelne Züge mal
herausbildeten, mal wieder verschwanden, und dabei vom Ausdruck
eines Kindes bis zu dem eines Greises und allem dazwischen
wechselten, wobei nur die Augen immer gleich blieben: voller Zorn
und Wut, Kummer und Grauen.
»Ich hatte Recht«, sagte Finn. »Sie haben sich überhaupt nicht
verändert. Richtig hässliche Figuren.«
»Keine Sorge, Finn«, sagte Douglas. »Für mich bleibst du immer das
größte Monster.«
»Na, danke schön, Douglas!«
Die Überesper widmeten den beiden Männern ihre ganze
Aufmerksamkeit, und ihre grauenhafte, überwältigende Präsenz füllte
den Thronsaal aus. Sie waren Monstrositäten, Abscheulichkeiten, die
nie hätten existieren dürfen. Ihr kalter, unerbittlicher Wille
schlug auf Douglas' und Finns Gedanken ein, und beide Männer
schrien unwillkürlich auf. Sie hatten das Gefühl, dass tote Finger
gegen die Fensterläden ihrer Gehirne drückten und sich einen Weg
hinein zu bahnen versuchten. Aber sie waren geschützt.
»Ich dringe nicht zu ihnen durch«, sagte der Graue Zug mit einer
Stimme, die wie ein niemals endendes Seufzen klang. »Man hindert
mich daran.«
»Dann müssen wir es einfach auf die altmodische Art tun«, sagte
Kreischende Stille mit einer Stimme wie von einem grunzenden
Schwein. »Sie zerreißen und ihre Hirne verspeisen.«
»Ja«, sagte Höllenfeuer Blau mit einer Stimme, die nach kaltem Wind
klang, wie er durch eine Schlucht brauste. »Oder vielleicht
umschlinge ich sie mit den Armen und liebe sie und sehe mir an, wie
sie in meinen kalten blauen Flammen verbrennen. Sehe mir an, wie
die geschwärzten Gesichter von den ungehorsamen Köpfen
rutschen.«
»Bringen wir sie um«, schlugen die Spinnenharfen mit einer einzigen
staubigen Stimme vor. »Bringen wir den König und den Imperator um,
damit endlich wir hier regieren können.«
»Nein«, entgegnete das Trümmermonster mit verstörend normaler
Stimme. »Etwas stimmt hier nicht. Hier ist noch etwas anderes
zugegen.«
Draußen vor dem Imperialen Palast kämpfte Stuart Lennox gegen die Besessenen, und der Kampf tobte über die lange Zugangstreppe. Zu Anfang hatte er zwanzig Mann Unterstützung gehabt, aber er wagte nicht, sich umzublicken und nachzusehen, wie viele davon noch übrig waren. Die Treppe lief zum oberen Absatz und zum Eingangsportal schmal zu, was Stuart und seinen Männern den Vorteil einbrachte, immer nur gegen eine begrenzte Anzahl Besessener kämpfen zu müssen. Diese stürmten jedoch unaufhörlich an, stiegen über die Leichen ihrer Gefallenen und stürzten sich auf den Feind. Stuart und seine Männer hielten die Treppe durch schiere Wildheit und durch ihre Kampfesfähigkeiten, aber sie wurden langsam gefährlich müde. Stuarts Schwert schien mit jedem Schlag und jeder Parade schwerer zu werden, und ein bedächtiger, heimtückischer Schmerz brannte in Rücken und Schwertarm. Noch nie hatte er in einer Schlacht gekämpft, die so lange dauerte.
Stuart trug seine alte Paragonuniform und Körperpanzerung, und der Purpurumhang wehte stolz. Jas Sri hatte mit Hilfe seiner Medienkontakte die Uniform aufgespürt und Stuart zurückgegeben. (In dieser Zeit des massenhaften Mangels und des Hungers wurde praktisch alles irgendwo zum Verkauf angeboten.) Jas hatte die Uniform geputzt und poliert, als ginge es dabei um sein Leben, und sie Stuart präsentiert, kurz bevor sie den Slum verlassen mussten. Stuart war gerührt, und er und Jas hatten sich lange gegenseitig festgehalten, wohl wissend, dass sie vielleicht zum letzten Mal zusammen waren. Schließlich ließen sie einander los, und Jas half Stuart, die Rüstung anzulegen.
Jetzt hielt Stuart auf dem oberen Absatz der Eingangstreppe die Stellung, während seine Männer ringsherum fielen, und er schwang das Schwert mit wilder und beharrlicher Energie. Er stellte sich überwältigend schlechten Chancen mit einem Lächeln im Gesicht, und zum ersten Mal seit langem fühlte er sich wieder als Paragon.
Nina Malapert trieb sich hinter ihm herum, nahm Deckung hinter dem offenen Eingangsportal und sprang gelegentlich hervor, um mit ihrer echt dicken Knarre einen ganzen Haufen Besessener in blutige Fetzen zu schießen. Ihre Nachrichtenkameras schwebten über der Szenerie und sendeten die Ereignisse live an sämtliche Planeten des Imperiums. Nina sprach dazu atemlos einen fortlaufenden Kommentar, die Pistole in einer Hand und ein Schwert in der anderen, und hielt sich bereit, notfalls vorzustürmen und Stuart den Rücken freizuhalten. Sie machte als Kämpferin nicht viel her, aber wie alle anderen gesunden Slumbewohner hatte sie eine Grundausbildung an Waffen erhalten. Sie war mit allen anderen in die Schlacht gezogen — zum Teil, weil sie verdammt sein wollte, falls sie eine solch gigantische Story verpasste, und teils, weil die Stadt keinen Platz mehr für Zuschauer bot. Nina hatte einige Besessene umgebracht und war bereit, noch mehr zu töten. Aber derzeit hielt sie es für wichtiger, für die Berichterstattung zu sorgen - damit man, unabhängig vom Ausgang der Schlacht, auf den übrigen Planeten wusste, dass wenigstens Logres kämpfend gefallen war.
Sogar Jas Sri, dieser schlanke und zierliche Medientech, hatte sich ein Schwert gepackt und war aus dem Slum in den Kampf gezogen. Mit einem Schwert in der Hand war er für sich eine ebensolche Gefahr wie für andere, aber er kam trotzdem mit, weil er gebraucht wurde. Stuart hatte in aller Stille dafür gesorgt, dass Jas einen Platz in einer der größten Kampfgruppen erhielt - ohne es ihm natürlich zu verraten - aber sie beide wussten, dass man nirgendwo in der Stadt mehr eine sichere Stelle fand.
Die Wahnschlampen schwebten über dem Palast und wahrten eine strikte Formation, während sie untereinander ihre Gedanken verknüpften. Ihre Anführerin Alessandra Duquesne hatte sie entgegen Diana Vertues ausdrücklicher Befehle hierhergeführt, denn so sehr die Schlampen Diana auch anbeteten, hegten sie doch eigene Vorstellungen davon, wie die Schlacht ein für allemal zu beenden war. Sie gedachten, ihre Macht zu ballen und zu vereinen, um die Überesper dann mit allem anzugreifen, was sie hatten. Die Überesper würden so die Verbindung zu den Besessenen verlieren, vielleicht gar verletzt oder vernichtet werden, womit die Invasion gestoppt wäre. Die jungen Damen der Wahnschlampen hatten dieses Vorhaben ernsthaft und ausgiebig diskutiert. Sie wussten, dass einige oder alle von ihnen dabei umkommen konnten, aber sie hatten einen Eid abgelegt, sich ihres Idols Johana Wahn würdig zu erweisen, und dies schien ein Vorgehen zu sein, wie Johana es selbst ausgeführt hätte. Also ballten die Schlampen nun ihre Gedanken, bauten ihre Macht auf und nahmen sie fest in den Griff, bis diese Macht in der Luft ringsherum knisterte. Dann schlugen sie gegen die Überesper im Palast zu.
Der Angriff scheiterte fast sofort. Der Kontakt zu den Gehirnen der Überesper jagte die übersinnliche Gestalt der Wahnschlampen innnerhalb eines Augenblicks auseinander. Die jungen Esperinnen waren einfach nicht vorbereitet auf das Schiere Anderssein der Überesper. Sie hatten keinerlei Vorstellung davon, wie mächtig diese fünf Monster im Verlauf der Jahrhunderte geworden waren. Der Angriff der Wahnschlampen zersplitterte, und die Gedankenscherben flogen ihnen regelrecht ins Gesicht. Ein einzelner Peitschenhieb der Macht durchschlug ihre Abwehr und jagte wie Stacheldraht durch ihre Gedanken. Einige von ihnen wurden verrückt, überschlugen sich in einem fort, während sie davongetrieben wurden, und brüllten und heulten dabei bedeutungslose Worte. Einige brachen in Flammen aus, verbrannten innerlich und äußerlich und stürzten, mit Händen und Füßen um sich schlagend, wie strampelnde Kometen vom Himmel. Drei explodierten einfach zu blutigen Klümpchen. Nur die beiden mächtigsten Gehirne der Wahnschlampen blieben übrig. Alessandra Duquesne und ihre älteste und liebste Freundin Joanna Maltravers. Alessandra wehrte den Gedankenangriff ab, zog sich tief ins eigene Bewusstsein zurück und konzentrierte ihre ganze Macht zu Abwehrschilden. Ihr Körper zuckte vor Schmerz und Entrüstung, aber ihr Verstand blieb bestehen. Als sie endlich spürte, dass der Angriff vorbei war, kam sie hervor und blickte sich wieder in der Welt um, nur um festzustellen, dass Joannas Abwehr versagt hatte. Jemand anderes blickte aus ihren Augen. Ihr Gesicht verzerrte sich, als ein kleiner Rest von ihr gegen das besitzergreifende Bewusstsein ankämpfte, aber sie hatte schon verloren. Joanna zeigte jemand anderes Lächeln und stürzte sich auf Alessandra.
Sie jagten am Himmel über dem Palast hin und her und stiegen und fielen und wirbelten umeinander inmitten Kaskaden pyrotechnischer Kräfte. Sie schlugen mit körperlichen und gedanklichen Angriffen aufeinander ein. Psi-Explosionen zerrissen die Luft. Sowohl Alessandra als auch Joanna erlitten schlimme Wunden. Ihr Blut regnete auf die Schlacht am Boden hinab. Sie warfen Felsbrocken und Steine und sogar Leichen nach einander, und Blitze zuckten aus dem wolkenlosen Himmel. Ein Energieregen entlud sich um sie herum, während die eine danach strebte, in den Kopf der anderen einzudringen. Letztlich gelang es Alessandra, Joannas Abwehr zu überwinden - möglicherweise, weil das besitzergreifende Bewusstsein abgelenkt war durch die Ereignisse im Thronsaal. Alessandra zermalmte das wie verrückt schlagende Herz in der Brust ihrer alten Freundin mit erbarmungsloser psychokinetischer Hand. Joanna schrie einmal auf und fiel dann schlaff und tot vom Himmel. Alessandra stürzte ihr nach und fing Joannas Leiche auf, ehe sie am Erdboden aufschlug.
Sie hielt die geliebte Freundin in den Armen und wiegte sie wie ein schlafendes Kind. Dann legte die Letzte der Wahnschlampen die tote Freundin zur Seite, ging durch die Straßen der Stadt und zerfetzte Besessene mit der Kraft ihres Blickes, während ihr Tränen ruckhaft über die blutbefleckten Wangen liefen.
Besessene tauchten inzwischen überall in der Stadt auf und füllten die Straßen und Plätze. Brüllende Mobs attackierten die Verteidiger an allen Fronten, drängten sich aus allen Richtungen heran, während immer noch mehr über die Stadtgrenzen hereinströmten. Nur ihr Mangel an Waffen und Taktik gab den Verteidigern überhaupt eine Chance. Hin und wieder brach ein Teil der Besessenenarmee einen Kampf ab, um an anderer Stelle wieder anzugreifen - immer dann, wenn ein Überesper fand, dass sich ein anderer zu gut schlug und zu viel Territorium für sich zu erobern drohte. Sie trauten einander nicht und würden es nie tun, nicht mal in dieser abschließenden Schlacht um das Herz und die Seele von Logres.
Mit Millionen Besessenen unter ihrem Befehl erfreuten sich die Überesper inzwischen einer Macht in ganz neuen Dimensionen. Manche Besessene manifestierten im Auftrag des jeweiligen Überespers selbst Esperkräfte. Einige strahlten schreckliche Gefühle aus, sodass die Verteidiger aufschrien und heulten und von Abscheu geschüttelt wurden, ohne den Grund dafür zu kennen. Andere Gedankensklaven erzeugten pyschokinetische Stürme und schleuderten mit deren Hilfe messerscharfe Gegenstände vor sich über die Straßen. Andere sendeten den Verteidigern telepathische Illusionen, Bilder herumtobender Fremdwesen oder Monster oder von Angehörigen, die in furchtbaren Qualen starben. Häuser schienen lebendig zu werden, während grauenhafte Dinge aus einem aufsplitternden Himmel regneten. Zuzeiten gelang es diesen neuen Espern, Einheiten der Verteidiger aufeinanderzuhetzen. Keiner dieser Ersatzesper hielt jedoch lange durch. Sie brannten unter dem Druck schnell aus, manchmal wortwörtlich.
Stets jedoch waren weitere da, um an die
Stelle der Gefallenen zu treten.
Die Verteidiger sahen sich durch den schieren Druck der Übermacht
gezwungen zurückzuweichen. Sie gaben keinen Zentimeter kampflos
auf, und Besessene starben zu Tausenden, zu Hunderttausenden, aber
es reichte nicht.
Langsam und unerbittlich mussten sich die Verteidiger ins Zentrum
zurückziehen, zum Herzen der Stadt, dem Imperialen Palast.
Und in diesem Augenblick traf Lewis Todtsteltzer mit der Kavallerie ein. Die Flotte fegte heulend aus dem Hyperraum hervor und schwenkte mit Verve auf eine Umlaufbahn um den bedrängten Planeten Logres ein. Tausende Pinassen, Gravobarken und Kriegsmaschinen quollen aus den Sternenkreuzern hervor und stießen auf Parade der Endlosen herab, gefolgt von allen möglichen Schiffen von Nebelwelt und Virimonde. Der Morgenhimmel verdunkelte sich, als die Armada sich an ihm ausbreitete. Die Verteidiger am Boden stießen raue Jubelrufe aus und kämpften erneut mit frischer Kraft. Die Pinassen und Schiffe landeten überall in der Stadt und spuckten komplette neue Armeen aus, die schon richtig wütend waren über das, was sie in Ninas Sendungen gesehen hatten, Gravobarken schwebten über den Besessenen, die sich in die Stadt drängten, und zerfetzten sie mit Disruptorkanonen. Kriegsmaschinen trafen Anstalten, sämtliche Zufahrtswege zur Stadt zu blockieren, damit keine zusätzlichen Gedankensklaven mehr eindringen konnten.
Und wie Racheengel stürzten sie sich aus eigener Kraft vom Himmel, umgeben von Heiligenscheinen aus unirdischen Kräften: Lewis Todtsteltzer und Jesamine Blume, Brett Ohnesorg und Rose Konstantin. Wieder zu Hause, um aufzuräumen. Die Besessenen blickten auf, und aus ihren Kehlen drang ein einzelnes Heulen der Wut und des Unglaubens jener fünf Gehirne, die sie steuerten.
Lewis blickte auf die Straßen hinab, wo die Kämpfe tobten, und es machte ihn krank und wütend, so viele Besessene zu erblicken, die sich ihren Weg in die geliebte Hauptstadt von Logres freigekämpft hatten, diese einst berühmte, diese fantastischste Stadt des Imperiums. Er spürte, dass die Gehirne der Besessenen durchweg gelöscht waren und sie kaum mehr waren als wandelnde Tote, die niemand mehr retten konnte, und er wünschte sich nur, er hätte früher nach Hause kommen können. Er stieß auf die Eingangstreppe des Imperialen Palastes hinab, dicht gefolgt von Jesamine, und landete so heftig auf dem unteren Treppenabsatz, dass das Gestein unter seinen Füßen zersplitterte und die Besessenen auf der Treppe wie erschrockene Kinder rückwärts fielen. Jesamine setzte mühelos neben ihm auf, und sie beide schlugen mit ihren vom Labyrinth verstärkten Gehirnen zu. Hunderte Besessener, die sie umstanden, stürzten zu Boden und rührten sich nicht mehr, nachdem die Überesper aus ihren Köpfen gefegt worden waren. Überall in der Umgebung schrien Tausende Besessene vor Hass auf und stürmten heran. Lewis hielt die Stellung und stellte sich ihnen gelassen mit Pistole und Schwert, die lange Stahlklinge zuckte schneller hin und her, als dass irgendeines Menschen Auge ihr hätte folgen können. Sie durchschlug den Körper eines Besessenen in weniger als einer Sekunde, und nacheinander stürzten die Angreifer tot oder sterbend vor Lewis zu Boden. Jesamine war an seiner Seite, achtete auf seine blinden Flecken und schwang ihr Schwert ebenso schnell. Kein Besessener kam ihnen nahe genug, um sie anzufassen.
»Du hättest Opernsänger werden sollen«, sagte Jesamine lässig. »Du verstehst dich wirklich darauf, einen Auftritt hinzulegen.«
»Habe mir nie viel aus Opern gemacht«, entgegnete Lewis und hackte und schlitzte an den Besessenen herum, als ginge es darum, Brennholz herzustellen. »Zu viele gute Leute sterben im letzten Akt.«
Sie ließen sich vom Druck der vielen Leiber die Steinstufen hinauftreiben, bis dorthin, wo Stuart Lennox allein stand, die Uniform zerfetzt und blutig, das Schwert aber noch in vollem Einsatz. Nina Malapert huschte immer wieder hinter ihm heran und jagte mit ihrer Pistole riesige Lücken in die Reihen der Angreifer. Sie sah, wer jetzt die Treppe heraufkam, und quiekste vor Freude und Aufregung. Sie winkte, und ihre Kameras kamen aus allen Richtungen herangeflogen, um gute Bilder zu machen. Stuart nickte Lewis und Jesamine nur zu.
»Schön, Euch wieder hier zu haben,
Todtsteltzer. Fühlt Euch wie zu Hause. Bringt ordentlich
Gedankensklaven um.«
»Danke«, sagte Lewis. »Das kommt mir gelegen.« Hinter ihnen
schüttelte Nina Malapert traurig den
Kopf, als sie bemerkte, dass das alles war, was die beiden zu sagen gedachten. Es war kaum ein Dialog, an den sich künftige Generationen erinnern würden.
Und überall in der Stadt landeten Schiffe und Pinassen dort, wo sie Platz fanden. Soldaten, Kämpfer und Kämpferinnen stiegen aus, Schwerter und Pistolen einsatzbereit. Sie stürmten in die Reihen der wartenden Besessenen, und bald wogten Massen gegnerischer Streiter über alle Straßen und Plätze. Männer und Frauen von Nebelwelt und Virimonde hieben sich ihren Weg entlang der dicht bevölkerten Boulevards frei, erpicht auf Blut und Rache. Sie waren gekommen, um sich Finn Durandal zu holen, aber vorläufig begnügten sie sich damit, einen Teil ihres Grolls an den Besessenen auszutoben. Nirgendwo in Parade der Endlosen fand man noch eine friedliche Stelle, während die beiden Seiten um jeden Quadratmeter der Stadt kämpften. Berühmte Gebäude brannten, und Türme und Brücken, die Kunstwerke darstellten, brachen zusammen. Disruptorfeuer versengte kostbare Mosaiken und erzeugte Brände in geschützten Parkanlagen. Beide Seiten waren zu beschäftigt, um es zu bemerken oder sich darum zu scheren.
Die Ashrai stießen vom Himmel herab, und ihre grotesken Gestalten flogen auf breiten bunten Membranschwingen über die Stadt. Ein Schrei stieg von den müden Verteidigern auf und sogar von einigen der hartgesottenen Slumbewohner:
Seht! Es sind die
Drachen! Owen hat seine Drachen geschickt, um uns zu
helfen!
Irgendwo inmitten der riesigen Ashraiarmee lachte der alte Verräter
namens Carrion leise und ergötzte sich an der Ironie. Dann führte
er sein Volk hinab in die Schlacht, und die Ashrai hämmerten wie
fliegende Rammen durch die Reihen der schutzlosen
Besessenen.
Johann Schwejksam war inzwischen auch in der Stadt. Er war mit
einer Pinasse gelandet, an der Seite seiner Truppen. Die Kapitäne
der Flotte hatten sich redlich Mühe gegeben, es ihm auszureden,
aber er hörte nicht auf sie. Sie wollten, dass er an Bord seines
Sternenkreuzers in Sicherheit blieb, die Strategie festlegte und
Befehle erteilte, aber er wusste, dass sein Platz am Boden war. Von
Anfang an hatte er gewusst, dass er lediglich dem Namen nach
Admiral war, und jetzt empfand er das Bedürfnis, in seine alte
Stadt zurückzukehren, jene Stadt, die er schon so oft im Verlauf so
vieler Jahre verteidigt und gerettet hatte. Erneut war es an der
Zeit, das zu tun, was er am besten konnte: den guten Kampf
auszufechten und dabei einer überwältigenden Übermacht zu trotzen.
Und so übertrug er den Kapitänen Preiß und Vardalos das Kommando
über die Flotte und fuhr mit einer Pinasse nach Parade der Endlosen
hinab, ein Soldat unter vielen. Einige der Soldaten erkannten ihn,
andere nicht, und beides war ihm egal. Er stürmte als Erster aus
der Pinasse und führte den Angriff auf die wartenden Besessenen. Er
schwang das Schwert beidhändig und tötete seine Gegner mit flinken,
geschickt angesetzten Streichen und drängte in einem fort vor. Er
war im Gegensatz zu Owen und den anderen nie fähig gewesen, echte
Wunder zu wirken, aber nach all den langen Jahren fand man wirklich
nur noch wenige Menschen, die seiner Fähigkeit im Umgang mit dem
Schwert standzuhalten vermochten. Nie hatte er sich selbst als Held
oder Legendengestalt betrachtet oder auch nur als Krieger; vielmehr
hielt er sich nur für einen guten Soldaten, der entschlossen seine
Pflicht tat und sich dabei um nichts anderes scherte. Sein Schwert
rammte in Leiber hinein und trat wieder aus und stand nie still. Er
fühlte sich wieder wie in den alten Zeiten.
Investigator Frost war direkt neben ihm, dort, wo sie
hingehörte.
Die Kapitäne Preiß und Vardalos besprachen miteinander drängende
Fragen und wiesen dann die Sternenkreuzer der Flotte an, auf die
tiefstmögliche Umlaufbahn hinabzusinken und dabei schon in die
Atmosphäre des Planeten einzudringen. Da die KIs der Schiffe nicht
funktionierten, mussten die Besatzungen die Zielerfassungslektronen
selbst bedienen, um anschließend mit den Disruptorkanonen der
Schiffe ganze Gegenden rings um die Stadt zu sengen. Die riesigen
Heere der Besessenen dort verschwanden innerhalb von Sekunden,
wurden in leuchtenden Staub verwandelt. Somit konnten die
Gedankensklaven in der Stadt nicht mehr mit Verstärkung rechnen.
Allerdings gab es von ihnen so furchtbar viele, und noch
zusätzliche Kräfte waren schon in die Stadt eingedrungen. Die
Schiffskanoniere zielten und feuerten weiter. Es war eine für die
Sternenkreuzer gefährliche Prozedur. Eine solche Schusspräzision
verlangte, tief innerhalb der Atmosphäre zu fliegen, und dazu waren
Sternenkreuzer nicht konstruiert. Es war nur eine Frage der Zeit,
bis sie zerbrachen. Sie feuerten jedoch weiter, denn sie wurden
gebraucht.
Die Überesper schlugen zurück, wandten ihre Kraft gegen die
tieffliegenden Kreuzer, verwünschten deren technische Anlagen und
griffen die Crews an. Anlagen versagten, aber in der ganzen Flotte
stürzten Lektronen ab. Brände tobten in engen Stahlkorridoren, und
Luftschleusen öffneten sich spontan, sodass Druck aus den Schiffen
entwich. Manche Besatzungsmitglieder wurden durch den Kontakt mit
den Überespern wahnsinnig und gingen aufeinander los. Verrückt,
obgleich nicht besessen, liefen sie Amok und kämpften wild um die
Vorherrschaft in den einzelnen Abteilungen, Sektionen und Hangars.
Die Kapitäne mussten Schlafgas in die betroffenen Sektionen lenken,
um die Ordnung wiederherzustellen. Sie errichteten interne
Kraftfelder, um das Schlimmste zu verhindern, und zogen sich
widerstrebend auf höhere Umlaufbahnen zurück, wo die Überesper sie
hoffentlich nicht mehr erreichen konnten. Sie hatten getan, was sie
konnten. Jetzt lag der Rest an den Bodentruppen.
Auf einem Schiff, der Herold, wurde die
gesamte Mannschaft irre. Sie alle, vom untersten Matrosen bis zu
Kapitän Glenn Lyle, rannten wie verrückt durch den Sternenkreuzer.
Geheul und Geschrei wurde auf ihren Funkkanälen übermittelt, als
ginge es von den Verdammten in der Hölle aus, und niemand war
überrascht, als die Herold das Feuer auf
die Schiffe in ihrer Nähe eröffnete. Disruptorkanonen hämmerten auf
die Schutzschirme schon geschwächter Schiffe ein. Ein Dutzend
Unterstützungsschiffe von Nebelwelt und Virimonde wurden innerhalb
weniger Augenblicke weggepustet. Die Herold schlug in ihrem Wahnsinn wild um sich und
bedrohte die gesamte übrige Flotte. Nur Kapitän Alfred Preiß sah
sich in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.
Sein Schiff, die Verwüstung, hatte seitens
der Herold die schwersten Schläge
eingesteckt und war schon verkrüppelt. Die Schutzschirme versagten;
der Rumpf war an mehreren Stellen durchlöchert, und Preiß besaß
keine Verfügungsgewalt mehr über die Geschütze. Die meisten
Crewmitglieder waren auf dem Planeten gelandet, und die verbliebene
Rumpfmannschaft war entweder tot oder rannte zu den Fluchtkapseln.
Preiß hatte befohlen, das Schiff zu verlassen, saß jedoch selbst
immer noch auf dem Kommandositz der verlassenen, ausgebrannten
Brücke, umgeben von den schwelenden Überresten der Konsolen und den
Leichen seiner Offizierskameraden. Immerfort musste er sich Blut
wegwischen, das ihm aus einer schweren Kopfwunde in die Augen lief,
und er glaubte, dass er sich einen der Arme gebrochen hatte. Die
Herold hatte an seinem Schiff wirklich
gründliche Arbeit geleistet. Preiß lachte plötzlich und erhob sich
schwankend vom Kommandositz. Er plumpste auf den Stuhl des
Navigators, entlockte den Triebwerken alles an Energie, was ihnen
verblieben war, und richtete sein Schiff auf die Herold aus. Dieses eine Mal gab es an seiner
Pflicht nichts zu deuteln, und er fühlte sich nun endlich wie ein
richtiger Kapitän. Er wünschte nur, es wäre noch jemand dagewesen,
der es miterlebt hätte. Er verfolgte, wie das Schiff der Irren auf
dem Brückenmonitor heranrückte und sich nicht mal die Mühe machte,
ihm auszuweichen, und er lachte erneut. Er lachte immer noch, als
die Verwüstung mit dem Bug voran in die
Herold hineinkrachte, wobei die
Schutzschirme in einer Lichtorgie zerfetzt wurden. Beide Schiffe
bohrten sich ineinander und explodierten. Die fest verbundenen
Wracks schlugen daraufhin bedächtige Purzelbäume auf Logres zu und
leuchteten dabei von explodierenden Energien.
Kapitän Vardalos übernahm nun die alleinige Befehlsgewalt und
gruppierte die Reste der Flotte auf einer hohen Umlaufbahn neu. Sie
wünschte sich, ihr hätten Schiffsesper zur Verfügung gestanden, wie
es früher mal gewesen war. Der Angriff der Überesper schien
vorläufig beendet, aber sie hatte keine Ahnung, ob nicht ein neuer
erfolgen würde. Niemand wusste im Grunde etwas, so weit es um die
Überesper ging.
Lewis Todtsteltzer und Jesamine Blume kämpften auf dem oberen
Treppenabsatz vor dem Palasttor Seite an Seite und sie wirkten mit
Schwert und Pistole dunkle Wunder. Niemand hatte seit Owens Zeiten
mehr solche Kämpfer erlebt. Kein Besessener vermochte sie zu
erreichen, ungeachtet ihrer gewaltigen Anzahl. Stuart Lennox war
ebenfalls da, müde, aber zäh. So dankbar er für Lewis' und
Jesamines Hilfe war, fand er ihre unermüdliche Geschicklichkeit und
Wut allmählich unheimlich. Lewis' Schwert stieg und fiel, schnitt
und hackte, und niemand konnte ihm mit dem Blick folgen, während er
die Leichen Besessener zur Seite warf, als wären sie gar nichts.
Jesamine wirbelte und tanzte so schnell und tödlich wie eine
zubeißende Schlange, nur viel schöner. Der Tod hatte noch nie
glamouröser oder gewisser ausgesehen.
Die Toten häuften sich auf beiden Seiten und bildeten eine
Barrikade, sodass die Besessenen nur noch in schmaler Kolonne die
Treppe hinauf angreifen konnten. Sie kletterten unbekümmert über
die Toten auf der Treppe, und in ihren besessenen Augen flammte
ungestillte Wut. Sie erzeugten nach wie vor Laute, die jedoch
nichts Menschliches mehr an sich hatten. Sie benutzten die bloßen
Hände wie Krallen, Tieren gleich. Nina feuerte nach wie vor
gelegentlich mit ihrer echt dicken Knarre, wenn der Mob besonders
nahe zu kommen drohte, aber dem Energiekristall ging allmählich die
Ladung aus. Die von den Schwebekameras übermittelten Bilder nahmen
alles auf. Aber eine Frage nagte trotzdem an Ninas Gedanken, und
schließlich beugte sie sich einfach vor und platzte damit
heraus.
»Lewis! Wo steckt Owen? Wird der selige Owen zu unserer Rettung
eilen?«
»Nein«, antwortete Lewis, während sein Schwert die Brust eines
Besessenen komplett durchschlug. »Owen ist anderswo beschäftigt.
Ihr werdet Euch mit mir begnügen müssen.«
Die Besessenen stürmten weiter die Treppe herauf, eine massive
Welle aus Wut und Hass, verzweifelt darauf bedacht, Hand an Lewis
und Jesamine zu legen und sie herabzuzerren. Nina schoss direkt in
die Menge, doch das bremste diese nicht mal. Lewis, Jesamine und
Stuart hielten oben an der Treppe die Stellung, und die Welle aus
Besessenen brach sich an ihnen wie das Meer an unerschütterlichem
Felsgestein. Nach allem, was Lewis und Jesamine durchgemacht
hatten, nach all den Gefahren, die sie überstanden hatten, waren
die Besessenen vielleicht harte Arbeit, aber einfach nicht Furcht
erregend. Stuart Lennox erlebte, wie sein alter Stolz erwachte, und
war wieder der erwählte Paragon von Virimonde. Er stand stolz neben
seinem Helden Lewis, so unüberwindlich wie nur irgendein
Überlebender des Labyrinths.
Der Druck der Angreifer ließ tatsächlich nach, als den Überespern
klar wurde, dass weit mehr als zahlenmäßige Stärke erforderlich
war, um diese drei niederzukämpfen. So gingen die Überesper mit
ihren Kräften bis an ihre Grenze, und die angreifenden Besessenen
entfalteten unvermittelt Esperfähigkeiten. Sie hielten zwar jeweils
nur wenige Minuten durch, ehe sie vollständig verbrannten, verzehrt
von genau den Kräften, die sie eingesetzt hatten. Doch sie konnten
Feuer und Schutt auf die Verteidiger werfen und sie mit
übersinnlichen Angriffen ins Wanken bringen. Diese Angriffe
schienen nie einen richtigen Brennpunkt zu finden oder richtig ins
Ziel zu treffen, als verstünden die Überesper einfach nicht, wozu
sich Lewis und Jesamine entwickelt hatten. Stuart hielt nur den
Kopf eingezogen, und die übersinnlichen Angriffe fielen beinahe so
schnell in sich zusammen, wie sie begonnen hatten.
Soldaten strömten jetzt aus den Nebenstraßen, begleitet von
Kriegern der Planeten Nebelwelt und Virimonde. Sie erblickten die
drei vor dem Palasteingang und die rings um sie aufgehäuften
Leichen und stimmten ihren Schlachtruf an:
Todtsteltzer! Todtsteltzer!
Todtsteltzer!
Die neuen Streiter und die Besessenen prallten am Fuß der Treppe
aufeinander, und auf dem Platz vor dem Palast wimmelte es bald von
kämpfenden Gestalten. Das Chaos regierte, und die Leute schlugen
blindlings in alle Richtungen. Jesamine Blume senkte das Schwert
und erhob die Stimme. Sie sang, und alle ihre Labyrinthkräfte
ballten sich in der geschulten Stimme. Das Lied übertönte jeden
anderen Laut und stieg immer weiter an, bis es schien, dass es
überall in der Stadt zu vernehmen war. Es war ein altes Lied aus
den frühen Tagen des Imperiums und vielleicht aus noch älterer
Zeit. Es kündete von der Freude und Verantwortung, den Pflichten
und Triumphen des Menschseins. Jesamines Stimme klang wie Stahl,
Silber und Seide in der reglosen Luft, ein reiner und
durchdringender Klang. Es schien, dass die ganze Stadt innehielt
und lauschte. Verteidiger und Besessene erstarrten an Ort und
Stelle. Und dann fielen die Ashrai in das Lied ein. Es war eine
Hymne an das Leben und den Segen der Menschlichkeit. Von überall in
der Stadt kamen Stimmen hinzu, bis sogar die Luft von der Macht
dieses Liedes vibrierte.
Und einer nach dem anderen und schließlich zu Dutzenden brachen die
Gedankensklaven zusammen, blieben schlaff am Boden liegen und
standen nicht mehr auf. Es geschah überall auf den Straßen und
Plätzen und den überfüllten blutigen Stätten rings um den
Imperialen Palast. Das Lied Jesamines, der Ashrai und der Menschen,
die gekommen waren, um eine Stadt und einen Planeten zu retten,
wies eine Stärke und Kraft auf, der nicht einmal die Überesper
standzuhalten vermochten. Ihre Gedanken wurden aus den Besessenen
hinausgeworfen, und das Gelände rings um den Palast verschwand
förmlich unter den lebenden, aber leeren Hülsen derer, die einst
Männer und Frauen gewesen waren.
Aber Jesamine konnte nicht ewig weitersingen, und schließlich
versagte sogar ihr die Stimme. Und ohne ihre Leitstimme verloren
die Ashrai und die übrigen Sänger den Faden. So setzte sich der
Kampf überall in der Stadt fort, vielleicht sogar ein wenig
grausamer als zuvor.
Als Brett Ohnesorgs Pinasse landete, empfand er als Erstes den
Impuls, in die Sicherheit des Slums zu flüchten und dort
unterzutauchen, bis die Kämpfe vorbei waren. Er kannte dort alle
möglichen Verstekke, wo ihn selbst seine ältesten Freunde und
Feinde nicht gefunden hätten. Die schiere Masse der Besessenen,
denen er sich gegenübersah, machte jedoch sofort deutlich, dass
eine Flucht nicht möglich war. Er wäre keine zehn Schritte weit
gekommen. Brett wimmerte, fluchte auf alles und jeden und zog seine
Waffen. Rose Konstantin hatte ihre Waffen schon gepackt, ehe die
Pinasse richtig gelandet war. Sie sah die Armee der Besessenen vor
ihr, die nach ihrem Blut lechzten, und lächelte breit. Sie wog das
Schwert einmal in der Hand und näherte sich dem Feind, als liebte
sie ihn.
Wenig später kämpften Brett und Rose Rücken an Rücken. Sie waren
von den Kämpfern getrennt worden, mit denen sie gelandet waren.
Rose hielt sich nicht im Mindesten zurück, während sie ihre blutige
Bahn durch die Reihen der Besessenen zog, und Brett hatte
entsetzliche Angst, auch noch von ihr getrennt zu werden. Die
Gezeiten der Schlacht trugen sie weit vom Imperialen Palast fort.
Brett sah sich, wenn er überleben wollte, gezwungen, auf alles an
Kampfesfertigkeit zurückzugreifen, was er von Rose gelernt hatte.
Eine Zeit lang kämpften sie beide gut und elegant und streckten
jeden Besessenen nieder, der in ihre Reichweite gelangte. Beide
waren sie schneller und stärker, als irgendein Mensch hätte sein
dürfen, und kein Gedankensklave vermochte ihnen auch nur einen
Augenblick lang das Wasser zu reichen.
Aber Brett sah Soldaten sterben, die von den Besessenen zu Boden
gezerrt und zerrissen wurden, und der ausgeliehene Mut und die
Fertigkeiten konnten die wachsende Gewissheit nicht abwehren, dass
ihn ungeachtet der Wilden Rose an seiner Seite die Besessenen
letztlich erwischen würden. Es waren einfach zu viele. Kein
Fluchtweg stand ihm offen. Er wusste, dass allein seine Fähigkeiten
allein nicht reichen würden. Also tat er widerstrebend das Eine,
was ihm am meisten Angst machte. Mit Bedacht öffnete er aufs Neue
die alte Gedankenverbindung zu Rose und nutzte seine
Esperzwingkraft, um ihrer beider Gedanken fest zu vereinen, damit
er an dem wilden Irrsinn teilhaben konnte, der Rose zu so einer
unbesiegbaren Kämpferin machte. Ihrer beider Hirne öffneten sich
und wurden eins; sämtliche Teile fielen an die richtigen Stellen,
sodass eine einzelne größere Struktur entstand. Rose lachte laut,
ergötzte sich am Gefühl seiner Gedanken in ihren und ihrer in
seinen. Sie beide wussten alles voneinander; jeder kannte die
Fertigkeiten und Geheimnisse des anderen. Der ganze Vorgang war
innerhalb einer Sekunde abgeschlossen, und auf einmal sahen sich
die Besessenen mit einer neuen Gefahr konfrontiert: zwei
übermenschlichen Kämpfern, die wie einer fochten. Gleichermaßen
geschickt, gleichermaßen grausam.
Brett und Rose schlugen mit unmenschlicher Schnelligkeit und
Geschicklichkeit um sich und wirkten dunkle Wunder der
Schwertkunst, häuften dabei Leichenberge um sich an, sodass die
Besessenen über die eigenen Gefallenen steigen mussten, um ihre
Feinde zu erreichen. Die Überesper betrachteten Brett und Rose
durch die in Besitz genommenen Augen und mussten die Blicke
abwenden, da diese beiden so hell und heftig leuchteten. Die
Überesper zogen Besessene von anderen, geringeren Gefahren ab und
befahlen ihnen, Brett und Rose um jeden Preis zu
überwältigen.
Brett und Rose setzten mit den Körpern den Kampf fort, aber geistig
waren sie anderswo. Der Vorgang, den sie eingeleitet hatten,
schritt weiter voran. Ihre Gedanken öffneten sich immer mehr,
verwoben sich dabei auf jeder Ebene miteinander, verschmolzen zu
einem einzigen unglaublichen Bewusstsein - das sowohl männlich als
auch weiblich war, eine Persönlichkeit, die in beiden Körpern
simultan handelte. Was die Überesper durch Zwang erreichten,
lernten Brett und Rose aus freien Stücken zu vollbringen. Der von
Finns Esperdroge eingeleitete und vom Labyrinth des Wahnsinns
fortgesetzte Vorgang gelangte jetzt in einem einzelnen Bewusstsein
zur Blüte, das viel mehr darstellte als die Summe seiner Teile. Es
war eine Fusion des Besten und des Schlechtesten aus zwei Köpfen -
all das Wissen, die Erfahrungen und Erinnerungen zweier Personen,
die eins geworden waren. Es war etwas Neues, und BrettRose
erwachten lächelnd.
Ihr vereinter Wille ging wie ein Hammerschlag auf die Besessenen
nieder und wirbelte sie tot und zerstört davon. BrettRose blickten
sich um, und weitere Besessene wurden vom Druck ihres Blickes
davongeschleudert, sodass ein weiter freier Platz rings um die
beiden Körper mit dem einzelnen Bewusstsein entstand. Die Überesper
schlugen mit einem telepathischen Angriff zurück, den sie durch
ihre Gedankensklaven bündelten, aber er prallte harmlos von den
Abwehrschilden der neuen Kreatur ab. Die Überesper schraken vor
diesem neuen Ding zurück und stellten entsetzt fest, dass sich eine
tief vergrabene Erinnerung rührte. Die Besessenen wandten sich ab
und ergriffen die Flucht. Sie ließen BrettRose allein auf einem
leeren Platz zurück, umgeben nur von den Toten. Sie senkten langsam
die Schwerter, und ihr Atem beruhigte sich. Ihre vielen Wunden
heilten langsam, aber gleichmäßig.
Nikki Sechzehn, jener stolze und resolute
MenschFremdwesen-Mischling, rannte in diesem Augenblick zusammen
mit einem Dutzend Mitkämpfer auf den Platz. Sie waren unterwegs zum
Palast, angelockt von Jesamines Lied. Nikki blieb stehen, als sie
Brett und Rose erkannte, und schenkte Brett ein Lächeln, aber dann
zögerte sie. Brett war anders geworden. Sie spürte es richtig. An
ihm war ... mehr. Brett und Rose blickten Nikki im selben
Augenblick und auf die gleiche Art an, und Nikki wich vor ihnen
zurück. Sie hatte Angst, wusste aber nicht warum. Sie lief ihren
Kameraden nach und verließ den Platz wieder. Sie wusste nicht mal
richtig, wovor sie eigentlich flüchtete. Außer dass sie ein Gefühl
hatte ... als wäre Brett tot. Oder zumindest
fortgegangen.
Gil Akotai führte seine Krieger von Nebelwelt durch die Straßen,
und mit List spalteten sie die Heerscharen der Besessenen in
Gruppen auf, um leichter mit ihnen fertig zu werden. Nebelweltler
wussten alles über Strategie und schmutzige Tricks im Krieg. Gil
führte das lange Krummschwert in lässigen, ausgreifenden Hieben und
schonte dabei seine Kräfte, wiewohl er seine Leute aus der
vordersten Reihe heraus anführte. Immer mehr Kämpfer schlossen sich
ihm an, als die Nachricht von seinem Erfolg die Runde machte, und
bald führte er eine ausgewachsene eigene Armee durch Parade der
Endlosen. Seiner Kampffertigkeit und seinem Mut konnte niemand das
Wasser reichen. Er schuf sich durch kühne, ja regelrecht wagemutige
Taten an diesem Tag eine persönliche Legende, die umso
eindrucksvoller war, als sie von einem einfachen Menschen kündete,
unberührt von den zweifelhaften Segnungen, wie sie das Labyrinth
des Wahnsinns spendete. Die Nebelweltler stimmten Gil Akotais Namen
als Schlachtruf an, und andere griffen ihn auf, während Gil sie
unaufhaltsam ins Stadtzentrum führte. Kameras schossen aus allen
Richtungen heran, um es live zu senden. Auf Welten im ganzen
Imperium verfolgten Menschen Gils Taten, denn er war einer von
ihnen, keine Legendengestalt, kein Monster aus dem Labyrinth - nur
ein Mann mit dem Mut und der Entschlossenheit eines Menschen. Gil
Akotai führte seine Leute immer weiter, schlug dabei eine blutige
Schneise durch das Chaos und näherte sich dem Imperialen
Palast.
Johann Schwejksam, letzter Überlebender aus den Reihen derer, die
mit seiner Pinasse gelandet waren, traf mit den Klongardisten
zusammen und übernahm das Kommando. Ohne Offiziere, die sie
führten, brachten sie nicht viel zustande, aber sie erkannten
Schwejksams natürliche Autorität und übernahmen seine Taktik und
seine Befehle dankbar. Schwejksam konnte sehen, dass sie Klone
waren, wusste aber nicht, welchen Ursprungs. Sie trugen noch immer
die Stahlmasken. Aber sie waren eine Kampftruppe und damit genau
das, was Schwejksam brauchte, sodass er keine allzu tiefgehenden
Fragen stellte. Er ordnete einfach ihre Reihen, führte sie in die
Schlacht und leitete sie dabei zu solider und guter Arbeit an. Das
Labyrinth hatte ihm vielleicht keine Wunderkräfte verliehen wie
Owen und den anderen, aber er war immer noch der größte Soldat
seiner Zeit. Er hatte sogar einmal Mann gegen Mann Owen
Todtsteltzer gegenübergestanden und sich gut gehalten. Die
Besessenen waren keine Gegner für ihn. Er blickte ihnen in die
besessenen Augen und fühlte sich an seine lange zurückliegenden
Schlachten gegen die Geisterkrieger von Shub erinnert. Nichts ändert sich, dachte er leicht verbittert.
Die Geisterkrieger lagen wirklich lange zurück, aber er selbst
fühlte sich nicht alt. Tatsächlich schien ihm, dass er selbst noch
nie besser gekämpft hatte als hier und jetzt.
Er äußerte sich entsprechend Investigator Frost gegenüber, und sie
pflichtete ihm lächelnd bei. Sie blieb eng an seiner Seite und
warnte ihn vor Gefahren, die er übersah.
Schwejksam und seine Klongardisten erreichten die Palasttreppe nur
kurze Zeit nach Jesamines wunderbarem Lied; er führte seine Leute
vorsichtig zwischen den gefallenen Besessenen hindurch zum Fuß der
Treppe. Nina entdeckte ihn, schrie ihm einen munteren Gruß zu und
sprang die Treppe hinab, um ein schnelles Interview mit diesem
neuen Kommandeur der Garde zu führen. (Lewis und Jesamine hatten
ein Interview schon verweigert, und Stuart fand nie viele Worte.)
Sie blieb jedoch abrupt stehen und wurde von einem der Gardisten
abgelenkt. Ihm war die Stahlmaske im Kampf heruntergerissen worden.
Zum ersten Mal hatte Nina den Blick in eines der Klongesichter
frei. Und trotz der verzerrten Züge entdeckte sie sofort Finns
Gesicht wieder. Sie drehte sich rasch um und riss einem weiteren
Gardisten die Maske herunter.
»Klone!«, rief sie. »Finns Klone - sie alle! Wieder eine
Exklusivstory!«
Und sie führte direkt vor einem verwirrten Schwejksam ihren
Freudentanz auf. Dann sprang sie wieder die Treppe hinauf, um
Stuart die Nachricht zu übermitteln. Dabei vergass sie ganz das
Interview mit diesem ernst blickenden Mann, der die Gardisten auf
den Vorplatz geführt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn
kennen sollte, aber das konnte warten. Außerdem, dachte sie bei
einem kurzen Blick zurück, schien er furchtbar vertieft in ein
Schwätzchen mit jemandem, der gar nicht da war ...
Anderswo in der Stadt hatten sich die Fremdwesen aus dem Slum
ebenfalls in den Kampf gegen die Invasion der Besessenen gestürzt.
Sie tauchten an unerwarteten Stellen auf, um ahnungslose
Gedankensklaven zu zerreißen und umzubringen, und hatten dabei
einen Riesenspaß. Unter dem Kommando des silbergepanzerten Toch'Kra
brodelten sie aus Kanaldeckeln und Abwasserleitungen hervor,
stürzten sich aus vernagelten Fabriken und Müllkippen, überraschten
die Besessenen und zerfetzten sie. Die Fremdwesen wussten nicht,
dass ihre Opfer hirngelöscht waren, und es scherte sie auch nicht.
Sie hatten einen Groll auszutoben und waren außerdem hungrig.
Manchmal musste man sie daran hindern, auch die Klongardisten und
die Soldaten der Flotte anzugreifen. Die Slumbewohner bejubelten
die Fremdwesen, was für Letztere eine neue Erfahrung war.
Die Monster von Shandrakor fühlten sich bald zu den Fremdwesen
hingezogen und kämpften an deren Seite. In ihrer Gesellschaft
fühlten sie sich heimischer, obwohl sie höflich ablehnten, wenn sie
aufgefordert wurden, sich am Festschmaus zu beteiligen. Die Monster
erwiesen sich als überragende Kämpfer wider die Besessenen - was
teilweise an ihrer tierhaften Natur lag, geschärft durch lange
Jahre des Überlebenskampfes auf Shandrakor, aber vor allem daran,
dass sie nichts zu verlieren hatten. Man hatte ihnen versprochen,
dass sie heimkehren durften, und hier waren sie. Gut, der Planet
hieß nicht mehr Golgatha, sondern Logres, aber diese Stadt war
immer noch Parade der Endlosen, genau so, wie sie in ihrer
Erinnerung war. Selbst wenn man die Stadt seither ein bisschen
bunter gestaltet hatte. Sie waren wieder zu Hause, und falls sie
nur zurückgekehrt waren, um zu kämpfen und zu sterben, so fanden
sie das auch okay.
Michel du Bois, einer der wenigen überlebenden Abgeordneten des
Parlaments, stand in einer Nebenstraße, die schon von Toten
verstopft war, mit dem Rücken zur Wand. Die meisten Krieger von
Virimonde, mit denen er gelandet war, waren schon gefallen, aber er
und ein Dutzend weitere kämpften immer noch und widersetzten sich
hartnäckig jedem Bestreben, sie zu zerreißen wie die anderen. Du
Bois stieß im Singsang den alten Todtsteltzer-Schlachtruf Shandrakor! aus, während er das Schwert schwang und
dabei mehr Trotz als Fertigkeit demonstrierte. Du Bois war seinem
Heimatplaneten von jeher in leidenschaftlicher Treue verbunden,
wenn auch nicht immer dessen berühmtem Paragon Lewis; als jedoch
Finns Kreaturen den Clan Todtsteltzer abgeschlachtet hatten,
schworen sämtliche Bewohner Virimondes, nun selbst Todtsteltzers zu
werden, und du Bois nicht weniger als die anderen. Er gehörte zu
den ersten Freiwilligen, die sich für den Kampf auf Logres gemeldet
hatten, obwohl er viel eher Politiker war als Krieger. Er fand,
dass er sich alles in allem ganz gut schlug. Er hatte Besessene
getötet. Er bedauerte nur, dass er in einer solchen verwahrlosten
Nebenstraße fallen sollte, so weit entfernt vom Parlament und dem
Imperialen Palast, den Schauplätzen für einen so großen Teil seines
Lebens.
Er hatte sich gewünscht, diese Bauwerke wenigstens noch einmal zu
erblicken, ehe er starb.
Einer nach dem anderen wurden die Männer und Frauen um ihn
niedergezerrt und umgebracht. Jeder und jede einzelne von ihnen
kämpfte bis zum letzten Atemzug. Sie standen einer unüberwindlichen
Übermacht gegenüber, wie es einem Todtsteltzer auch angemessen war,
und keiner von ihnen floh. Also tat Michel du Bois es auch nicht.
Als er schließlich fiel und dabei immer noch mit dem Schwert um
sich schlug, lautete sein letzter Gedanke: Ah,
Lewis, ich wusste von jeher, dass Ihr noch mein Tod sein
würdet!
Die ganze Stadt war ein Schlachtfeld geworden. Die Invasion der
Besessenen war durch den Einsatz der Sternenkreuzer vor der Stadt
zum Stillstand gebracht worden, aber die schon eingedrungenen
Gedankensklaven wogten nach wie vor über die Straßen von Parade der
Endlosen. Die Gezeiten der Schlacht liefen mal in die eine, mal in
die andere Richtung, und abgesehen von einer kleinen Zone rings um
den Imperialen Palast konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, wie
der Kampf ausgehen würde.
Im Thronsaal schleuderten die fünf versammelten Überesper die volle Kraft ihres beachtlichen Willens auf Douglas Feldglöck und Finn Durandal, und erneut scheiterten sie. Sie drangen einfach nicht zu den beiden Männern durch, die vor ihnen standen. Die Überesper blickten einander verdutzt an. Kein EspBlocker hätte jemals einem solchen Angriff standhalten dürfen. Und dann erklang kaltes, raues Lachen von irgendwo aus der hohlen Luft. Die Köpfe der Überesper flogen herum. Kreischende Stille zitterte heftig und rasselte mit den Ketten, und Höllenfeuer Blau stöhnte leise. Der Graue Zug verlor einen Augenblick lang tatsächlich die Kontrolle über seine staubige Gestalt. Sämtliche Überesper kannten dieses Lachen. Und während sie sich panisch umblickten, trat Diana Vertue gelassen hinter Finns Thron hervor und fixierte sie alle mit ihrem grausamen Blick.
»Ich bin schon die ganze Zeit hier«, erklärte
sie geradeweg. »Versteckt hinter den stärksten Abwehrschirmen, die
ich je erschaffen habe. Ich bin zusammen mit Douglas und Tel hier
hereinspaziert, und niemand hat mich gesehen oder gehört. Selbst
die beiden konnten nicht sicher wissen, dass ich sie begleitete.
Sie mussten mir einfach vertrauen. Seht Ihr, Douglas und Finn waren
der Köder, aber ich bin die Falle. Ich wusste, dass Ihr mir nie
freiwillig entgegengetreten wärt, obwohl Ihr mich einmal habt töten
können. Also haben Douglas und ich einen Plan entworfen, der Euch
zu mir führen sollte. Und ratet mal
- ich habe ein paar Freunde mitgebracht!«
Sie erhob sich in die Lüfte, schwebte auf ungesehenen Schwingen über dem Thron, und auf einmal leuchtete sie hell wie die Sonne. Ihre Präsenz floss zusammen mit der Präsenz vieler anderer Geister, die sich drückend auf die Luft im Thronsaal legte. Sogar Douglas und Finn wichen vor ihr zurück. Die Überesper heulten und kreischten mit unmenschlichen Stimmen, als sich Diana Vertue in einen Leiter für all die Kraft des Massenbewusstseins der Überseele entwickelte. Diana lachte erneut.
»Die Überseele ist zurückgekehrt! Die Stadt Neue Hoffnung ist zusammen mit der Flotte von Nebelwelt eingetroffen, ungesehen und unerwartet. Nur ich wusste davon. Eine geheime Waffe, die für genau diesen Augenblick bewahrt und bereitgehalten wurde. Ihr Überesper seid alles, was von einer besonders schändlichen Episode unserer Geschichte übrig geblieben ist, und endlich werden wir uns von Euch befreien!«
Die Überesper wollten die Flucht ergreifen und aus dem Thronsaal teleportieren, aber Diana Vertue hielt sie fest. Und die Überseele griff die Überesper durch Diana an, die zuzeiten immer noch Johana Wahn war. Die entsetzliche, zerstörerische Kraft hämmerte auf die monströsen Gehirne der Überesper ein und zwang sie, ihre Kräfte zu vereinen, damit sie ihren Gedankenschirm aufrechterhalten konnten. Douglas und Finn sahen sich gezwungen zurückzuweichen, unfähig, auch nur die Nebenwirkungen des übersinnlichen Angriffs zu verkraften, der vor ihnen ablief. Sie drängten sich zusammen, drückten sich hilflos die Hände an die Köpfe - sie, die einzigen verbliebenen menschlichen Seelen auf einem unmenschlichen Schlachtfeld. Die Überseele hielt den Druck aufrecht und schlug brutal auf den Abwehrschirm der Überesper ein, entschlossen, die von diesen verrückten Gehirnen ausgehende Gefahr ein für alle Mal zu vernichten. Diana Vertue grinste wie ein Totenschädel, während sich der Angriff durch ihr verstärktes Bewusstsein bündelte. Das war es, wofür sie zurückgekehrt war. Um Rache für ein altes Verbrechen zu üben.
Die Überesper drängten sich zusammen, während ihr Abwehrschirm zitterte und rissig wurde und unter dem Ansturm der Überseele und Diana Vertues allmählich versagte. Und dann ... geschah etwas völlig Unerwartetes. Die staubige graue Gestalt des Grauen Zuges brach zusammen, verlor ihre menschlichen Umrisse und verwandelte sich in eine graue Wolke, die sich um Höllenfeuer Blau legte und in ihr versank und dabei die leichenblasse Haut verdunkelte. Eisige Flammen umzüngelten sie. Das Trümmermonster schwankte fast unwillkürlich vorwärts; seine Körperteile tauchten mit schwindelerregendem Tempo mal auf, mal verschwanden sie wieder, bis er ebenfalls in Höllenfeuer Blau hineinstürzte wie ein Stein in einen Teich, der innerhalb eines Augenblicks verschluckt und absorbiert wurde. Kreischende Stille machte einen Satz vorwärts und grunzte dabei wie ein Schwein am Futtertrog; ihr mächtiger fleischiger Körper wickelte sich um Höllenfeuer Blau. Die Flammen leuchteten grell auf und strahlten eine unmögliche Kälte aus, als die beiden Gestalten verschmolzen und zu einer wurden. Die dunkle Silhouette einer menschlichen Gestalt zeichnete sich ab wie ein Loch in der Welt. Und schließlich platzten die beiden verschrumpelten Homunkuli der Spinnenharfen wie eine Seifenblase und verschwanden aus dem Dasein. Nur eine einzige Gestalt blieb übrig, umhüllt von eisigen Flammen, wie eine Tonfigur, die im Darrofen getrocknet wurde. Dann war alles vorbei, und die kalten Flammen erstarben. Eine einzelne Gestalt blieb zurück, eine kleine blonde Frau, die wie die Sonne leuchtete. Diana musterte sie ausdruckslos, während die Überseele ihren Angriff abschaltete.
»Wer zum Teufel seid Ihr? Wo sind die
Überesper geblieben?«
»In mir, wo sie hingehören«, antwortete die neu aufgetauchte Frau
in flachem, bedächtigem Tonfall. Sie drehte den Kopf und beugte die
Schultern, als läge es lange zurück, dass sie zuletzt in einem
Körper gesteckt hatte. »Ich sollte Euch und der Überseele danken,
Diana Vertue. Der Druck Eures Angriffs hat bewirkt, was ich seit
Jahrhunderten nicht vollbringen konnte. Ihr habt mich wieder
zusammengefügt.«
»Die Überesper - sie alle - waren nur Teile von Euch?«, wollte
Diana wissen.
»Ich habe vor sehr langer Zeit das Labyrinth des Wahnsinns
durchschritten, und es hat mich in fünf eigenständige Unterpersonen
aufgespalten, weil ich nur so mit dem fertig werden konnte, was ich
dort fand. Ich grüße Euch, König Douglas und Imperator Finn. Ich
bin Alicia VomAcht Todtsteltzer. Ich bin endlich zurückgekehrt, und
alle Planeten sollen vor mir erzittern.«
»Das ist nicht gut«, meinte Finn.
»Denkst du?«, fragte Douglas.
Die schiere Wucht von Alicias Präsenz schien den Thronsaal
auszufüllen, drückte an die weit auseinanderliegenden Wände und
ließ den Fußboden erbeben. Sie schob Dianas Präsenz mühelos weg,
und sowohl Douglas als auch Finn mussten gegen das Bedürfnis
ankämpfen, sich hinzuknien und die Köpfe zu senken. Sie hatten das
Gefühl, gar nicht in den Thronsaal zu gehören, und kamen sich wie
Ungeziefer unter dem Blick einer lebenden Göttin vor. Die Überseele
schwieg in Dianas Kopf, war sprachlos von dieser Wendung der Dinge.
Sogar ihre besten Präkogs hatten davon nichts geahnt. Das gesamte
Massenbewusstsein der Überseele blickte auf den
wiederhergestellten, weißglühenden Verstand von Alicia VomAcht
Todtsteltzer und fürchtete sich. Alicia blickte Diana lächelnd
an.
»Wir sind uns schon begegnet. Als Ihr vor all den vielen Jahren die
Mater Mundi manifestiert habt. Ich war vom Labyrinth weit verstreut
worden, zerrissen in groteske Unterpersonen, unbeholfene
Wiedergaben meiner diversen Bedürfnisse und Funktionen, aber ich
hatte von jeher einen Plan.«
»Wer ... wart Ihr?«, fragte Douglas und kämpfte richtig darum, die
Worte über die Lippen zu bekommen. »Wie ... wurdet Ihr zu den
Überespern?«
»Was?«, fragte Alicia. »Ihr meint, die Überseele hat Euch nie von
der verrückten alten Tante auf dem Dachboden erzählt? Ich stehe am
Anfang der Esperbewegung. Sie alle wurzeln in mir. Ich gehörte zu
der Gruppe Wissenschaftler, die das Labyrinth des Wahnsinns vor
zahllosen Jahrhunderten in einer Höhle tief im Innern Hadens fand.
Ich war Esper, einer der Ersten. Ich fand weitere Esper, unterwarf
sie meinem Willen und zwang sie dazu, mit mir das Labyrinth zu
durchschreiten. Mein Plan war es, eine einzelne machtvolle
Espergestalt zu erzeugen, die vollständig meiner Lenkung
unterstand, aber ... das Labyrinth entsprach nicht meinen
Erwartungen. Es versuchte mich zu verändern, mich neu zu schaffen
... und das konnte ich nicht zulassen. Ich kämpfte dagegen an,
zerbrach dabei jedoch. Ich zersplitterte in die Überesper und die
treibende Kraft im kollektiven Unterbewusstsein der übrigen Esper,
die den Esper-Untergrund bildeten. Später nannten sie mich die
Mater Mundi, die Mutter Aller Seelen. Sogar zerstreut und gespalten
blieb ich eine Macht in der Menschheitsgeschichte. Jetzt bin ich
zurück und wieder erfüllt von meiner wahren Macht.
Mir gefällt diese neue Massengestalt, die Ihr die Überseele nennt.
Sie ist so leuchtkräftig, so überaus schmackhaft. Ich könnte sie
glatt verschlingen!«
Alicia VomAcht Todtsteltzer zog ihre lenkende Präsenz aus den
Heerscharen der Besessenen zurück, um ihre ganze Macht für einen
Zweck zusammenzuballen, und überall in Parade der Endlosen fielen
die nicht mehr gesteuerten Männer, Frauen und Kinder schlaff zu
Boden und lagen still - die Augen offen, weiter atmend, aber völlig
leer. Alicia gedachte sie später wieder in Besitz zu nehmen, sobald
sie mit den dringenderen Geschäften fertig war. Die Kämpfe in der
Stadt hörten auf; erschöpfte und blutbespritzte Männer und Frauen
senkten langsam die Waffen und blickten unsicher um sich. Ein
gewaltiger Jubel stieg auf, weil der Krieg vorbei zu sein schien
und die Menschen überlebt hatten. Sie wussten nichts von Alicia.
Die verschiedenen Kämpfergruppen vereinigten sich, als sie alle ins
Stadtzentrum und zum Imperialen Palast zogen. Der gefeierte größte
Held der Kämpfe, Gil Akotai, führte sie an.
Über dem Imperialen Palast manifestierte sich die riesige fliegende
Stadt Neue Hoffnung, deren Türme aus Glas und Silber wie eine
unmöglich gewaltige Schneeflocke leuchteten. Die Menschen am Boden
jubelten ihr zu, aber die Esper bemerkten es nicht. Sie bemühten
sich darum, auch noch den letzten Rest ihrer Kräfte durch Diana
Vertue zu lenken. Es war ein furchtbares Erlebnis, sich nach all
diesen Jahren direkt mit ihrer Urahnin konfrontiert zu sehen.
Endlich hatten sie ihre Gründerin und Erschafferin gefunden, nur um
zu erfahren, dass sie eine verrückte Gottheit war und keinen
anderen Wunsch hegte, als ihre Kinder zu verschlingen. Die
Überseele hatte jedoch noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Ein paar
Tipps der Präkogs. Die Überseele schickte Krähenhannie und den
Ekstatiker Freude in den Thronsaal.
Wie sie da allein vor dem letzten Thron stand, machte Alicia im
Grunde nicht viel her, war nur eine kleine blonde Frau in einer
altmodischen Raumfahreruniform, und fremdartig wirkten an ihr nur
die riesengroßen dunklen Augen, die das kleine blasse Gesicht
beherrschten. Sie war die Art Frau, an der man täglich vorbeiging,
ohne noch einmal hinzusehen. Aber obgleich sie ihren Lichtschein
abgeschaltet hatte, lag ihre Präsenz noch immer schwer auf dem
Thronsaal wie ein Stiefel, der in ein Gesicht trat. Sie beherrschte
den ganzen Hof allein durch ihre Existenz.
Hinter ihr betraten ein Mann und eine Frau Seite an Seite den
Thronsaal: Alessandra Duquesne, Letzte der Wahnschlampen, und
Johann Schwejksam, Letzter der alten Legendengestalten. Alessandra
war vom Himmel gestürzt und hatte ihn aus dem dicksten Getümmel
gezerrt. Sie trug ihn zum Palast, und die Worte weil wir gebraucht werden waren alles, was sie zu
sagen hatte. Schwejksam ließ es dabei bewenden. Er war plötzliche
Umschwünge in seinem Leben gewöhnt. Zunächst war Alessandra ein
wenig verwirrt und glaubte, dass sich eine dritte Person in
Schwejksams Gesellschaft befand, aber sie verbannte den Gedanken
daran und konzentrierte sich lieber darauf, so schnell wie möglich
den Palast zu erreichen. Warum weint Ihr?,
fragte Schwejksam sie, und sie erzählte ihm, dass sie ihre älteste
Freundin hatte umbringen müssen. Schwejksam nickte nur
verständnisvoll. Rebellionen töten deine
Freunde immer zuerst, sagte er und dachte dabei an Alexander
Sturm und andere zurück.
Er und Alessandra umgingen Alicia vorsichtig und hielten dabei auf
ordentlich Abstand zu ihr. Sie spürten richtig die Macht, die von
ihr ausstrahlte. Sie schlossen sich Douglas und Finn und Diana vor
dem Thron an. Schon beim Betreten des Thronsaals hatten sie Alicias
seltsame Geschichte mitgehört. Jetzt informierten sie den König und
den Imperator über den Zusammenbruch der Besessenenheere, und
Douglas nickte, erleichtert darüber, dass es wenigstens ein Problem
gab, um das er sich vorläufig keine Gedanken mehr machen musste. Er
nickte Schwejksam zu.
»Ich habe gehört, dass Ihr wahrhaft der legendäre Kapitän Johann
Schwejksam seid. Warum habt Ihr Euch die ganzen Jahre lang als
Samuel Sparren getarnt? Wusste mein Vater davon?«
»Nein«, antwortete der Kapitän. »Niemand wusste es. Darauf kam es
ja an. Ich hielt es für besser, meine wahre Identität
geheimzuhalten.«
»Das erlebt man derzeit oft«, sagte Douglas.
Und da tauchte Krähenhannie direkt neben ihnen auf, begleitet von
Freude, und alle fuhren zusammen. Krähenhannie trug ihre
ramponierte Lederjacke mit einem Waffengurt voller Wurfsterne quer
über dem Busen. Ihr spitzes Gesicht wirkte noch bleicher als
üblich, sodass sich das pechschwarze Haar, die Lippen und das dicke
Augen-Make-up scharf davon abhoben. Freude, dessen Gehirn
chirugisch so manipuliert worden war, dass er in einem konstanten
Orgasmus lebte, lächelte alle strahlend an; er war ein
durchschnittlicher, fast unauffälliger Mann in schlichtem weißem
Kittel. Krähenhannie nickte Diana forsch zu.
»Die Überseele schickt uns. Niemand scheint so recht zu wissen
warum, aber unsere Präkogs sind sich darin einig, dass Freude hier
auftauchen müsse. Fragt mich nicht, was er hier ausrichten soll, es
sei denn, er hätte vor, Alicia todzulächeln.«
»Ich bin hier«, verkündete Freude höflich, »weil es so sein muss.
Und wie oft kann man das mit Gewissheit sagen? Hallo Alicia!« Dann
spazierte er davon, um sich ein paar Wände anzusehen.
»Ich fühle mich gleich viel sicherer«, sagte Finn zu Douglas. »Du
nicht auch?«
Johann Schwejksam nickte seiner Tochter Diana unbehaglich zu. Sie
gingen ein Stück weit auf die Seite, um ungestört miteinander reden
zu können. Sie wussten, dass sie sich besser um Alicia gekümmert
hätten, aber irgendwie hatte es doch den Anschein, als stünde ihnen
alle Zeit der Welt zur Verfügung, um das Nötige zu sagen.
»Es ist lange her, Vater, seit wir uns zuletzt persönlich begegnet
sind«, sagte Diana. »Hundertachtzehn Jahre.«
»Ich war beschäftigt«, gab Schwejksam zu bedenken.
»Du warst als Vater nie besonders gut«, meinte Diana ohne Zorn.
»Immer bereit, die eigene Tochter dem Wohl der Allgemeinheit zu
opfern. Zuerst auf Unseeli, damals, als wir beide noch schlicht
Menschen waren, und dann...«
»Ich tat, was ich für nötig hielt«, entgegnete Schwejksam und
erwiderte den ärgerlichen Blick der Tochter mit alten, müden
Augen.
»Du hast mich an die Überesper verraten! Du hast mich in ihren
Hinterhalt gelockt und mich dann im Stich gelassen! Ich hätte es
besser wissen müssen, als dir zu vertrauen.«
»Ich dachte ... Ich glaubte, deine wachsende Macht würde dich zu
gefährlich, zu zerstörerisch machen, eine Gefahr für das goldene
Zeitalter, das wir für alle zu begründen strebten.«
»Hast du gewusst, dass die Überseele mein Bewusstsein aufnehmen
würde, nachdem die Überesper den Körper zerstört hatten?«
»Nein, aber ich hoffte es.«
Diana runzelte die Stirn und wandte den Blick ein Stück neben
Schwejksam. »Irgendwie spüre ich, dass jemand bei dir ist.
Investigator Frost?«
»Siehst du sie auch?«
»Nein. Dort ist niemand«, sagte Diana. »Oh Vater, wirst du sie
jemals loslassen?«
Während sie sich unterhielten, schlich sich Alicia nur so zum Spaß
in Schwejksams Gedanken. Trotz seiner beiden Besuche im Labyrinth
des Wahnsinns war es nicht schwierig. Schwejksam hatte seine
höheren Kräfte stets unterdrückt - vielleicht aus Angst, so zu
werden wie seine Tochter. Alicia brauchte eine Ablenkung. Falls sie
seinen schwächeren Verstand beherrschen konnte, dann standen ihr
auch seine Labyrinthkräfte zur Verfügung, und sie konnte Diana
damit umbringen. Sie fand das Bild von Investigator Frost in seinen
Gedanken und kicherte wie ein kleines Mädchen, als sie hineinglitt
wie eine Made in einen Apfel.
Frost drehte sich auf einmal um und sah Schwejksam mit kaltem Blick
an. »Sie ist nur ein undankbares Miststück, Johann! Sie konnte nie
all das würdigen, was du für sie getan hast. Töte sie!«
»Was?«, fragte Schwejksam laut, und alle wandten sich ihm
zu.
»Töte sie! Es ist nötig, wie früher schon. Und töte anschließend
den entlaufenen König und den verräterischen Imperator! Sie sind
ihrer Ämter nicht würdig. Du solltest herrschen! Du bist der
Einzige, der es wert wäre, die Menschheit zu führen. Tu es! Tu, was
du immer tun wolltest, Johann.«
Schwejksam sah sie an. »Du bist nicht Frost. Der Investigator hätte
das nie gesagt. Du bist... sie! Alicia. Ich spüre, wie Ihr in
meinem Kopf herumkriecht!«
»Tu es!«, kreischte Alicia und rammte ihre
enorme Präsenz in Schwejksams Gedanken. Er schrie vor Schmerz und
Grauen mitleiderregend auf und ging in die Knie. Seine Arme
zitterten, und die Finger zuckten, bewegt von der Anleitung einer
anderen Person. Er spürte, wie ihn Alicia in seinem Kopf immer
weiter in den Hintergrund drängte. Der Thronsaal entzog sich ihm,
als glitte er durch einen rasch schrumpfenden Tunnel davon. Alicia
wand sich wie ein unwiderstehlicher Impuls durch seine Gedanken,
und er wusste, dass er nicht stark genug war, um sie abzuwehren.
Aber von jeher hatte er seine Selbstständigkeit behauptet. Also zog
er, solange die eigene Hand ihm noch weitgehend gehorchte, den
Disruptor aus dem Halfter, setzte ihn unbeholfen auf die eigene
Herzgegend und erschoss sich. Ein letzter Akt der Pflicht und der
Ehre. Alicia flüchtete lachend aus seinem verstummenden
Bewusstsein, während er zusammensackte. Das Letzte, was Schwejksam
sah, war Diana, die auf ihn zulief, um ihn aufzufangen, und er
wusste, dass sie ihn nicht rechtzeitig erreichen würde. Er schlug
heftig am Boden auf und spürte es schon nicht mehr. Alle Lichter
gingen aus.
Er hörte Investigator Frost sagen: Willkommen
zuhause, Kapitän. Und er zeigte ein letztes Lächeln.
Diana hockte sich hin, barg den Kopf des toten Vaters in den Armen
und funkelte Alicia an. »Was habt Ihr ihm
angetan?«
»Ich mache meine Spielsachen gern kaputt, wenn ich sie in die Hand
nehme«, sagte Alicia VomAcht Todtsteltzer.
Diana senkte die Leiche des Vaters zu Boden, stand langsam auf und
sammelte all ihre Macht. Doch dann hörte man Laufschritte aus dem
Flur, der zum Thronsaal führte, und alle wandten sich dorthin um,
als der Mann namens Carrion hereinplatzte. Der schwarze Umhang
umflatterte ihn wie die Flügel einer Aaskrähe. Er schenkte
niemandem außer dem toten Schwejksam Beachtung. Er trat zu ihm vor
und verharrte dort. Sein Atem ging schwer.
»Ich spürte, wie es geschah«, sagte er schließlich, »aber ich
konnte nicht rechtzeitig hier sein.«
»Ihr hättet ihn nicht retten können, Sean«, sagte Diana.
»Ich hatte immer gedacht, dass wir mal gemeinsam sterben würden.
Wahrscheinlich, während wir uns gegenseitig die Gurgel zudrückten.
Alter Freund, alter Feind.«
»Legendengestalten sterben immer allein«, meinte Diana. »Das gehört
einfach dazu.«
Carrion wandte sich Alicia zu. »Ihr! Ihr habt das getan! Ich bin
die Ashrai, und wir verurteilen Euch zum Tode!«
»Stellt Euch hinten an«, entgegnete Alicia.
Sie schlug mit ihrer ganzen entsetzlichen Macht wie mit einer
Peitsche zu, eine Explosion schierer zerstörerischer Energie, die
jeden anderen vernichten sollte, als hätte es ihn nie gegeben.
Diana Vertue begegnete diesem Angriff mit einem Aufschrei reinen
Trotzes und lenkte die ganze Macht der Überseele durch ihren
machtvollen, von Trauer geplagten Verstand. Entweichende
Energieimpulse schwärzten ihre Kleidung. Die beiden Frauen standen
einander auf zwei Seiten des Thronsaals gegenüber. Unmögliche
Kräfte tobten zwischen ihnen. Zwei gewaltige Mächte, eine alte und
eine neue, unfähig, sich gegenseitig zu überwinden. Das Monster und
das Massenbewusstsein. Alessandra unterstützte Diana mit ihrem
Verstand, und Carrion sang mit der Stimme aller Ashrai. Und immer
noch hielt Alicia stand.
Entfesselte Psistürme knisterten in der Luft des Thronsaals.
Zerstörerische Kräfte tobten sich aus, als wäre das gar nichts für
sie. Schartige Spalten breiteten sich in den Wänden aus und
verliefen im Zickzack über die Decke. Aus dem Mauerwerk brachen
Stücke und stürzten bedächtig herab. Carrion hob eine Hand, und ein
schimmerndes Kraftfeld schützte alle außer Alicia.
Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben, und der Thron schaukelte
hin und her, als stritten sich unsichtbare Hände um ihn. Es wurde
unerträglich heiß und dann wieder unglaublich kalt. Regen und Hagel
gingen aus dem Nichts nieder. Die Wahrscheinlichkeit wechselte
innerhalb eines Augenblicks, wie auch alte bekannte Gesichter im
Thronsaal aufflackerten und wieder erloschen: Löwenstein auf ihrem
Thron, an ihrer Seite der erste Dram, genannt der Witwenmacher.
Owen Todtsteltzer, der eine heruntergefallene Krone in der Hand
hielt. König Robert und Königin Konstanze, die lächelnden
Architekten des goldenen Zeitalters. So viele Gesichter, so viele
Namen, die innerhalb eines Augenblicks kamen und gingen, während
die Zeit Wellen schlug und auf ihrem Weg kehrtmachte. Und Douglas
Feldglöck und Finn Durandal, einst führende Mitkämpfer um das
Schicksal des Imperiums, konnten sich jetzt nur an der Seite
zusammendrängen und wurden ignoriert.
Aber dann brachen die Psistürme ab, abrupt abgewürgt von der
schieren Macht jener, die jetzt in den Thronsaal marschierten. Die
Wände zitterten nicht mehr und bekamen keine zusätzlichen Risse.
Auch der Boden beruhigte sich. Alicia und Diana drehten sich wütend
um, wollten sehen, wer sie gestört hatte. Und Lewis Todtsteltzer,
Jesamine Blume, Brett Ohnesorg und Rose Konstantin näherten sich
ihnen. Die Realität stabilisierte sich, als die vier
Labyrinthgeister ihr den eigenen Willen aufzwangen. Alicia
kreischte vor Wut und griff alle Umstehenden zugleich an,
entfesselte alle ihre über Jahrhunderte gewachsenen, ursprünglich
vom Labyrinth verliehenen Kräfte. Diana und Alessandra sowie die
Überseele warfen sich ihr als Erste entgegen. Dann fügten die vier
Überlebenden des Labyrinths die eigenen Kräfte hinzu. Carrion erhob
die Stimme zu einem entsetzlichen Lied und bündelte darin die ganze
Macht der Ashrai, die dem Bemühen ihre Unterstützung schenkten.
Alicia stolperte und wäre beinahe gestürzt, fing sich aber
wieder.
Lewis trat vor, und Alicia wandte sich ihm zu. Und darin
kulminierten die Ereignisse: ein Todtsteltzer stellte sich dem
anderen. Zwei Gehirne, umgeformt vom Labyrinth des Wahnsinns und
mit Macht über jede Vorstellung hinaus ausgestattet. Denn das
Labyrinth hatte bei Todtsteltzers stets die beste Arbeit
geleistet.
Die Macht von Lewis prallte mit der von Alicia zusammen: Wille
gegen Wille, aber am Ende siegte Lewis, denn Alicia brachte nur
Eigeninteresse, Ehrgeiz und Hass auf die Waagschale, während Lewis'
Gedanken sich um Pflicht und Ehre drehten und um den Mut, den er
brauchte, um seine Lieben zu schützen. Und Alicia stand allein,
während Lewis für viele stand. Alicia griff ihn mit allem an, was
sie hatte, versuchte Besitz von ihm zu ergreifen und ihn zu lenken,
dann ihn hereinzulegen und auf ihre Seite zu ziehen, aber er
zeichnete sich durch so viel mehr aus als sie. So wandte sie sich
von ihm ab und floh.
Sie war halb durch den Thronsaal, ehe irgendjemand bemerkte, dass
die Gedankenschlacht vorüber war, und sie war durch die Tür, ehe
die anderen reagieren konnten. Alicia rannte durch den Irrgarten
der Palastflure, und die anderen jagten ihr nach und schrien dabei
vor Wut und vereitelter Leidenschaft. Alicia umhüllte sich mit
ihrer Willenskraft und wurde für die Welt unsichtbar. Sie schickte
ihre Gedanken voraus und spürte, dass siegreiche Rebellen unter
Führung Gil Akotais schon zum Haupteingang des Palastes
hereinströmten. Alicia lächelte. Sie konnte zwar ihre Armee der
Besessenen nicht wieder in Besitz nehmen, ohne sich damit zu
verraten, aber sie konnte wenigstens ein Gehirn übernehmen und sich
darin verstecken, während der Besessene sie hinausschmuggelte. Und
dann ... na ja, Gil Akotai war ein Held und ein Anführer, genau
das, was sie brauchte, um sich wieder zu etablieren.
Sie duckte sich in einen Seitengang, als Schritte näher kamen, und
konzentrierte alle ihre Kraft darauf, nicht präsent zu sein. Einer
ihrer Verfolger nach dem anderen lief vorbei, und sie erwog
nacheinander die Möglichkeiten, die ihr jeder von ihnen bot, um sie
unbemerkt zu Gil Akotai zu bringen. Die meisten waren zu gut
geschützt, aber ein Gehirn ... der Ekstatiker Freude schlenderte
mit weit offenem Verstand an ihrem Versteck vorbei, und sie ging
wie eine Schlange auf ihn los. So ein kleiner Mann mit chirurgisch
verändertem Gehirn! Falls er ein wenig merkwürdig agierte, wer
sollte dadurch argwöhnisch werden? Alicia stürzte sich in Freudes
Kopf und damit in den Käfig, den er dort für sie vorbereitet
hatte.
Hallo Alicia!, sagte Freude. Ich habe schon auf dich gewartet. Ich wünsche einen
schönen Aufenthalt. Hier findest du keinen Ausweg
mehr.
Und gefangen in einem Verstand, der überhaupt keinen Sinn ergab,
blieb Alicia VomAcht Todtsteltzer nichts anderes übrig, als zu
schreien und zu schreien und zu schreien.
Freude rief die anderen zurück und deutete auf die leere Hülse von
Alicias Körper, der reglos vor seinen Füßen lag. Alle blickten ihn
an.
»Sie hat versucht, mich in Besitz zu nehmen«, sagte er. »Aber an
mir ist viel mehr, als man mit dem Auge sieht.«
»Das haben wir uns schon immer gedacht«, sagte
Krähenhannie.
»Ich bin groß. Ich enthalte Massen«, verkündete Freude glücklich.
»Was macht da schon eine Stimme mehr im Kopf?«
Diana Vertue betrachtete seine Gedanken einen Augenblick lang,
zuckte zusammen und nickte. »Sie wird nie einen Weg dort heraus
finden. Bringt Freude zurück nach Neue Hoffnung, und die Überseele
kann dort über ihn wachen, so lange er lebt - und damit
sicherstellen, dass Alicia mit ihm stirbt.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, bekräftigte
Krähenhannie.
Carrion streckte die Hand in Richtung des leeren Körpers am Boden
aus und machte eine heftige Geste, und der Körper ging in Flammen
auf. Er verbrannte unnatürlich schnell, war in wenigen Augenblicken
zu einem Haufen Asche reduziert. Carrion blickte die anderen an.
»Nur für alle Fälle.«
»War es das?«, fragte Jesamine. »Ist es endlich vorbei?« »Noch
nicht ganz«, sagte Lewis. »Wo steckt Finn? Und wo steckt
Douglas?«
Finn Durandal war in den Thronsaal zurückgekehrt und saß wieder auf seinem Thron, als Douglas Feldglöck hereinspaziert kam. Sobald Douglas wusste, dass von Alicia keine Gefahr mehr ausging, war ihm auch klar, dass er jetzt eine alte Rechnung begleichen konnte. Er hatte gesehen, dass Finn nicht mehr bei der Gruppe war, und wusste, wo er ihn fand. Langsam schritt Douglas durch den von Rissen durchzogenen, verwüsteten Saal, und seine Schritte durchdrangen die Stille laut. Er blieb am Fuß der Treppe stehen, die zum Thron führte, und Finn lächelte auf ihn herab.
»Ich wusste, dass du kommen würdest, Douglas. Ich hatte es dir ja gesagt: das ist unser Augenblick! Niemand sonst gehört hierher.« Er stand auf, stieg ohne Hast die Stufen hinab und blieb vor Douglas stehen. »Wir haben noch unerledigte Geschäfte, du und ich. Ein letztes Duell, ein letzter Wettstreit, um zu entscheiden, wer von uns der Bessere ist.«
Sie zogen die Schwerter und umkreisten
einander langsam.
»Ich muss dich töten, Finn«, sagte Douglas.
»Und ich muss dich töten, Douglas.«
»Für all die Menschen, die du umgebracht hast.«
»Und für all die Menschen, die ich erst noch umbringen
muss.«
»Waren wir jemals Freunde, Finn?«, fragte Douglas.
Finn dachte ernsthaft darüber nach. »Ich wollte, dass wir Freunde
sind, aber ich denke nicht, dass ich das Zeug dazu habe,
irgendjemandes Freund zu sein. Wir werden allein geboren und
sterben allein, also bleibt einem im Grunde nur die Hoffnung ... zu
sehen, wie viele Menschen man mitnehmen kann. Wir hatten aber ein
paar schöne Zeiten zusammen, nicht wahr, Douglas?«
»Ja, das hatten wir. Lebwohl, Finn.«
»Lebwohl, Douglas.«
Sie griffen einander an, und Funken stoben von den
zusammenprallenden Schwertern, während das Duell kreuz und quer
durch den leeren Thronsaal führte. Beide waren ausgezeichnete
Schwertkämpfer und erfahrene Krieger. Sie stampften und machten
Ausfälle und schlugen und hackten, aber keiner schaffte es jemals,
dem anderen richtig nahe zu kommen. Jeder war aus der gemeinsamen
Zeit als Paragon mit dem Stil des anderen gründlich vertraut. Die
Schwerter stiegen und fielen, und der Atem der Duellanten ging
schnell und schwer. Beide schwitzten stark, da sie ihre gesamte
Kraft in jeden Hieb legten. Finn hätte eigentlich im Vorteil sein
müssen, da Douglas schon erschöpft war vom Kampf gegen die
Besessenen, ehe er überhaupt den Palast erreicht hatte. Aber
letztlich zeigte sich ... dass Douglas sein ganzes Leben lang
gekämpft hatte, während Finn zuließ, dass er verweichlichte. Die
Klingen prallten ein letztes Mal zusammen, und Douglas drehte Finn
das Schwert aus der Hand. Es fiel zu Boden, und die Echos schienen
im leeren Saal überhaupt nicht mehr enden zu wollen. Douglas und
Finn standen da und blickten einander in die Augen, während sie
nach Luft rangen. Dann rammte Douglas sein Schwert mit einem
schnellen, professionellen Stoß durch Finns Leib.
Er sah zu, wie Finn lautlos zusammenbrach. Ein Teil von ihm hatte
Finn mit bloßen Händen zu Tode prügeln wollen, aus Wut über das,
was Finn William und so vielen anderen angetan hatte. Aber Douglas
verzichtete darauf. Weil er der König war und über solche
Reaktionen erhaben sein sollte. Als er sicher war, dass Finn nicht
mehr lebte, schlug er ihm den Kopf ab. Denn das war es nun mal, was
man mit Monstern anstellte. Er ließ Leib und Kopf liegen und stieg
langsam und müde die Stufen zum Thron hinauf. Es war ein langer Tag
gewesen. Er sank auf den Thron und legte das blutige Schwert über
die Schenkel. Er blickte auf die Überreste des Mannes hinab, der
einmal der größte Paragon aller Zeiten gewesen war.
»Ich war stets dein Freund, Finn, auch wenn du nie meiner warst.
Deshalb habe ich dich auch nicht lebend gefangen genommen. Ich
konnte dich nicht auf Gnade oder Ungnade dem Mob
ausliefern.«
Und so fanden ihn die anderen, als sie wieder in den Thronsaal
zurückspaziert kamen: König Douglas, der auf seinem Thron saß, als
gehörte er dorthin und hätte es schon immer getan. Eine ganz
ordentliche Menschenmenge lief jetzt zusammen: Lewis und Jesamine,
Brett und Rose, Diana und Alessandra, Krähenhannie und Freude und
schließlich Carrion. Und Gil Akotai, der seine Truppen zum Palast
geführt hatte und allein in diesen vorgedrungen war, um
herauszufinden, warum zum Teufel alle Besessenen so unvermittelt zu
Boden gegangen waren. Er blickte sich unsicher um, ein wenig
eingeschüchtert von der Gesellschaft so vieler Helden und
Legendengestalten. Alle musterten Finns enthauptete Leiche, und
alle schienen sich ein wenig zu entspannen.
Douglas lächelte müde von seinem Thron herab, und alle nickten ihm
zu, jeder auf seine Weise. Die ganze Versammlung wandte sich Lewis
und Jesamine zu, um zu sehen, was jetzt wohl geschah. Lewis steckte
das Schwert ein und schenkte Douglas ein Lächeln. Der König
erwiderte es. Und dann stieg der König vom Thron herab und umarmte
den alten Freund und Partner. Sie umarmten sich lange und lösten
sich erst wieder voneinander, um sich gegenseitig
anzusehen.
»Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt«, sagte Lewis, »um wieder
genau dort einzutreffen, wo wir aufgebrochen waren.«
»Und alles war meine Schuld«, sagte Douglas. »Oh Lewis, es tut mir
so Leid ...«
»Nein, es tut mir Leid ...«
Beide lachten leise.
»Ich habe von deinem Vater gehört«, sagte Lewis.
»Ich habe von deinem Clan gehört«, sagte Douglas. »Ich schätze, wir
beide sind nun Waisen.«
»Nein«, entgegnete Lewis. »Wir sind Brüder. In jeder Hinsicht, auf
die es ankommt.«
»Ich habe gehört, dass du Erstaunliches vollbracht hast«, sagte
Douglas. »Während ich im Slum lebte, habe ich mich über deine
Reisen und Triumphe auf dem Laufenden gehalten. Ich hatte damit
gerechnet, dass ihr euch in Wunderwirker verwandeln würdet wie Owen
und seine Leute, dass ihr Blitze um euch schleudern und die Kranken
durch Handauflegen heilen würdet.«
»Sie waren Legendengestalten«, wandte Lewis ein. »Ich hielt es
immer für wichtiger, ein Mensch zu bleiben und menschliche Grenzen
einzuhalten, damit wir alle wieder nach Hause zurückkehren konnten.
Ich denke nicht, dass Owen je heimkehren wird.«
»Natürlich, du bist ihm ja begegnet! Dem seligen Owen persönlich!
Wie war er? Entsprach er den Legenden?«
»Er war ein Todtsteltzer«, sagte Lewis. »Und der Beste von uns
allen.«
Douglas wartete, bis ihm klar wurde, dass er mehr nicht zu hören
bekommen würde. Er musterte Lewis nachdenklich. »Du hast jetzt eine
Menge Anhänger, Lewis. Du könntest den Thron in Besitz nehmen,
falls du möchtest. Du könntest dich selbst zum König
machen.«
»Ich wollte nie König werden«, entgegnete Lewis lässig. »Verdammt,
ich wollte nicht mal Champion werden!«
»Damals war damals, jetzt ist heute«, erklärte Douglas entschieden.
»Ich brauche einen Champion, auf den ich mich verlassen kann,
während ich versuche, das Imperium wieder zu kitten. Sei mein
Champion, Lewis! Sei meine rechte Hand und mein
Gewissen.«
»Was ist mit Jesamine?«, fragte Lewis, und die Stille im Saal
schien sich noch zu vertiefen, als alle auf Douglas' Antwort
warteten. Jesamine schien es zufrieden, notfalls ewig auf seine
Antwort zu warten. Und dann kam Nina Malapert zu den Saaltüren
hereingehastet, gefolgt von drei auf und ab hüpfenden
Schwebekameras. Sie quiekste laut, als sie so viele berühmte
Gesichter an einer Stelle versammelt sah, winkte Douglas fröhlich
zu und machte sich daran, die Kameras herumzukommandieren, dass sie
auch ja die besten Blickwinkel einnahmen. Douglas sah Nina
liebevoll an.
»Jes gehört zu dir, Lewis. Das tut sie von jeher. Ich ... habe
jemand anderen gefunden, aus dem ich mir etwas mache.«
Lewis blickte Nina mit ihren bunten Klamotten und dem rosa
Irokesenschnitt an und zog eine Braue hoch. »Du hattest schon immer
einen furchtbaren Geschmack, was Frauen angeht, Douglas.«
»Ich freue mich, dass du jemanden gefunden hast«, sagte
Jesamine.
Douglas blickte sie an. »Hast du mich je geliebt, Jes? Auch nur
einen Augenblick lang?«
»Es hätte vielleicht sein können«, antwortete Jesamine. »Falls
alles anders gekommen wäre.«
Sie hakte sich bei Lewis unter, und Douglas lächelte sie beide an.
Und niemals würde er Jesamine verraten, dass er sie noch immer
liebte und es auch immer tun würde. Er verriet es überhaupt
niemandem. Denn er war der König und wusste, was seine Pflicht war.
Manche Dinge sollten im Interesse aller geheim bleiben. Er drehte
sich heftig um, als Stuart Lennox in den Saal gehumpelt kam und
sich dabei schwer auf Jas Sri stützte; beide waren verletzt und
blutig, grinsten aber breit vor Freude darüber, dass sie am Ende
eines Tages, an dem so viele Menschen umgekommen waren, noch
lebten.
»Tut mir Leid, Stuart«, sagte Douglas fröhlich. »Alles ist vorbei,
und du hast es verpasst. Die Überesper wurden geschlagen, und Finn
ist tot. Alles in allem gar nicht schlecht für die Arbeit eines
Tages. Also, Stuart - wie gefiele es dir, einen neuen Orden von
Paragonen zu gründen und zu führen? Und Nina
- wie gefiele es dir, die neue Kommunikationschefin von Logres zu
werden?«
Nina führte ihren Freudentanz auf, und alle lachten. Diana Vertue
trat vor und schüttelte dem König die Hand.
»Sieht nicht so aus, als würde ich hier noch gebraucht. Ich denke,
ich kehre in die Überseele zurück. Ich fühle mich als Einzelperson
sehr einsam. Und mein Vater ist auch tot. Wieder mal.«
Sie erwähnte nicht die Klone ihrer selbst, die sie immer noch
aufbewahrte, denn ... man konnte nie wissen. Vielleicht brauchte
das Imperium irgendwann mal wieder Johana Wahn.
»Aber ehe ich gehe, König Douglas, wartet eine letzte Pflicht auf
mich.« Sie konzentrierte sich und lächelte dann. »Da haben wir es.
Lewis, Ihr habt den Monstern von Shandrakor versprochen, sie nach
Hause zu bringen, und Ihr habt es getan. Jetzt habe ich ihre
Persönlichkeiten aus den Monsterkörpern geholt und in leere
Körperhülsen übertragen, die Alicia zurückgelassen hat. Somit sind
jene, die einst Menschen waren und dann zu Monstern gemacht wurden,
erneut Menschen. Ich habe viele ihrer Erinnerungen von Shandrakor
gelöscht, damit sie wieder ganz Menschen sein können.«
»Danke«, sagte Lewis. »Das war freundlich von Euch.«
»Nun«, sagte Diana, »Ihr solltet nicht alles glauben, was man von
mir erzählt.« Sie blickte Alessandra an. »Warum schließt Ihr Euch
mir nicht an und verschmelzt mit der Überseele? Das alte
Massenbewusstsein könnte eine kleine Auffrischung gebrauchen, und
wir sind genau die richtigen Unruhestifterinnen dafür.«
»Ja«, bestätigte Alessandra, »ich denke, ich werde ebenfalls
heimkehren.«
BrettRose traten nun vor, und beide sprachen simultan, was alle
richtig nervös machte. »Wir haben Veränderungen durchlaufen. Wir
sind jetzt für immer vereint. Zwei Teile, die endlich eine
gemeinsame Persönlichkeit bilden. Ein einzelnes Bewusstsein in zwei
Körpern. Wir kehren in den Slum zurück, um ihn zu führen und auf
Zack zu halten. Nur für den Fall, dass Euer neues goldenes
Zeitalter letztlich nicht funktioniert und die Menschen dort wieder
gebraucht werden.«
»Ja«, sagte Douglas, der sich als Erster erholte. »Lehrt sie,
Kämpfer und Freidenker und ganz allgemein furchtbar lästig zu sein.
Nur für den Fall, dass der Rest der Menschheit wieder mal weich und
faul wird.«
BrettRose wandten sich zu Lewis um. »Lebt wohl, Todtsteltzer. Es
war eine Ehre, an Eurer Seite zu kämpfen. Wir haben beide viel
gelernt.«
»Nicht nötig zu danken«, sagte Lewis. »Himmel, das ist unheimlich!
Darf ich vorschlagen, dass Ihr beide wieder lernt, getrennt zu
reden, weil es mich bei diesem Simultanreden wirklich
schaudert!«
»Wie fühlt es sich an?«, wollte Jesamine wissen, deren Neugier den
Sieg über den Schock davontrug. »Wenn man eine Person in zwei
Körpern ist?«
BrettRose lächelten. »Glücklich. Eine Erfüllung. Ganz. Wir haben
endlich das Gefühl, ganz geworden zu sein.«
Und während alle darüber nachdachten, tauchte eine weitere Gestalt
auf, indem sie einfach in den Thronsaal teleportierte. Daniel Wolf
strahlte wie ein Stern, so hell, dass keiner ihn direkt anblicken
konnte, bis er die Leuchtkraft milderte. Er blickte sich lächelnd
um.
»Ich bin Daniel Shub«, verkündete er gelassen. »Daniel Wolf und die
drei KIs von Shub haben gemeinsam das Labyrinth durchschritten und
sind, zu einem einzigen viel großartigeren Wesen verschmolzen,
wieder zum Vorschein gekommen. Die Macht des Maschinenverstandes,
verbunden mit den Fähigkeiten menschlichen Denkens. Wir sind so ...
ungeheuer mächtig geworden! Und vollkommen zufrieden. Wir sind
mehr, als wir einst waren oder jemals zu träumen gewagt hätten.
Entspannt Euch, Leute; wir bleiben auf Gewaltlosigkeit
eingeschworen. Alles, was lebt, ist heilig.«
»Na ja, Ihr werdet mir sicher verzeihen, wenn ich ein wenig
skeptisch bleibe«, wandte Douglas ein. »Ich habe nicht vergessen,
wie Eure Schiffe in der Schlacht von Haden auf die Flotte von
Mog-Mor feuerten. Ihr habt sie alle in Stücke geschossen und Euch
nicht mal damit aufgehalten, nach Überlebenden zu
suchen!«
»Das war nicht nötig. Die Mog-Mor-Schiffe waren nur Drohnen«,
erklärte Daniel Shub. »Leere, ferngesteuerte Schiffe. Mog-Mor war
von jeher nur ein gigantischer Bluff. Nur zwei Exemplare der dort
beheimateten Lebensform sind übrig, und deshalb habt Ihr auch nie
mehr als zwei von Ihnen bei Hofe gesehen. Einer der bedeutenderen
Fehlschläge des Labyrinths. Diese Wesen haben sich gegenseitig
umgebracht, bis nur noch zwei übrig blieben, und sie hatten nicht
mal Verstand genug, um zu gewährleisten, dass es wenigstens ein
fortpflanzungsfähiges Paar war.«
»Also ... was habt Ihr nun vor?«, wollte Lewis wissen.
»Wir gehen auf Reisen«, antwortete Daniel Shub. »Um höhere
Dimensionen und andere Ebenen der Realität zu erkunden. Wir
bezweifeln, dass wir jemals zurückkehren werden, also steht Euch
frei, den Shub-Heimatplaneten in Besitz zu nehmen und damit zu
machen, was Ihr möchtet. Wir haben endlich die Transzendenz
erreicht. Sie ist alles, was wir jemals erhofft hatten, aber uns
nicht ausmalen konnten. Vielleicht erreicht die Menschheit eines
Tages auch diesen Punkt und folgt uns. Dann begegnen wir uns von
neuem.«
Daniel Shub verschwand in einem Lichtblitz, und alle Anwesenden
mussten blinzeln. Nina kontrollierte panisch die
Lichtstärkeneinstellung der Kameras, um auch sicher zu sein, dass
sie alles aufgenommen hatten. Nina hatte an einem Tag so viele
Exklusivstorys erhalten, dass sie richtig schwindelig und atemlos
war.
»Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als die KIs von Shub unsere
Kinder sein sollten«, sagte Douglas. »Wer ist jetzt das Kind, frage
ich mich?«
»Erst Brett und Rose, dann Daniel und Shub«, sagte Lewis. »Gott sei
Dank war ich nie einer von der geselligen Sorte!«
»Verzeiht, wenn ich mich rücksichtslos einmische«, machte sich
Stuart Lennox vernehmbar. »Noch haben wir nicht ausschließlich
glückliche Ausgänge zu verzeichnen. Ich hasse es, der
Spielverderber zu sein, aber was unternehmen wir im Hinblick auf
den Schrecken?«
Und in diesem Augenblick spazierte der letzte Besucher in den
Thronsaal, eingetreten durch eine Seitentür, die bis dahin
niemandem aufgefallen war. Es war das gestaltwandelnde Fremdwesen
und zeigte ein Gesicht und einen Körper, an die nur er sich
überhaupt noch erinnerte: ein gewisser Humanoid, den man den
Wolfling nannte. Groß und haarig und sehr beeindruckend. Alle zogen
ihre Waffen.
»Sachte, Leute«, knurrte der Gestaltwandler. »Ich überbringe eine
Botschaft von Owen Todtsteltzer, und Ihr würdet gar nicht glauben,
wie lange ich sie schon für Euch aufbewahrt habe. Er hat sie
eigenhändig verfasst, denn er wusste, dass er nie zurückkehren
würde, um sie persönlich zu überbringen.«
Er gab Lewis eine dicke Schriftrolle. Lewis entrollte sie langsam
und las die erste Zeile laut vor:
Letzte Nacht habe ich von Owen Todtsteltzer
geträumt.