ARMEEN UND ALLERLEI STREITKRÄFTE SAMMELN SICH

Imperator Finn hatte Joseph Wallace zum Abendessen eingeladen, und so kam Joseph Wallace natürlich, war aber keineswegs glücklich darüber. Nicht zuletzt, weil eingeladen im Grunde nicht das richtige Wort war. Viel eher hätte es befohlen heißen müssen, begleitet von einem unüberhörbaren Unterton des oder... Joseph verbrachte eine lange und besorgte Zeit mit der Frage, was er nur angestellt haben könnte, um für eine solche Ehre ausgewählt zu werden. Heutzutage erhielt nur noch selten jemand Gelegenheit, Finn gesellschaftlich zu treffen, und man musste feststellen, dass die so Geehrten in beträchtlicher Anzahl nicht zurückkehrten. Niemand fragte jemals, was aus den Leichen wurde. Das wäre weder klug noch der Gesundheit förderlich gewesen. Aber man durfte auch nicht nein sagen, wenn der Imperator ja sagte, und es hatte auch keinen Sinn auszureißen, also schluckte Joseph die Sache, warf sich in Schale, regelte alle seine Angelegenheiten, brachte sein Testament auf den neuesten Stand und begab sich in den Palast.

Der Hof und der imperiale Palast waren nicht mehr das, was sie mal gewesen waren. Über allem hing in jüngster Zeit eine Atmosphäre des Unheils und Verfalls und sogar der absichtlichen Vernachlässigung, und Joseph stellten sich die Nackenhaare auf, während er den abgedunkelten Fluren folgte. Die meisten Lampen funktionierten nicht, und einige waren eindeutig zerschlagen worden. Überall standen Wachtposten steif und in Habachtstellung an den Türen und Abzweigungen, und alle waren sie Fanatiker der Militanten Kirche in voller Körperpanzerung. Sie trugen Schwerter und Pistolen und folgten Joseph mit hitzigen, argwöhnischen Blicken. Als offizielles Oberhaupt der Militanten Kirche und der Reinen Menschheit hätte Joseph eigentlich keinen Grund zur Sorge haben dürfen, aber er war nicht so dumm, dass er hier versucht hätte, seine begrenzte Autorität auszuspielen. Diese Leute waren Finns Kreaturen, loyal in Körper und Seele, darauf vereidigt, in seinem Dienst zu leben und zu sterben. Er war ihr Vater, ihre einzige Liebe, ihr angebeteter Gott.

Trotzdem wimmelte es in allen Nischen und Ritzen von Überwachungskameras und allen möglichen Sensoren, die die Wachtposten ebenso im Auge behielten wie die Korridore, die sie bewachten.

Der Zustand der Dinge ringsherum verschlechterte sich zunehmend, je weiter Joseph ging, und sein Atem wurde schneller und flacher, während er dem vertrauten Weg ins dunkle Herz des neuen Hofes folgte. Abgetrennte Köpfe waren über Türen genagelt und stanken nach billigen Konservierungsmitteln. Joseph glaubte, ein paar der Gesichter wiederzuerkennen. An einer Stelle kam er an einer Reihe Gehängter mit dunkel angelaufenen Gesichtern und hervorgestreckten Zungen vorbei, die Schlingen tief in die gestreckten Hälse eingegraben. Der Letzte schaukelte noch leicht. Unerklärliche Blutflecken verschmierten Fußboden und Wände, als hätte hier irgendein Monsterhund sein Revier gekennzeichnet. Und manchmal vernahm Joseph Schreie und andere verstörende Laute. Alles Symbole für die Macht und Autorität des Imperators und vielleicht auch seinen Geisteszustand.

Joseph setzte seinen Weg fort durch dunkle Gänge und vermied dabei sorgfältig, nach rechts oder links zu blicken. Allein aufgrund der damit verbundenen Anstrengung schwitzte er kräftig, als er endlich vor dem Privatquartier von König Douglas eintraf, das Imperator Finn inzwischen für den eigenen Gebrauch beschlagnahmt hatte. Zwei große, muskulöse Wachleute vor Finns Tür unterzogen Joseph einer vollständigen Durchsuchung mit Handscannern, ehe sie ihn widerstrebend passieren ließen. Sie klopften an die Tür und stießen sie auf. Der Geruch eines guten Abendessens schwebte heraus, aber Joseph fühlte sich kein wenig besser. Er holte tief Luft, arrangierte seine Gesichtszüge vorteilhaft und betrat die Höhle des Löwen so lässig, wie er es nur irgend über sich brachte.
Der Empfangsraum war kahl, abgesehen vom Essenstisch, und die ganze Umgebung war fast schmucklos. Nirgendwo erblickte man Artikel der Bequemlichkeit oder des Luxus. Der Boden bestand aus poliertem Holz, ohne Teppich, und die Wände waren kahl. Die Beleuchtung war auf ein angenehmes Licht heruntergedreht, und der Tisch bog sich unter allerlei Speisen und Getränken, mit Gedecken für zwei Personen. Joseph gestattete sich einen Hauch von Entspannung. Wie es schien, sollte er zumindest für die Dauer des Essens am Leben bleiben. Finn kam ihm um den Tisch herum entgegen und lächelte freundlich.

»Joseph, lieber guter Freund, ganz pünktlich! Das Essen ist bereit, also kommt und haut rein! Und sobald wir gegessen haben, plaudern wir ein bisschen, wie?«

Jede Spur von Appetit, die Joseph vielleicht gehabt hatte, verschwand mit diesen abschließenden Worten, aber er lächelte tapfer, als Finn ihn am Arm packte und ihn zu seinem Platz an der Tafel führte. Finn schwatzte recht freundlich und widmete sich dabei keinem besonderen Thema, während Joseph die vor ihm ausgebreiteten Speisen betrachtete. Alles sah sehr gut aus, gut genug, um selbst einem erfahrenen Feinschmecker wie ihm aufzufallen. Ihm lief doch tatsächlich ein wenig das Wasser im Mund zusammen. Er öffnete die Serviette, die immer noch das alte Feldglöcksche Familienwappen zeigte, und ließ zu, dass Finn ihrer beider Teller mit ein bisschen von diesem und einer Menge von jenem voll lud. Der Imperator setzte sich schließlich auf seinen Platz Joseph gegenüber und winkte gebieterisch. Ein unauffälliger kleiner Mann in Pagenuniform tauchte aus dem Nichts auf, und Joseph fuhr unwillkürlich zusammen. Finn lachte locker in sich hinein.

»Entspannt Euch, Joseph; das ist nur der Vorkoster. Die Küche ist zwar mit den neuesten Sensoren ausgestattet, aber ein kluger Mann setzt nicht sein ganzes Vertrauen in Technik. Mein Vorkoster probiert alles, ehe ich es zu mir nehme. Wunderbarer Bursche! Er ist ein Klon, auf meinen Wunsch hin nach dem Vorbild eines berühmten Meisterkochs hergestellt, der demzufolge jede Zutat schon an der geringsten Geschmacksspur erkennt und zusätzlich mit der Kenntnis sämtlicher Gifte des Imperiums programmiert wurde. Damit bleibt in seinem Gehirn nicht viel Platz für etwas anderes, aber wir alle müssen Opfer bringen. Na ja, natürlich außer mir.«

Der Vorkoster probierte ein bisschen von sämtlichen Speisen auf Finns Teller, dachte einen Augenblick lang nach, verbeugte sich dann und verließ das Zimmer so lautlos, wie er es betreten hatte. Joseph musterte den eigenen Teller.

»Wird er nicht auch von meinen Speisen kosten?« »Seid nicht albern, Joseph«, entgegnete Finn.

»Wen würde es scheren, falls Ihr vergiftet würdet?« »Aber... Ihr seid unser geliebter Imperator!« Finn zog eine Braue hoch. »Ich sagte, entspannt

Euch, Joseph! Ihr seid hier nicht in der Öffentlichkeit. Nehmt Euch die Freiheit, in jeglicher Hinsicht Eure Meinung zu sagen.«

Ja, aber ganz bestimmt!, dachte Joseph, war aber schlau genug, es nicht laut auszusprechen.
Eine Zeit lang speisten sie schweigend, während Joseph seinen Imperator so genau musterte, wie er glaubte, es sich erlauben zu können. Finn schien so robust und gutaussehend und gesund wie immer. Auf jeden Fall ließ sein Appetit nichts zu wünschen übrig. Er lächelte häufig und aß mit sichtlichem Genuss. Er benutzte die Finger ebenso häufig wie das Besteck, um sich die Speisen in den Mund zu stopfen. Joseph versuchte nicht mal, mit ihm Schritt zu halten. Das Fleisch des Hauptgangs musste besonders gründlich gekaut werden. Es schmeckte recht angenehm, aber ungewohnt. Joseph hatte den Teller schließlich leer gegessen und überlegte, sich einen Nachschlag zu gönnen, da war Finn auch schon damit beschäftigt, sich den Teller erneut vollzuhäufen.
»Gut, nicht wahr?«, fragte er munter. »Genießt es, solange Ihr könnt; der Nachschub ist begrenzt.«
»Schmeckt ein bisschen nach Wild«, sagte Joseph und kaute nachdenklich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es herausschmecken könnte. Irgendwas Neuimportiertes?«
Finn grinste. »Das könnte man sagen.«
»Was ist es?«
»Eigentlich solltet Ihr eher fragen, wer es ist. Wir genießen hier den letzten Botschafter der Fremdwesen, den vom Planeten Hahn. Er hat eine ganze Weile lang vorgehalten. Ich habe ihn braten und grillen lassen. Ich finde, gebraten schmeckt er am besten und macht sich sehr gut zu reichlich Reis.«
Joseph drehte sich der Magen um, und er konnte mit knapper Not verhindern, dass ihm das Gesicht entgleiste. Natürlich kursierten ohnehin Gerüchte darüber, was mit den Leichen der Fremdwesenbotschafter passiert war, die Finn hatte hinrichten lassen, aber... Joseph spießte ein mittelgroßes Stück mit der Gabel auf und verspeiste es sorgfältig. Finn musterte ihn. Joseph schluckte den Bissen schließlich hinunter und goss sich mit ruhiger Hand frischen Wein ein. Finn schwatzte munter weiter.
»Ich habe wenigstens ein paar der ganzen Botschafter verspeist. Es schien mir eine Schande, sie zu vergeuden, und ich liebe neue Erfahrungen ja so sehr. In meinem Job muss man sich seinen Spaß besorgen, wo man ihn nur finden kann. Ich denke, der Trall'Chai war am schlechtesten, obwohl ich ihn mit jedem Gewürz probiert habe, das mir nur einfiel. Manchen Leuten kann man einfach nicht helfen.«
Die Mahlzeit schleppte sich endlos dahin, von einem Gang zum nächsten, darunter ein dermaßen süßer und klebriger Pudding, dass Joseph nicht mehr als ein paar Mund voll davon herunterwürgen konnte, ehe er aufgab. Endlich fand das Essen doch ein Ende. Finn rief Diener herbei, damit sie die Tafel abräumten, stand auf und führte Joseph ins angrenzende Zimmer, was ebenso karg ausgestattet war, wenn nicht gar regelrecht spartanisch. Finn goss zwei große Gläser Brandy ein und nötigte Joseph, sich in einen der überdimensionalen Sessel vor dem Kamin zu setzen, ehe er selbst Platz nahm. Joseph nippte vorsichtig an seinem Brandy und wartete darauf, dass der zweite Stiefel niederfuhr.
»Entspannt Euch, Joseph«, sagte Finn schließlich. »Ihr seid nicht hier, um getadelt oder bestraft zu werden. Tatsächlich bin ich sehr zufrieden mit Euch. Meine Leute berichten, dass Ihr als Erster Minister ausgezeichnete Arbeit leistet. Strenge Disziplin, eine klare Politik, die keine Ausnahmen macht, und eine Menge Säuberungen, damit alle auf Zack bleiben. Es muss Euch allerdings überaus stark beschäftigen, gleichzeitig die Militante Kirche, die Reine Menschheit und das Komitee für Materiewandlung zu leiten. Seid Ihr sicher, dass ich nicht zu viel von Euch verlange? Ich könnte jederzeit einige Eurer Aufgabengebiete jemand anderem übertragen...«
»Nein, danke, Eure Majestät«, sagte Joseph schnell. Nur Macht und Einfluss gewährleisteten heutzutage noch Sicherheit, und Joseph gedachte nicht, irgendetwas davon aufzugeben. Niemand war gefährlicher als ein ehrgeiziger Stellvertreter. »Ich bin froh, dass ich Eurer Majestät mit allen meinen Fähigkeiten zu Diensten sein kann.«
»Wirklich? Das ist wirklich süß von Euch, Joseph. Und nennt mich doch Finn. Nicht nötig, dass Freunde im privaten Rahmen so förmlich miteinander umgehen. Natürlich habe ich Euch, falls Ihr jemals in der Öffentlichkeit ins Vertraute abgleitet, ruckzuck an den Eiern. Standards müssen gewahrt bleiben. Wo war ich? Oh ja... Ihr seid hier, Joseph, weil ich mit jemandem reden muss. Jemandem auf meinem Niveau, mit dem ich offen sprechen kann, ohne dass mein Gesprächspartner hysterisch wird und ohne dass ich ihn anschließend hinrichten lassen muss. Welchen Sinn hätte es schließlich, seine Ziele zu erreichen oder über seine Feinde zu triumphieren, falls man niemanden hat, dem gegenüber man damit prahlen könnte? Prahlerei macht nur wenig Spaß, wenn man dabei allein ist.
Früher hatte ich Brett Ohnesorg und Rose Konstantin dafür und später Tel Markham; aber sie alle sind davongerannt und haben mich im Stich gelassen. Hab nie kapiert warum. Und nach allem, was ich für sie getan hatte, diese undankbaren kleinen Scheißer... haben sie mein Vertrauen verraten. Ihr würdet das nie tun, nicht wahr, Joseph? Nein, Ihr seid keiner von den Leuten, die so leicht in Panik geraten. Ich habe das Gefühl, dass ich mit Euch reden kann, Euch Dinge erzählen kann, die ich niemandem sonst gegenüber je erwähnen würde. Ihr solltet besser wissen als die meisten Leute, dass es keinen Spaß macht, Entsetzliches anzustellen, sofern kein Publikum da ist, das die Feinheiten zu würdigen versteht.«
Und Joseph Wallace, der als Oberhaupt des Komitees für Materiewandlung ganze fremde Lebensformen ausgelöscht hatte, weil sie ihm zu intelligent gewesen waren, nickte und räumte sich selbst gegenüber ein, dass er tatsächlich mehr begriff als die meisten. Trotzdem...
»Ihr seid der Imperator«, sagte er vorsichtig. »Sicherlich habt Ihr doch jede Menge Mitarbeiter, die...«
»Eiferer und Fanatiker machen einfach keinen Spaß«, erklärte Finn entschieden. »Viel zu höflich und ohne jeden Humor. So, Ihr werdet jetzt still dasitzen und zuhören, während ich rede, und schon kommen wir prima miteinander zurecht. Gebt Euch Mühe, mich von Zeit zu Zeit mit dem einen oder anderen Ausdruck der Hochachtung zu unterbrechen.«
Und so redete Finn und hörte Joseph zu, und Joseph stellte doch sehr überrascht fest, dass er aufrichtig fasziniert war. In Finns Kopf ging viel mehr vor, als den meisten Leuten je klar wurde.
Finn hatte sich zum Imperator aufgeschwungen, weil es ihn amüsierte. Zum Teil, weil er jetzt größer war als König Douglas jemals in seiner Amtszeit, und zum Teil, um alle Welt mit der Nase darauf zu stoßen, dass jetzt er, Finn, das Kommando führte und absolut nicht plante, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und doch war er jetzt, nachdem er den Titel des Imperators gewonnen hatte, ein bisschen unsicher, wie er weitermachen sollte. Er lebte in karger, fast spartanischer Umgebung mit nur den grundlegendsten Luxusgütern, weil solch geringe Freuden ihm einfach nichts mehr bedeuteten. Seine diversen Gelüste befriedigte er nach wie vor bis zum Exzess, wann immer es ihm möglich war, aber das waren flüchtige Erfahrungen. Nur Macht und Erfolg erfreuten ihn wirklich, und Macht war eine Sucht erzeugende Droge. Je mehr man hatte, nach desto mehr verlangte einem.
Und so stellte er zu seinem größten Verdruss fest: statt das Imperium niederzureißen und auf seine Ruinen zu pinkeln, wie er stets geplant hatte, arbeitete er jetzt die meiste Zeit hart daran, es stark und einig zu erhalten, damit es dem heraufziehenden Schrecken standzuhalten vermochte. Finn hatte schon immer klare Prioritäten gehabt.
Joseph wusste alles über den Schrecken. Wusste viel mehr als die meisten Leute, weshalb er ja auch so schlecht schlief. Der Imperator hatte ihn auf den höchsten Posten gehoben, den die Überreste der Zivilregierung noch zu bieten hatten, weshalb Joseph auch die ganzen aktuellen Berichte über den Schrekken zu lesen bekam, wie sie jeweils eintrafen. Die schlechte Nachricht lautete, dass der Schrecken weiterhin näher kam und das Imperium keine Möglichkeit hatte, ihn aufzuhalten. Die gute Nachricht... na ja, gute Nachrichten gab es nicht. Das durfte man den Menschen natürlich nicht sagen, also erschien Joseph häufig in der Öffentlichkeit und äußerte sich mit lauter und zuversichtlicher Stimme vage und beruhigend. (Der Imperator ging nur noch selten an die Öffentlichkeit, sehr zur Erleichterung der zivilen Regierung. Man konnte sich heutzutage nicht mehr darauf verlassen, dass sich der Imperator an den Redetext hielt, und manche seiner beiläufigen Bemerkungen konnten regelrecht bestürzend sein )
»Habt Ihr Familie, Joseph?«, erkundigte sich Finn.
Josephs Herz machte einen schmerzhaften Satz. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er eine solche Frage als verschleierte Drohung aufgefasst, neben der hungrig emotionelle Erpressung lauerte, aber Finn schien aufrichtig an der Antwort interessiert.
»Ich habe eine Frau, eine Geliebte und zwei Söhne«, antwortete Joseph. »Das Übliche.«
»Ah«, sagte Finn traurig, «Ich habe niemanden. Ich bin ein Einzelkind, und meine Eltern sind jung gestorben. Ich denke von jeher, dass das sehr egoistisch von ihnen war. Eine Zeit lang waren Douglas und Lewis meine Familie, so weit nur möglich... Ich dachte nicht, dass ich sie mal vermissen würde, aber manchmal tue ich das tatsächlich... Erzählt mir von den Sichtungen, Joseph. Den Todtsteltzer Sichtungen.«
»Nur Klatsch und Tratsch«, sagte Joseph wegwerfend. »Es sind Gerüchte, aber keine, denen zuzuhören sich lohnen würde: Leute sagen, sie würden jemanden kennen, der behauptet, Lewis gesehen zu haben, wie er den Straßen von Parade der Endlosen folgte. Oder manchmal auch Owen oder eine der übrigen Legendengestalten. Immer ist es der Freund eines Freundes, der solche Dinge sieht; nichts, was man wirklich festnageln könnte.«
»Inzwischen doch«, stellte Finn fest. »Zwei meiner Paragone wurden hier in der Stadt umgebracht. Und man berichtet, der Todtsteltzer hätte es getan.«
»Unmöglich!«, wandte Joseph schnell ein. »Meine Leute haben diesen Planeten solide abgeriegelt. Heutzutage kann ein Raumschiff nicht mal mehr vorbeifahren, ohne dass wir alles darüber erfahren. Könnt Ihr nicht die Elfen fragen, wer es war? Die Elfen, welche die Paragone steuern?«
»In diesem Fall war es der Überesper Kreischende Stille«, sagte Finn und verzog die Lippen kurz zu einer Schnute der Abscheu. »Und leider redet derzeit keiner der Überesper mit mir. Das würde mir Sorgen bereiten, falls ich ein Mensch des Schlages wäre, der sich leicht Sorgen macht, sodass sich als vorteilhaft erweist, dass das für mich nicht zutrifft. Außerdem würde sich Lewis nicht einfach anschleichen. Nicht sein Stil. Ich denke, er hält es für unter seiner Würde, dieser Idiot. Nein, er würde zuerst eine förmliche Herausforderung aussprechen und mir eine Chance bieten, ehrenvoll zu kapitulieren. Er hat die Möglichkeiten, die sich durch Verrat bieten, nie begriffen. Lewis hat nach dem Debakel auf Haden jetzt eine eigene Flotte, und wenn sie zu Besuch kommt, werden wir alles darüber wissen.«
Joseph war überrascht, wie gelassen Finn über diese Dinge sprach. Als der Imperator nämlich erfuhr, dass die nach Haden entsandte Flotte, die dort Lewis und seine Gefährten hatte umbringen sollen, dies nicht nur nicht getan hatte, sondern doch tatsächlich massenhaft zu den Rebellen übergelaufen war, vernahm man sein Geschrei im ganzen Palast. Diener rannten um ihr Leben, begleitet sogar von einigen Wachsoldaten. Finn hatte gerade erste Anzeichen an den Tag gelegt, sich wieder zu beruhigen, als Meldungen eintrafen und verkündeten, seine angeblichen Bundesgenossen, die KIs von Shub, hätten ihn ebenfalls verraten und das Labyrinth des Wahnsinns in ihre Gewalt gebracht, und prompt legte er erneut los. Die sich anschließenden Säuberungen verliefen besonders bösartig und weitreichend, und am nächsten Morgen hingen in der ganzen Stadt Männer und Frauen an Laternenpfählen.
Finn sah Josephs besorgte Miene und lachte leise. »Keine Panik; ich bin darüber hinweg. Der Verlust von Shub ist ein Rückschlag, aber ich hatte schon für alle Fälle Vorkehrungen getroffen. Ich verfüge über geheime Bundesgenossen und versteckte Superwaffen, die nur auf meinen Ruf warten. Ich werde die Heimatwelt von Shub in eine äquivalente Masse radioaktiven Staubes verwandeln, und meine loyale Flotte wird die Rebellenschiffe auseinanderpusten wie eine Ansammlung verfaulter Äpfel in der Nacht.«
Joseph nickte rasch. Bei jedem anderen hätte er solche Worte als Großspurigkeit abgetan, aber hier hatte er Finn vor sich, den Meister von Intrigen, die sich wiederum hinter Intrigen versteckten, und von Geheimnissen, die sich hinter Verschwörungen verbargen. Er meinte das womöglich vollkommen ernst. Wagemutig brachte Joseph ein Thema zur Sprache, das normalerweise verboten war.
»Und... Owen? Glaubt Ihr wirklich an die Meldungen! Dass der selige Owen persönlich zurückgekehrt ist und sich mit seinem Nachfahren gegen Euch verbündet hat?«
»Ich frage Euch«, sagte Finn. »Klingt das auch nur wahrscheinlich? Tot ist tot. Ich sollte das wissen; ich habe den Tod von Millionen befohlen, und keiner davon ist je zurückgekehrt und hat sich beschwert. Das ist nur Rebellenpropaganda. Ich wünschte, es wäre mir zuerst eingefallen...«
»Es kursieren halt Gerüchte«, wandte Joseph vorsichtig ein. »Gänzlich unbestätigte Meldungen natürlich, aber trotzdem... manche Leute sagen, der selige Owen persönlich hätte den Befehl über die HadenFlotte übernommen...«
»Falls Owen Todtsteltzer wirklich zurückgekehrt wäre« sagte Finn, »wüssten wir es. Er würde keine Flotte brauchen. Er wäre direkt hier aufgetaucht, hätte an die Tür meines Palastes gehämmert und mich beim Namen gerufen, und ich würde mich unter dem Bett verstecken und mir in die Hose machen. Nein, wenn Owen, der verdammte Todtsteltzer, jemals zurückkehrt, wird sich der Himmel öffnen, und er wird umgeben von Engeln herabsteigen. Ich persönlich glaube das erst, wenn ich es sehe, und nicht vorher. Aber tatsächlich würde ich mich über seine Rückkehr fast freuen, falls er sagte, er könnte den Schrekken aufhalten. Wahrscheinlich käme ich mit Owen klar.«
Finn lehnte sich zurück und brütete schweigend vor sich hin, verloren in den eigenen entsetzlichen Gedanken, und Joseph ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, seinen Imperator unauffällig zu mustern. Finn hatte immer noch dasselbe klassisch gut aussehende Gesicht, aber es war inzwischen tief gezeichnet von Anspannung und Sorgen, und die Augen leuchteten doch ein klein wenig zu hell. Er wirkte... wie ein in die Enge getriebenes Tier, verzweifelt, konzentriert und immer noch sehr, sehr gefährlich. Trotz seiner Wutanfälle und seines bösartigen Temperaments konnte Finn nach wie vor ruhig und vernünftig sein, wenn es nötig war, und die Macht hatte er nie fester im Griff gehalten. Der Zweite hinter einem solchen Mann zu sein, das würde sich nie als leichte Aufgabe erweisen, aber Joseph vertraute in die eigene Fähigkeit zu überleben, wenn schon nichts anderes. Alles Furchtbare, was er getan oder befohlen hatte, war in Finns Namen geschehen. Josephs Stellung war vielleicht mehr als nur ein bisschen gefährlich, aber manchmal kann man nichts anderes tun, als sich mit beiden Händen auf dem verdammten Tiger festzuhalten. Und wenn schon nichts linderes, so war das doch ein aufregender Ritt... Schließlich konnte Finn nicht ewig leben. Egal wie viel Zeit er bei dem berüchtigten Dr. Glücklich verbrachte. Nein, irgendwann stürzte Finn, und dann konnte ein kluger und vorbereiteter Mann leicht vortreten und übernehmen...
»Ich möchte Materiewandler auf Umlaufbahnen um Logres haben«, erklärte Finn unvermittelt. »Nicht nötig, sie einzuschalten - noch nicht. Nein, schon ihr Vorhandensein wird alle Welt daran erinnern, wer hier das Zepter schwingt, und die Leute von diesen albernen Gerüchten über einen zurückgekehrten Owen ablenken. Die Maschinen dienen auch als Warnung an Lewis und seine verdammte Flotte und werden ihnen verdeutlichen, was ich tue, falls sie meine Stellung hier in Frage stellen.«
Joseph musterte Finn unsicher. »Ihr möchtet wirklich damit drohen, die Heimatwelt der Menschen zu vernichten?«
Finn lächelte entspannt. »Drohen? Mein lieber naiver Joseph, ich reinige diesen ganzen Planeten von allem und jedem, ehe ich ihn aufgebe. Was mich sauber zum zweiten Grund führt, warum ich Euch eingeladen habe. Erzählt mir von Usher Zwei. Wie laufen die Vorbereitungen?«
Joseph schluckte schwer und zwang sich zur Konzentration auf den unglücklichen Planeten, der als Nächster im Weg des Schreckens lag. Usher II war ein Industrieplanet, spezialisiert auf die Herstellung von Sternenschifftriebwerken und all der dazugehörigen Technik. Der ganze Planet verschwand unter den Fabriken und diente auf diese Weise dem Bedarf des ganzen Imperiums. Und da die Wissenschaftler des Imperiums nach wie vor nicht das Wesen jener Technik verstanden, die auf dem vor so langer Zeit auf Unseeli abgestürzten fremden Raumschiff beruhte, mussten die meisten Arbeiten nach wie vor von Hand geleistet werden. Von Menschenhand. Es war eine viel zu präzise Arbeit, um sie Lektronen anzuvertrauen. Die KIs von Shub lieferten Automaten für die wirklich gefährlichen Arbeiten, aber selbst diese wurden von Menschen bedient. Sämtliche Werke auf Usher II liefen derzeit vierundzwanzig Stunden pro Tag, Schicht auf Schicht, um einen Überschuss für jenen Tag bereitzustellen, an dem der Planet zerstört sein würde, falls das sein Schicksal war.
»Gerade jetzt, wo ich alle Schiffe brauche, die ich nur auftreiben kann«, murrte Finn, »um sie Lewis und seiner Verräterflotte entgegenzustellen. Erzählt mir, dass es doch ein paar gute Nachrichten gibt, Joseph, falls Ihr an Euren Hoden hängt.«
»Die Evakuierung läuft ... besser als erwartet«, sagte Joseph vorsichtig, »aber nach wie vor ziemlich langsam. Wir hatten uns darauf verlassen, dass Shub noch viele weitere Automaten schickt, aber sie sind nie eingetroffen. Natürlich kennen wir jetzt den Grund. Und den Menschentechnikern dürfen wir erst im letzten Augenblick erlauben, dass sie den Planeten verlassen. Wir halten ihre Familien unter Bewachung, damit sich die Techniker ... auf ihre Arbeit konzentrieren. Alle sind sehr motiviert - und wer nicht, wird in ein Exempel dafür umgewandelt, warum das eine sehr schlechte Idee ist. Aber ... letztlich werden wir auch ihnen die Evakuierung gestatten müssen. Wir brauchen anschließend noch ihre Fachkenntnisse. Selbstverständlich erhalten sie Prioritätszugang zu den Evakuierungsschiffen. Die übrige Bevölkerung ist entbehrlich, obwohl ihr das natürlich niemand gesagt hat.«
»Keine wirklich guten Nachrichten, aber ein tapferer Versuch«, meinte Finn. »Ich hatte gehofft, die auf den bezwungenen Planeten der Fremdwesen beschlagnahmte Technik erwiese sich als praktisch, aber wir haben im Grunde nichts erbeutet, was sich wirklich gelohnt hätte. Ich hatte immer den Verdacht, die hinterhältigen Fremdwesen würden mir vieles vorenthalten, denn an ihrer Stelle hätte ich es ebenso getan; anscheinend war das jedoch ein Irrtum. Keine bedeutsamen Waffen in der Hinterhand, keine heimlichen Weltuntergangsmaschinen; ich bin richtig enttäuscht von ihnen. Und mit dem bisschen Technik, das wir erbeutet haben, können meine Wissenschaftler, meine angeblich so brillanten Experten, kaum etwas anfangen. Nur eine Information konnten wir retten: einen gänzlich theoretischen Plan, wie man eine Sonne in eine Supernova verwandeln kann und deren Energie als Waffe kanalisiert. Meine Leute bauen derzeit schon daran.«
»Ihr meint ... so etwas wie den Dunkelwüstengenerator?«, fragte Joseph, als er die Stimme wieder in der Gewalt hatte.
»Leider nicht wirklich in diesem Maßstab. Die Grundzüge der Idee lauten: Wir setzen diese Waffe gegen eine der beiden Sonnen von Usher II ein, verwandeln sie in eine Supernova und leiten die gesamte dabei erzeugte Energie in einen einzelnen Feuerstoß gegen den Herold des Schreckens, sobald er in Reichweite ist. Meine Leute sind nicht völlig davon überzeugt, dass man diese Energien beherrschen oder damit auch nur richtig zielen kann, aber.. frisch gewagt ist halb gewonnen. Ich bin sicher, dass das ein sehr hübscher Anblick sein wird. Natürlich nur, solange man sich nicht selbst auf Usher II aufhält.«
»Ein Dunkelwüstengenerator für Arme, bei dem wir noch nicht mal wissen, ob wir damit richtig zielen können?«, fragte Joseph. »Finn ...«
»Solange wir ihn an- und abschalten können, kommt es auf mehr nicht an. Regt Euch nicht auf, Joseph.«
»Aber selbst wenn die Waffe funktioniert, können wir damit Usher II nicht retten. Der Planet kann es unmöglich überstehen, dass eine seiner Sonnen hochgeht.«
»Solange der Schrecken damit aufgehalten wird, ist es mir wirklich scheißegal«, stellte Finn munter fest. »Trotzdem brauchen wir für den Fall, dass die Waffe zwar wie geplant funktioniert, aber nicht den Schrecken aufhält, einen Reserveplan. Und hier kommt Ihr ins Spiel, Joseph. Habt Ihr die Materiewandler in Stellung gebracht, wie ich es befohlen hatte?«
»Sie werden heute Abend im Orbit von Usher II sein. Natürlich allesamt hinter Sensorschilden versteckt. Sie wurden dazu programmiert, den gesamten Planeten und alles darauf in die abscheulichste Schweinerei zu verwandeln, die sich unsere Wissenschaftler ausdenken konnten. Der Planet wird durch und durch vergiftet sein, hochgradig radioaktiv und womöglich sogar auf Quantenebene instabil. Theoretisch dürfte der Schrecken Usher II nicht verschlingen können, ohne sich dadurch selbst zu vergiften. Allerdings sollte ich, wie ich finde, zu bedenken geben, dass der Schrecken auch beschließen könnte, dem Planeten einfach auszuweichen und seinen Weg fortzusetzen, und dass dann der gesamte Quadrant auf Jahrtausende hinaus unzugänglich bleiben wird. Vielleicht sogar auf Jahrhunderttausende.«
Finn seufzte. »Muss ich Euch den Begriff entbehrlich wirklich noch einmal erklären?«
Joseph nickte steif. »Da der Einsatz der Materiewandler unausweichlich den Tod der Bevölkerung auf Usher II herbeiführt, sind wirklich nur die allernötigsten Personen eingeweiht. Schade, dass wir nicht zuerst einen Teil der Fabriktechnik bergen können, aber dadurch würden wir uns verraten.«
»Ihr macht Euch zu viele Sorgen um Dinge, die nicht von Belang sind, Joseph«, erklärte Finn. »Vielleicht ... würde der Schrecken einfach verhungern, falls wir Usher II vernichteten, ehe er den Planeten erreicht, und falls wir dann mit allen weiteren Planeten auf seinem Kurs das Gleiche anstellten. Oder vielleicht versteht er den Hinweis und wendet sich woandershin.«
»Ich denke, uns gingen die Planeten eher aus als ihm der Hunger«, wandte Joseph vorsichtig ein. »Außerdem solltet Ihr die Milliarden Menschenleben bedenken, die verloren gingen. Es gibt eine Grenze für das, was das Volk des Imperiums schluckt.«
»Wirklich?«, fragte Finn. Joseph konnte den Blick des Imperators nicht erwidern. Er wollte das Thema wechseln, aber Finn hakte nach. »Wir sollten einander richtig verstehen, Erster Minister. Ich beschütze das Imperium, weil es mir gehört. Ich kann damit spielen, mich daran ergötzen, es zerstören, wenn ich genug davon habe. Es gehört nicht dem Schrecken. Ich werde einen Weg finden, um den Schrecken zu vernichten, und dann ... Oh, was ich alles anstellen werde! Die Leute werden sich wünschen, der Schrecken hätte sie verschlungen.«
»Vielleicht benötigt Ihr ... eine Ablenkung«, sagte Joseph, der doch ein bisschen verzweifelt war. »Etwas, was Euch auf andere Gedanken bringt. Ich habe mit einigen Eurer übrigen Ratgeber gesprochen, und uns kam die Idee, dass Ihr jetzt, wo Ihr Imperator seid, wirklich verpflichtet seid, zu heiraten und einen Erben hervorzubringen, der Eure Linie fortsetzt. Falls Ihr uns gestattet...«
»Nein«, entgegnete Finn. »Das ist nicht nötig. Nach mir gibt es gar nichts mehr.«

Der Slum war die letzte sichere Zuflucht für Rebellen auf Logres. Infolgedessen war dieses Gaunerparadies, diese Stadt innerhalb einer Stadt inzwischen unmöglich übervölkert und drohte, praktisch aus den Nähten zu platzen. Der Slum war der letzte Winkel, in den man von Finns Agenten nicht verfolgt wurde. Vorläufig zumindest. Das verborgene, verfaulte Herz der berühmtesten imperialen Stadt war inzwischen ein unglaublich gefährlicher, gewalttätiger Ort. Den ursprünglichen Bewohnern fiel es durch das vom Imperator verhängte Kriegsrecht immer schwerer, wie in alter Zeit Jagd auf Außenstehende zu machen, und so waren sie dazu übergegangen, Jagd aufeinander zu machen. Und ganz besonders auf Neuankömmlinge, die schnell lernten, dass ihnen nur geballtes Auftreten Sicherheit schenkte. Der Slum war inzwischen der absolut falsche Platz dafür, allein zu bleiben. Und doch strömten nach wie vor Menschen hinein, denn egal wie übel es im Slum zuging, überall sonst war es noch schlimmer.

Jeder im Slum hatte eine ihm nahe stehende Person durch Finns Leute verloren oder kannte jemanden, dem es so ging. Viel dumpfer Zorn hing über den dicht bevölkerten Straßen und in den rauchigen und überteuerten Kneipen, bündelte sich bislang aber kaum. Der Imperator war einfach als Angriffsziel zu stark für die niedergeschlagenen Geister der Menschen hier. Einziges Ventil dieses Zorns war der Aufstand der Slumbewohner gegen all jene gewesen, die Finn bei seinem Aufstieg zur Macht verholfen hatten. Man hatte die Provokateure aus ihren Schlupfwinkeln ausgeräuchert und sie wie Köter durch die Straßen gehetzt. Jeder, der sonst noch mit oder für Finn Durandal gearbeitet hatte, verhielt sich heutzutage sehr schweigsam, aus Angst, als Spion oder Informant denunziert zu werden. Schon das entsprechende Gerücht war genug, um einen Mob auf den Plan zu rufen, der nach Blut schrie, und verstümmelte Leichen verstopften bald die Gossen. Alle Welt rechnete damit, dass der Imperator irgendwann eine Invasion des Slums anordnen würde, aber niemand unternahm etwas dagegen. Es gab keine Versammlungen, keine Pläne, keine Abwehr. Niemand traute irgendjemandem über den Weg.

Douglas Feldglöck, ehemals König, und Stuart Lennox, ehemals Paragon, arbeiteten heute als maskierte, käufliche Desperados und beschützten das flohverseuchte Hotel, in dem sie wohnten, gegen die vielen Raubtiere von der Straße. Maskierte Desperados waren heutzutage ein gewohnter Anblick im Slum. Viele Leute hatten gute Gründe zu verbergen, wer sie waren. Douglas und Stuart trugen schlichte Ledermasken und billige, aber praktische Kleidung. Die besseren Sachen, in denen sie eingetroffen waren, hatten sie verkauft, um die nötigen Mittel für das einzelne Hotelzimmer aufzubringen, in dem Douglas und Stuart und Nina Malapert inzwischen hausten.

Das Laternenhaus war eines der ältesten noch existierenden Hotels im Slum und sah auch ganz danach aus. Das niedrige, hässliche Gebäude war dunkel, feucht und ausgesprochen heruntergekommen, und seit Generationen hatte niemand mehr Geld hineingesteckt. Die Außenmauern waren schwarz von Ruß und Dreck; die Fenster reichten für nicht viel mehr, als gerade noch Licht hindurchzulassen, und seit Menschengedenken lagen keine Platten mehr auf dem Dach. Im Sommer war es erstickend heiß und im Winter bitterkalt, und jeder Raum wurde komplett mit warmen und kalten fließenden Ratten angeboten. Ganz zu schweigen von den Bettwanzen. (Zu Anfang glaubte Douglas, das Einzelbett wäre mit einem Vibriermechanismus ausgestattet, und er reagierte mit ernster und lautstarker Empörung, als ihm die Tatsachen erkennbar wurden.) Aber es war ein Zimmer, und Zimmer waren schwer zu kriegen, also beklagte sich niemand.

Douglas und Stuart standen für freie Kost und Logis dem Hotel als käufliche Desperados zur Verfügung. Es war nicht viel, aber mehr, als eine Menge Leute hatten. Manche mussten jeden Abend um ihren Platz in einem Eingang oder einer Pappschachtel kämpfen. Nina ging es ansatzweise besser. Zusammen mit einigen weiteren abtrünnigen Medienleuten arbeitete sie an einer Nachrichten-Website der Rebellen und zapfte immer wieder mal kurz die Hauptmedienleitungen an, um dem Äther ab und an ein bisschen Wahrheit abzuringen. Bislang war damit kein Geld zu verdienen, aber Nina hegte große Hoffnungen für die Zukunft. Im Slum traf man eine ganze Menge ehemalige Medienleute, seit Finns Leute sämtliche offiziellen Medien vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Shows waren nicht mehr zu sehen, nur pausenlose Propaganda. An dem Tag, als Die feine Gesellschaft aus dem Programm flog, kam es zwar zu Aufständen, aber Finn wies seine Leute einfach an, die Aufrührer als Zielscheiben für ihre Schießübungen zu benutzen, bis die Menge den Hinweis verstand und nach Hause schlich. Viele Nachrichtenleute hatten jedoch ihre technischen Kenntnisse in den Slum mitgebracht, und so lief die Nachrichten-Site der Rebellen schon. Leider war teure und schwer erhältliche Technik nötig, um sie in Gang zu halten und weiter die Firewalls der offiziellen Zensoren zu durchbrechen, sodass die Finanzierung ein ständiges Problem darstellte. Schließlich konnte man auch nicht einfach Werbeblöcke vermarkten.

Douglas und Stuart schoben seit dem ersten Tageslicht Wache am Eingang zum Laternenhaus, und es war inzwischen fast Mittag. Seit Stunden ging ein Nieselregen nieder, ein kalter, betäubender, beharrlicher Niederschlag, der alles und jeden bis ins Mark durchnässte. Die Kanalisation floss wieder mal über, und der Gestank in den Straßen war beinahe unerträglich. Der bleierne, düstere Tag senkte sich als Stimmungslage über alle Welt. Die Menschen schlichen auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause oder zu irgendwas, was ein bisschen Geld einbrachte, die engen Straßen entlang und hielten die Köpfe gesenkt, um einander nicht in die Augen blicken zu müssen. Die Zeiten waren hart.

Diebe fanden kaum noch Beute, und Ratten entwickelten sich zu einer Delikatesse. Aber so eng es auf der Straße auch zuging, alle Welt wich den beiden maskierten Desperados vor dem Laternenhaus weiträumig aus. Douglas und Stuart hatten schon oft ihre Bereitschaft demonstriert, das Hotel zu schützen, und waren dabei auf eine professionell gewalttätige und beunruhigend gründliche Art zu Werke gegangen, die sogar von den abgehärteten Bewohnern des Slums als eindrucksvoll empfunden wurde. Weshalb die beiden Männer auch ein bisschen überrascht auf den Anblick einer kleinen Schar schwer bewaffneter Männer reagierten, die auf sie zukamen. Die circa ein Dutzend Männer bewegten sich wie professionelle Kämpfer, und obgleich sie bislang noch keine Waffen gezogen hatten, strahlten sie etwas aus, was das Aufblitzen der Mordwerkzeuge nur noch als Frage der Zeit erscheinen ließ.

»Kennst du sie?«, wollte Douglas leise von Stuart wissen.
»Einige. Es sind Brion de Racks Männer. Ein Schutzgeldring. So ziemlich jeder hier bezahlt de Rack, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Normalerweise nimmt er jedoch größere Geschäfte aufs Korn, nicht Absteigen wie unsere hier.«
»Vielleicht erweitert er seine Geschäftsgrundlage. Wie möchtest du vorgehen?«
»Oh, auf die übliche Art«, sagte Stuart und legte eine Hand auf den Schwertgriff. »Zuerst ein Versuch mit der Vernunft, dann die zügige Eskalation zu extremer Gewalttätigkeit.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Douglas.
Die circa ein Dutzend Schläger und Raufbolde blieben in respektvoller Distanz zu den beiden maskierten Desperados stehen. Die Straße leerte sich rasch, als aller Welt auf einmal siedend heiß einfiel, dass anderswo dringende Geschäfte warteten. Fensterläden schlugen auf ganzer Länge der Straße zu wie prasselnder Applaus. Sogar der Nieselregen schien sich ein wenig zurückzuhalten, als wäre er gespannt auf das, was geschehen würde. Einer der Männer trat vor und baute sich vor Douglas und Stuart auf. Er war größer und breiter als die meisten und hatte sich eine Fettschicht über den Muskeln angefuttert, um zu demonstrieren, dass er zu den wenigen Leuten im Slum gehörte, die nach wie vor gut und häufig speisten. Er trug einen langen, schweren Ledermantel, über und über mit stählernen Piercings dekoriert. Eine Reihe menschlicher Skalps waren als Trophäen auf einen Ärmel genäht. Der Mann trug unter einem flachen, dunklen, breitkrempigen Hut Spritzer aus leuchtenden Farben im Gesicht. Er schenkte Douglas und Stuart ein entspanntes Lächeln, aber es erstreckte sich nicht auf seine Augen.
»Macht Platz, Jungs. Ich habe Geschäfte mit dem Inhaber.«
»Wir machen nicht Platz«, entgegnete Douglas ruhig. »Das wäre schlecht für unseren Ruf. Wenn du mit dem Inhaber sprechen möchtest, musst du erst mit uns reden.«
»Na, das ist aber eine sehr unfreundliche Haltung! Ihr möchtet doch nicht meine Gefühle verletzen, oder?«
»Man bezahlt uns nicht genug, um freundlich zu sein«, erklärte Stuart.
»Okay. Ich bin diesmal großzügig, um unnötige Schwierigkeiten zu vermeiden. Ich heiße Sewell. Ich arbeite für Brion de Rack. Wir sind hier auf seinem Gebiet. Wer auf seinem Gebiet wohnt, zahlt ihm Tribut. So liegen die Dinge nun einmal. Im Gegenzug sorgen wir dafür, dass eurem Eigentum nichts grauenhaft Zerstörerisches widerfährt. Oder sogar euch persönlich. Hässliche Sachen passieren ganz schön häufig, wenn man nicht de Racks Freund ist.«
»Wir sind im Grunde kleine Fische für de Rack, nicht wahr?«, fragte Douglas.
»Die Zeiten sind schwierig. So, ihr habt jetzt eine gute Show hingelegt; der Ehre wurde Genüge getan, also macht Platz.«
»Die alte Schutzgeldmasche«, sagte Stuart, und in seiner ruhigen, leisen Stimme schwang etwas mit, was Sewell veranlasste, ihn scharf anzublicken. »Eine abscheuliche kleine Gaunerei, wenn man es richtig betrachtet. Auf Angst und Einschüchterung und einer Fassade der Unverwundbarkeit aufgebaut. Zum Pech für de Rack und dich sind mein Partner und ich nicht so leicht einzuschüchtern. Wir waren zu unserer Zeit schon mit viel Schlimmerem konfrontiert.«
»Wir sind hier, um das Hotel vor Abschaum wie dir zu beschützen, Sewell«. erklärte Douglas. »Und wir sind richtig stolz auf unsere Arbeit, Also geh weiter. Oder wir gehen über dich hinweg.«
Sewell musterte sie eine ganze Weile lang und konnte scheinbar nicht glauben, was er zu hören bekam. Er lächelte nicht mehr. »Hört mal, Lederfratzen
- wir sind auf de Racks Gebiet! Dieses Gebiet und jedermann darauf gehört ihm. Ihr wohnt hier nur, weil er es euch gestattet, und falls ihr ihm lästig fallt, werdet ihr auch nicht mehr hier wohnen können. Und wer mich beleidigt, beleidigt automatisch auch ihn.« »Was für ein wunderbares, zeitsparendes System!«, fand Stuart.
»Das reicht!«, sagte Sewell. »Manchen Leuten ist einfach nicht zu helfen. Lasst die Waffen fallen, kniet nieder und bittet um Verzeihung; dann lassen wir euch mit einer Tracht Prügel davonkommen. Falls wir hier allerdings richtig arbeiten müssen, schneiden wir euch auf und gucken mal, welche Farbe eure Eingeweide nun wirklich haben.«
»Wir halten nichts vom Knien«, stellte Douglas fest. »Schlecht für den Ruf und die Hose. Beult die Hose aus. Jetzt verzieh dich, Furzgesicht!«
Sewell lief dunkel an und wandte sich seinen Männern zu. »Bringt sie um. Und sorgt dabei für eine richtige Schweinerei.«
Er wollte gerade noch weiterreden, als Douglas den versteckten Disruptor zog und Sewell in die Brust schoss. Der Energiestrahl durchbohrte den Mann vollständig und schleuderte die Leiche in die Gruppe seiner Männer. Diese liefen mit bestürzten Rufen auseinander wie erschrockene Vögel, und Sewell landete der Länge nach in der Gosse. Die Vorderseite des Ledermantels brannte. Die Schläger kamen endlich auf die Idee, die eigenen Waffen zu ziehen, aber da waren Douglas und Stuart schon zwischen ihnen, die Schwerter gezückt. Die Raufbolde versuchten, sich zum Kampf zu stellen, aber es lag lange zurück, dass sie es mit ernst zu nehmenden Gegnern zu tun gehabt hatten. Gegen zwei ehemalige Paragone hatten sie keine Chance. Douglas und Stuart bahnten sich mit bösartiger Geschicklichkeit einen Weg durch sie hindurch, gingen dabei fließend und gewandt zu Werk und hielten sich gegenseitig ständig den Rücken frei. Sie arbeiteten gut zusammen. Ihre Schwerter blitzten im düsteren Licht hell auf wie Hoffnungsstrahlen, und Blut bildete Pfützen auf dem Erdboden und wurde dort vom trägen Nieselregen kaum verdünnt. Männer gingen mit durchschnittenen Hälsen und klaffenden Wunden zu Boden und standen nicht wieder auf. Schneller, als irgendjemand es für möglich gehalten hätte, war alles vorbei. Douglas und Stuart standen nebeneinander und atmeten nur ansatzweise schwerer als sonst, während ihnen Blut dick von den Schwertklingen tropfte. Der einzige überlebende Raufbold stand mit dem Rücken an der Wand und blickte die beiden Desperados aus großen, entsetzten Augen an. Douglas und Stuart wandten sich ihm zu, und er ließ sofort das Schwert fallen und hob die zitternden Hände.
»Wer seid ihr? Was seid ihr? Niemand kämpft so!« »Wir sind Douglas und Stuart, käufliche Desperados, und mehr braucht niemand zu wissen«, antwortete Douglas. (Er und Stuart hatten zunächst falsche Namen benutzt, als sie im Slum eintrafen, aber sie vergaßen sie häufig oder verwechselten sie, sodass sie wieder darauf verzichteten. Douglas und Stuart waren zwei ohnehin recht verbreitete Namen.) »Und falls du dich fragst, warum wir dich leben lassen: weil du de Rack eine Botschaft überbringen wirst! Sag' ihm Folgendes: Lass uns in Ruhe. Lass das Laternenhaus in Ruhe. Tu so, als hätte dieser unerfreuliche Zwischenfall nie stattgefunden. Dann können wir alle einem langen und profitablen Leben entgegensehen. Bemühe dich, überzeugend zu sein, denn die Alternative würde de Rack nicht gefallen. Nein, wirklich nicht! Jetzt verschwinde und lass dich nie wieder blicken.«
Der Raufbold nahm sofort die Beine in die Hand, als er sicher war, die gesamte Botschaft verstanden zu haben. Ein gedämpfter Chor von Buh- und Jubelrufen folgte ihm hinter den geschlossenen Fensterläden hervor. Stuart verbeugte sich munter, und dann durchstöberten er und Douglas die Taschen der toten Männer. Harte Zeiten verlangten nach harten Maßnahmen, und nach der Herkunft von Geld fragte im Slum niemand. Sobald Douglas und Stuart sicher waren, dass sie alles von Wert eingesteckt hatten, kehrten sie auf ihren Posten vor dem Hoteleingang zurück und führten eine Bestandsaufnahme der Beute durch. Es war nicht viel. Langsam ließen sich wieder die ersten Leute auf der Straße blicken und raubten den Leichen die Kleider. Douglas seufzte schwer.
»Mir ist dieser Ort zuwider. Menschen dürften nicht gezwungen sein, so zu leben.«
»Es ist nun mal der Slum«, meinte Stuart. »Hier läuft es anders. Das war schon immer so.«
»Nicht ganz so. So schlimm war es früher nicht.«
Sie sahen zu, wie die wachsende Menge sich um die wenigen verbliebenen Habseligkeiten der Toten zankte. Bis zum Einbruch der Nacht würden die Leichen verschwunden sein, und man war klug beraten, wenn man nicht fragte, wohin.
»Wie Ratten auf einem Friedhof«, fand Douglas.
»Sogar Ratten müssen fressen«, sagte Stuart.
Douglas schniefte laut. Stuart sah ihn an. Er versuchte, dem verstörten, nachdenklichen Douglas zu helfen, schon seit sie im Slum waren, aber der Mann, der früher König gewesen war und jeden und alles verloren hatte, woran er je geglaubt hatte, wollte keine Hilfe. Die Äußerungen von eben waren das Erste, was Stuart seit Tagen von Douglas gehört hatte - wahrscheinlich, weil der Feldglöck anscheinend immer nur dann richtig lebendig wurde, wenn er kämpfte. Und selbst dann kämpfte er eher mit Präzision als mit Leidenschaft. Stuart versuchte zwar weiter, ihn aus sich herauszulocken, aber Douglas schien nicht bereit oder willens, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Als wäre es schwer genug, jeden Tag hinter sich zu bringen. Der Mann, der früher König gewesen war, wirkte heute ständig müde, körperlich und seelisch. Er zog sich immer tiefer in sich selbst zurück, ungeachtet aller Versuche Stuarts oder Nmas, ihm zu helfen.
»Die Lage dürfte nicht so sein«, sagte Douglas wieder und Stuart stellte überrascht und erfreut fest, dass er der Stimme des Feldglöcks Gefühle entnehmen konnte. »Wir sollten etwas unternehmen ... irgendetwas, um diesen Menschen zu helfen. Wir hüben als Paragone einen Eid geschworen, die Menschen zu beschützen. Erinnerst du dich?«
»Ja«, sagte Stuart. »Ich erinnere mich. Ich war mir nicht sicher, ob du es noch tust.«

Einige Stunden später traf ihre Ablösung ein, und Douglas und Stuart gingen ins Haus, um ihre einzige Tagesmahlzeit einzunehmen. Die Ablösung bestand aus schlichten Söldnern vom örtlichen Söldnerhaus. Nichts Besonderes; dort schickte man jeweils los, wer verfügbar war. Die beiden Schläger nickten Douglas und Stuart respektvoll zu, als die beiden Desperados sich ins Haus zurückzogen. Die Eingangshalle machte nicht viel her - die Farbe blätterte von den Wänden ab, Sägemehl lag auf dem Fußboden, und Stühle suchte man vergeblich. Nichts, was irgendjemanden verlockt hätte, sich hier aufzuhalten. Nur eine ramponierte alte Rezeption, wo sich das Personal durch ein schweres Metallgitter vor den Gästen schützte. Ein Fahrstuhl wartete an der Rückwand, aber er funktionierte nur sporadisch und erweckte beim potenziellen Benutzer kein Vertrauen. Douglas und Stuart stiegen über fünf Etagen die Treppe zu ihrem gemeinsamen Zimmer hinauf und kümmerten sich dabei nicht um die Hand voll zerlumpter Gestalten, die dafür zahlten, dass sie im Treppenhaus schlafen durften.

Nina Malapert war schon zu Hause und deckte gerade den Tisch, was ein schlechtes Zeichen war. Sie kehrte immer nur dann so früh zurück, wenn die Arbeit des Tages besonders schlecht gelaufen war. Die Art, wie sie das Geschirr hinknallte, bot dafür schon Beleg genug, auch ohne ihr finsteres Gesicht. Sie nickte kurz, als sich die beiden Männer müde an den Tisch setzten. Das Zimmer war nicht groß, und allein der Tisch beanspruchte den größten Teil des verfügbaren Platzes, wenn er komplett ausgeklappt war. Das Abendessen brodelte auf einer Heizplatte in gefährlicher Nähe zum einzigen Bett. (Douglas und Stuart teilten sich dieses Bett. Nina hatte sich aus Decken in einer Ecke ein Nest gebaut.) Das Zimmer hatte nur ein Fenster, verschmiert mit dem Dreck von Jahren.

Douglas und Stuart setzten die Ledermasken ab und legten sie neben ihre Teller auf den Tisch. Die Gesichter fühlten sich noch heiß und verschwitzt an von dem Leder, obwohl sich die Kälte des frühen Abends schon einen Weg ins Zimmer gebahnt hatte. Douglas Feldglöck war mit seiner edlen Stirn und der gewaltigen blonden Mähne immer noch ein gut aussehender Mann, aber mehr denn je erinnerte er an einen verletzten Löwen, den Schakale niedergerungen hatten; ein großer Mann, gestürzt von zu vielen Verlusten und dem unerträglichen Gewicht einer Verantwortung, von der er sich nicht zu befreien vermochte. Stuart Lennox sah viel älter aus, als er an Jahren war - ein strenger junger Mann mit einem abgespannten, fast hageren Gesicht, der Blick immer ein bisschen abwesend. Er lächelte nur noch selten. Und sogar Nina Malapert war nicht mehr der glückliche, sprudelnde freie Geist von früher. Die tollkühne Reporterin, die der Gefahr ins Gesicht lachte und alles für eine Story tat, war im Grunde nicht verschwunden, wurde nur unterdrückt von der Last des Lebens im Slum; es hatte jedoch wirklich den Anschein, dass sie nicht mehr so viel lächelte wie früher. Ihr hoher, rosa Irokesenschnitt hüpfte ärgerlich, als sie das Essen austeilte.

Douglas sah sich an, wie Nina herumfuhrwerkte, und bemühte sich angestrengt darum, etwas zu fühlen ... irgendetwas! Und genau das fiel ihm inzwischen richtig schwer. Seine Familie war tot, seine Freunde fort, seine Aufgaben waren ihm geraubt worden. Er kam sich ohne all das verloren vor. Er war nicht mehr König und nicht mehr Paragon, verstand sich aber auch nicht darauf, irgendetwas anderes zu sein. Also absolvierte er einfach seine Routine und brachte die Tage hinter sich, bis er endlich zu Bett gehen und im Schlaf Vergessen finden konnte. Er betrachtete die abgelegte Ledermaske des Desperados neben seinem Teller. Manchmal glaubte er, in ihr inzwischen sein echtes Gesicht zu erblicken. Er spürte, wie Stuart ihn ansah, und starrte auf das Zeug auf seinem Teller, damit er Stuarts Blick nicht zu erwidern brauchte. Er wusste, dass ihm der ernste junge Mann nur helfen wollte, aber Douglas wollte nicht, dass man ihm half. Er wollte taub sein, damit er nicht nachdenken oder fühlen oder sich erinnern musste.

Wenn man den Nachrichten-Websites der offiziellen Medien Glauben schenkte, war Anne Barclay tot. Bei Douglas wagemutiger Flucht aus dem Gerichtssaal von herabstürzenden Trümmerstücken getötet. Wieder war eine alte Freundin seinetwegen zu Tode gekommen. Nina versuchte ihm zu erklären, dass man nichts glauben konnte, was die offiziellen Websites heutzutage meldeten, aber Nina wollte wohl einfach nur freundlich sein. Wenigstens waren Lewis und Jesamine noch irgendwo dort draußen und entzogen sich der Gefangennahme. Douglas hoffte, dass wenigstens sie glücklich waren. Er sehnte sich verzweifelt danach, dass irgendjemand glücklich sein möge inmitten all des Schlamassels, den er angerichtet hatte.

Er betrachtete sein Abendessen. Es machte nicht viel her, aber so war das jeden Tag. Faseriges Fleisch und Kartoffeln mit klumpiger Sauce. Douglas stocherte ein wenig mit der Gabel darin herum.

»Was für ein Fleisch ist das?«
»Am besten nicht fragen«, entgegnete Nina forsch, als sie sich neben ihn setzte. »Und du möchtest sicher auch nicht wissen, was man in der Sauce findet.«
»Gibt es Pudding?«, fragte Stuart hoffnungsvoll.
Nina bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was denkst du?«
Stuart hatte auf seinem Teller seilartiges Gemüse, gekocht bis zum Abwinken. Fleisch fasste er nie an. Die anderen sagten nichts dazu. Sie kannten den Grund. Vor einiger Zeit hätte Nina noch auf einem Tischgebet bestanden, aber sie alle waren längst zu tief gesunken. Und so saßen die drei da und aßen eine Zeit lang schweigend. Es war Nahrung und bot Kraft, und mehr war dazu nicht zu sagen. Von der Straße drangen gelegentlich Rufe und Schreie und Geräusche von Gewalttätigkeit herein, aber andererseits war das ja immer so.
»Ich habe heute ein Gerücht gehört«, erklärte Stuart schließlich.
»Was für eine Überraschung«, fand Nina. »Hier wird doch alles von Gerüchten angetrieben.«
»Bei meinem ging es um den Clan Todtsteltzer«, sagte Stuart. »Es heißt, eine Hand voll entfernterer Vettern und Kusinen wäre dem Gemetzel auf Virimonde entgangen und möglicherweise hierher unterwegs.«
»Es tut mir Leid, Stuart«, sagte Nina und legte ihre Hand auf seine. »Aber ich war zusammen mit der armen Emma dabei, erinnerst du dich? Ich habe gesehen, wie sie alle starben. Niemand ist entkommen.«
»Ein paar waren vielleicht nicht auf dem Planeten«, wandte Douglas ein, ohne von seinem Essen aufzublicken.
»Vielleicht«, räumte Nina freundlich ein. »Hoffnung besteht immer.«
»Der arme Lewis«, sagte Douglas und schob das Essen auf dem Teller herum. »Der letzte Todtsteltzer. Ich frage mich, ob es ihm schon jemand berichtet hat. Ich kann mich des Mitleids mit ihm nicht erwehren.«
»Obwohl er dir die Frau geraubt hat, die du liebtest?«, fragte Stuart.
»Sie war nie wirklich mein«, entgegnete Douglas. »Ich kannte sie nicht mal richtig. Dafür reichte die Zeit gar nicht. Ich dachte, wir würden noch die nötige Zeit finden, um einander kennen zu lernen, nachdem wir erst mal verheiratet wären. Jetzt ... denke ich, dass ich vielleicht nur das Abbild geliebt habe - die Diva und den Star. Vielleicht hat sie sich deshalb in Lewis verliebt. Weil er sich als Einziger für ihr wirkliches Selbst interessiert hat.«
Er überwand sich, den Rest seiner Mahlzeit zu verzehren. Stuart und Nina blickten ihn jeweils nur an, wenn er es nicht bemerkte, und er wusste nicht, wie viel von ihrer Besorgnis um ihn er noch ertragen konnte. Er vermutete, dass er irgendwann so hungrig sein würde, dass er alles herunterschlingen konnte, ohne es richtig zu schmecken; aber er freute sich keineswegs darauf. Nina überzeugte sich davon, dass alle aufgegessen hatten, und eilte geschäftig um den Tisch, sammelte das Geschirr ein und hielt einen Strom leichten Geplauders aufrecht. Sie bemühte sich, mütterlich und hilfreich zu sein, aber um die Wahrheit zu sagen, so war sie nicht sehr erfolgreich damit. Douglas gab ihr Sondernoten, weil sie sich wenigstens Mühe gab. Und dann überwand er sich doch, richtig zuzuhören, als ihm bewusst wurde, dass sie gerade von einem Fortschritt bei den Versuchen sprach, eine leistungsfähige eigenständige Nachrichten-Website auf die Beine zu stellen.
»Ein ganzer Haufen neuer Medienleute sind im Slum aufgetaucht! Erstklassige Techs, diese Schätzchen - genau das, was wir gebraucht haben. Ich meine, klar, ich bin eine Reporterin und all das, aber die wissenschaftliche Seite der Dinge habe ich nie kapiert. Bislang lief es bei uns so, dass die Blinden die Tauben geführt haben und dabei versuchten, sich nicht selbst durch Stromschläge umzubringen. Diese neuen Typen sind mit knapper Not Finns Leuten entkommen, und sie sind scharf wie Pfeffer darauf, es ihm heimzuzahlen, indem sie uns bei der Website helfen. Schon bald werden wir die offiziellen Datenkanäle anzapfen können, wann immer uns danach ist. Und ich tauche mit dem Gesicht auf dem Monitor auf! Nina Malapert, Moderatorin und Superstar! Mammi wird ja so stolz sein!«
»Aber was möchtest du dort sagen?«, wollte Stuart wissen. »Die Leute werden eine Zeit lang aus Neugier zusehen, aber du wirst schon was Dramatisches brauchen, damit sie auch bei der Sache bleiben.«
»Na ja, ich erzähle ihnen, wie schlimm es hier im Slum zugeht!«
»Das wird ihnen egal sein. Sie haben unter Imperator Finn ihre eigenen Probleme. Du musst ihnen etwas anbieten, was sie nicht kennen.«
»Nämlich?«
»Hoffnung«, sagte Douglas.
Nina und Stuart blickten ihn rasch an, aber er war schon wieder in den eigenen bitteren Gedanken abgetaucht. Nina tätschelte ihm sachte den Arm und trug die schmutzigen Teller zu der bei weitem nicht hygienischen Spüle in der Ecke. Stuart sprang plötzlich auf und funkelte Douglas an.
»Verdammt, Douglas, du machst mich krank! Wie lange wirst du noch herumhängen und dir selbst Leid tun? Es geht hier nicht um deine persönliche Tragödie! Jeden Tag kostet Finns Herrschaft Menschenleben. Deinem Volk! Finn hat deinen Vater ermordet, dir den Thron geraubt und sich selbst zum Imperator ernannt! Was braucht man eigentlich, um dich zu bewegen? Dich wieder zu einem Mann zu machen?«
Douglas blickte auf, und vor dem Ausdruck in seinen Augen wich Stuart doch einen Schritt weit zurück. Und niemand konnte sagen, was als Nächstes geschehen wäre, falls nicht auf einmal Rufe von der Straße die Stimmung im Raum durchbrochen hätten. Jemand rief Douglas und Stuart beim Namen. Sie blickten einander an, gingen zum Fenster und rissen es auf, so weil es ging. Nina drückte sich entschlossen neben sie. Unten auf der Straße sahen sie erneut den Schutzgelderpresser, mit dem sie eben zu tun gehabt hatten; er war mit einer ganzen Schar von Freunden und Kumpanen zurückgekehrt. Es waren große, brutal aussehende Männer, schwer bepackt mit Waffen und Panzerungen. Die beiden Desperados, die das Hotel hätten bewachen sollen, waren schon tot. Ihre ausgeweideten Leichen hingen an Laternenmasten. Der Hotelbesitzer, seine Frau und ihre drei kleinen Kinder standen inmitten eines Kreises aus gezückten Schwertern und klammerten sich aneinander. Der Bandenführer blickte zu Douglas, Stuart und Nina herauf: ein großer, fetter Mann, und das in einer Gegend, wo die meisten Leute hungrig zu Bett gingen. Er trug die allerneueste Mode, aber ein Schläger in Seide ist immer noch ein Schläger. Er lächelte fröhlich.
»Na, hallo da oben! Ich bin Brion de Rack. Diese Männer arbeiten für mich. Das taten auch die von Euch umgebrachten, aber ich bin keiner von der Sorte, die lange ihrem Groll nachhängt. Es tut einer Organisation gut, wenn hin und wieder Ballast abgeworfen wird. Ihr habt mich erstaunt, meine Herren, und das ist nicht einfach. Jetzt seid doch gute Jungs und kommt herunter und redet mit mir. Oder ich bringe Euren derzeitigen Arbeitgeber und seine Familie um, während Ihr zuschaut. Langsam und grausam und sehr blutig. Was darf es sein, meine Herren?«
Douglas und Stuart zogen sich vom Fenster zurück und blickten einander an.
»Nun?«, fragte Stuart. »Was darf es denn sein?«
»Wir schulden ihnen nichts«, sagte Douglas. »Wir kennen sie nicht mal. Aber ... falls wir vor solchem Abschaum klein beigeben, haben wir nie Frieden.«
»Oh, wie dumm von mir!«, sagte Stuart. »Ich dachte, wir gingen vielleicht doch glatt deswegen hinunter, um unschuldige Menschen zu retten. Weil es das Richtige ist.«
»Strapaziere nicht dein Glück!«, warnte ihn Douglas. »Ich bin wirklich nicht in Stimmung dafür.«
»Aber wir gehen hinunter?«
»Ja, Stuart«, sagte Douglas und lächelte auf einmal. »Wir gehen hinunter.«
»Dann hole ich mal meine ganz dicke Knarre«, warf Nina ein.
»Du wirst im Hintergrund bleiben!«, befahl Douglas streng. »Weil man nie weiß, wann sich unerwartete Verstärkung als nützlich erweist.«
»Oh, puuh!«, beschwerte sich Nina. »Ich darf nie Spaß haben!«

Getarnt von ihren anonymen Ledermasken stießen Douglas Feldglöck und Stuart Lennox die Vordertür des Hotels auf und gingen vorsichtig auf die Straße. Eine Menschenmenge war schon zusammengelaufen und sah aus sicherer Entfernung zu. De Rack und seine Männer warteten. Die Schläger und Raufbolde reagierten stark auf den Anblick von Strahlenwaffen in Douglas' und Stuarts Händen, aber de Rack winkte lässig ab, und sie beruhigten sich wieder. Aus der Nähe wirkte de Rack noch größer und hässlicher. Stuart konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass es eigentlich dieser Mann war, der eine Maske hätte tragen sollen.

»Es ist im Grunde ganz einfach«, begann der große Kerl lässig. »Ich kann nicht hinnehmen, dass zwei solch hervorragende Kämpfer wie Ihr unabhängig arbeitet. Nicht auf meinem Gebiet. Das bringt die Leute nur auf dumme Gedanken. Gefährliche Dinge sind das, Gedanken. Und es besteht immer die Chance, dass Ihr irgendwann mal für einen meiner Feinde tätig werdet. Ein erfolgreicher Geschäftsmann wie ich zieht nun mal Feinde an wie ein Hund Flöhe. Also werdet Ihr für mich arbeiten. Ich zahle gute Löhne; außerdem gibt es alle möglichen Bonusleistungen, und Ihr habt sichere Arbeitsplätze auf Lebenszeit. Denn was immer aus dem Slum wird - ich bleibe hier und mache meinen Schnitt.«

»Und falls uns nicht danach ist, bei einem mickrigen Schmalspurgangster einzusteigen, der an Größenwahn leidet?«, fragte Douglas. »Falls wir sogar sagen: Fahrt zur Hölle?«

»In diesem unwahrscheinlichen Fall bringen meine Männer den Hotelbesitzer und seine Familie auf entsetzlich erfindungsreiche Art um, brennen das Hotel nieder und töten jeden, der aus den Flammen hervorgestürzt kommt. Und schließlich foltern meine Männer Euch gleich hier auf der Straße zu Tode, um ein Exempel für diejenigen zu statuieren, die so töricht sind, mir zu trotzen.« De Rack bat mit einem Achselzucken um Verzeihung. »Eine Verschwendung von ordentlichem, potenziellen Einkommen, wie ich einräumen muss, aber Geschäft ist Geschäft. Ihr solltet Euch geschmeichelt fühlen, meine Herren. Gewöhnlich muss ich Leute nicht erst unter Druck setzen, damit sie für mich arbeiten. Aber Ihr beide habt etwas ... Besonderes an Euch. Das sehe ich klar. Ehemalige Soldaten, stimmt's? Viel Kampferfahrung, aber keinen Platz im supertollen neuen Regime des Durandal? Dachte ich mir. Ihr seid nicht nur Raufbolde, sondern Raufbolde mit Grips. Solche Leute kann ich immer gebrauchen. Ich brauche Qualität, und Ihr glaubt ja nicht, wie selten man die heutzutage im Slum antrifft!«

»Vielleicht habt Ihr einfach nicht an der richtigen

Stelle gesucht«, gab Stuart zu bedenken. »Oder vielleicht würdet Ihr echte Qualität nicht mal dann erkennen, wenn Ihr darüber stolpert. Möchtet Ihr wirklich jeden in diesem Hotel umbringen, nur um Euer Gesicht zu wahren?«

»Natürlich!«, bekräftigte de Rack. Er deutete mit ausladender Geste auf die Menge, die aus dem Nichts heraus zusammengelaufen war, um sich die kostenlose Unterhaltung anzuschauen. »Ein Mann ist nur so gut wie sein Wort, und falls dieses Wort eine Drohung ist, umso besser. Man muss die Disziplin wahren. Aber betrachtet mich nicht in allzu schlechtem Licht, liebe Freunde! Ich bin nur ein Geschäftsmann, der das Nötige tut, um weiterzukommen. Menschen ... haben hier keinen Wert. Nur Macht hat Wert. Die Kraft, sich zu nehmen, was man möchte und wann man es möchte, und es zu behalten.«

»Und zur Hölle mit allen anderen?«, fragte Stuart. »Präzise.«
»So ... sollte es aber nicht sein«, stellte Douglas

langsam fest.
»Willkommen in Finns Imperium«, sagte Stuart.
»Willkommen in der Welt, die er gebaut hat, weil
niemand mehr da war, der ihn aufgehalten hätte.« »Jemand sollte etwas unternehmen«, meinte
Douglas.
»Falls nicht du«, fragte Stuart, »wer dann?« »Entschuldigt mal«, mischte sich de Rack ein,
»aber ich habe etwas gesagt. Ignoriert mich noch
einmal, und ich weise meine Männer an, euch Manieren beizubringen!«
»Ach zum Teufel«, sagte Douglas. Er klang immer
noch müde, aber irgendwie schien er aufrechter zu
stehen und größer geworden zu sein. »Es endet nie,
was? Immer bleibt noch Arbeit zu tun. Egal wir mü
de man ist.«
»Wir können uns ausruhen, wenn wir tot sind«,
sagte Stuart.
»Darauf würde ich kein Geld setzen«, wandte
Douglas ein. »Nina, dein Auftritt.«
Nina Malapert kam mit elegantem Schwung aus
der Hoteltür zum Vorschein, die größte Handfeuerwaffe im Anschlag, die irgendeiner der Anwesenden
jemals gesehen hatte. Und während alle sie noch
anglotzten, schoss Nina de Rack sauber in die Brust.
Der Energiestoß riss ihn auseinander wie einen faulen Apfel. Noch während die verkohlten und rauchenden Fetzen durch die Luft flogen, stürmten
Douglas und Stuart vor, die Schwerter in der Hand,
und fielen über die Männer her, die den Hotelbesitzer
und seine Familie bewachten. Die Schläger und
Raufbolde versuchten nicht einmal, sich zum Kampf
zu stellen. Sie erkannten sofort, dass sie es mit professionellen Kämpfern zu tun hatten. Die meisten
drehten sich einfach um und liefen weg, verfolgt von
den Buhrufen und Pfiffen der Zuschauermenge.
Douglas und Stuart hieben diejenigen ruckzuck nieder, die nicht flüchteten. Und so schnell war alles
vorbei. Der Hotelbesitzer schüttelte Douglas und
Stuart in einem fort die Hände und brachte plappernd
seine Erleichterung und seinen Dank zum Ausdruck. Seine Frau und die Kinder betrachteten die beiden Desperados mit großen, andächtigen Augen. Die
Menge applaudierte laut.
Manche jubelten sogar. In dem Applaus drückte
sich auch unverkennbar ein Element der Überraschung aus. Helden waren schon zu den besten Zeiten im Slum selten anzutreffen, und in einer solchen
lebte man aktuell ganz gewiss nicht.
Stuart schüttelte dicke Blutstropfen vom Schwert
und grinste Douglas an. »Ein gutes Gefühl, was? Das
zu tun, wozu wir geschaffen sind.«
Douglas lachte kurz, und es klang rau und resigniert. »In Ordnung, verkneif es dir! Ich bin wieder
da. Zeit aufzuwachen und mich wieder einzumischen. Ob zum Besseren oder Schlechteren, aber die
Rebellion startet hier.«
Nina quiekste vor Freude und führte direkt auf der
Straße einen Freudentanz auf. »Ja! Ja! Ein Exklusivbericht für die nächste Aktualisierung der Website!«

Als sie wieder in ihrem Zimmer am Tisch saßen und die Masken abgelegt hatten, schmiedeten Douglas, Stuart und Nina Revolutionspläne. Sie redeten laut und unterbrachen sich gegenseitig ständig. Ihre Gesichter waren gerötet von Aufregung und Vorfreude. Alle fühlten sich lebendiger als seit Monaten.

»Also«, sagte Stuart. »Wie genau startet die Rebellion hier?« »Ich dachte mir, ich trommle alle Leute im Slum zusammen und forme daraus eine Armee, die ich Finn auf den Hals hetzen kann«, sagte Douglas. »Nicht das beste Material, wie ich zugeben muss, aber man arbeitet halt mit dem, was man hat. Also wende ich mich an die Leute, inspiriere sie, entzünde in ihnen ein Gefühl für Groll und Ungerechtigkeit, peitsche sie dann zu richtiger Wut auf und ...«

»Das klappt nie«, erklärte Nina kategorisch. »In der ganzen Geschichte des Slums hat es noch niemand geschafft, alle Bewohner in auch nur einem Punkt zu einigen. Deshalb kamen die meisten ursprünglich überhaupt her: weil sie mit der ganzen übrigen Welt nicht mehr klarkamen.«

»Sie ist vielleicht laut und provokant«, bemerkte Stuart, »aber was sie sagt hat etwas für sich. Nichts weniger als eine umfassende Invasion des Slums durch Finns Armee würde die Leute hier jemals auf ein gemeinsames Anliegen verpflichten, und Finn ist viel zu clever, um das zu tun. Er weiß, dass er einfach nur warten muss, und die Leute stürzen sich aufeinander.«

»Eine Invasion ...«, überlegte Douglas. »Okay, genau das brauchen wir. Und Finn tut es vielleicht doch, falls wir ihm genug Angst einjagen. Aber zunächst müssen wir die hiesigen Bewohner auf unsere Seite ziehen und bewegen, auf unser Kommando zu hören. Ich denke ... ich fange mit Ohnesorgs Bastarden an. Sie sind die Berühmtheiten dieser abscheulichen Siedlung. Sie bestimmen die Mode, die Trends; wohin sie gehen, folgen ihnen die anderen.«

»Ja, sie sind berühmt«, sagte Stuart. »Und genau deshalb werden sie niemals zwei maskierten Desperados unbekannter Herkunft folgen. Wir sind gute Kämpfer und vielleicht inzwischen sogar örtliche Helden, aber das sind die meisten Bastarde auch. Ihnen geht es nur um Ruhm und Geld, und wir können ihnen weder das eine noch das andere bieten.«

»Ihnen geht es um sich selbst«, überlegte Douglas bedächtig. »Vor allem geht es ihnen darum, von wem sie abstammen. Gib ihnen eine Chance, Helden und Legendengestalten wie der berühmte Jakob Ohnesorg zu werden; gib ihnen die Chance, einem zum Gesetzlosen erklärten König in den Kampf gegen einen korrupten Imperator zu folgen ... genau das Leben zu führen, von dem sie bislang nur träumten ...«

»Douglas, das kannst du nicht machen!«, hielt ihm Nina entgegen. »Glaub mir, Schatz, das ist eine echt schlechte Idee. Zeig den Bastarden dein Gesicht, und sie stehen Schlange, um dich für die ausgesetzte Belohnung an Finn zu verraten!«

»Verdammt richtig«, bekräftigte Stuart. »Sie sind vielleicht Ohnesorgs Nachkommen, aber sie haben keinerlei Ehrbegriff. Und falls sie etwas noch mehr hassen als einen Exkönig, dann einen Exparagon. Oder hast du vergessen, dass du zu Beginn deiner Laufbahn die meiste Zeit damit zugebracht hast, solchen Abschaum hinter Gitter zu bringen?«

»Der Feind meines Feindes ist mein Bundesgenosse, wenn nicht mein Freund«, hielt ihm Douglas gelassen entgegen. »Wir müssen den Bastarden einfach zeigen, dass Finn eine größere Gefahr darstellt, als sie ahnen, und dass wir die Einzigen sind, die einen Aufstand gegen ihn anführen können. Ich habe schon immer festgestellt, dass inspiriertes Eigeninteresse eine starke Motivationshilfe ist.«

»Du wirst eine tote Motivationshilfe sein, sobald du die Maske abnimmst«, knurrte Stuart.
»Wir werden uns mit den Bastarden treffen«, erklärte Douglas entschieden. »Habt Vertrauen, meine Kinder.«
»Ich nehme meine echt dicke Knarre mit«, sagte Nina. »Und mein bestes Paar Laufschuhe.«

Und so nahmen wenige Tage später Douglas, Stuart und Nina - zwei maskierte Desperados und eine tollkühne Reporterin - am nächsten planmäßigen Treffen von Ohnesorgs Bastarden teil. Der Treffpunkt war nicht schwer zu finden. Diese stattliche Auswahl an Männern, Frauen und nicht wenigen FremdwesenMischlingen, die sich als Nachfahren des legendären Berufsrebellen Jakob Ohnesorg betrachteten, kam stets einmal im Monat zusammen, um von all den wunderbaren Dingen zu prahlen, die man vollbracht hatte, und heftig über die verschiedenen Abstammungstheorien zu zanken. Das bevorzugte Versammlungslokal war eine verkommene Absteige an der Höllenstraße, genannt Die Drei Krüppel. Das war eine in jeglicher Hinsicht grauenhafte Kaschemme, aber Getränke gab es billig, und der Inhaber zeigte sich bereit, das unausweichliche miese Verhalten zu dulden, falls man seine Räume im Gegenzug regelmäßig buchte.
Douglas, Stuart und Nina musterten voller Abscheu die schmutzigen Wände, das durchhängende Dach und die geschwärzten Fenster, die zusätzlich Privatsphäre sichern sollten; vorsichtig stiegen die drei über die blubbernde offene Gosse hinweg, um den Haupteingang zu erreichen. Drinnen herrschte dichtes Gedränge von einer Wand zur anderen, und der Rausschmeißer am Eingang versuchte, die drei Neuankömmlinge durch finstere Blicke zu verscheuchen. Nina zeigte ihm ihre echt dicke Knarre, und der Rausschmeißer entschied, dass letztlich doch noch Platz war für ein paar Leute mehr.

Drinnen stank es noch schlimmer, falls das überhaupt noch möglich war. Der Qualm diverser illegaler Rauchwaren hing dick in der Luft, und einen Stuhl oder Schemel bekam man weder für Liebe noch für Geld. In der Menge herrschte ein durchaus freundschaftliches Schubsen und Drängeln, und man brüllte sich gegenseitig voll, um sich überhaupt noch durch den entsetzlichen Lärm vernehmlich zu machen. Fast alle Männer, Frauen und humanoiden Kreaturen hier waren mit Waffen der einen oder anderen Art bestückt. Die Kellnerinnen setzten sich ausschließlich aus Madelinas zusammen (der Kopie eines populären kommerziellen Klonmodells), und sie kreisten nach bestem Vermögen durch das Gedränge der Leiber, um Getränke und Kneipenfraß zweifelhaften Ursprungs zu verteilen. Douglas und Stuart bahnten sich mit finsteren Blicken und bösartigem Einsatz der Ellbogen einen Weg durch die Menge, während Nina die Nachhut bildete.

»Wie zum Teufel möchtest du ihre Aufmerksamkeit gewinnen?«, brüllte Stuart Douglas ins Ohr.
»Genau wie bei de Rack«, antwortete Douglas. »Nina, falls es dir nichts ausmacht...«
Nina machte es überhaupt nichts aus. Breit grinsend trat sie ein paar Leuten an die Schienbeine, um Platz zu schaffen, hob die sehr dicke Knarre und pustete ein Loch in eine Wand. Der Lärm brach abrupt ab, und alle bemühten sich entweder, eine Waffe zu ziehen, oder hielten Ausschau nach der nächstliegenden Fluchtmöglichkeit. Nina senkte die Waffe vorsichtig. Douglas sprang auf den nächsten Tisch und lächelte gelassen um sich.
»Entspannt Euch alle. Das ist keine Razzia. Manche von Euch erkennen in mir und meinen beiden Freunden möglicherweise diejenigen wieder, die de Rack getötet und seinen Schutzgeldring geknackt haben. Wir haben das getan, weil... Leute nicht gezwungen sein dürften, mit so einem Mist zu leben. Genau wie Ihr nicht gezwungen sein solltet, Euch mit solchem Mist abzufinden. Seht Euch nur an - die Nachfahren eines Helden, einer Legendengestalt, sind dazu verdammt, sich im Slum zu verstekken, ihrer wahren Bestimmung zu entsagen, unfähig, ihr Potenzial zu entfalten. Unfähig, sich der Legende des Jakob Ohnesorg würdig zu erweisen. Ich bin gekommen, um Euch einen Ausweg zu zeigen. Einen Weg, Euer Leben für immer zu ändern.«
Er nahm die Ledermaske ab. Eine ganze Weile lang muckste sich niemand. Alle wahrten erschrokkenes Schweigen. Schließlich erhob sich ein großes Geschrei, als die Menge Douglas Feldglöck erkannte. Ein einziger Gedanke leuchtete in allen Kopien auf, als sie den Exparagon und Exkönig betrachteten, und dieser Gedanke lautete: Geld! Die enorme Belohnung, die Finn auf Douglas' Kopf ausgesetzt hatte, vorzugsweise getrennt vom Körper, würde ihnen ermöglichen, wie die Könige zu leben. (Auf Stuarts Kopf war auch Geld ausgesetzt, eine geringere Summe. Finn konnte manchmal sentimental sein. Er wollte nicht, dass sich Stuart übergangen fühlte.)
Die Menge musterte Douglas mit hungrigen Augen und stürzte sich dann vor, um ihn herabzuzerren. Stuart und Nina verteidigten beide Seiten des Tisches mit Tritten und Fausthieben und dem einen oder anderen Kopfstoß. Nina erwies sich als besonders begabt, was schmutzige Kampftricks anging. Douglas verfolgte den Tumult gelassen und machte sich nicht die Mühe, Schwert oder Pistole zu ziehen, nicht mal, als die zupackenden Hände seinen Beinen sehr nahe kamen. Er hob erneut die Stimme, und fast unwillkürlich wurden die Bastarde still, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Er war schließlich Douglas Feldglöck, und sein Ruf eilte ihm voraus.
»Ihr müsst wissen, dass meine Freunde und ich eine verdammt große Zahl von Euch umbringen werden, ehe Ihr uns überwältigt. Ich war schon lange, bevor ich König wurde, Paragon und Krieger. Auch meine Freunde sind Krieger. Seid Ihr bereit, für Geld zu kämpfen und zu sterben, aber nicht für Eure Freiheit? Was hielte Jakob Ohnesorg wohl davon? Er war Berufssrebell; Ihr seid lediglich professionelles Pack. Und in jüngster Zeit auch kein besonders erfolgreiches mehr. Entweder bringt Ihr den Mumm auf, Euch gegen Finns ungerechte Herrschaft aufzulehnen, oder es gibt sehr bald keine Bastarde Ohnesorgs mehr. Er erledigt Euch einen nach dem anderen, und Eure Köpfe schmücken dann ganze Reihen von Spießen vor dem Palast, als Demonstration für andere. Und Jakob Ohnesorgs große Nachkommenschaft stirbt mit Euch. Ich habe Euch nie Grund gegeben, mich zu mögen, aber zumindest habe ich Euch respektiert. Finns Gesetz ist härter, als meines je war. Er wird Euch alle schon allein aufgrund des Erbes von Freiheit und Gerechtigkeit umbringen, das Ihr repräsentiert. Eure einzige Hoffnung besteht in der Rebellion, und dafür braucht Ihr einen Anführer, dem alle folgen. Und das bin ich.«
Ein Gemurmel lief widerstrebend durch die dicht gedrängte Menge. Das hat etwas für sich. Überall verdammte Fanatiker der Militanten Kirche. Man kann kein anständiges Geld mehr verdienen. Und Finn ist wirklich ein Schwein. Wahrscheinlich kann man sich nicht mal darauf verlassen, dass er die Belohnung rausrückt. Solange der Feldglöck ein Paragon war, wusste man immer, woran man mit ihm war. Er war hart, aber fair.
»Ihr müsst es tun«, sagte Douglas, und das Gemurmel brach sofort ab. Alle spitzten jetzt die Ohren. »Ihr müsst es schon Eurem Stolz und Eurer Freiheit zuliebe tun. Ich weiß, dass es schon zu Aufständen gekommen ist und Finn sie mit grausamen und fürchterlichen Taktiken niedergetrampelt hat. Er braucht sich gar nicht mehr um seine Popularität zu sorgen. Aber diese früheren Rebellen waren ein Haufen Amateure. Keine gemeinsame Sache, keine Disziplin, kein Anführer. Ihr hingegen seid allesamt praktische, professionelle Rebellen und geübte Kämpfer und ... habt mich als Anführer. Ihr braucht Euch nur umzublicken, um zu sehen, was aus der Welt geworden ist - was aus dem Slum geworden ist. Ihr seid von jeher Gauner, aber Ihr habt Euren Stolz. Jetzt seht Euch an, wie Ihr so weit heruntergekommen seid, dass Ihr Euch gegenseitig Wechselgeld klaut. Damit braucht Ihr Euch jedoch nicht abzufinden. Ihr braucht nicht so zu leben. Ihr seid Jakob Ohnesorgs Erbe, gehört zum Erbe der Großen Rebellion, zum Erbe Owen Todtsteltzers und seiner Bundesgenossen. Und jetzt ist die Zeit gekommen, Euch ihrer würdig zu erweisen. Wartet nicht darauf, dass der Durandal seine Fanatiker hierherschickt, um den Slum zu säubern; seid die Rebellen, als die Ihr geboren wurdet. Erhebt Euch!«
Und Ohnesorgs Bastarde brüllten zustimmend und jubelten ihm zu, bis der Raum förmlich widerhallte von der Wucht des Ereignisses. Stuart und Nina konnten es einfach nicht glauben. Hartgesottene Kriminelle, die jederzeit ihren schlafenden Großmüttern die Goldzähne rauben würden, die schon jeden der Menschheit bekannten Betrug verübt hatten, stampften jetzt mit den Füßen und klatschten in die Hände, bis es wehtat. Wahrscheinlich half dabei, dass die meisten pleite und gelangweilt und mehr als bereit für ein bisschen Aktivität waren, aber Douglas hatte in ihnen auch wieder ihren Stolz geweckt. Vielleicht, nur vielleicht, steckte doch etwas von Jakob Ohnesorg in ihnen.
Douglas stieg vom Tisch und stellte der Menge Stuart Lennox und Nina Malapert vor. Die Bastarde verbeugten sich respektvoll vor dem Exparagon und Ninas Knarre, aber im Grunde hatten sie nur Augen für Douglas. Er redete noch lange an diesem Abend und mischte dabei Inspirierendes und Praktisches. Eine Rebellion auszurufen war ja gut und schön, aber dazu musste man auch Einzelheiten ausarbeiten. Zum Glück teilten sich die Bastarde umfassende Kenntnisse vom Slum oder zumindest von jedem, der hier eine Rolle spielte. Sie konnten Douglas genau sagen, wohin er sich als Nächstes wenden sollte, um die Botschaft am wirkungsvollsten außerhalb der Drei Krüppel zu verbreiten. Alle beeilten sie sich, ihm zu versichern, dass eine Menge Leute im Slum den Stand der Dinge verabscheuten und nur auf einen Brennpunkt und einen Anführer warteten. Sie wünschten sich ihr verschlagenes Dasein von einst zurück und waren bereit, dafür zu kämpfen. Der Slum war von jeher voll von Kämpfern. Sie würden Douglas folgen, weil sie ihn kannten - als Paragon und als König und als einen von ihnen, gestürzt vom verhassten Finn Durandal.
Weitere Treffen folgten an sorgfältig ausgesuchten Orten im ganzen Slum, gefolgt von offenen Zusammenkünften, an denen zuerst Hunderte, später Tausende eifriger Zuhörer teilnahmen. Alle Welt wollte Douglas reden hören, wenn er sie mit donnernden Worten und der Kraft einer schlichten Wahrheit zusammenrief und inspirierte: sie hätten das Potenzial, ihr Leben zu ändern, falls sie sich nur dazu aufrafften. Douglas erinnerte sie daran, wie tief sie unter Imperator Finn gesunken waren, und die Leute tobten vor Wut. Ihre Wut war nur deshalb so lange lautlos und diffus geblieben, weil niemand gewagt halte, aufzustehen und sie in Worte zu fassen. Douglas gab ihnen den Stolz zurück, und dafür liebten sie ihn. Und irgendwann stand er auf einer schlichten Bühne auf einem offenen Platz, blickte in die Gesichter Hunderttausender interessierter Zuhörer und wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war.
»Verkündet es überall!«, rief er, und seine Stimme hallte in der Stille hingebungsvoller Aufmerksamkeit wider. »Von jetzt an ist der Slum für alle Kreaturen Finns verbotenes Gelände! Er übt hier keine Macht aus. Seine anmaßende und ungerechte Herrschaft endet an unseren Grenzen. Sollte sich irgendeiner seiner Leute hier blicken lassen, wird er nicht wieder hinauskommen. Keine Besteuerung mehr ohne parlamentarische Vertretung! Keine Hinrichtung mehr ohne Prozess! Keine Schläger der Militanten Kirche mehr, die euch erklären, wie ihr zu leben habt! Kein Imperator Finn mehr, der euch verhöhnt, weil er denkt, er bräuchte euch nicht zu fürchten! Er denkt, er hätte euren Willen gebrochen. Es ist an der Zeit, ihm zu beweisen, dass er sich irrt. Wir werfen seine Leute hinaus und nehmen uns den Slum zurück! Dann die Parade der Endlosen! Und letztlich ganz Logres!
Denn wenn wir es nicht tun, wer dann?«
Und der sich anschließende Jubel und das Gebrüll der Zustimmung und Entschlossenheit fielen so laut aus, dass Finn sie sogar im dunklen Herzen seines usurpierten Palastes gehört haben musste

Ganz besonders ein Mann spürte, wie sich sein Leben für immer veränderte, als er an jenem ersten Abend in den Drei Krüppeln miterlebte, wie Douglas Feldglöck seine wahre Identität zeigte. Tel Markham war es, einst Abgeordneter im Parlament und eine führende Gestalt in unüberschaubar vielen Geheimorganisationen, der aber jetzt seinen Lebensunterhalt verdiente, indem er in der schmutzigen Küche der Kneipe Geschirr spülte. Er ernährte sich von Resten, die er auf den schmutzigen Tellern fand, und kämpfte mit Ratten und anderem Ungeziefer darum. Seine einst stolze Kluft bestand nur noch aus schmutzigen Lumpen. Er schlief in einem Obdachlosenheim, aufrecht in einer Reihe von Männern stehend, die von Seilen unter den Achselhöhlen gehalten wurden. Die Eigentümer des Heims packten ihr Haus richtig voll, um mehr Profit zu machen, und die Körperwärme der dicht gedrängten Leiber war in kalten Nächten oft das Einzige, was die Schläfer am Leben hielt.

Tel erhielt von seiner Mutter jeden Monat eine kleine Überweisung, unter der Bedingung, dass er weder Kontakt zu ihr aufzunehmen versuchte noch nach Hause kam. Er hätte dem Familiennamen Schande bereitet, sagte sie, und er hätte es versäumt, sich um seinen Bruder Angelo zu kümmern (von jeher ihr Lieblingssohn). Dabei war es Tels Weigerung gewesen, auf Finns Befehl hin den eigenen Bruder zu ermorden, was ihn so tief gestürzt hatte. Tel war sich der Ironie bewusst, aber er konnte heutzutage nicht mehr viel mit Humor anfangen. Das Geld seiner Mutter hielt ihn mit knapper Not am Leben. Und er musste überleben. Es gab Leute, an denen er sich rächen musste.

Zu sehen, dass Douglas noch lebte, hatte ihn mit neuer Hoffnung erfüllt. Er folgte dem Feldglöck von einer Versammlung zur nächsten, hörte sich seine Reden an und behielt dabei die Zuhörer im Auge. Er musste sichergehen, dass er den echten Douglas vor sich hatte. Und als er endlich die Menge bei jener letzten großen Versammlung toben hörte, schlang er in seinen Lumpen fest die Arme um sich und konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Er entschied, dass es an der Zeit war, sich vorzustellen. Eines Abends suchte er das Laternenhaus auf und schlüpfte durch die Küche hinein, weil er nicht damit rechnen konnte, dass jemand wie er Zutritt durch den Vordereingang erhielt. Zwar hatte man Wachtposten aufgestellt, aber denen wich er mühelos aus und schlich sich die Hintertreppe zu Douglas' Zimmer hinauf. Doch dann zögerte er vor der Tür und fürchtete sich anzuklopfen. Er war so furchtbar tief gefallen, verglichen mit dem, was er einst war. Und zu Zeiten, als sie noch beide Macht und Einfluss ausgeübt hatten, hatte König Douglas nie viel Zeit für den Abgeordneten von Madraguda aufgebracht. Wie Douglas wohl auf dieses eingefallene Ding aus Lumpen und Fetzen vor seiner Tür reagierte? Tel scharrte unsicher mit den Füßen, hob die Hand, um anzuklopfen, und ließ sie wieder fallen. Er traf gerade Anstalten, sich abzuwenden, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde und ihn eine große Faust am Kragen des schmutzigen Hemds packte und ins Zimmer zerrte.

»Ich habe dir ja gesagt, dass ich gehört habe, wie hier jemand herumschleicht«, sagte Stuart munter. »Wahrscheinlich ein Spion oder Informant. Obwohl ich jetzt, wo ich ihn erwischt habe, nicht recht weiß, was ich mit ihm anfangen soll. Ich hoffe nur, dass meine Impfungen alle noch vorhalten.«

Er stieß Tel vor Douglas auf die Knie und wischte sich demonstrativ die Hand am Hintern ab. Eine unerwartete Woge von Stolz veranlasste Tel, den Kopf zu heben.

»Ich bin weder Spion noch Informant! Finn hat keinen größeren Feind als mich! Ich bin gekommen, um meine Dienste anzubieten!«

»Na ja, vielen Dank, aber ich denke nicht, dass wir uns derzeit die Schuhe putzen lassen müssen«, sagte Nina und rümpfte pingelig die Nase.

»Ihr erkennt mich nicht«, wagte Tel, den Blick fest auf Douglas gerichtet. »Verdammt, ich würde mich in dieser Aufmachung selbst nicht wiedererkennen! Ich bin Tel Markham, einst der ehrenwerte Abgeordnete von ...«

Er brach ab, als Stuart herangesprungen kam und ihm das Messer an den Hals setzte. »Markham!«, fauchte Stuart. »Eine von Finns Kreaturen, damals wie heute! Oh, Gott ist hin und wieder barmherzig und liefert uns unsere Feinde aus! Tritt lieber einen Schritt zurück, Douglas. Du möchtest bestimmt nicht mit Blut vollgespritzt werden, wenn ich ihn umbringe.«

»Wartet! Wartet!« Tel war dermaßen in Panik, dass er kaum Luft bekam, aber er hielt den Blick auf Douglas gerichtet. »Ich gehörte zu Finns Leuten, ja. Die Betonung liegt auf war. Er hat mir befohlen, meinen Bruder Angelo umzubringen, aber ich habe mich geweigert, und so wandte er sich gegen mich. Ich musste die Flucht hierher ergreifen und alles zurücklassen, um das nackte Leben zu retten. Und dann hat er Angelo trotzdem umbringen lassen, sodass letztlich alles vergebens war. Niemand in diesem Zimmer hat mehr Grund als ich, Finn Durandal zu hassen.«

»Da würde ich kein Geld drauf verwetten«, wandte Stuart ein.
»Warum sollten wir Euch trauen?«, fragte Douglas und schien ehrlich neugierig.
»Das solltet Ihr nicht«, sagte Tel, des Messers an seiner Kehle immer noch allzu deutlich bewusst. »Ihr solltet niemandem im Slum trauen. Finn hat die Gegend schon vor langer Zeit mit seinen Leuten unterwandert. Aber ich kenne seine Geheimnisse. Ich kann die Verräter identifizieren, ihre Pläne aufdekken. Ihr glaubt nur, dass Ihr wüsstet, wie böse er ist. Ihr habt aber keine Ahnung, wer seine Bundesgenossen wirklich sind und welch entsetzliche Vorhaben er verfolgt. Ihr müsst alles erfahren, was ich weiß. Behaltet mich in Eurer Umgebung. Ich kann nützlich sein. Letzten Endes werdet Ihr mir dann vertrauen. Ich berate Euch, folge Euch, kämpfe an Eurer Seite.«
»Warum?«, fragte Douglas.
»Weil Finn meinen Bruder umgebracht hat.«
»Ah«, sagte Douglas. »Ja. Familiäre Verpflichtungen. Darüber weiß ich alles.« Er nickte Stuart zu, der widerstrebend das Messer von Tels Kehle entfernte.
Tel rappelte sich langsam auf und war sich peinlich der Tatsache bewusst, was für ein zerlumptes und schmutziges Bild er abgeben musste. Es war lange her, seit er sich zuletzt um sein Aussehen hatte kümmern können, aber er wollte einfach, sehnte sich danach, dass Douglas sich an den Mann erinnerte, der Tel einst gewesen war, nicht die Kreatur, die er heute darstellte.
Stuart rümpfte die Nase. »Verdammt, Markham, aber Ihr stinkt! Und in einer Abfallgrube wie dieser hier auch noch aufzufallen, das ist schon eine Leistung. Falls Ihr überhaupt Zeit mit uns verbringen möchtet, müsst Ihr ein Bad nehmen. Dringend! Im Erdgeschoss befindet sich eine Blechwanne. Sagt dem Inhaber, ich wäre der Meinung, dass Ihr sie gut gebrauchen könntet und er sie anschließend gründlich schrubben und desinfizieren sollte. Verdammt, schrubbt Ihr sie selbst sauber! Wir alle müssen das Scheißding benutzen. Gott, manchmal denke ich, ich streite nur deshalb für die Rebellion, um wieder mal anständige sanitäre Einrichtungen zu erleben!«
»Eins nach dem anderen«, wandte Tel ein wenig zaghaft ein. »Ich gehöre dem Wirt der Drei Krüppel. Er ist Inhaber meines Vertrags. Ich kann nicht für jemand anderen arbeiten, solange Ihr mich nicht auslöst. Ich dürfte nicht mal hier sein, selbst wenn es zu einer Zeit geschieht, die ich scherzhaft als meine Freizeit bezeichne.«
»Sklaverei ist illegal«, sagte Douglas. »Sogar im Slum.«
»Was Ihr alles wisst!«, sagte Tel Markham.
Stuart seufzte schwer. »Ich denke, ich gehe die Drei Krüppel noch einmal besuchen.«
»Tu das«, sagte Nina. »Und ich denke, ich reiße solange das Fenster auf.«

Letztlich begleiteten sowohl Douglas als auch Stuart Tel zu der Kneipe. Douglas unterhielt sich mit dem Wirt und bot ihm eine faire Summe im Gegenzug für Tels Vertrag an. Der Wirt spürte gleich, woher der Wind wehte, und behauptete unverzüglich, Tel wäre absolut unersetzlich und er könne die Kneipe ohne ihn gar nicht führen. Anschließend verlangte er eine absolut unvernünftige Summe, um den Vertrag aufzulösen. Also trat ihm Douglas gleich dort vor seinen Kunden in den Arsch. Sklaverei ist illegal!, erklärte er lautstark. Wie Ihr verdammt gut wisst!

»Wisst Ihr«, sagte Tel, als sie die Kneipe wieder verließen, »das wird in manchen Teilen des Slums nicht sehr populär werden. Die Tradition der Arbeitsverpflichtung reicht hier weit zurück.«

»Harte Sache«, fand Douglas. »Dass ich die Rebellion führe, das kostet nun mal seinen Preis, und dieser besteht in Moral. Der Slum wird sich bessern müssen. Die Menschen werden wieder stark werden. Das müssen sie einfach. Denn die Schwachen und Unsicheren haben gegen Finns Fanatiker keine Chance.« Er blickte zu der kleinen, aber aufmerksamen Schar hinüber, die immer auftauchte, wenn er in die Öffentlichkeit ging. »Hättet ihr alle nicht gern wieder ein positives Lebensgefühl?«

»Tu ja nicht so herablassend, Aristo!«, sagte eine Dame eines gewissen Alters mit zu viel Lidschatten. »Wir sind nicht alle reich und privilegiert auf die Welt gekommen! Wir mussten uns selbst einen Weg suchen. Wir kämpfen für unsere eigenen Interessen gegen Finn, nicht für deine!«

»Ich könnte sie erschießen«, bot Stuart leise an. »Führe mich nicht in Versuchung!«, murmelte Douglas. Er blickte sich mit entspanntem Lächeln um. »Eure Interessen sind auch meine und umgekehrt. Wir haben ein gemeinsames Anliegen, geschmiedet aus Notwendigkeit und Bestimmung.«
Er verbeugte sich höflich vor der Frau und ging weiter. Stuart und Tel folgten ihm, und Stuart schaute dabei finster drein.
»Was zum Teufel sollte das denn heißen?«
»Keine Ahnung«, räumte Douglas ein. »Es hörte sich allerdings gut an. Im Zweifel sollte man sein Publikum mit Stilblüten verblüffen. Weißt du, alles war noch viel einfacher, als Anne meine Reden schrieb. Sieh mal, es kommt nur darauf an, die Rebellion in Gang zu bringen. Über Sinn und Zweck können wir uns noch unterhalten, sobald wir gesiegt haben.«
»Das klingt für mich ganz fürchterlich nach berühmten letzten Worten«, sagte Stuart, und Tel nickte feierlich.
»Ich frage mich, ob Owen auch solche Probleme hatte«, sagte Douglas wehmütig.
Sie trotteten weiter dahin, und Tel blieb ein wenig zurück. Er trug inzwischen saubere Sachen und konnte sich endlich wieder selbst riechen. Aber er fühlte sich nach wie vor nicht der Ehre wert, neben Douglas zu gehen. Jeglicher Stolz war ihm sehr gründlich ausgetrieben worden, während er in den Drei Krüppeln arbeitete, und kehrte nur langsam zurück. Die zurückliegenden Tage hatte er meist damit zugebracht, in Gedanken noch einmal durchzugehen, wie weit seine Erinnerung an Finns Pläne, seine Geheimnisse und Schwachstellen reichte. Er konnte einen Riesenhaufen Verräter, Doppelagenten und Maulwürfe im Slum beim Namen nennen, aber er brauchte mehr, um für Douglas unverzichtbar zu werden. Er durfte nicht zulassen, dass man ihn benutzte und dann wieder fallen ließ. Er musste sich eng an Douglas binden, musste zu den engsten Mitarbeitern des Feldglöcks gehören, sodass Tel Markham nach der Rebellion und nach Douglas' Rückkehr an die Schalthebel der Macht nicht wieder in die Armut zurückfiel, der er mit so knapper Not entronnen war. Für Tel war Douglas Feldglöck ein aufgehender Stern am Himmel, jemand, an dessen Rockschößen man in eine Position der Sicherheit, wenn nicht gar des Ruhms gelangen konnte. Und Tel brauchte Sicherheit, um seinen Rachefeldzug in die Wege zu leiten.
»Also, wohin gehen wir jetzt?«, wollte Stuart wissen. Der allgegenwärtige Nieselregen hatte sich zu einem starken Regen ausgeweitet. Heutzutage ging es im Slum wirklich immer nass und elend zu. Stuart war ziemlich sicher, dass Finn die Leute von der Wettersteuerung entsprechend angewiesen hatte.
»Wir suchen den Sektor der Fremdwesen auf«, antwortete Douglas. »Dort erwartet uns Nina. Sie hat Kontakt zu einem sehr nützlichen Fremdwesenmischling namens Nikki Sechzehn hergestellt, die behauptet, sie könnte uns eine Audienz bei den Anführern der Fremdwesen im Slum verschaffen.«
Stuart schniefte. »Findet man hier genug von denen, damit sich die Mühe lohnt?«
»Oh, Ihr wärt erstaunt, wie viele Fremdwesen im Slum hausen«, ergriff Tel unverzüglich die Chance, seine Ortskenntnisse zu demonstrieren. »Alle Arten von Fremdwesen und Mischlingen hat es aus diversen Gründen hierher verschlagen. Entweder sind es politische oder religiöse Flüchtlinge, oder sie haben einfach Geschmack an menschlichen Freuden oder Vorstellungen gefunden, die man auf ihren Heimatplaneten nicht toleriert. Der Slum ist von jeher eine kosmopolitische Gemeinde und sehr tolerant gegenüber unnatürlichen Lastern. Ihr würdet gar nicht glauben, was manche dieser Fremdwesen so treiben.«
»Doch, das würde ich verdammt sicher«, wandte Stuart ein. »Nichts an dieser Gegend überrascht mich noch.«
»Manche dieser Fremdwesen«, fuhr Tel fort, »werden von ihren Familien dafür bezahlt, dass sie nicht mehr nach Hause kommen. Entweder haben sie das falsche Anliegen unterstützt oder sich mit den falschen Leuten angefreundet. An einer Rebellion teilzunehmen, die Finn und seine xenophobischen Bundesgenossen stürzt, würde viel dazu beitragen, ihnen die Rückkehr zu ermöglichen. Aber Ihr werdet sehr vorsichtig zu Werk gehen müssen, Douglas! All diese verschiedenen Arten haben jeweils eigene Bedürfnisse und Ziele, und sie werden nur mitmachen, so weit ihre Bedürfnisse mit Euren zusammenfallen. Derzeit habt Ihr nicht mehr mit ihnen gemeinsam als Hass auf den Imperator.«
»Derzeit reicht das«, sagte Douglas.
Der Treffpunkt erwies sich als aufgegebene, mit Brettern vernagelte Badeanstalt in einer schmutzigen und besonders heruntergekommenen Gegend des Slums. Die ramponierten, fleckigen Mauern waren mit ausladenden Fremdwesen-Graffiti in einem Dutzend verschiedener Bilderschriften besprüht. Douglas konnte ein paar davon lesen und war überzeugt, dass Finns Mutter so etwas nie gemacht hatte. Nina versteckte sich in einer Türnische und trug einen schweren Mantel. Der rosa Irokesenschnitt hing vor lauter Feuchtigkeit seitlich herab.
»Wird aber auch Zeit, Darlings! Die Gegend ist mir nicht geheuer, und sie ist auch nicht gerade vornehm. Hier wimmelt es nur deshalb nicht von Straßenräubern, weil etwas sie schon gefressen hat, und ich weiß nicht, was das für ein Gestank ist, aber es wird ewig dauern, ihn wieder aus meinen Sachen herauszukriegen. Achtet darauf, wo ihr hintretet, weil es einfach igitt ist, wenn ihr es nicht tut, und ich kann nur hoffen, dass es sich dabei lediglich um Ratten handelt. Nikki Sechzehn hat mich hergeführt und konnte dann gar nicht schnell genug wieder verschwinden, was einem über diese Gegend alles verrat, was man zu wissen braucht. Müssen wir uns wirklich hier herumtreiben, Douglas Süßer?«
»Ja.« Douglas betrachtete forschend die Tür hinter ihr. Die Badeanstalt hatte früher mal in einer guten Gegend gelegen, damals, als sogar der Slum noch wohlhabende Gegenden aufwies. Damals bildeten Bäder das Zentrum dessen, was als die bessere Gesellschaft galt. Und obgleich das Haus insgesamt bröckelte und die Fenster mit Brettern vernagelt waren, bestand der Haupteingang aus einer einzelnen Tafel geäderten Marmors, gesichert durch schwere Stahlketten mit massiven Vorhängeschlössern. Letztere waren geöffnet - ein Zeichen, dass die Gruppe erwartet, wenngleich nicht notwendigerweise willkommen geheißen wurde - aber die Fremdwesen nahmen ihre Sicherheit eindeutig ernst. Douglas gab Nina mit einem Wink zu verstehen, sie möge zur Seite gehen, und sie trat widerstrebend in den Regen hinaus. Stuart trat rasch vor und versperrte Douglas den Weg.
»Ich gehe zuerst hinein, Douglas. Immer. Du bist der Anführer der Rebellion. Ich bin schon eher entbehrlich.«
»Niemand ist entbehrlich, Stuart«, hielt ihm Douglas entgegen. »Darum geht es ja bei der ganzen Rebellion.«
»Trotzdem bleibt es meine Aufgabe, zwischen Euch und jeder Gefahr zu stehen, Eure Majestät. Also haltet Ihr hier die Stellung, während ich die Tür öffne und dann Tel hineinwerfe, um zu prüfen, ob eine Falle oder ein Hinterhalt auf uns lauert.«
»Ich finde das überhaupt nicht komisch«, stellte Tel fest. »Findet irgendjemand das komisch?«
»Ich halte es für eine verdammt gute Idee«, warf Nina ein. »Ich habe Euch nie über den Weg getraut, nicht mal, als Ihr noch lediglich ein Politiker wart. Eure Augen wirken verschlagen.«
Stuart schob die Tür langsam auf, und die herabhängenden Ketten klirrten laut. Eine Wolke aus stinkendem Dampf wehte vorbei, unter der sie alle zusammenzuckten und Grimassen schnitten. Der Dampf kräuselte sich langsam um sie herum und war feucht und schwer und unangenehm warm. Er stank nach unvertrauten Bestandteilen, die einem die Tränen in die Augen trieben und als gräulicher Geschmack im Rachen hängen blieben. Stuart riss sich zusammen und trat in die Düsternis hinter der Tür. Es kam zu einer ungemütlich langen Wartezeit, bis er wieder auftauchte.
»Niemand zu sehen. Die Beleuchtung wird besser, je tiefer man hineingeht, aber der Dampf ist überall. Ich würde ja sagen, dass die Luft rein ist, aber das kann man eindeutig nicht mit Recht behaupten. Man behält uns im Auge. Ich spüre es richtig. Die Luft riecht, als wäre man im dreckigsten Loch des Teufels, aber sie ist atembar. Frisch an die Wände geschmierte Zeichen weisen den Weg. Noch ist es nicht zu spät, das alles abzublasen, Douglas! Diese Fremdwesen haben keinen Grund mehr, Menschen zu schätzen oder zu trauen. Besonders nicht einem König, der sie letztlich nicht schützen konnte.«
»Das ist nicht fair!«, meinte Nina.
»Doch, ist es«, sagte Douglas. »Ich war auch ihr König. Es war meine Aufgabe, sie zu schützen.«
Nina runzelte unglücklich die Stirn und sah Stuart an. »Nikki sagte, da drin würde jemand auf uns warten.«
Stuart zuckte die Achseln. »Keine Spur davon zu sehen« Von irgendetwas. Gehen wir hinein, Douglas?«
»Natürlich«, sagte Douglas. »Wir brauchen sie.«
Er ließ Stuart vorausgehen, erlaubte ihm aber nicht, eine Waffe zu ziehen. Zuerst Diplomatie, sagte er. Danach die Begräbnisse, murmelte Nina, die mit Tel die Nachhut bildete. Die Tür knallte hinter ihnen von allein zu, was niemanden überraschte. An den Wandfliesen lief das Wasser herab, und die ursprünglichen Muster und Dekorationen waren zum größten Teil nicht mehr erkennbar. Von der Decke tropfte es in einem fort, aber nach dem heftigen Regen draußen war es trotzdem eine Erleichterung. Die Bodenfliesen waren mit einem dünnen grauen Matsch bedeckt, der vielleicht einem Zweck diente, vielleicht auch nicht, aber für den Fußgänger auf jeden Fall entschieden tückisch war. Der Dampf umwallte die Besucher immer dicker, je weiter sie ins Innere vordrangen, und hinterließ einen entschieden chemischen Geschmack auf der Zunge. Frisch aufgemalte Pfeile wiesen den Weg und bestanden aus etwas, das vielIeicht Blut von Fremdwesen war.
Vorsichtig platschten sie durch eine Folge schmaler Flure, folgten dabei den Zeichen und hielten wachsam Ausschau nach allen Richtungen. Stuart beharrte darauf, ein paar Schritte vor den anderen zu gehen. Er war inzwischen so angespannt, dass er förmlich vibrierte. Douglas achtete darauf, sorglos und entspannt zu erscheinen. Nina und Tel drängten sich Schutz suchend aneinander und wünschten sich beide eindeutig, sie wären nicht hier. Von weiter Voraus wurden jetzt Geräusche vernehmbar. Langsames, schweres Tapsen von etwas Großem, das bedächtig den Fluren folgte. Stöhnen und Tuten und seltsame Klick-Klack-Laute. Platschende Geräusche, das Gurgeln von fließendem Wasser und das gleichmäßige Rauschen dicker Flüssigkeiten durch verborgene Leitungen. Der Dampf wurde noch dicker. Schließlich erreichten sie das, was einst das zentrale Schwimmbecken gewesen war.
Es war riesig und mit chemisch behandeltem Wasser gefüllt, in dem die größeren Fremdwesen schwammen. In seiner Glanzzeit wären eintausend menschliche Badegäste nötig gewesen, um das Bekken ganz zu füllen, aber jetzt bot es kaum einhundert großen und trägen Gestalten Platz. Der Dampf und das Wasser verbargen die meisten Details, wofür Douglas und seine Begleiter eindeutig dankbar waren. Die Fremdwesen waren große, bläulich-graue Gestalten, knollenförmig und in ihren Bewegungen wellenförmig, ausgestattet mit langen stacheligen Tentakeln und ganzen Reihen großer, glotzender Augen. Sie hätten lediglich als Hologramme an Parlamentssitzungen mitwirken können. Noch weitere Fremdwesen teilten das Wasser mit ihnen, trieben langsam mal hierhin, mal dorthin und richteten sich auf, um die Besucher anzusehen. Man sah Schuppen und Panzer und glatte Felle, Gliedmaßen und Schwänze und Ausbeulungen, die keinerlei Sinn ergaben. Am Beckenboden trieben große Blütenmassen mit übertriebenen Sinnesorganen dahin und zogen Wurzeln nach.
All diese Fremdwesen konnten die Schwerkraft von Logres nur ertragen, wenn das Körpergewicht vom Wasser gestützt wurde. Angehörige weiterer Lebensformen verfolgten das Geschehen vom Marmorboden rings um das Becken aus - teilweise humanoid, teilweise reptilienartig, manche pilzartig und alle vom Dampf mit einem feuchten Glanz überzogen. Ein paar Gestalten von solch albtraumhaftem Zuschnitt waren darunter, dass sogar Douglas sie nicht lange ansehen konnte. Manche hielten scharfe Klingenwaffen; andere trugen Strahlenwaffen und ein Sammelsurium aus Geräten, die Douglas nicht mal einordnen konnte. Lange standen die Menschen und die Fremdwesen nur da und blickten einander an.
»Ich habe mich im ganzen Leben noch nie so wenig willkommen gefühlt«, flüsterte Nina. »Und dabei bin ich ganz schön herumgekommen.«
»Ihr seid unsere Gäste«, verkündete eine grob menschenähnliche Gestalt, die sich ihnen durch den Dampf näherte und vor ihnen stehen blieb. Sie war bedeckt von einander überlappenden Silberschuppen, die an eine Panzerung erinnerten - und das galt sogar für den lang gezogenen Kopf. Scharlachrote Augen brannten bedrohlich hinter dem Silberhelm. »Ich bin Toch'Kra von den Maggara. Ich spreche für die Gemeinschaft. Wer von Euch ist König Douglas?«
»Das bin dann wohl ich«, sagte Douglas und schob Stuart sachte, aber bestimmt zur Seite. »Nett habt Ihr es hier. Sehr ... feucht. Einfallsreicher Gebrauch des Beckens, um der Schwerkraft abzuhelfen.«
»Auch der Dampf hilft«, erläuterte Toch'Kra. »Wir pumpen ihn mit den Elementen voll, die wir zum Überleben benötigen. Wir haben aber keinen Begriff davon, was er alles mit Euren Lungen anstellt.«
»Ist schon okay«, sagte Nina. »Wir bleiben nicht lange.«
»Ich war einst König«, sagte Douglas. »Aber Finn hat mir den Thron gestohlen. Jetzt bin ich ein gejagter Flüchtling wie Ihr.«
»Nicht ganz wie wir, Menschenkönig. Ihr zumindest könnt diesen Ort verlassen und durch dir Stadt wandeln. Wir sitzen hier in der Falle. Einst bildeten viele von uns das Personal der diversen Fremdwesenbotschafter. Es erfüllte uns mit Stolz, nach Logres zu kommen und am großen Abenteuer des Imperiums mitzuwirken. Wir glaubten, diplomatische Immunität und Schutz zu genießen. Stattdessen hat man uns gejagt wie Tiere, und wer das Pech hatte, erwischt zu werden, wurde abgeschlachtet und dann verspeist oder als Trophäe ausgestellt.«
»Ich bin sicher, Finn würde das Gleiche gern mit mir anstellen, falls er könnte«, gab Douglas zu bedenken. »Wir stehen einem gemeinsamen Feind gegenüber. Ich bin gekommen, um ein Bündnis gegen ihn vorzuschlagen.«
Eine der großen Gestalten bäumte sich halb aus dem Wasser auf, stieß tiefe tutende Laute aus und sank wieder zurück. Wasser spritzte über den Bekkenrand und durchnässte die Beine der Menschen. Sie hielten jedoch die Stellung. Sie wussten, dass sie nicht schwach erscheinen durften. Toch'Kra deutete mit dem Kopf auf die Gestalt.
»Er fragt: welchen Beitrag können wir schon leisten? Viele von uns liegen im Sterben, weil ihnen ausreichend Nahrung und die richtigen Spurenelemente fehlen. Aufgrund der drückenden Schwerkraft. Aufgrund der geballten Wirkung feindseliger Umweltbedingungen. Und manche verdorren einfach, so entfernt sind sie von Heimat, Hoffnung oder Verstand. Den größten Teil der lebenserhaltenden Tech, die uns hier am Leben erhalten sollte, mussten wir aufgeben, als wir aus unseren Botschaften flohen. Warum seid Ihr hergekommen, Menschenkönig? Ihr habt Eure eigenen Leute, die Eure Schlachten schlagen. Die meisten von uns könnten außerhalb dieses Gebäudes nicht überleben.«
»Ich bin gekommen, weil Ihr auch meine Leute seid und ich Euch nicht im Stich lasse«, erklärte Douglas. »Das ist ebenso Eure Rebellion wie unsere. Finn muss gestürzt und die alte Ordnung wieder hergestellt werden. Dafür brauche ich jede Hilfe, die ich nur finde. Nina. Nina?«
»Oh, ja!« Nina riss den Blick von der langen, krummen Gestalt los, die langsam die Decke entlangkroch und dabei eine schimmernde Spur zog, und konzentrierte sich auf Toch'Kra. »Ich baue gerade einen unabhängigen Nachrichtensender und eine Verbindungs-Website auf. Ich bin sicher, wir könnten auch kurze Meldungen an Eure Heimatplaneten durchgeben. Könnte man dort Verstärkung oder sonstige Hilfe schicken?«
»Nein«, antwortete Toch'Kra. »Den letzten Meldungen zufolge, die unsere Botschaften enthielten, haben Menschenschiffe eine Quarantäne über unsere Planeten verhängt. Niemandem wird es gestattet, seinen Planeten zu verlassen. Und ständig schwebt die Drohung der Materiewandler über ihnen. Wir wagen nicht, uns offen zu bewegen, ehe Finns Macht nicht eindeutig gebrochen wurde. Wir haben im Zuge unseres gesamten Kontakts mit der Menschheit gelernt, ein praktisches und paranoides Volk zu werden.«
»Gebt uns nicht die Schuld an allem, was Finn tut«, sagte Stuart. »Ich denke nicht, dass er noch ein Mensch ist. Falls er je einer war.«
»Kämpft an unserer Seite!«, bat Douglas. »Gebt Euren Völkern ein Beispiel. Nehmt Rache für das, was Euch angetan wurde. Was habt Ihr schließlich zu verlieren? Was immer im Zuge der Rebellion geschieht, es muss einfach besser sein, als sich hier draußen zu verstecken und stückweise zu sterben.«
»Stimmt«, sagte das Fremdwesen. »Unser Leben hier ist nicht so kostbar, dass wir scharf darauf sind, es zu verlängern. Aber wir möchten es auch nicht ohne guten Grund wegwerfen. Wir erinnern uns an Euch, König Douglas. Ihr hattet geschworen, uns zu schützen. Ihr habt versagt. Warum sollten wir jetzt auf Euch hören?«
»Damals konnte ich nicht mal mich selbst beschützen«, wandte Douglas ein. »Ich war nur ein Mann auf einem Thron und wurde von Menschen verraten, denen ich wirklich vertrauen zu können glaubte. Heute ist die Lage anders. Ich habe ein Anliegen und eine Armee, und Ihr könnt daran teilhaben. Rache ... vermag manch alte Wunde zu heilen.«
Das Fremdwesen musterte ihn ausgiebig mit seinem undeutbaren Silbergesicht, wandte sich dann ab und redete mit den anderen Fremdwesen im Becken und ringsherum. Das unübersetzte Bellen und Quietschen fremder Sprachen erfüllte die dampftrübe Luft. Schließlich wandte sich Poch'Kra wieder den Menschen zu.
»Selbst wenn wir bereit wären zu kämpfen, wie hilfreich könnten wir schon sein, wenn man bedenkt, dass die meisten von uns unter Euren Umweltbedingungen nicht überleben können?«
Douglas nickte nachdenklich, während er innerlich schon breit grinste. Er hatte sie überzeugt, auch wenn sie es noch nicht wussten. Sie hatten aufgehört, nach dem Warum zu fragen, und waren zum Wie übergegangen. »Ihr könnt eine ganze Menge tun: Ihr vermögt viele Orte aufzusuchen, die Menschen unzugänglich bleiben, wie Wartungstunnel, Kanalisationszugänge, Abfallventile und all die anderen Orte, wo Menschen nur mit schwerer Lebenserhaltungstech überleben. Und man findet hier im Slum Leute, die Euch alles bauen können, was Ihr an unterstützender Tech braucht, um Euch frei zu bewegen. Ihr liefert die Pläne, sie bauen die Tech. Manche Leute hier konstruieren einfach alles, besonders wenn es illegal ist. Also, was sagt Ihr? Macht Ihr mit?«
»Man trifft hier viele Lebensformen an«, sagte Toch'Kra. »Wir verfolgen nicht alle dieselben Ziele und denken nicht mal in denselben Begriffen. Manche von uns sind den anderen so fremd, wie wir alle für Euch sind. Aber wir diskutieren über Euer Anliegen. Viele von uns begreifen das Bedürfnis nach Vergeltung, haben es gelernt, das zu tun. Ich denke, dass wir ... Euch folgen werden, wenn die Diskussion abgeschlossen ist, König Douglas.«
Danach war im Grunde nicht mehr viel zu sagen, also verbeugte Douglas sich höflich vor Toch'Kra, dann vor dem Becken, und führte seine Begleiter aus der Badeanstalt. Hinter ihnen wurden die Geräusche einer lautstarken Debatte in einem Dutzend nicht menschlicher Sprachen vernehmlich. Nina schauderte kurz..
»Ich schwöre, dass ich nie wieder Meeresfrüchte esse!«

Die bedeutende Esperin Diana Vertue, einst als Johana Wahn bekannt, einst tot, aber wieder zum Leben erweckt, schritt die Straßen von Parade der Endlosen entlang, als gehörten sie ihr, und hielt dabei Kurs auf den Slum. Sie sandte dabei eine starke telepathische Abstoßung aus, sodass alle Welt alles Mögliche anblickte, nur nicht sie. Vor der Militanten Kirche lungerte eine Schar Friedenshüter herum. Bosheit blitzte in ihren Augen. Sie hatten Langeweile und waren auf Ärger erpicht. Diana fühlte sich versucht, ihnen etwas urkomisch Entsetzliches anzutun, entschied sich aber widerstrebend dagegen. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Jedenfalls noch nicht. Die Stadt war überhaupt nicht mehr so, wie sie sie von früher kannte, und die Atmosphäre auf den Straßen gefiel ihr nicht. Ein Mantel der Resignation, der Furcht, des Schmerzes und der Unterdrückung hing über allem, ausgestrahlt von einer Million ungeübter Gehirne, und doch war noch mehr daran.

Diana legte in den Siegesgärten eine Pause ein und blieb vor den Statuen und Gräbern Jakob Ohnesorgs und Ruby Reises stehen. Die Statuen ähnelten gar nicht besonders den Personen, die sie persönlich gekannt hatte, aber das war sie inzwischen gewöhnt. Die wenigen Darstellungen ihrer selbst, die sie zu Gesicht bekommen hatte, waren ausgesprochen lächerlich ausgefallen. Nie im Leben hatte sie eine solche Oberweite gehabt. Sie seufzte leise, während sie den Erinnerungen nachhing. Es lag lange zurück, dass sie, Jakob und Ruby an Bord der alten Todtsteltzerburg gegangen waren, der uralten steinernen Burg, die auch ein Raumschiff war, um in die lange verzweifelte Schlacht gegen die Armeen von Shub zu ziehen und anschließend gegen die geballten Streitkräfte der Neugeschaffenen. Und vor auch schon sehr langer Zeit hatte Diana die beiden kalt und mausetot auf dem kalten Steinfußboden vorgefunden, Seite an Seite, wie sie im Leben gewesen waren. Die forensischen Indizien deuteten daraufhin, dass sie sich gegenseitig umgebracht hatten, aber Diana Vertue verschwieg das. Die Leute brauchten nicht jedes Detail über ihre Helden zu erfahren.

Sie lächelte kurz. Sie hätte nie gedacht, dass sie den dröhnenden alten Gauner und die kaltherzige Kopfgeldjägerin jemals vermissen würde, aber beide hatten zu ihrer Zeit einige erstaunliche Leistungen vollbracht. Die Menschen von heute wirkten ... irgendwie kleiner. Weniger farbenfroh. Diana konzentrierte sich, und ein Regen aus Rosenblättern fiel lautlos auf die Statuen. Plötzlich spürte ihr offener Verstand das Echo einer anvertrauten Gegenwart, ein Gefühl von Macht in der Luft, deren Auftritt noch gar nicht lange zurücklag. Abrupt drehte sie sich um.

»Owen?«, fragte sie erstaunt.

Aber natürlich erhielt sie keine Antwort. Owen Todtsteltzer lebte seit zweihundert Jahren nicht mehr, und allein deshalb war das Imperium schon weniger glanzvoll. Diana hatte den Todtsteltzer immer bewundert, seine Ehre, seinen Mut und seinen trockenen, sardonischen Humor. Natürlich hatte sie es ihm nie eingestanden. Ihm sollte schließlich nicht der Kopf schwellen. Aber nachdem er dahingegangen war, hatte sie sich gewünscht ... hatte sie sich gewünscht, sie hätte sich wenigstens einmal mit ihm zusammensetzen und reden können. Sie gab sich gern der Illusion hin, dass dabei viele Gemeinsamkeiten zutage getreten wären. Sie vermisste ihn; aber das taten schließlich alle.

Sie erinnerte sich nach wie vor an die machtvolle nichtmenschliche Stimme, die von überallher und nirgendwoher erklungen war und ihnen allen berichtet hatte, dass Owen Todtsteltzer tot war. Tot wie Jakob und Ruby. Abgehärtete Soldaten, die sich allem gestellt hatten, was Shub nach ihnen warf, und dabei nie ein einziges Mal zusammengezuckt waren, standen daraufhin rings um Diana und weinten sich die Seele aus dem Leib, weil sie den einen Mann verloren hatten, den sie alle verehrten. Der der Beste von ihnen allen gewesen war.

Er hatte die Rebellion ermöglicht. Er hatte den Sieg ermöglicht. Obwohl er von jeher wusste, dass Helden jung und blutig und fern der Heimat sterben.

Und doch ... seine Gegenwart schien die Siegesgärten zu durchdringen, obwohl er hier nicht begraben lag. Er war hier gewesen, und es lag nicht lange zurück. Diana wusste das, so wie sie den eigenen Namen kannte. Sie lächelte kurz, und das Herz ging ihr auf. Sie selbst hatte einen Weg aus dem Totenreich zurück gefunden; vielleicht war ihm das auch gelungen. Der Todtsteltzer hatte immer im letzten Augenblick, wenn niemand noch damit rechnete, ein Wunder im Ärmel gehabt. Diana verließ die Siegesgärten und setzte ihren Weg zum Slum fort, und Herz und Schritte waren nun viel beschwingter. Der ganze Tag und ihr Auftrag fühlten sich jetzt besser an. Sie plante, sich mit Douglas Feldglöck zusammenzuschließen und ihn zurück zur Größe zu führen. Er brauchte sie. Selbst wenn er das noch nicht wusste.

Der überwältigende Druck der niedergeschlagenen Geister der Stadt hing immer noch wie eine dunkle Wolke über ihr, aber Diana Vertue lernte allmählich hindurchzublicken. Sie, die von der Mater Mundi berührt und verwandelt worden war, war zu ihrer Zeit eines der machtvollsten lebenden Espergehirne gewesen, und jetzt, nach ihrer Rückkehr, meldete sich die alte Kraft schnell zurück. Seltsame Lichter brannten in ihrem Bewusstsein wie Papierlaternen mit Schreckensgesichtern: die Elfen, die in der langen Nacht der Seele herumstreunten. Elf war zu Dianas ursprünglichen Lebzeiten ein stolzer Begriff gewesen, eine Macht der Gerechtigkeit, und Diana hasste die neuen Elfen nur umso mehr - hatten sie doch diesen Begriff in eine Obszönität verwandelt. Überall spürte Diana Sklavengehirne, unterdrückte und lautlos schreiende Metischengeister, deren Körper von den Elfen aus der Ferne gesteuert wurden. Diana hatte mit diesem Phänomen gerechnet, aber sie fand die schiere Anzahl atemberaubend. Sie war ziemlich sicher, dass Imperator Finn von dieser hohen Zahl von Sklaven in seiner Hauptstadt nichts ahnte. Vielleicht sollte Diana ihm eine Nachricht schicken.

Es war klar, dass sie keinen Augenblick zu früh von den Toten zurückgekehrt war. Die Elfen weiteten ihren Einfluss aus und wurden stärker. Je mehr Leute sie beherrschen und aussaugen konnten, desto machtvoller wurden ihre Gehirne. Diana musste sich fragen, ob Finn das wusste. Sie verstärkte für alle Fälle ihre Gedankenschilde. Auf keinen Fall durfte der Feind erfahren, dass sie zurück war; jetzt noch nicht.

Sie blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete interessiert das Angebot an Videoschirmen, wo gerade der reguläre (mit Finns Einverständnis handelnde) Nachrichtenkanal von einer Piratensendung verdrängt wurde, die jemand aus dem Slum sendete. Nina Malaperts strahlendes Gesicht ersetzte das nichtssagende Lächeln der regulären Sprecherin, und Ninas Stimme ertönte laut und glücklich und völlig unbesorgt, wie der Hauch einer frischen Brise in einem Schlachthof.

»Hallo wieder mal, ihr Lieben! Hier spricht Nina Malapert, Stimme und Gesicht der bevorstehenden Rebellion! Wisst ihr was? König Douglas ist zurück, und Mann, ist der sauer auf Finn! Derzeit stellt der wahre König eine Armee auf, die den so genannten Imperator vom geraubten Thron zerren wird, und der König möchte euch mitteilen, dass die Sache sehr bald in Gang kommt. Rechnet mit offenen Ausbrüchen von Abspaltung, Rebellion und einfach nur schlichter Verrücktheit auf ganz Logres und besonders in Parade der Endlosen. Die Rebellion hat begonnen, so viel ist offiziell, und ihr habt als Erste davon erfahren! Und hier folgt jetzt ein ganzer Schwung von Nachrichten, die ihr nach Ansicht Finns und seiner Kreaturen nicht erfahren solltet.«

An dieser Stelle folgte eine lange Reihe von Nachrichten. Sie drehten sich um Dinge, die Finn angeordnet hatte oder zu tun plante, und das meiste davon sollte eigentlich streng geheim bleiben. Manches davon überraschte sogar Diana. Weitere Meldungen folgten und drehten sich um die Dinge, die schiefgingen, weil man Finn nicht mit alltäglichen Problemen belasten konnte und sich seine Leute dementsprechend auch nichts daraus machten. Und noch mehr Meldungen über all den Murks und die allgemeine Unfähigkeit von Finns Herrschaft. Diana fing gerade an, richtig Spaß zu haben, als Ninas Gesicht und Stimme plötzlich von der überlegenen Tech des Nachrichtensenders vom Bildschirm gefegt wurden. Eine Mitteilung wurde eingeblendet: Das Programm wird in Kürze fortgesetzt!, also setzte Diana ihren Weg zum Slum fort.

Es war gut zu wissen, dass Douglas Feldglöck schließlich doch seinen königlichen Arsch hochbekam und wieder tätig wurde. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie seiner Motivation erst einen Kickstart verpassen musste, und einige ihrer Ideen dazu waren besonders unerfreulich ausgefallen. Aber immerhin hatte sie als Diana Vertue oder als Johana Wahn nie gezögert, das Nötige zu tun - egal wie abscheulich, egal wer vielleicht zu Schaden kam, und sei es sie selbst. Sie hatte ihre Lektionen in den Folterzellen des alten Imperiums gut gelernt, damals in Silo Neun, auch die Hölle des Wurmwächters genannt.

Die Rebellion brauchte ein Leitbild, und Diana wusste von jeher, dass sie selbst das nicht verkörpern konnte. Sie war vielleicht eine offizielle Legendengestalt, aber die Leute brauchten einen Anführer, in dessen Gesellschaft sie sich wohlfühlten, und vorzugsweise einen, der nicht das Wort Wahn im Namen trug. Niemand zweifelte an Dianas kämpferischen Fähigkeiten, aber sie gab jederzeit bereitwillig zu, dass sie den Umgang mit Menschen nicht zur Vollendung entwickelt hatte. Nein, Douglas machte das bestimmt prima. Wenn man ihn richtig unterstützte und führte.

Sie überquerte zuversichtlich die Grenze zum Slum, und die Wachleute der Militanten Kirche, die dort Dienst schoben, unternahmen nicht mal den Versuch, sie aufzuhalten. Sie hatte den Abstoßungseffekt aufgehoben, damit man sie sehen konnte, und ihre Kraft knisterte rings um sie in der Luft. Die Wachleute konnten gar nicht schnell genug Reißaus nehmen. Manche bekreuzigten sich sogar im Laufen. Auch etliche unschuldige Bürger gaben Fersengeld, auf beiden Seiten der Grenze. Diana Vertue lächelte. Schön zu wissen, dass sie immer noch Eindruck machte. Sie blieb stehen und blickte sich um.

Sie musste jetzt eine andere Art von Eindruck machen. Etwas Dramatisches, passend für die Rückkehr einer alten Legende. Sie brauchte nur einen Augenblick, um mit ihren suchenden Gedanken einen Elfensklaven zu entdecken, einen unscheinbaren kleinen Mann, der unauffällig vor einer Tür herumlungerte. Diana ging schnurstracks auf ihn zu, hielt gedanklich seine Beine fest, als er ausreißen wollte, und pustete dann den lenkenden Esper direkt aus seinem Gehirn. Das Elfenbewusstsein ergriff schreiend die Flucht, und der nicht mehr besessene Mann fiel zitternd und schluchzend auf die Knie, war aber wieder ganz er selbst. Er versuchte, plappernd seinen Dank auszudrücken, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, aber Diana hatte dafür keine Zeit. Weitere Gedankensklaven näherten sich. Sie spürte sie überall ringsherum, spürte ihre Gedanken, die wie wütende Wespen summten. Es waren wirklich eine ganze Menge, die sich ihr näherten. Diana lächelte. Sie war in der richtigen Stimmung für eine solide Trainingseinheit.

Besessene Männer und Frauen stürzten sich von allen Seiten auf sie, die Gesichter verzerrt von der Wut und den Leidenschaften der lenkenden Elfen. Manche schwangen scharfe Waffen, während andere nur die bloßen Hände einsetzen konnten, aber sie alle hatten Mord im Elfensinn. Diana Vertue war ihr ältester Feind, und sie würden vor nichts zurückschrecken, um sie erneut zu töten. Sie schubsten andere Leute aus dem Weg, schlugen blindlings zu, die Blicke starr auf Diana gerichtet, dir sie gelassen lächelnd erwartete. Diana wartete ab, bis die Besessenen sie praktisch schon erreicht hatten, und rief ihre Macht ab. Psikräfte wogten und prasselten ringsherum über der Straße. Dianas Gegenwart erblühte wie eine dornige Rose. Sie hatte sich früher geistig mit den KIs von Shub verbunden und diese wieder zu Verstand gebracht. Sie hatte gegen die Neugeschaffenen gekämpft und sie zum Stehen gebracht. Sie war verraten und ermordet worden, hatte in der Überseele weitergelebt und war jetzt wieder da, um sich unerledigten Aufgaben zu widmen. Sollten die Gedankensklaven ruhig kommen! Sollten sie ruhig alle kommen. Sie war Diana Vertue; sie war zurückgekehrt und würde diesen erbärmlichen neuen Elfen zeigen, was wirkliche Macht war.
Nur erhielt sie niemals die Chance dazu. Die Sklaven stürmten die Straße entlang und brodelten aus den Seitenstraßen rings um Diana hervor. Sie riefen mit wütenden, bösen Stimmen nach ihr und prahlten mit den schrecklichen Dingen, die sie ihr antun wollten. Diana Vertue weckte die eigene Macht und hielt dann verblüfft inne, als ein Dutzend junge Frauen, angetan mit Seidengewändern in leuchtenden Farben, aus dem Nichts heraus auftauchten. Sie materialisierten in einem schützenden Kreis um Diana, und Blitze knisterten in ihren Händen. Sie trugen schwarze Rosen in den Haaren und hatten sich Stammessymbole in die Gesichter gemalt. Sie warfen sich alle in die gleiche eindrucksvolle Pose und funkelten die benommenen Gedankensklaven hochmütig an. Dann winkten die Frauen mit großer Geste, und ein explosiver Psisturm tobte die Straße hinauf und hinab, riss Gedankensklaven mit, schleuderte ihre hilflosen Gestalten wie Stoffpuppen herum. Die Elfengeister schrien vor Wut und Angst, vermochten der Macht der Neuankömmlinge jedoch nichts entgegenzusetzen. Die zwölf Frauen winkten fast verächtlich, und die besitzergreifenden Geister wurden aus den gestohlenen Körpern hinausgeworfen und verklangen heulend in der Nacht.

Der Psisturm legte sich langsam, und die Luft beruhigte sich. Überall entlang der Straße saßen über hundert Männer und Frauen zitternd und weinend da und hielten einander, waren endlich wieder frei. Die Luft wirkte so sauber und straff wie nach einem Gewitter. Die zwölf jungen Frauen drehten sich zu Diana um. Alle grinsten breit und schienen sehr zufrieden mit sich. Diana nickte langsam.

»In Ordnung, ich erkläre mich offiziell für beeindruckt. Wer zum Teufel seid Ihr?«
Eine der Frauen trat vor. »Ich bin Alessandra Duquesne, und wir sind die Wahnschlampen! Verteidigerinnen des Rechts, Rächerinnen der Unterdrückten und erstklassige Arschtreterinnen! Wir haben unser Image nach Eurer Legende gestaltet und geschworen, Euren Namen durch ruhmreiche Taten zu ehren!« Sie brach kurz ab, um Luft zu holen, und Diana nutzte diese Pause flink. Sie bemerkte es, wenn eine lange Rede ihren Anfang nahm.
»Ja, ich habe von Euch gehört. Eigensinnige junge Störenfriede, zu impulsiv, um der Anleitung der Überseele zu folgen, und viel zu mächtig, als gut für Euch ist. Ich dachte, Ihr wärt alle mit Neue Hoffnung auf dem Weg des Ikarus abgereist und unterwegs nach Nebelwelt?«
Die Wahnschlampen wechselten eingebildete Blicke und kicherten. »Wir sind nie wirklich mit der Überseele klargekommen«, sagte Alessandra. »Wir sind von jeher zu individualistisch und zu stolz darauf, um es uns im Massenbewusstsein gemütlich zu machen. Wir haben die Überseele verlassen und den Slum aufgesucht, kurz bevor Neue Hoffnung Kurs auf den Orbit und das Exil nahm. Wir wollten bleiben und kämpfen. Man fand hier schon immer abtrünnige Esper, zu verformt oder seltsam für das Massenbewusstsein. Wir passten prima dazu. Im Gegenzug für die Aufnahme stöbern wir Gedankensklaven auf und pusten die besitzergreifenden Geister aus ihnen heraus, aber wir haben noch nie so viele davon auf einem Haufen gesehen! Die möchten Euch wirklich tot sehen, wie?«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Diana unverblümt.
Die Wahnschlampen musterten einander überrascht. »Na ja«, antwortete Alessandra, »wir möchten Eure Armee sein! Wir verehren schon immer Euer Andenken, Eure Philosophie gegenüber den Bösen, die man mit ›Nimm keine Gefangenen!‹ und ›Bring sie alle um und lass Gott sie sortieren!‹ umreißen könnte. Seit wir erfuhren, dass Ihr wieder leibhaftig unter uns weilt, warten wir darauf, dass Ihr hier auftaucht. Wir möchten mit Euch zusammenarbeiten und in Eurem Namen Schrecken und Verwüstung verbreiten! Die Rebellion nimmt hier ihren Anfang! Na ja, im Grunde hat sie schon begonnen, und Douglas Feldglöck leitet sie, aber jetzt, da Ihr zurück seid, werdet natürlich ...«
»Nein!«, entgegnete Diana sofort. »Der Feldglöck ist der König. Er führt uns. Ich bin gekommen, um ihn zu unterstützen, und falls Ihr mit mir zusammenarbeiten möchtet, werdet Ihr meinem Beispiel folgen.«
Die Wahnschlampen dachten darüber nach und zuckten dann die Achseln, taten dies praktisch synchron. Diana blickte von einem der eifrigen Gesichter zum nächsten. War sie jemals so jung gewesen, so fanatisch? Sie seufzte lautlos. Sie war nicht ganz überzeugt davon, dass sie die Unterstützung einer Schar ambitionierter Jungdraufgänger brauchte oder wollte, aber langfristig richteten sie wahrscheinlich weniger Schaden an, wenn sie sie im Auge behielt. Also schien es, dass sie jetzt eine persönliche Armee hatte, ob sie nun wollte oder nicht. Flüchtig überlegte sie, ob Owen jemals mit solchen Problemen hatte kämpfen müssen. Immerhin war sie froh, dass sie Douglas jetzt auch etwas bieten konnte, und zwar etwas anderes als ihre ziemlich umstrittene Legende.
»Wir wissen, wo man noch mehr Gedankensklaven findet!«, erklärte Alessandra und sprang fast an Ort und Stelle auf und nieder, bewegt von gänzlich unbeherrschter Aufregung. »Treten wir doch noch ein paar mehr Elfen in den Hintern, ehe wir Douglas aufsuchen!«
»Ja«, sagte Diana. »Je mehr Leute wir von der Besessenheit durch Elfen befreien, desto besser.«
»Das auch!«, räumte Alessandra ein.

Und so machten sich Diana und ihre neuen Freundinnen, die Wahnschlampen, auf den Weg, um endlich König Douglas und seine Leute zu treffen. Man kam heutzutage nur schwer zu ihm durch, und Diana musste ein paar kleinere Wundertaten vollbringen, um richtig Aufmerksamkeit zu finden, aber sobald den Leuten klar wurde, dass sie wirklich die war, die sie zu sein vorgab, konnten sie sie gar nicht schnell genug weiterreichen. Umso besser. Niemand hielt Diana Vertue auf, wenn sie richtig in Fahrt war. Douglas, Stuart und Nina empfingen sie im eigenen Hotelzimmer, das sich ungeachtet seiner Enge irgendwie zum Zentrum der Rebellenaktivität entwickelt hatte. Die Wahnschlampen hielten vor der Tür Wache und schüchterten die regulären Wachleute ein. Alle hatten schon von den Wahnschlampen gehört, die, wenn sie richtig loslegten, mehr Sachschäden anrichteten als ein Erdbeben. Man munkelte davon, Geld zu sammeln, damit sie loszogen und einem anderen Planeten halfen. Irgendeinem anderen Planeten.

Diana musterte die drei zweifelnden Gesichter, die ihr über den Tisch entgegenblickten, und lächelte entspannt. »Hallo, ich bin Diana Vertue, und Ihr braucht meine Hilfe.«

»Ja«, räumte Douglas ein. »Wenn Johana Wahn auf der Bühne erscheint, brauchen die Leute normalerweise Hilfe.«

»Ich benutze diesen Namen jetzt schon seit gut über einem Jahrhundert nicht mehr«, stellte Diana fest und bedachte ihn mit ihrem besten Stirnrunzeln. »Und falls Ihr klug seid, tut Ihr es auch nicht. Für den Fall, dass Ihr es noch nicht wisst: der Slum ist überall mit Gedankensklaven infiziert, die dem Imperator alles melden, was Ihr tut. Ihr verfügt hier nicht über genügend starke Espergehirne, um diese Leute zu entdecken, geschweige denn, sich mit ihnen zu befassen. Also braucht Ihr mich.«

Douglas nickte langsam. »Und diese entsetzlichen jungen Damen, die derzeit draußen auf dem Treppenabsatz herumlungern ?«

»Sie nennen sich die Wahnschlampen, um mich zu ehren. Und nein, sie haben mich nicht gefragt. Es sind abtrünnige Esper. Sie meinen es gut.«

»Wahnschlampen«, sagte Nina. »Flößt einem nicht schon der Name Vertrauen ein?«
»All die Legendengestalten, die hätten zurückkehren und mir helfen können ... und ich kriege Johana Wahn!«, sagte Douglas schwer. »Das soll keine Beleidigung sein ... Diana. Ich sage Euch was: Ich muss in einer Stunde zu einer bedeutsamen Versammlung sprechen. Warum kommt Ihr und Eure Leute nicht einfach mit, und falls Ihr irgendwelche Gedankensklaven in der Menge entdeckt, zeigt mir, wozu Ihr fähig seid. Okay?«
Dianas Gesicht verriet, dass das in keiner Hinsicht okay war, aber sie nickte kurz. Selbst Legendengestalten müssen sich beweisen. Sie wartete mit den Wahnschlampen in der Eingangshalle des Hotels, und die jungen Damen amüsierten sich derweil, indem sie mit ihren psychokinetischen Kräften Rattenkrocket spielten, bis es Zeit für Douglas und seine Leute wurde, zur Versammlung zu gehen. Die Wahnschlampen nickten Douglas fröhlich zu, aber dieser tat sein Bestes, um ihre Blicke nicht zu erwidern. Sie bereiteten ihm Sorgen. Sie bildeten einen schützenden Ring um ihn, während die Gruppe den Straßen folgte. Jubelnde und winkende Menschen versammelten sich am Wegesrand, und Douglas lächelte und winkte königlich zurück. Stuart behielt die Zuschauer sorgfältig im Blick, die Hand immer dicht an der Pistole. Nina filmte das alles mit ihrer Schwebekamera, um es später zu senden. Diana ignorierte die Umgebung und schonte ihre Kräfte. Sie wusste, dass die eigentlichen Probleme bei der Versammlung auftreten würden, wo die Elfen den meisten Schaden anrichten konnten.
Die Versammlung fand auf einem offenen Platz statt, und eine große Menge hatte sich schon versammelt, die Douglas Feldglöck zuhören wollte. Die Wahnschlampen öffneten einen Korridor durch die Menge, damit Douglas seinen Autritt hinlegen konnte, und er marschierte forsch hindurch und sprang auf die schlichte Holzbühne. Die Menge jubelte laut, und Douglas baute sich stolz vor ihr auf, jeder Zoll ein König im Exil. Er wartete nicht mal ab, bis sich der Jubel gelegt hatte, um mit seiner Rede zu beginnen. Er sprach gut und fließend, machte den Zuschauern Vorhaltungen, machte ihnen jedoch auch Mut und stachelte sie zur Rebellion an. Er war in der Lage, über die Armut und das harte Leben im Slum zu reden, weil er es aus eigener Erfahrung kannte, und er konnte vom Verrat und der Bosheit des Imperators reden, weil er sie auch am eigenen Leib erlebt hatte. Seine Rede zeichnete sich vielleicht nicht durch Lässigkeit und Schliff aus, wie Anne Barclay sie ihr verpasst hätte, aber niemand zweifelte daran, dass jedes Wort Douglas' von Herzen kam. Die Menschen mussten sich wehren, sagte er, mussten sich erheben, weil die Lage sonst einfach nur schlechter würde, weil schon viel zu viele Menschen ungerecht litten, weil es die Pflicht und das Recht der Menschen war, sich zu erheben. Wenn man mit dem Rücken an der Wand steht, kann man nur noch nach vorn gehen, erklärte er, und die Menge brüllte seinen Namen wie einen Schlachtruf. Schon bald applaudierten sie nach jeder seiner Aussagen, als wäre sie ein Glaubensartikel.
Die Wahnschlampen hielten derweil die Bühne umstellt und ließen niemanden hindurch, während Diana unauffällig ihre Bahn durch die Menge zog und sich still den Standort jedes einzelnen Gedankensklaven merkte, ohne dass diese etwas davon bemerkten. Sie infiltrierten die Menge langsam, einzeln und zu zweit, und lächelten und applaudierten, um nicht aufzufallen - aber andere blickten aus ihren kalten Augen. Als sie glaubten, genug von ihnen wären zur Stelle, legten sie damit los, Douglas' Rede mit Buhrufen und Pfiffen zu unterbrechen. Ein paar versuchten, Douglas mit Beleidigungen und Obszönitäten niederzuschreien. Die übrigen Zuschauer reagierten nervös und wütend, waren aber noch nicht bereit, selbst zu handeln. Sie blickten zu Douglas hinauf, um zu sehen, was er unternahm. Und Douglas hob einfach nur die Stimme, brachte die Zwischenrufer mit rauer und gewandter Schlagfertigkeit zum Schweigen und redete weiter. Im Parlament hatte er schon Schlimmeres erlebt.
Die Gedankensklaven wurden still, verbanden sich gedanklich miteinander und führten einen geballten telepathischen Angriff durch, mit dem sie alle überraschten. Gewöhnlich waren die Elfen nicht stark genug, um ihre Macht durch die Gedankensklaven zu kanalisieren. Die Menschen stolperten vorwärts und rückwärts und umklammerten die Köpfe unter einem beißenden Sturm unerträglicher, schreiender Gedanken. Üble Anblicke und Empfindungen überluden die Sinne der Menschen und tauchten sie in eine Hölle, und die Elfen genossen jeden einzelnen Augenblick. Eine Gruppe Gedankensklaven, die der Bühne am nächsten standen, nutzten die Gelegenheit zu einem direkten Angriff auf Douglas. Sie gingen mit gezückten Schwertern auf ihn los, aber Diana hatte genug gesehen. Sie schlug mit den eigenen Gedanken auf dem ganzen Platz zu, und der telepathische Angriff der Elfen brach abrupt ab, als sämtliche Gedankensklaven wie ein Mann zusammenbrachen. Diana stellte die von ihnen, die direkt an der Bühne waren, auf die Köpfe und schüttelte sie, um eine ordentliche Show zu zeigen, ehe sie die besitzergreifenden Geister hinausfegte. Der Zustand der Menge normalisierte sich rasch, und sie blickten sich nach ihrer Retterin um. Douglas lächelte Diana von der Bühne aus an. »In Ordnung, Ihr habt die Stelle.«

Der Imperator Finn Durandal war überhaupt nicht glücklich darüber, dass man ihn zu so früher Morgenstunde aus dem Schlaf riss, aber da lediglich die Anführer der Elfen diese spezielle Privatnummer kannten, vermutete er, dass er den Anruf lieber entgegennehmen sollte. Irgendwie wusste er gleich, dass es keine guten Nachrichten sein würden. Er saß zusammengesunken auf der Bettkante, gähnte und rieb sich die Augen. Dann schaltete er endlich den Monitor ein, der in den Nachttisch eingebaut war.

»Es sollte lieber wichtig sein!«, knurrte er. Das finstere Gesicht auf dem Bildschirm war ihm unbekannt, aber das überraschte ihn nicht. Die Anführer der Elfen zeigten nie ihre wahren Gesichter, sondern meldeten sich immer nur über ihre Gedankensklaven zu Wort. Selbst nach all dieser Zeit hatte Finn immer noch keine Ahnung, wer die Anführer der Elfen tatsächlich waren - eines der vielen Dinge, die ihm in jüngster Zeit Sorgen bereiteten. Das Gesicht des Besessenen wirkte eindeutig nervös, was Finn etwas versöhnte. Falls er keine gute Zeit hatte, sollte auch niemand sonst sie haben.

»Wir wurden angegriffen«, erklärte der Elfenführer rundheraus. »Ein übersinnlicher Angriff von unglaublicher Stärke. Viele unserer Leute haben sich noch immer nicht ganz erholt.«

»Wer zum Teufel könnte Euch so etwas antun?«, fragte Finn.
»Diana Vertue ist im Slum aufgetaucht.«
Finn blinzelte ein paar Mal. »Das ist ein guter Trick«, räumte er schließlich ein, »wenn man bedenkt, dass sie seit über hundert Jahren tot ist.«
»Das hat für sie keinerlei Bedeutung. Sie war ein Avatar der Mater Mundi, und sogar die Überesper fürchteten sich vor ihrer Macht. Diana Vertue ist zurückgekehrt und hat sich auf die Seite des Feldglöcks geschlagen. Ihr hättet uns schon längst gestatten müssen, ihn umzubringen.«
»Möglicherweise«, sagte Finn. »Aber ich habe mir so sehr gewünscht, dass er erst leidet. Na gut, bringt ihn um, falls es Euch glücklich macht.«
»Das können wir nicht mehr. Er steht unter dem Schutz Diana Vertues und ihrer Armee aus abtrünnigen Espern. Sie haben uns schon Hunderte Gedankensklaven gekostet Unsere Präsenz im Slum wurde nahezu ausgelöscht! Ihr müsst etwas unternehmen!«
»Ich werde etwas unternehmen«, erklärte Finn ein wenig gereizt. »Ich habe ohnehin nie geglaubt, dass Ihr und Eure Gedankensklaven ausreichen würdet, um Douglas an der Organisation eines Aufstands zu hindern, sobald er erst einmal seine Apathie abgeschüttelt hat. Er konnte schon immer gut mit Worten umgehen, eine gute Ergänzung zu seiner verdammten charismatischen Persönlichkeit. Also habe ich schon meine eigene kleine Armee speziell für den Kampf im Slum geschult. Ich wusste von Anfang an, dass ich mich eines Tages mit diesen undankbaren kleinen Bastarden würde befassen müssen. Der Slum ist schließlich doch zu gefährlich geworden, als dass ich ihn fortbestehen lassen dürfte. Bislang widerstrebte mir, sein Todesurteil zu unterzeichnen ... zum Teil deshalb, weil immer noch die Chance bestand, dass ich die speziellen Talente der Leute dort eines Tages erneut brauchen würde, und zum anderen, weil ich ein sentimentaler alter Softie bin, aber ... Schafft Eure restlichen Leute aus dem Slum. Ich gedenke, meine allerbesten Fanatiker hineinzuschicken, um das Rattennest mit Feuer und Stahl zu säubern. Ich lasse die Häuser abreißen und einen Berg aus Schädeln errichten.«
»Das solltet Ihr schnellstens tun«, meinte der Elf.
Der Bildschirm wurde dunkel, und Finn streckte ihm die Zunge heraus. Er seufzte, stand auf und klingelte nach seinen Dienern, damit sie ihn ankleideten. Sinnlos, jetzt wieder schlafen zu wollen. Nicht, wenn er Gemetzel und Verwüstung zu planen hatte. Er bestellte eine Reihe von Anrufen bei seinen Generälen in der Militanten Kirche. Falls er nicht schlief, sollte es auch sonst niemand tun.

Die Reine Menschheit und die Militante Kirche hatten sich zu einer einzigen Kirche und einer einzigen Philosophie unter der wohlwollenden Leitung des sehr praktisch gesinnten Joseph Wallace entwickelt. Die Stoßtruppen des Imperiums beteten inzwischen Finn persönlich an, und die natürliche Auslese unter den Getreuen hatte, unterstützt durch viele Säuberungen, eine Armee aus unerbittlichen Eiferern und fanatischen Soldaten geschaffen. Sie waren bereit, für Finn zu sterben, obwohl sie es natürlich bevorzugten, für ihn zu töten. Er war der Erwählte, der Verteidiger der Menschheit, ihr Tag und ihre Nacht. Und sie waren seine Kampfhunde.

Sie waren zu Tausenden, bis an die Zähne bewaffnet, und in ihren Köpfen brodelten Gefechtsdrogen und virulente Propaganda. Sie waren die Rechtschaffenen, und sie trugen weder Erbarmen noch Mitgefühl noch sonst eine derartige Schwäche in sich. Sie sammelten sich an der Grenze des Slums und marschierten durch alle Zugänge gleichzeitig ein, sangen dabei ihre entsetzlichen Hymnen und brachten jeden um, den sie sahen. Sie schossen Männer, Frauen und Kinder nieder und erschlugen jeden, der nicht schnell genug davonlief. Sie legten Brände und brachten Sprengsätze in Häusern an. Ihr Herr hatte ihnen gesagt, dass kein Stein auf dem anderen liegen bleiben und nicht eine einzige heidnische Seele am Morgen des nächstens Tages noch leben sollte. Ihnen war es egal; sie zögerten nicht. Sie taten Gottes Werke und es fühlte sich schön an, so schön!

Männer, Frauen und Kinder lagen tot oder sterbend auf den Straßen, und die Soldaten der Militanten Kirche marschierten einfach über sie hinweg. Brände tobten hell in der Dunkelheit, und Explosionen dröhnten durch die Nacht wie die schweren Schritte eines Rachegottes. In einem anderen Stadtteil hätte daraufhin nur Panik geherrscht und die Menschen wären blind herumgerannt, aber das hier war der Slum, und seine Bewohner waren aus härterem Holz geschnitzt. Die Nachricht von der Invasion verbreitete sich schnell, und allzu bald kam der Vormarsch der Militanten Kirche angesichts unversöhnlicher Gegenwehr zum Stillstand. Männer, Frauen und Kinder liefen ans allen Richtungen zusammen und versperrten den Invasoren den Weg, und alle waren mit irgendeiner Art Waffe ausgerüstet. Weitere Menschen liefen auf den Dächern zusammen und schleuderten einen Schutthagel auf den Feind. Hinter höher gelegenen Fenstern lauerten Scharfschützen mit Strahlengewehren, und flinke Jugendliche huschten mit improvisierten Granaten aus Nebenstraßen hervor.

Vom Slum hieß es wahrheitsgemäß: jeder gegen den Nachbarn, aber alle zusammen gegen den Außenstehenden.

Douglas, Stuart und Nina arbeiteten die endlosen Vormittagsstunden hindurch unermüdlich, organisierten die Streitkräfte der Rebellen und schickten die Leute dort in die Schlacht, wo man sie am dringendsten brauchte. Diana Vertue und die Wahnschlampen schlugen immer wieder gegen die feindlichen Streitkräfte zu, folgten dabei einer bösartigen Guerillataktik und zogen eine Spur des Todes und der Verwüstung. Sogar einige Fremdwesen ließen sich auf den Straßen blicken und suchten eine Gelegenheit, gegen ihre Unterdrücker zurückzuschlagen.

Der Slum erhob sich, endlich vereinigt zu einer gewaltigen Macht mit einer einzigen Zielsetzung. Der Imperator hatte sich zum Feind der Slumbewohner erklärt, zu einer Gefahr für ihre Häuser und ihr Leben, und sie würden nie wieder ruhen, bis sie ihn gestürzt hatten. Das Volk wogte durch die Straßen, warf sich in einer Welle nach der anderen auf die Invasoren und erhob hundert verschiedene Schlachtrufe wie eine einzige zornige Stimme - das Ergebnis von Generationen, die um alles in ihrem Leben hatten kämpfen müssen. Schusswaffen flammten auf und Schwerter blitzten. Die Soldaten der Militanten Kirche fielen zu Dutzenden, dann zu Hunderten, schließlich zu Tausenden. Die Bewohner des Slums kamen von überall zugleich, um die Fanatiker durch schiere Übermacht niederzuringen. Der Slum erhob sich wild und erbarmungslos, und in kürzester Zeit verwandelte sich die Invasion in eine wilde' Flucht. Die Soldaten der Militanten Kirche warfen ihre Waffen weg, ihre Befehle, ihren Glauben an Finn und sich selbst und rannten in kleinen, aufgelösten Gruppen zur Grenze des Slums. Von den Hunderttausenden stolzer und arroganter Eiferer, die im Slum einmarschiert waren, schafften es nur ein paar Hundert wieder lebendig hinaus.

Nina Malapert hielt eine Menge davon im Bild fest und sendete einfach alles davon auf ihrer unabhängigen Website, und das technische Team setzte seinen ganzen Erfindungsgeist ein, um die Sendung so lange wie nur irgend möglich laufen zu lassen. Auf ganze Logres und auf Planeten im ganzen Imperium bekamen die Leute zu sehen, wie Finns Autorität in Frage gestellt und ihm ins Gesicht geworfen wurde. Sie sahen das Blut und die Leichen, sahen ganze Familien, die von den Truppen der Militanten Kirche abgeschlachtet worden waren, und schließlich sahen sie, wie Douglas Feldglöck und Stuart Lennox Rücken an Rücken gegen eine überwältigende Übermacht stritten, und noch nie hatten diese beiden Männer mehr nach Helden ausgesehen.

Finns Zensoren schalteten die Sendung schließlich ab, und nichts blieb zurück als dunkle Bildschirme im ganzen Imperium.

Im Slum sammelten die Leute ihre Toten ein, behandelten nach besten Kräften ihre Verwundeten und löschten die Brände. Nach Feiern war ihnen nicht recht zumute. Zumindest bestand keinerlei Zweifel mehr daran, auf wessen Seite sie nun standen. Sie stellten die Verfolgung der Invasoren an der Grenze nur ein, weil Douglas sie zurückrief. Er wusste, dass seine Leute noch nicht bereit waren für eine direkte Konfrontation mit Finns Armeen. Noch nicht. Hitzigkeit ging in kalten, bitteren Zorn über, als die Bewohner des Slums ihre Toten zählten und die Sachschäden addierten. Hartherzige und dickköpfige Männer und Frauen, die sich nie für etwas so Nebulöses wie ein Anliegen zusammengefunden hätten, sahen sich jetzt in einem schmerzenden Hunger nach Rache vereint.

Auf Planeten im ganzen Imperium und besonders auf Logres blickten die Menschen auf ihre dunklen Bildschirme und betrachteten den Imperator Finn und seine Stoßtruppen in gänzlich neuem Licht.

Finn war wütend. Er tobte in der Kommunikationszentrale des Palastes herum und versuchte mehr Truppen herbeizurufen, aber die meisten seiner Streitkräfte waren als Besatzungstruppen in Städten auf ganz Logres verstreut. Es hätte Stunden gedauert, sie alle in Parade der Endlosen zusammenzuziehen, und wer hätte dann die Städte kontrolliert, die sie verließen? Finn verfügte über Angriffsschlitten, Kampfwagen und sogar Sternenkreuzer, aber auch in diesem Fall hätte es wieder Stunden gedauert, sie herbeizurufen. Finn trat nach dem Mobiliar - und jedem seiner Mitarbeiter, der ihm nicht schnell genug auswich. Er begriff einfach nicht, wie alles so schnell hatte schiefgehen können. Wie ein Pöbel aus Ausgestoßenen und Kriminellen seine Elitetruppen so mühelos hatte vernichten können.

Douglas. Es musste an Douglas liegen.
Finn scheuchte alle aus der Kommzentrale und rief die Elfen zu Hilfe. Eine ausreichend große Armee von Gedankensklaven konnte die Lage vielleicht noch zu seinen Gunsten wenden. Selbstmordtruppen, getrieben von fremden Gehirnen, konnten immer noch die Abwehr des Slums überrennen. Aber keiner der Elfenanführer oder der Überesper nahm seinen Anruf entgegen. Finn setzte sich in der leeren Zentrale langsam, denn seine Gedanken wirbelten wie verrückt durcheinander und konnten sich einfach nicht beruhigen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war nicht er es, der die Dinge vorantrieb, und er wusste nicht, was er nun tun sollte. Er musste etwas übersehen haben, aber was? Was?
Schließlich schickte das Kommpersonal, nachdem alles zu lange still geblieben war, nach Joseph Wallace. Er beruhigte alle mit beschwichtigenden Worten und stimulierenden Plattitüden, so gut er konnte, und steckte dann vorsichtig den Kopf in die Kommzentrale. Finn saß immer noch auf seinem Stuhl und dachte nach. Er kümmerte sich nicht um die Anruflampen auf den Konsolen ringsherum. Joseph entschied, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um Finn zu melden, dass auf Planeten im ganzen Imperium Aufstände losbrachen, inspiriert von den Ereignissen im Slum. Joseph schloss sachte die Tür und erteilte in Finns Namen leise Befehle. Sicherheitsleute kamen und gingen und stellten ein deprimierendes Bild von dem zusammen, was überall gleichzeitig geschah. Joseph genehmigte grausame Gegenschläge, aber so schnell die Rebellion an einer Stelle niedergeworfen war, flackerte sie an einer anderen neu auf.
Alarmsirenen heulten in der Kommzentrale, aber Finn schaltete sie ab. Bei dem Lärm bekam er Kopfschmerzen, und er musste nachdenken.

Hätte Finn gewusst, was mit den Elfenführern und den Überespern los war, dann hätte ihn das noch mehr beunruhigt. Hinter den Kulissen lief ein noch heftigerer Kampf, in dem Gnade weder erbeten noch gewährt wurde. Zwischen den Anführern der Elfen und den Überespern war schließlich doch der offene Krieg darüber ausgebrochen, wer die Bewegung führte. Beide Seiten hatten zuvor in aller Heimlichkeit gewaltige Armeen von Gedankensklaven aufgestellt, um die jeweils eigene Machtposition zu stärken und die Zahl der Trümpfe im Spiel zu erhöhen. Nach den Vorfällen im Slum entschieden beide Seiten, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um mit Finn zu brechen und einen eigenen Weg einzuschlagen.

Es war ein Esperkrieg, ausgetragen auf den Schlachtfeldern der Gedanken, zunächst weitgehend unbemerkt vom Rest der Welt, aber trotzdem grausam und tödlich. Die riesigen Armeen aus Gedankensklaven waren lebendige Energiequellen, Speicher voller Gedankenenergie, die beide Seiten anzapfen konnten. Telepathische Schlachten tobten, während Bewusstsein auf Bewusstsein prallte, und all das geschah auf unheimlichen Landschaften, wie sie menschliches Verstehen überstiegen, Landschaften, die man eigens zu diesem Zweck geschaffen hatte. Ein Bewusstsein nach dem anderen zerbrach und zersplitterte, und die Esperangriffe liefen manchmal in die stoffliche Welt über, was sich in Wetterkapriolen und Schwankungen der Wahrscheinlichkeit ausdrückte. Psistürme tobten in der Umgebung und zerstörten manch ungeschütztes Gehirn. Es ging hin und her, und keine der beiden Seiten war stark genug, um die andere gänzlich zu überwältigen. Aber keine Seite war bereit, klein beizugeben. So baute sich der Psidruck ein ums andere Mal auf, bis die Energien schließlich völlig außer Kontrolle gerieten. Eine ganze Sektion von Parade der Endlosen wurde dadurch zerstört, so laut und so hell, dass man den Widerhall auf ganz Logres spürte. (Finn gab später einem Sabotageakt der Rebellen die Schuld, denn schließlich musste er irgendeinen Grund nennen.)

Die Schlacht der Esper endete in einem Patt, bei dem keine Seite Boden gewann oder verlor. Schließlich zogen sich beide Seiten zurück, leckten ihre übersinnlichen Wunden und bereiteten künftige Schlachten vor. Sowohl die Anführer der Elfen als auch die Übersper waren entschlossen, ab jetzt ihren eigenen Weg zu gehen und einem eigenen Schicksal zu folgen. Sie brauchten Finn nicht mehr. Sie gedachten die Menschheit nach eigenen Vorstellungen zu beherrschen, und zur Hölle mit allen zweckgerichteten Bündnissen.

Finn gelang es letztlich, die Aufstände niederzuschlagen. Das kostete ihn viel mehr Zeit, Geld und Personal, als er sich leisten konnte, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er musste die Zügel der Macht festhalten. Auf einem Planeten nach dem anderen und in einer Stadt nach der anderen wurden die Aufstände mit Strahlenwaffe und Stahl niedergeschlagen, und ein verdrossenes Schweigen senkte sich über das Imperium, in dem jetzt überall das Kriegsrecht herrschte. Tote Rebellen hingen in allen Städten zu Hunderten an Laternenpfählen, und schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten patrouillierten auf den Straßen und warfen dabei ständig nervöse Blicke über die Schulter.

Der Slum blieb strikt verbotenes Terrain. Niemand ging hinein, und niemand kam heraus.
Finn war mehr über den Verlust seiner Bundesgenossen, der Elfen, besorgt. Keiner von ihnen sprach mehr mit ihm, und alle seine Verbindungsleute schienen untergetaucht. Zu lange hatte er sich auf ihre Hilfe verlassen; seine Spionageorganisationen waren ohne die telepathisch gewonnenen Informationen der Elfen verloren. Finn teilte Joseph Wallace mit, dass die Produktion von Espblockern jetzt Vorrang vor allem anderen genoss, konnte aber den Grund nicht erklären. Dummerweise stellte sich heraus, dass man Espblocker nicht ohne Hirngewebe von Espern herstellen konnte, und beim Klonen von Espergewebe ging von jeher viel schief. Und so versprach die Massenproduktion ein langsames, zeitaufwändiges Geschäft zu werden. (Joseph übermittelte diese Nachricht aus sicherer Entfernung über Komm. Er hatte nach wie vor kein rechtes Zutrauen zu Finns Temperament.)
Und der Imperator hatte noch mehr Probleme. Er suchte Elijah du Katt in dessen neuem Labor im Palast auf. (Finn hatte beschlossen, seine restlichen Bundesgenossen, wo immer möglich, in seiner Nähe zu behalten.) Heutzutage traf man nur noch einen du Katt an. Die Elijahs hatten versucht, eine eigene Machtbasis und einen neuen Klonuntergrund zu organisieren, und das konnte Finn nicht dulden, sodass er mit einer Ausnahme alle Elijah du Katts erschoss. Weder wusste er noch scherte es ihn, ob der verbliebene du Katt das Original war. Darauf kam es im Grunde nicht an.
Angeblich suchte Finn du Katt auf, um die mit dem Klonen von Esperhirngewebe verbundenen Probleme zu diskutieren, aber wie immer hatte Finn dabei Hintergedanken. Die kürzlichen Aufstände hatten ihm überdeutlich die mangelnde Personalstärke seiner Truppen demonstriert, besonders jetzt, wo ihm die Gedankensklaven nicht mehr zur Verfügung standen. Er brauchte Soldaten - Bewaffnete, die taten, was man ihnen befahl, und die keine Fragen stellten. Er hatte nicht genug Zeit, um solche Soldaten zu finden, auszubilden und zu indoktrinieren. Also bestand die nahe liegende Lösung in einer Klonarmee. Eine solche Armee herzustellen, das setzte eine riesige Proteinbasis voraus, aber zum Glück bestand kein Mangel an herumliegenden Leichen, die nur darauf warteten, sinnvoll verwertet zu werden. Und diese neue Armee sollte so programmiert sein, dass sie weder Angst noch eine Spur von Eigenständigkeit kannte. Sie würden sich nicht abwenden und flüchten wie diese so genannten Fanatiker, die Finn in den Slum geschickt hatte. Finns Blut kochte immer noch beim Gedanken an seine Männer, die vor einem Haufen aus Ausgestoßenen und billigen Betrügern davongerannt waren. Am liebsten hätte er die Raumflotte herbeigerufen, damit sie die ganze Gegend aus dem Orbit sengte, aber das konnte man nicht tun, ohne gleich ganz Parade der Endlosen zu vernichten. Allerdings überlegte Finn sich das nach wie vor.
Finn erläuterte seine Pläne für die neue Klonarmee recht umfangreich für den einzigen verbliebenen und etwas niedergedrückten du Katt. Finn marschierte zwischen den glänzenden, brandneuen Geräten hin und her, und seine Ideen wurden von einem Augenblick zum nächsten extravaganter. Du Katt saß nur da und schüttelte langsam den Kopf, bis Finn ihm befahl, damit aufzuhören. Du Katt rang die Hände, damit sie nicht zitterten.
»Die Anzahl Klone zu produzieren, die Ihr benötigt, und das in dem Zeitrahmen, den Ihr Vorschlag, das stellt uns vor ... gewisse Schwierigkeiten, die mit keinem Ausmaß an technischen oder finanziellen Mitteln zu überwinden sind. Eure Majestät, das Endprodukt wird fast mit Sicherheit aus ... schadhaften Produkten bestehen.«
»Werdet deutlicher«, verlangte Finn und fummelte an einem in der Nähe stehenden empfindlichen und teuren Gerät herum, nur um sich daran ergötzen zu können, wie du Katt zusammenzuckte.
»Nun, Eure Majestät, das Endprodukt wird fast mit Sicherheit physische Defekte aufweisen, darunter auch ein gewisses Maß an Hirnschäden.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Finn. »Soldaten, die zu dumm sind, um sich aufzulehnen, und zu stumpfsinnig, um etwas anderes zu tun, als ihre Befehle auszuführen. Damit kann ich leben. Ich nehme für den Anfang zwei Millionen. Und benutzt die Zellproben, die ich mitgebracht habe, als Basis für die genetische Struktur.«
»Wessen Zellen sind das?«, fragte du Katt.
»Meine natürlich«, antwortete Finn. »Ich habe beschlossen, dass ich Kinder haben möchte. Jede Menge Kinder!« Er lachte und gab dem zitternden du Katt einen Klaps auf die Schulter. »Beglückwünscht mich! Ich werde Vater!«

Sein nächster Besuch galt einem weiteren Labor, das er aus Sicherheitsgründen in den Palast verlegt hatte. Der Inhaber hatte gar nicht umziehen wollen, aber es ist nun mal erstaunlich, wie überzeugend eine auf die Leistengegend gerichtete Pistole sein kann. Und so arbeitete jener berühmte Drogendealer, Alchemist und Irre namens Dr. Glücklich jetzt exklusiv für Finn, und er tat dies in einem brandneuen Labor, ausgestattet mit allem, was man für Geld erhielt. Sehr zum Kummer seiner übrigen Kunden. Man musste feststellen, dass der heutige Dr. Glücklich nicht mehr ganz der Mann von einst war, vor seiner langen Reise nach Haden und in die Nähe des Labyrinths des Wahnsinns. Niemand konnte jedoch bestreiten, dass er nach wie vor über den profilitiersten wissenschaftlichen Verstand des Imperiums verfügte. Zur Zeit mühte sich der gute Doktor unermüdlich mit einem einzigen Projekt ab: der Wiedererschaffung von Anne Barclay.

Anne war fast zu Tode gekommen, als bei Douglas Feldglöcks wagemutiger Flucht durch das Dach des Hofes Trümmer auf sie stürzten. Jeder andere wäre wahrscheinlich getötet worden, wenn man bedachte, wie lange es gedauert hatte, Anne in einen Regenerationstank zu bringen. Der Tank hielt sie jedoch an der Grenze des Todes, während Dr. Glücklich seinen perversen Verstand diesem Problem widmete. Finn hatte ihn angewiesen, jede erdenkliche Maßnahme zu ergreifen, um Anne zu retten, und so tat Dr. Glücklich genau das. Was er weder heilen noch reparieren konnte, das tauschte er aus oder baute er neu, egal welch extreme Schritte dazu nötig waren. Er wirkte Wunder und holte Anne ein ums andere Mal vom Rand des Grabes zurück, aber leider konnte er nicht dem Impuls widerstehen, sie auf amüsante Arten und Weisen neu zu schaffen. Sein lang gezogener Aufenthalt neben dem Labyrinth des Wahnsinns hatte den guten Doktor beeinflusst, und das zeigte sich in seiner Arbeit. Außerdem war er dazu übergegangen, all die neuen Drogen, die er entwickelte, an sich selbst auszuprobieren, wobei er von der Überlegung ausging, dass man die Wirkung nur dann vollständig verstehen konnte, wenn man sie selbst ausprobierte.

Eine der Drogen brachte ihn um. Eine andere holte ihn zurück. Oder so drückte er es aus. Jedenfalls bestand das Resultat darin, dass Dr. Glücklich heute eine wandelnde, vermodernde Leiche war, in der sein langsam verfallender, brillanter Verstand zuzeiten Fehlzündungen erlitt. Techimplantate zweifelhaften Ursprungs und eine ganze Palette an experimentellen neuen Drogen hielten ihn in Gang, aber sein Fleisch mumifizierte sich langsam selbst, ungeachtet all seiner Mühen, es wieder aufzufrischen. Dr. Glücklich war es egal. Er genoss die Empfindung des Verfalls durch seine außergewöhnlich geschärften Sinne und prahlte damit, dass seine neue Sicht des Lebens - oder genauer des Todes - ihm alle möglichen neuen Einsichten schenkte.

Als Finn nun das schwer bewachte Labor betrat, begrüßte ihn ein Anblick, der jeden anderen erschüttert und mit Übelkeit erfüllt hätte. Vorbei war die Zeit der glänzenden neuen Tech und der nagelneuen Ausrüstung. Die spärlich beleuchtete Halle war voller Tierkäfige und stank wie ein Schlachthaus. Versuchstiere blickten trübselig aus den Käfigen, während andere in unterschiedlichen Graden der Vollständigkeit auf den Labortischen lagen. Dr. Glücklich war damit beschäftigt, sie auseinander zu nehmen und zu interessanten neuen Kombinationen wieder zusammenzusetzen, um mal zu sehen, was sich daraus ergab. Meist starben die Tiere, aber er behauptete, dabei viel zu lernen.

Finn schritt ohne Eile durch das Labor, betrachtete zweifelnd die neuesten, auf den Tischen befestigten Kombinationen und blickte schließlich auf, als ihm Dr. Glücklich entgegengewankt kam, um ihn zu begrüßen. Der gute Doktor trug am ausgemergelten, verwesenden Leib nichts weiter als einen Laborkittel voller Chemieflecken. Dunkle Flecken bedeckten die graue Haut, und an manchen Stellen schimmerten Knochen bleich hindurch. Der größte Teil der weißen Haare war ausgefallen; die eingesunkenen Augen waren gelb wie Urin, und die Lippen waren von den Zähnen zurückgewichen und hatten sein Dauerlächeln zu einer Gesichtsverzerrung gemacht. Er bewegte sich mit ruckhaften, nur undeutlich erkennbaren Bewegungen und blieb nie auch nur eine Sekunde lang still, so erfüllt war er von einer schrecklichen, unerbittlichen Energie.

»Wie schön, Euch wiederzusehen, Finn! Ja! Ja! Oh, welch glücklicher Tag ... Wir machen hier Fortschritte, ganz eindeutig. Vergesst dieses Kaninchen; ich hatte nie erwartet, dass es funktionieren würde. Der neue Kopf war nur eine Laune des Augenblicks. Ich vermute, Ihr möchtet Euch Anne ansehen? Ja, ja, ich weiß, keine Zeit zum Plaudern. Ich sehe Gespenster, wisst Ihr?«

Finn stockte und blickte Dr. Glücklich an. Das war eine neue Wendung. »Gespenster?«, fragte er vorsichtig.

»Oh ja! Geister der Toten, ruhelose Seelen der Dahingeschiedenen, so was in der Art.« Dr. Glücklich drehte sich im Kreis und fuchtelte mit den knochigen Händen, als wollte er irgendwelche Dinge verscheuchen. »Sie schweben ständig durchs Labor und kommen mir in die Quere. Belästigen mich, obgleich ich Besseres zu tun habe.« Er musterte eine ganze Weile lang starr eine Stelle, wo nichts war, und hatte den Kopf dabei auf die Seite gelegt. »Derzeit verhalten sie sich ruhig. Ich denke, dass Ihr ihnen Angst macht. Ich bin ziemlich sicher, dass einige von ihnen zu Personen gehören, mit denen ich von Haden zurückgekehrt bin. Erinnert Ihr Euch?«

»Die Besatzung der Jäger und die Wissenschaftler von Haden«, sagte Finn. »Die Leute, die Ihr vergiftet und in den Wahnsinn getrieben habt.«

»Ich kann nichts dafür, dass sie für die Wunder, mit denen ich sie speiste, nicht stark genug waren! Ich hätte Supermenschen aus ihnen gemacht, wären sie mir nicht alle weggestorben. Die Leute sind heutzutage einfach nicht mehr robust. Ich persönlich gebe einer verspäteten Stubenreinheit die Schuld daran. Ihr denkt doch nicht, dass ihre Geister mir die Schuld an ihrem Tod geben, oder? Wie ausgesprochen unfair! Aber Ihr seid gekommen, um Anne zu sehen, nicht wahr? Kommt und seht, kommt und seht! Ich habe seit Eurem letzten Besuch solch wunderbare Fortschritte gemacht. Ihr werdet das alte Mädchen gar nicht mehr wiedererkennen.«

»Das sollte lieber zutreffen, Euretwegen«, sagte Finn, aber Dr. Glücklich war bereits davongewankt und schlenderte durch das Labor. Er nahm dabei Kurs auf das Wohnquartier an der Rückwand, wurde aber immer wieder von diversen chemischen Destillationsvorgängen und Lektronendisplays abgelenkt. Er versetzte dem Genspleißer im Vorbeigehen einen ermutigenden Klaps und gab Finn mit gebieterischem Wink zu verstehen, er möge ihm folgen. Finn seufzte und ging ihm nach. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn war schon zu den besten Zeiten dünn genug, und tot zu sein half wahrscheinlich nicht gerade. Er folgte Dr. Glücklich auf dessen unstetem Weg und blieb gelegentlich stehen, wenn der gute Doktor es auch tat und mit Leuten redete, die gar nicht da waren. Vermutlich wieder welche von seinen Gespenstern. Finn hielt angestrengt Ausschau nach ihnen, erblickte aber nichts. Dabei verabscheute er es, wenn er etwas nicht mitbekam. Auf einmal wirbelte Dr. Glücklich zu ihm herum.

»Das ist jetzt aber interessant! Dieser verdammte Geist behauptet, es wäre Eurer, zurückgekehrt aus der Zukunft, aus der Zeit nach Eurem Tod. Ich würde ihn wahrscheinlich besser verstehen, wenn er den Kopf nicht unterm Arm trüge.«

Finn machte sich eine gedankliche Notiz, Dr. Glücklich so viel Arbeit zu entlocken, wie nur möglich war, solange der Kerl überhaupt noch funktionierte. »Wie kommt Ihr mit Eurer neuen Version des TodtsteltzerAufwindes klar?«, fragte er laut und deutlich.

»Okay, okay! Kein Grund zu schreien! Ich bin tot, nicht taub. Die Ohren sind immer noch dran, seht Ihr? Und dem Aufwind geht es gut, danke. Ich habe schon einen funktionsfähigen Prototyp produziert und ihn Anne gegeben.«

»Was habt Ihr?«, fragte Finn scharf. »Ich hatte Euch angewiesen, ihn erst an mir zu testen!«
Dr. Glücklich musterte ihn aus den eingesunkenen Augen und zuckte nervös mit den steifen Fingern. »Ich hatte einfach nicht genug Zeit, nicht genug Zeit! Anne brauchte den Aufwind, falls sie am Stück bleiben wollte. Ihr dürft nicht vergessen, dass der größte Teil meiner Maßnahmen an ihr extrem experimenteller Natur war. Niemand sonst hätte sie so lange am Leben gehalten wie ich. Ich habe alte Hadenmanntech benutzt, Wampyrtech und sogar ein paar neue Optionen, die mir in der Zeit beim Labyrinth eingefallen sind. Nach den entsetzlichen Verletzungen, die sie erlitten hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als sie in einen Kyborg zu verwandeln.« Er brach ab und überlegte. »Ich muss zugeben, dass ich nicht immer weiß, wie oder auch nur warum manches davon funktioniert, aber schließlich lernt man durch Praxis. Immerhin helfen Techimplantate, Wundertränke und meine liebevolle Fürsorge auch nur begrenzt. Oft liegen genau die Dinge, die sie am Leben halten, in ihrem armen misshandelten Körper miteinander im Streit. Der Aufwind müsste den entscheidenden Unterschied ausmachen. Ich setze allergrößte Hoffnungen in ihn. Kommt und seht, kommt und seht!«
Er wankte weiter, und Finn folgte ihm zur Rückwand des Labors. Das Wohnquartier war vom Rest des Labors durch eine schlichte Tür aus massivem Stahl getrennt. Sie blieb ständig verschlossen, und das diente nicht weniger dem Zweck, Anne drinnen festzuhalten, als jedem anderen den Zutritt zu verwehren. Dr. Glücklich sprach seinen Namen für das Stimmschloss aus, und die Tür öffnete sich langsam. Dahinter wurde ein recht behaglicher Raum sichtbar, der alle Annehmlichkeiten außer Fenstern bot. Anne stand wieder vor dem mannsgroßen Spiegel und betrachtete sich. Betrachtete ihr neues Selbst - oder das, was man im Namen des Überlebens damit angestellt hatte. Finn hatte ihr angeboten, den Spiegel zu entfernen, weil er sie nur verrückt machte, aber Anne verwüstete daraufhin den Raum aus Protest und schlug dabei sogar Beulen in die Stahltür, sodass Finn das Thema nie wieder zur Sprache brachte. Anne stand unbeholfen da. Sie lernte in ihrer neuen, veränderten Gestalt erst noch zu gehen und sich elegant zu bewegen. Sie trug keine Kleidung, damit sie sich selbst deutlicher sah. Techimplantate wölbten sich rüde aus ihrer rosa Haut und erzeugten scharfe Kanten und Bögen. Ein Arm war länger als der andere, und das Stromaggregat im Rücken ließ sie leicht bucklig erscheinen. Der Körper beulte sich an den falschen Stellen aus, damit alles Platz fand, was gebraucht wurde. Lange Grate aus Narbengewebe zogen sich kreuz und quer über die Haut wie die Karte eines neuen Weges in die Hölle. Anne bewegte sich ruckhaft und ohne Eleganz, und sie zerbrach häufig ganz unabsichtlich Dinge mit den Händen. Manchmal machte sie auch aus Wut und Frustration etwas kaputt. Das Haar war vom Stress grau geworden, und das Gesicht wirkte abgezehrt und müde. Die Augen zeigten den goldenen Glanz, wie er für Hadenmänner typisch war, und wenn sie redete, ertönte die Stimme als raues, schmerzhaftes Summen. Sie wandte den Blick nicht vom Spiegelbild, als Finn eintrat, aber als sie sich zu Wort meldete, galt es ihm.
»Ich war nur so kurze Zeit schön. Ich wünschte, ich hätte es mehr genossen. Wenigstens passt das Äußere jetzt zum Inneren.«
»Ihr habt wieder zu viel nachgedacht, nicht wahr?«, fragte Finn. »Was habe ich Euch empfohlen? Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen. Außerdem liegt Schönheit im Auge des Betrachters.«
Anne probierte so etwas wie ein Lächeln. »Man braucht schon ein Monster, um ein anderes Monster würdigen zu können. Ich trage etwas Neues in mir, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Finn. »Eine Variante des alten Todtsteltzer-Aufwinds. Er wird Euch stärker, schneller und hoffentlich auch ein bisschen stabiler machen.«
Anne drehte sich mit unbeholfener Plötzlichkeit zu ihm um. »Ja. Ich spüre es wie Blitze in meinen Adern. Ich fühle mich ... stark. Ich könnte inzwischen wahrscheinlich Eure dumme Tür einschlagen, falls ich wollte. Aber wohin sollte ich dann gehen? Ich schlafe nicht mehr, wisst Ihr? Ich brauche es nicht mehr. Ist im Grunde auch okay so. Ich hatte schlimme Träume.«
»Ihr seid am Leben«, sagte Finn. »Ich hatte Euch ja versprochen, ich würde Euch nicht sterben lassen.«
»Mein Aufwind stellt tatsächlich sogar eine Verbesserung des Originals dar«, erklärte Dr. Glücklich, der im Kreis um Anne herumschwankte und mit den steifen Fingern über die Techvorsprünge ihres Körpers strich. »Mein Aufwind läuft ständig und stockt niemals. Ihr werdet niemals auf die Vorzüge verzichten müssen, die er Euch verleiht. Meine Liebe, Ihr seid praktisch übermenschlich! Natürlich weist mein Aufwind die beklagenswerte Tendenz auf, den Wirtskörper auszubrennen — daher auch diese neue Röte der Haut - aber die diversen Techimplantate müssten das ausbalancieren.«
»Wie lange wird sie durchhalten?«, fragte Finn.
Dr. Glücklich zuckte ruckartig die Achseln. »Wie viel Zeit hat irgendjemand von uns? Sie hält jedenfalls länger als ich durch. Und auch als Ihr, falls man diesem Gespenst von eben glauben darf.«
»Warum habt Ihr das alles getan?«, wollte Anne wissen und starrte Finn mit ihren goldenen Hadenmannaugen an. »Warum ist es so wichtig, dass ich am Leben bleibe?«
»Um zu beweisen, dass nicht mal Monster ständig Monster sind«, antwortete Finn.
»Ich vermisse James«, sagte Anne. »Ich möchte James hierhaben. Stellt einen neuen für mich her!«
Finn runzelte die Stirn. »Ich denke, die Leute würden es diesmal bemerken, dass er ein Klon ist.«
»Nicht für sie. Erschafft einen neuen James für mich.«
»Ich sehe mal, was ich tun kann«, log Finn. Er war klug genug, um zu wissen, dass Anne einen Grund brauchte, um weiterzuleben, aber er war auch egoistisch genug, um selbst dieser Grund sein zu wollen. Ein Teil von ihm war insgeheim traurig, dass Anne nicht ahnen konnte, was er alles nur für sie getan hatte.
»Ich bin müde«, sagte Anne. »Müde der Schmerzen und der Veränderungen. Der Tatsache, kein Mensch mehr zu sein.«
»Der Aufwind wird das wieder ändern«, sagte Finn. »Und nach wie vor könnt Ihr viel Nützliches mit Eurem Leben anfangen. Vielleicht sollte ich Douglas mitteilen, was mit Euch geschehen ist. Er möchte Euch vielleicht gern besuchen.«
»Ja«, sagte Anne. »Ich würde Douglas gern noch mal sehen. Ein letztes Mal.«

KAPITEL DREI