ARMEEN UND ALLERLEI STREITKRÄFTE SAMMELN SICH
Imperator Finn hatte Joseph Wallace zum Abendessen eingeladen, und so kam Joseph Wallace natürlich, war aber keineswegs glücklich darüber. Nicht zuletzt, weil eingeladen im Grunde nicht das richtige Wort war. Viel eher hätte es befohlen heißen müssen, begleitet von einem unüberhörbaren Unterton des oder... Joseph verbrachte eine lange und besorgte Zeit mit der Frage, was er nur angestellt haben könnte, um für eine solche Ehre ausgewählt zu werden. Heutzutage erhielt nur noch selten jemand Gelegenheit, Finn gesellschaftlich zu treffen, und man musste feststellen, dass die so Geehrten in beträchtlicher Anzahl nicht zurückkehrten. Niemand fragte jemals, was aus den Leichen wurde. Das wäre weder klug noch der Gesundheit förderlich gewesen. Aber man durfte auch nicht nein sagen, wenn der Imperator ja sagte, und es hatte auch keinen Sinn auszureißen, also schluckte Joseph die Sache, warf sich in Schale, regelte alle seine Angelegenheiten, brachte sein Testament auf den neuesten Stand und begab sich in den Palast.
Der Hof und der imperiale Palast waren nicht mehr das, was sie mal gewesen waren. Über allem hing in jüngster Zeit eine Atmosphäre des Unheils und Verfalls und sogar der absichtlichen Vernachlässigung, und Joseph stellten sich die Nackenhaare auf, während er den abgedunkelten Fluren folgte. Die meisten Lampen funktionierten nicht, und einige waren eindeutig zerschlagen worden. Überall standen Wachtposten steif und in Habachtstellung an den Türen und Abzweigungen, und alle waren sie Fanatiker der Militanten Kirche in voller Körperpanzerung. Sie trugen Schwerter und Pistolen und folgten Joseph mit hitzigen, argwöhnischen Blicken. Als offizielles Oberhaupt der Militanten Kirche und der Reinen Menschheit hätte Joseph eigentlich keinen Grund zur Sorge haben dürfen, aber er war nicht so dumm, dass er hier versucht hätte, seine begrenzte Autorität auszuspielen. Diese Leute waren Finns Kreaturen, loyal in Körper und Seele, darauf vereidigt, in seinem Dienst zu leben und zu sterben. Er war ihr Vater, ihre einzige Liebe, ihr angebeteter Gott.
Trotzdem wimmelte es in allen Nischen und Ritzen von Überwachungskameras und allen möglichen Sensoren, die die Wachtposten ebenso im Auge behielten wie die Korridore, die sie bewachten.
Der Zustand der Dinge ringsherum verschlechterte sich zunehmend, je weiter Joseph ging, und sein Atem wurde schneller und flacher, während er dem vertrauten Weg ins dunkle Herz des neuen Hofes folgte. Abgetrennte Köpfe waren über Türen genagelt und stanken nach billigen Konservierungsmitteln. Joseph glaubte, ein paar der Gesichter wiederzuerkennen. An einer Stelle kam er an einer Reihe Gehängter mit dunkel angelaufenen Gesichtern und hervorgestreckten Zungen vorbei, die Schlingen tief in die gestreckten Hälse eingegraben. Der Letzte schaukelte noch leicht. Unerklärliche Blutflecken verschmierten Fußboden und Wände, als hätte hier irgendein Monsterhund sein Revier gekennzeichnet. Und manchmal vernahm Joseph Schreie und andere verstörende Laute. Alles Symbole für die Macht und Autorität des Imperators und vielleicht auch seinen Geisteszustand.
Joseph setzte seinen Weg fort durch dunkle
Gänge und vermied dabei sorgfältig, nach rechts oder links zu
blicken. Allein aufgrund der damit verbundenen Anstrengung
schwitzte er kräftig, als er endlich vor dem Privatquartier von
König Douglas eintraf, das Imperator Finn inzwischen für den
eigenen Gebrauch beschlagnahmt hatte. Zwei große, muskulöse
Wachleute vor Finns Tür unterzogen Joseph einer vollständigen
Durchsuchung mit Handscannern, ehe sie ihn widerstrebend passieren
ließen. Sie klopften an die Tür und stießen sie auf. Der Geruch
eines guten Abendessens schwebte heraus, aber Joseph fühlte sich
kein wenig besser. Er holte tief Luft, arrangierte seine
Gesichtszüge vorteilhaft und betrat die Höhle des Löwen so lässig,
wie er es nur irgend über sich brachte.
Der Empfangsraum war kahl, abgesehen vom Essenstisch, und die ganze
Umgebung war fast schmucklos. Nirgendwo erblickte man Artikel der
Bequemlichkeit oder des Luxus. Der Boden bestand aus poliertem
Holz, ohne Teppich, und die Wände waren kahl. Die Beleuchtung war
auf ein angenehmes Licht heruntergedreht, und der Tisch bog sich
unter allerlei Speisen und Getränken, mit Gedecken für zwei
Personen. Joseph gestattete sich einen Hauch von Entspannung. Wie
es schien, sollte er zumindest für die Dauer des Essens am Leben
bleiben. Finn kam ihm um den Tisch herum entgegen und lächelte
freundlich.
»Joseph, lieber guter Freund, ganz pünktlich! Das Essen ist bereit, also kommt und haut rein! Und sobald wir gegessen haben, plaudern wir ein bisschen, wie?«
Jede Spur von Appetit, die Joseph vielleicht gehabt hatte, verschwand mit diesen abschließenden Worten, aber er lächelte tapfer, als Finn ihn am Arm packte und ihn zu seinem Platz an der Tafel führte. Finn schwatzte recht freundlich und widmete sich dabei keinem besonderen Thema, während Joseph die vor ihm ausgebreiteten Speisen betrachtete. Alles sah sehr gut aus, gut genug, um selbst einem erfahrenen Feinschmecker wie ihm aufzufallen. Ihm lief doch tatsächlich ein wenig das Wasser im Mund zusammen. Er öffnete die Serviette, die immer noch das alte Feldglöcksche Familienwappen zeigte, und ließ zu, dass Finn ihrer beider Teller mit ein bisschen von diesem und einer Menge von jenem voll lud. Der Imperator setzte sich schließlich auf seinen Platz Joseph gegenüber und winkte gebieterisch. Ein unauffälliger kleiner Mann in Pagenuniform tauchte aus dem Nichts auf, und Joseph fuhr unwillkürlich zusammen. Finn lachte locker in sich hinein.
»Entspannt Euch, Joseph; das ist nur der Vorkoster. Die Küche ist zwar mit den neuesten Sensoren ausgestattet, aber ein kluger Mann setzt nicht sein ganzes Vertrauen in Technik. Mein Vorkoster probiert alles, ehe ich es zu mir nehme. Wunderbarer Bursche! Er ist ein Klon, auf meinen Wunsch hin nach dem Vorbild eines berühmten Meisterkochs hergestellt, der demzufolge jede Zutat schon an der geringsten Geschmacksspur erkennt und zusätzlich mit der Kenntnis sämtlicher Gifte des Imperiums programmiert wurde. Damit bleibt in seinem Gehirn nicht viel Platz für etwas anderes, aber wir alle müssen Opfer bringen. Na ja, natürlich außer mir.«
Der Vorkoster probierte ein bisschen von sämtlichen Speisen auf Finns Teller, dachte einen Augenblick lang nach, verbeugte sich dann und verließ das Zimmer so lautlos, wie er es betreten hatte. Joseph musterte den eigenen Teller.
»Wird er nicht auch von meinen Speisen kosten?« »Seid nicht albern, Joseph«, entgegnete Finn.»Wen würde es scheren, falls Ihr vergiftet würdet?« »Aber... Ihr seid unser geliebter Imperator!« Finn zog eine Braue hoch. »Ich sagte, entspannt
Euch, Joseph! Ihr seid hier nicht in der Öffentlichkeit. Nehmt Euch die Freiheit, in jeglicher Hinsicht Eure Meinung zu sagen.«
Ja, aber ganz
bestimmt!, dachte Joseph, war aber schlau genug, es nicht laut
auszusprechen.
Eine Zeit lang speisten sie schweigend, während Joseph seinen
Imperator so genau musterte, wie er glaubte, es sich erlauben zu
können. Finn schien so robust und gutaussehend und gesund wie
immer. Auf jeden Fall ließ sein Appetit nichts zu wünschen übrig.
Er lächelte häufig und aß mit sichtlichem Genuss. Er benutzte die
Finger ebenso häufig wie das Besteck, um sich die Speisen in den
Mund zu stopfen. Joseph versuchte nicht mal, mit ihm Schritt zu
halten. Das Fleisch des Hauptgangs musste besonders gründlich
gekaut werden. Es schmeckte recht angenehm, aber ungewohnt. Joseph
hatte den Teller schließlich leer gegessen und überlegte, sich
einen Nachschlag zu gönnen, da war Finn auch schon damit
beschäftigt, sich den Teller erneut vollzuhäufen.
»Gut, nicht wahr?«, fragte er munter. »Genießt es, solange Ihr
könnt; der Nachschub ist begrenzt.«
»Schmeckt ein bisschen nach Wild«, sagte Joseph und kaute
nachdenklich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es
herausschmecken könnte. Irgendwas Neuimportiertes?«
Finn grinste. »Das könnte man sagen.«
»Was ist es?«
»Eigentlich solltet Ihr eher fragen, wer
es ist. Wir genießen hier den letzten Botschafter der Fremdwesen,
den vom Planeten Hahn. Er hat eine ganze Weile lang vorgehalten.
Ich habe ihn braten und grillen lassen. Ich finde, gebraten
schmeckt er am besten und macht sich sehr gut zu reichlich
Reis.«
Joseph drehte sich der Magen um, und er konnte mit knapper Not
verhindern, dass ihm das Gesicht entgleiste. Natürlich kursierten
ohnehin Gerüchte darüber, was mit den Leichen der
Fremdwesenbotschafter passiert war, die Finn hatte hinrichten
lassen, aber... Joseph spießte ein mittelgroßes Stück mit der Gabel
auf und verspeiste es sorgfältig. Finn musterte ihn. Joseph
schluckte den Bissen schließlich hinunter und goss sich mit ruhiger
Hand frischen Wein ein. Finn schwatzte munter weiter.
»Ich habe wenigstens ein paar der ganzen Botschafter verspeist. Es
schien mir eine Schande, sie zu vergeuden, und ich liebe neue
Erfahrungen ja so sehr. In meinem Job muss man sich seinen Spaß
besorgen, wo man ihn nur finden kann. Ich denke, der Trall'Chai war
am schlechtesten, obwohl ich ihn mit jedem Gewürz probiert habe,
das mir nur einfiel. Manchen Leuten kann man einfach nicht
helfen.«
Die Mahlzeit schleppte sich endlos dahin, von einem Gang zum
nächsten, darunter ein dermaßen süßer und klebriger Pudding, dass
Joseph nicht mehr als ein paar Mund voll davon herunterwürgen
konnte, ehe er aufgab. Endlich fand das Essen doch ein Ende. Finn
rief Diener herbei, damit sie die Tafel abräumten, stand auf und
führte Joseph ins angrenzende Zimmer, was ebenso karg ausgestattet
war, wenn nicht gar regelrecht spartanisch. Finn goss zwei große
Gläser Brandy ein und nötigte Joseph, sich in einen der
überdimensionalen Sessel vor dem Kamin zu setzen, ehe er selbst
Platz nahm. Joseph nippte vorsichtig an seinem Brandy und wartete
darauf, dass der zweite Stiefel niederfuhr.
»Entspannt Euch, Joseph«, sagte Finn schließlich. »Ihr seid nicht
hier, um getadelt oder bestraft zu werden. Tatsächlich bin ich sehr
zufrieden mit Euch. Meine Leute berichten, dass Ihr als Erster
Minister ausgezeichnete Arbeit leistet. Strenge Disziplin, eine
klare Politik, die keine Ausnahmen macht, und eine Menge
Säuberungen, damit alle auf Zack bleiben. Es muss Euch allerdings
überaus stark beschäftigen, gleichzeitig die Militante Kirche, die
Reine Menschheit und das Komitee für Materiewandlung zu leiten.
Seid Ihr sicher, dass ich nicht zu viel von Euch verlange? Ich
könnte jederzeit einige Eurer Aufgabengebiete jemand anderem
übertragen...«
»Nein, danke, Eure Majestät«, sagte Joseph schnell. Nur Macht und
Einfluss gewährleisteten heutzutage noch Sicherheit, und Joseph
gedachte nicht, irgendetwas davon aufzugeben. Niemand war
gefährlicher als ein ehrgeiziger Stellvertreter. »Ich bin froh,
dass ich Eurer Majestät mit allen meinen Fähigkeiten zu Diensten
sein kann.«
»Wirklich? Das ist wirklich süß von Euch, Joseph. Und nennt mich
doch Finn. Nicht nötig, dass Freunde im privaten Rahmen so förmlich
miteinander umgehen. Natürlich habe ich Euch, falls Ihr jemals in
der Öffentlichkeit ins Vertraute abgleitet, ruckzuck an den Eiern.
Standards müssen gewahrt bleiben. Wo war ich? Oh ja... Ihr seid
hier, Joseph, weil ich mit jemandem reden muss. Jemandem auf meinem
Niveau, mit dem ich offen sprechen kann, ohne dass mein
Gesprächspartner hysterisch wird und ohne dass ich ihn anschließend
hinrichten lassen muss. Welchen Sinn hätte es schließlich, seine
Ziele zu erreichen oder über seine Feinde zu triumphieren, falls
man niemanden hat, dem gegenüber man damit prahlen könnte?
Prahlerei macht nur wenig Spaß, wenn man dabei allein
ist.
Früher hatte ich Brett Ohnesorg und Rose Konstantin dafür und
später Tel Markham; aber sie alle sind davongerannt und haben mich
im Stich gelassen. Hab nie kapiert warum. Und nach allem, was ich
für sie getan hatte, diese undankbaren kleinen Scheißer... haben
sie mein Vertrauen verraten. Ihr würdet das nie tun, nicht wahr,
Joseph? Nein, Ihr seid keiner von den Leuten, die so leicht in
Panik geraten. Ich habe das Gefühl, dass ich mit Euch reden kann,
Euch Dinge erzählen kann, die ich niemandem sonst gegenüber je
erwähnen würde. Ihr solltet besser wissen als die meisten Leute,
dass es keinen Spaß macht, Entsetzliches anzustellen, sofern kein
Publikum da ist, das die Feinheiten zu würdigen
versteht.«
Und Joseph Wallace, der als Oberhaupt des Komitees für
Materiewandlung ganze fremde Lebensformen ausgelöscht hatte, weil
sie ihm zu intelligent gewesen waren, nickte und räumte sich selbst
gegenüber ein, dass er tatsächlich mehr begriff als die meisten.
Trotzdem...
»Ihr seid der Imperator«, sagte er vorsichtig. »Sicherlich habt Ihr
doch jede Menge Mitarbeiter, die...«
»Eiferer und Fanatiker machen einfach keinen Spaß«, erklärte Finn
entschieden. »Viel zu höflich und ohne jeden Humor. So, Ihr werdet
jetzt still dasitzen und zuhören, während ich rede, und schon
kommen wir prima miteinander zurecht. Gebt Euch Mühe, mich von Zeit
zu Zeit mit dem einen oder anderen Ausdruck der Hochachtung zu
unterbrechen.«
Und so redete Finn und hörte Joseph zu, und Joseph stellte doch
sehr überrascht fest, dass er aufrichtig fasziniert war. In Finns
Kopf ging viel mehr vor, als den meisten Leuten je klar
wurde.
Finn hatte sich zum Imperator aufgeschwungen, weil es ihn
amüsierte. Zum Teil, weil er jetzt größer war als König Douglas
jemals in seiner Amtszeit, und zum Teil, um alle Welt mit der Nase
darauf zu stoßen, dass jetzt er, Finn, das Kommando führte und
absolut nicht plante, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und
doch war er jetzt, nachdem er den Titel des Imperators gewonnen
hatte, ein bisschen unsicher, wie er weitermachen sollte. Er lebte
in karger, fast spartanischer Umgebung mit nur den grundlegendsten
Luxusgütern, weil solch geringe Freuden ihm einfach nichts mehr
bedeuteten. Seine diversen Gelüste befriedigte er nach wie vor bis
zum Exzess, wann immer es ihm möglich war, aber das waren flüchtige
Erfahrungen. Nur Macht und Erfolg erfreuten ihn wirklich, und Macht
war eine Sucht erzeugende Droge. Je mehr man hatte, nach desto mehr
verlangte einem.
Und so stellte er zu seinem größten Verdruss fest: statt das
Imperium niederzureißen und auf seine Ruinen zu pinkeln, wie er
stets geplant hatte, arbeitete er jetzt die meiste Zeit hart daran,
es stark und einig zu erhalten, damit es dem heraufziehenden
Schrecken standzuhalten vermochte. Finn hatte schon immer klare
Prioritäten gehabt.
Joseph wusste alles über den Schrecken. Wusste viel mehr als die
meisten Leute, weshalb er ja auch so schlecht schlief. Der
Imperator hatte ihn auf den höchsten Posten gehoben, den die
Überreste der Zivilregierung noch zu bieten hatten, weshalb Joseph
auch die ganzen aktuellen Berichte über den Schrekken zu lesen
bekam, wie sie jeweils eintrafen. Die schlechte Nachricht lautete,
dass der Schrecken weiterhin näher kam und das Imperium keine
Möglichkeit hatte, ihn aufzuhalten. Die gute Nachricht... na ja,
gute Nachrichten gab es nicht. Das durfte man den Menschen
natürlich nicht sagen, also erschien Joseph häufig in der
Öffentlichkeit und äußerte sich mit lauter und zuversichtlicher
Stimme vage und beruhigend. (Der Imperator ging nur noch selten an
die Öffentlichkeit, sehr zur Erleichterung der zivilen Regierung.
Man konnte sich heutzutage nicht mehr darauf verlassen, dass sich
der Imperator an den Redetext hielt, und manche seiner beiläufigen
Bemerkungen konnten regelrecht bestürzend sein )
»Habt Ihr Familie, Joseph?«, erkundigte sich Finn.
Josephs Herz machte einen schmerzhaften Satz. Zu jedem anderen
Zeitpunkt hätte er eine solche Frage als verschleierte Drohung
aufgefasst, neben der hungrig emotionelle Erpressung lauerte, aber
Finn schien aufrichtig an der Antwort interessiert.
»Ich habe eine Frau, eine Geliebte und zwei Söhne«, antwortete
Joseph. »Das Übliche.«
»Ah«, sagte Finn traurig, «Ich habe niemanden. Ich bin ein
Einzelkind, und meine Eltern sind jung gestorben. Ich denke von
jeher, dass das sehr egoistisch von ihnen war. Eine Zeit lang waren
Douglas und Lewis meine Familie, so weit nur möglich... Ich dachte
nicht, dass ich sie mal vermissen würde, aber manchmal tue ich das
tatsächlich... Erzählt mir von den Sichtungen, Joseph. Den
Todtsteltzer Sichtungen.«
»Nur Klatsch und Tratsch«, sagte Joseph wegwerfend. »Es sind
Gerüchte, aber keine, denen zuzuhören sich lohnen würde: Leute
sagen, sie würden jemanden kennen, der behauptet, Lewis gesehen zu
haben, wie er den Straßen von Parade der Endlosen folgte. Oder
manchmal auch Owen oder eine der übrigen Legendengestalten. Immer
ist es der Freund eines Freundes, der solche Dinge sieht; nichts,
was man wirklich festnageln könnte.«
»Inzwischen doch«, stellte Finn fest. »Zwei meiner Paragone wurden
hier in der Stadt umgebracht. Und man berichtet, der Todtsteltzer
hätte es getan.«
»Unmöglich!«, wandte Joseph schnell ein. »Meine Leute haben diesen
Planeten solide abgeriegelt. Heutzutage kann ein Raumschiff nicht
mal mehr vorbeifahren, ohne dass wir alles darüber erfahren. Könnt
Ihr nicht die Elfen fragen, wer es war? Die Elfen, welche die
Paragone steuern?«
»In diesem Fall war es der Überesper Kreischende Stille«, sagte
Finn und verzog die Lippen kurz zu einer Schnute der Abscheu. »Und
leider redet derzeit keiner der Überesper mit mir. Das würde mir
Sorgen bereiten, falls ich ein Mensch des Schlages wäre, der sich
leicht Sorgen macht, sodass sich als vorteilhaft erweist, dass das
für mich nicht zutrifft. Außerdem würde sich Lewis nicht einfach
anschleichen. Nicht sein Stil. Ich denke, er hält es für unter
seiner Würde, dieser Idiot. Nein, er würde zuerst eine förmliche
Herausforderung aussprechen und mir eine Chance bieten, ehrenvoll
zu kapitulieren. Er hat die Möglichkeiten, die sich durch Verrat
bieten, nie begriffen. Lewis hat nach dem Debakel auf Haden jetzt
eine eigene Flotte, und wenn sie zu Besuch kommt, werden wir alles
darüber wissen.«
Joseph war überrascht, wie gelassen Finn über diese Dinge sprach.
Als der Imperator nämlich erfuhr, dass die nach Haden entsandte
Flotte, die dort Lewis und seine Gefährten hatte umbringen sollen,
dies nicht nur nicht getan hatte, sondern doch tatsächlich
massenhaft zu den Rebellen übergelaufen war, vernahm man sein
Geschrei im ganzen Palast. Diener rannten um ihr Leben, begleitet
sogar von einigen Wachsoldaten. Finn hatte gerade erste Anzeichen
an den Tag gelegt, sich wieder zu beruhigen, als Meldungen
eintrafen und verkündeten, seine angeblichen Bundesgenossen, die
KIs von Shub, hätten ihn ebenfalls verraten und das Labyrinth des
Wahnsinns in ihre Gewalt gebracht, und prompt legte er erneut los.
Die sich anschließenden Säuberungen verliefen besonders bösartig
und weitreichend, und am nächsten Morgen hingen in der ganzen Stadt
Männer und Frauen an Laternenpfählen.
Finn sah Josephs besorgte Miene und lachte leise. »Keine Panik; ich
bin darüber hinweg. Der Verlust von Shub ist ein Rückschlag, aber
ich hatte schon für alle Fälle Vorkehrungen getroffen. Ich verfüge
über geheime Bundesgenossen und versteckte Superwaffen, die nur auf
meinen Ruf warten. Ich werde die Heimatwelt von Shub in eine
äquivalente Masse radioaktiven Staubes verwandeln, und meine loyale
Flotte wird die Rebellenschiffe auseinanderpusten wie eine
Ansammlung verfaulter Äpfel in der Nacht.«
Joseph nickte rasch. Bei jedem anderen hätte er solche Worte als
Großspurigkeit abgetan, aber hier hatte er Finn vor sich, den
Meister von Intrigen, die sich wiederum hinter Intrigen
versteckten, und von Geheimnissen, die sich hinter Verschwörungen
verbargen. Er meinte das womöglich vollkommen ernst. Wagemutig
brachte Joseph ein Thema zur Sprache, das normalerweise verboten
war.
»Und... Owen? Glaubt Ihr wirklich an die Meldungen! Dass der selige
Owen persönlich zurückgekehrt ist und sich mit seinem Nachfahren
gegen Euch verbündet hat?«
»Ich frage Euch«, sagte Finn. »Klingt das auch nur wahrscheinlich?
Tot ist tot. Ich sollte das wissen; ich habe den Tod von Millionen
befohlen, und keiner davon ist je zurückgekehrt und hat sich
beschwert. Das ist nur Rebellenpropaganda. Ich wünschte, es wäre
mir zuerst eingefallen...«
»Es kursieren halt Gerüchte«, wandte Joseph vorsichtig ein.
»Gänzlich unbestätigte Meldungen natürlich, aber trotzdem... manche
Leute sagen, der selige Owen persönlich hätte den Befehl über die
HadenFlotte übernommen...«
»Falls Owen Todtsteltzer wirklich zurückgekehrt wäre« sagte Finn,
»wüssten wir es. Er würde keine Flotte brauchen. Er wäre direkt
hier aufgetaucht, hätte an die Tür meines Palastes gehämmert und
mich beim Namen gerufen, und ich würde mich unter dem Bett
verstecken und mir in die Hose machen. Nein, wenn Owen, der
verdammte Todtsteltzer, jemals zurückkehrt, wird sich der Himmel
öffnen, und er wird umgeben von Engeln herabsteigen. Ich persönlich
glaube das erst, wenn ich es sehe, und nicht vorher. Aber
tatsächlich würde ich mich über seine Rückkehr fast freuen, falls
er sagte, er könnte den Schrekken aufhalten. Wahrscheinlich käme
ich mit Owen klar.«
Finn lehnte sich zurück und brütete schweigend vor sich hin,
verloren in den eigenen entsetzlichen Gedanken, und Joseph ergriff
die Gelegenheit beim Schopfe, seinen Imperator unauffällig zu
mustern. Finn hatte immer noch dasselbe klassisch gut aussehende
Gesicht, aber es war inzwischen tief gezeichnet von Anspannung und
Sorgen, und die Augen leuchteten doch ein klein wenig zu hell. Er
wirkte... wie ein in die Enge getriebenes Tier, verzweifelt,
konzentriert und immer noch sehr, sehr gefährlich. Trotz seiner
Wutanfälle und seines bösartigen Temperaments konnte Finn nach wie
vor ruhig und vernünftig sein, wenn es nötig war, und die Macht
hatte er nie fester im Griff gehalten. Der Zweite hinter einem
solchen Mann zu sein, das würde sich nie als leichte Aufgabe
erweisen, aber Joseph vertraute in die eigene Fähigkeit zu
überleben, wenn schon nichts anderes. Alles Furchtbare, was er
getan oder befohlen hatte, war in Finns Namen geschehen. Josephs
Stellung war vielleicht mehr als nur ein bisschen gefährlich, aber
manchmal kann man nichts anderes tun, als sich mit beiden Händen
auf dem verdammten Tiger festzuhalten. Und wenn schon nichts
linderes, so war das doch ein aufregender Ritt... Schließlich
konnte Finn nicht ewig leben. Egal wie viel Zeit er bei dem
berüchtigten Dr. Glücklich verbrachte. Nein, irgendwann stürzte
Finn, und dann konnte ein kluger und vorbereiteter Mann leicht
vortreten und übernehmen...
»Ich möchte Materiewandler auf Umlaufbahnen um Logres haben«,
erklärte Finn unvermittelt. »Nicht nötig, sie einzuschalten - noch
nicht. Nein, schon ihr Vorhandensein wird alle Welt daran erinnern,
wer hier das Zepter schwingt, und die Leute von diesen albernen
Gerüchten über einen zurückgekehrten Owen ablenken. Die Maschinen
dienen auch als Warnung an Lewis und seine verdammte Flotte und
werden ihnen verdeutlichen, was ich tue, falls sie meine Stellung
hier in Frage stellen.«
Joseph musterte Finn unsicher. »Ihr möchtet wirklich damit drohen,
die Heimatwelt der Menschen zu vernichten?«
Finn lächelte entspannt. »Drohen? Mein lieber naiver Joseph, ich
reinige diesen ganzen Planeten von allem und jedem, ehe ich ihn
aufgebe. Was mich sauber zum zweiten Grund führt, warum ich Euch
eingeladen habe. Erzählt mir von Usher Zwei. Wie laufen die
Vorbereitungen?«
Joseph schluckte schwer und zwang sich zur Konzentration auf den
unglücklichen Planeten, der als Nächster im Weg des Schreckens lag.
Usher II war ein Industrieplanet, spezialisiert auf die Herstellung
von Sternenschifftriebwerken und all der dazugehörigen Technik. Der
ganze Planet verschwand unter den Fabriken und diente auf diese
Weise dem Bedarf des ganzen Imperiums. Und da die Wissenschaftler
des Imperiums nach wie vor nicht das Wesen jener Technik
verstanden, die auf dem vor so langer Zeit auf Unseeli abgestürzten
fremden Raumschiff beruhte, mussten die meisten Arbeiten nach wie
vor von Hand geleistet werden. Von Menschenhand. Es war eine viel
zu präzise Arbeit, um sie Lektronen anzuvertrauen. Die KIs von Shub
lieferten Automaten für die wirklich gefährlichen Arbeiten, aber
selbst diese wurden von Menschen bedient. Sämtliche Werke auf Usher
II liefen derzeit vierundzwanzig Stunden pro Tag, Schicht auf
Schicht, um einen Überschuss für jenen Tag bereitzustellen, an dem
der Planet zerstört sein würde, falls das sein Schicksal
war.
»Gerade jetzt, wo ich alle Schiffe brauche, die ich nur auftreiben
kann«, murrte Finn, »um sie Lewis und seiner Verräterflotte
entgegenzustellen. Erzählt mir, dass es doch ein paar gute
Nachrichten gibt, Joseph, falls Ihr an Euren Hoden
hängt.«
»Die Evakuierung läuft ... besser als erwartet«, sagte Joseph
vorsichtig, »aber nach wie vor ziemlich langsam. Wir hatten uns
darauf verlassen, dass Shub noch viele weitere Automaten schickt,
aber sie sind nie eingetroffen. Natürlich kennen wir jetzt den
Grund. Und den Menschentechnikern dürfen wir erst im letzten
Augenblick erlauben, dass sie den Planeten verlassen. Wir halten
ihre Familien unter Bewachung, damit sich die Techniker ... auf
ihre Arbeit konzentrieren. Alle sind sehr motiviert - und wer
nicht, wird in ein Exempel dafür umgewandelt, warum das eine sehr
schlechte Idee ist. Aber ... letztlich werden wir auch ihnen die
Evakuierung gestatten müssen. Wir brauchen anschließend noch ihre
Fachkenntnisse. Selbstverständlich erhalten sie Prioritätszugang zu
den Evakuierungsschiffen. Die übrige Bevölkerung ist entbehrlich,
obwohl ihr das natürlich niemand gesagt hat.«
»Keine wirklich guten Nachrichten, aber ein tapferer Versuch«,
meinte Finn. »Ich hatte gehofft, die auf den bezwungenen Planeten
der Fremdwesen beschlagnahmte Technik erwiese sich als praktisch,
aber wir haben im Grunde nichts erbeutet, was sich wirklich gelohnt
hätte. Ich hatte immer den Verdacht, die hinterhältigen Fremdwesen
würden mir vieles vorenthalten, denn an ihrer Stelle hätte ich es
ebenso getan; anscheinend war das jedoch ein Irrtum. Keine
bedeutsamen Waffen in der Hinterhand, keine heimlichen
Weltuntergangsmaschinen; ich bin richtig enttäuscht von ihnen. Und
mit dem bisschen Technik, das wir erbeutet haben, können meine
Wissenschaftler, meine angeblich so brillanten Experten, kaum etwas
anfangen. Nur eine Information konnten wir retten: einen gänzlich
theoretischen Plan, wie man eine Sonne in eine Supernova verwandeln
kann und deren Energie als Waffe kanalisiert. Meine Leute bauen
derzeit schon daran.«
»Ihr meint ... so etwas wie den Dunkelwüstengenerator?«, fragte
Joseph, als er die Stimme wieder in der Gewalt hatte.
»Leider nicht wirklich in diesem Maßstab. Die Grundzüge der Idee
lauten: Wir setzen diese Waffe gegen eine der beiden Sonnen von
Usher II ein, verwandeln sie in eine Supernova und leiten die
gesamte dabei erzeugte Energie in einen einzelnen Feuerstoß gegen
den Herold des Schreckens, sobald er in Reichweite ist. Meine Leute
sind nicht völlig davon überzeugt, dass man diese Energien
beherrschen oder damit auch nur richtig zielen kann, aber.. frisch
gewagt ist halb gewonnen. Ich bin sicher, dass das ein sehr
hübscher Anblick sein wird. Natürlich nur, solange man sich nicht
selbst auf Usher II aufhält.«
»Ein Dunkelwüstengenerator für Arme, bei dem wir noch nicht mal
wissen, ob wir damit richtig zielen können?«, fragte Joseph. »Finn
...«
»Solange wir ihn an- und abschalten können, kommt es auf mehr nicht
an. Regt Euch nicht auf, Joseph.«
»Aber selbst wenn die Waffe funktioniert, können wir damit Usher II
nicht retten. Der Planet kann es unmöglich überstehen, dass eine
seiner Sonnen hochgeht.«
»Solange der Schrecken damit aufgehalten wird, ist es mir wirklich
scheißegal«, stellte Finn munter fest. »Trotzdem brauchen wir für
den Fall, dass die Waffe zwar wie geplant funktioniert, aber nicht
den Schrecken aufhält, einen Reserveplan. Und hier kommt Ihr ins
Spiel, Joseph. Habt Ihr die Materiewandler in Stellung gebracht,
wie ich es befohlen hatte?«
»Sie werden heute Abend im Orbit von Usher II sein. Natürlich
allesamt hinter Sensorschilden versteckt. Sie wurden dazu
programmiert, den gesamten Planeten und alles darauf in die
abscheulichste Schweinerei zu verwandeln, die sich unsere
Wissenschaftler ausdenken konnten. Der Planet wird durch und durch
vergiftet sein, hochgradig radioaktiv und womöglich sogar auf
Quantenebene instabil. Theoretisch dürfte der Schrecken Usher II
nicht verschlingen können, ohne sich dadurch selbst zu vergiften.
Allerdings sollte ich, wie ich finde, zu bedenken geben, dass der
Schrecken auch beschließen könnte, dem Planeten einfach
auszuweichen und seinen Weg fortzusetzen, und dass dann der gesamte
Quadrant auf Jahrtausende hinaus unzugänglich bleiben wird.
Vielleicht sogar auf Jahrhunderttausende.«
Finn seufzte. »Muss ich Euch den Begriff entbehrlich wirklich noch einmal
erklären?«
Joseph nickte steif. »Da der Einsatz der Materiewandler
unausweichlich den Tod der Bevölkerung auf Usher II herbeiführt,
sind wirklich nur die allernötigsten Personen eingeweiht. Schade,
dass wir nicht zuerst einen Teil der Fabriktechnik bergen können,
aber dadurch würden wir uns verraten.«
»Ihr macht Euch zu viele Sorgen um Dinge, die nicht von Belang
sind, Joseph«, erklärte Finn. »Vielleicht ... würde der Schrecken
einfach verhungern, falls wir Usher II vernichteten, ehe er den
Planeten erreicht, und falls wir dann mit allen weiteren Planeten
auf seinem Kurs das Gleiche anstellten. Oder vielleicht versteht er
den Hinweis und wendet sich woandershin.«
»Ich denke, uns gingen die Planeten eher aus als ihm der Hunger«,
wandte Joseph vorsichtig ein. »Außerdem solltet Ihr die Milliarden
Menschenleben bedenken, die verloren gingen. Es gibt eine Grenze
für das, was das Volk des Imperiums schluckt.«
»Wirklich?«, fragte Finn. Joseph konnte den Blick des Imperators
nicht erwidern. Er wollte das Thema wechseln, aber Finn hakte nach.
»Wir sollten einander richtig verstehen, Erster Minister. Ich
beschütze das Imperium, weil es mir gehört. Ich kann damit spielen,
mich daran ergötzen, es zerstören, wenn ich genug davon habe. Es
gehört nicht dem Schrecken. Ich werde einen Weg finden, um den
Schrecken zu vernichten, und dann ... Oh, was ich alles anstellen
werde! Die Leute werden sich wünschen, der Schrecken hätte sie
verschlungen.«
»Vielleicht benötigt Ihr ... eine Ablenkung«, sagte Joseph, der
doch ein bisschen verzweifelt war. »Etwas, was Euch auf andere
Gedanken bringt. Ich habe mit einigen Eurer übrigen Ratgeber
gesprochen, und uns kam die Idee, dass Ihr jetzt, wo Ihr Imperator
seid, wirklich verpflichtet seid, zu heiraten und einen Erben
hervorzubringen, der Eure Linie fortsetzt. Falls Ihr uns
gestattet...«
»Nein«, entgegnete Finn. »Das ist nicht nötig. Nach mir gibt es gar
nichts mehr.«
Der Slum war die letzte sichere Zuflucht für Rebellen auf Logres. Infolgedessen war dieses Gaunerparadies, diese Stadt innerhalb einer Stadt inzwischen unmöglich übervölkert und drohte, praktisch aus den Nähten zu platzen. Der Slum war der letzte Winkel, in den man von Finns Agenten nicht verfolgt wurde. Vorläufig zumindest. Das verborgene, verfaulte Herz der berühmtesten imperialen Stadt war inzwischen ein unglaublich gefährlicher, gewalttätiger Ort. Den ursprünglichen Bewohnern fiel es durch das vom Imperator verhängte Kriegsrecht immer schwerer, wie in alter Zeit Jagd auf Außenstehende zu machen, und so waren sie dazu übergegangen, Jagd aufeinander zu machen. Und ganz besonders auf Neuankömmlinge, die schnell lernten, dass ihnen nur geballtes Auftreten Sicherheit schenkte. Der Slum war inzwischen der absolut falsche Platz dafür, allein zu bleiben. Und doch strömten nach wie vor Menschen hinein, denn egal wie übel es im Slum zuging, überall sonst war es noch schlimmer.
Jeder im Slum hatte eine ihm nahe stehende Person durch Finns Leute verloren oder kannte jemanden, dem es so ging. Viel dumpfer Zorn hing über den dicht bevölkerten Straßen und in den rauchigen und überteuerten Kneipen, bündelte sich bislang aber kaum. Der Imperator war einfach als Angriffsziel zu stark für die niedergeschlagenen Geister der Menschen hier. Einziges Ventil dieses Zorns war der Aufstand der Slumbewohner gegen all jene gewesen, die Finn bei seinem Aufstieg zur Macht verholfen hatten. Man hatte die Provokateure aus ihren Schlupfwinkeln ausgeräuchert und sie wie Köter durch die Straßen gehetzt. Jeder, der sonst noch mit oder für Finn Durandal gearbeitet hatte, verhielt sich heutzutage sehr schweigsam, aus Angst, als Spion oder Informant denunziert zu werden. Schon das entsprechende Gerücht war genug, um einen Mob auf den Plan zu rufen, der nach Blut schrie, und verstümmelte Leichen verstopften bald die Gossen. Alle Welt rechnete damit, dass der Imperator irgendwann eine Invasion des Slums anordnen würde, aber niemand unternahm etwas dagegen. Es gab keine Versammlungen, keine Pläne, keine Abwehr. Niemand traute irgendjemandem über den Weg.
Douglas Feldglöck, ehemals König, und Stuart Lennox, ehemals Paragon, arbeiteten heute als maskierte, käufliche Desperados und beschützten das flohverseuchte Hotel, in dem sie wohnten, gegen die vielen Raubtiere von der Straße. Maskierte Desperados waren heutzutage ein gewohnter Anblick im Slum. Viele Leute hatten gute Gründe zu verbergen, wer sie waren. Douglas und Stuart trugen schlichte Ledermasken und billige, aber praktische Kleidung. Die besseren Sachen, in denen sie eingetroffen waren, hatten sie verkauft, um die nötigen Mittel für das einzelne Hotelzimmer aufzubringen, in dem Douglas und Stuart und Nina Malapert inzwischen hausten.
Das Laternenhaus war eines der ältesten noch existierenden Hotels im Slum und sah auch ganz danach aus. Das niedrige, hässliche Gebäude war dunkel, feucht und ausgesprochen heruntergekommen, und seit Generationen hatte niemand mehr Geld hineingesteckt. Die Außenmauern waren schwarz von Ruß und Dreck; die Fenster reichten für nicht viel mehr, als gerade noch Licht hindurchzulassen, und seit Menschengedenken lagen keine Platten mehr auf dem Dach. Im Sommer war es erstickend heiß und im Winter bitterkalt, und jeder Raum wurde komplett mit warmen und kalten fließenden Ratten angeboten. Ganz zu schweigen von den Bettwanzen. (Zu Anfang glaubte Douglas, das Einzelbett wäre mit einem Vibriermechanismus ausgestattet, und er reagierte mit ernster und lautstarker Empörung, als ihm die Tatsachen erkennbar wurden.) Aber es war ein Zimmer, und Zimmer waren schwer zu kriegen, also beklagte sich niemand.
Douglas und Stuart standen für freie Kost und Logis dem Hotel als käufliche Desperados zur Verfügung. Es war nicht viel, aber mehr, als eine Menge Leute hatten. Manche mussten jeden Abend um ihren Platz in einem Eingang oder einer Pappschachtel kämpfen. Nina ging es ansatzweise besser. Zusammen mit einigen weiteren abtrünnigen Medienleuten arbeitete sie an einer Nachrichten-Website der Rebellen und zapfte immer wieder mal kurz die Hauptmedienleitungen an, um dem Äther ab und an ein bisschen Wahrheit abzuringen. Bislang war damit kein Geld zu verdienen, aber Nina hegte große Hoffnungen für die Zukunft. Im Slum traf man eine ganze Menge ehemalige Medienleute, seit Finns Leute sämtliche offiziellen Medien vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Shows waren nicht mehr zu sehen, nur pausenlose Propaganda. An dem Tag, als Die feine Gesellschaft aus dem Programm flog, kam es zwar zu Aufständen, aber Finn wies seine Leute einfach an, die Aufrührer als Zielscheiben für ihre Schießübungen zu benutzen, bis die Menge den Hinweis verstand und nach Hause schlich. Viele Nachrichtenleute hatten jedoch ihre technischen Kenntnisse in den Slum mitgebracht, und so lief die Nachrichten-Site der Rebellen schon. Leider war teure und schwer erhältliche Technik nötig, um sie in Gang zu halten und weiter die Firewalls der offiziellen Zensoren zu durchbrechen, sodass die Finanzierung ein ständiges Problem darstellte. Schließlich konnte man auch nicht einfach Werbeblöcke vermarkten.
Douglas und Stuart schoben seit dem ersten Tageslicht Wache am Eingang zum Laternenhaus, und es war inzwischen fast Mittag. Seit Stunden ging ein Nieselregen nieder, ein kalter, betäubender, beharrlicher Niederschlag, der alles und jeden bis ins Mark durchnässte. Die Kanalisation floss wieder mal über, und der Gestank in den Straßen war beinahe unerträglich. Der bleierne, düstere Tag senkte sich als Stimmungslage über alle Welt. Die Menschen schlichen auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause oder zu irgendwas, was ein bisschen Geld einbrachte, die engen Straßen entlang und hielten die Köpfe gesenkt, um einander nicht in die Augen blicken zu müssen. Die Zeiten waren hart.
Diebe fanden kaum noch Beute, und Ratten entwickelten sich zu einer Delikatesse. Aber so eng es auf der Straße auch zuging, alle Welt wich den beiden maskierten Desperados vor dem Laternenhaus weiträumig aus. Douglas und Stuart hatten schon oft ihre Bereitschaft demonstriert, das Hotel zu schützen, und waren dabei auf eine professionell gewalttätige und beunruhigend gründliche Art zu Werke gegangen, die sogar von den abgehärteten Bewohnern des Slums als eindrucksvoll empfunden wurde. Weshalb die beiden Männer auch ein bisschen überrascht auf den Anblick einer kleinen Schar schwer bewaffneter Männer reagierten, die auf sie zukamen. Die circa ein Dutzend Männer bewegten sich wie professionelle Kämpfer, und obgleich sie bislang noch keine Waffen gezogen hatten, strahlten sie etwas aus, was das Aufblitzen der Mordwerkzeuge nur noch als Frage der Zeit erscheinen ließ.
»Kennst du sie?«, wollte Douglas leise von
Stuart wissen.
»Einige. Es sind Brion de Racks Männer. Ein Schutzgeldring. So
ziemlich jeder hier bezahlt de Rack, nur um in Ruhe gelassen zu
werden. Normalerweise nimmt er jedoch größere Geschäfte aufs Korn,
nicht Absteigen wie unsere hier.«
»Vielleicht erweitert er seine Geschäftsgrundlage. Wie möchtest du
vorgehen?«
»Oh, auf die übliche Art«, sagte Stuart und legte eine Hand auf den
Schwertgriff. »Zuerst ein Versuch mit der Vernunft, dann die zügige
Eskalation zu extremer Gewalttätigkeit.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Douglas.
Die circa ein Dutzend Schläger und Raufbolde blieben in
respektvoller Distanz zu den beiden maskierten Desperados stehen.
Die Straße leerte sich rasch, als aller Welt auf einmal siedend
heiß einfiel, dass anderswo dringende Geschäfte warteten.
Fensterläden schlugen auf ganzer Länge der Straße zu wie
prasselnder Applaus. Sogar der Nieselregen schien sich ein wenig
zurückzuhalten, als wäre er gespannt auf das, was geschehen würde.
Einer der Männer trat vor und baute sich vor Douglas und Stuart
auf. Er war größer und breiter als die meisten und hatte sich eine
Fettschicht über den Muskeln angefuttert, um zu demonstrieren, dass
er zu den wenigen Leuten im Slum gehörte, die nach wie vor gut und
häufig speisten. Er trug einen langen, schweren Ledermantel, über
und über mit stählernen Piercings dekoriert. Eine Reihe
menschlicher Skalps waren als Trophäen auf einen Ärmel genäht. Der
Mann trug unter einem flachen, dunklen, breitkrempigen Hut Spritzer
aus leuchtenden Farben im Gesicht. Er schenkte Douglas und Stuart
ein entspanntes Lächeln, aber es erstreckte sich nicht auf seine
Augen.
»Macht Platz, Jungs. Ich habe Geschäfte mit dem Inhaber.«
»Wir machen nicht Platz«, entgegnete Douglas ruhig. »Das wäre
schlecht für unseren Ruf. Wenn du mit dem Inhaber sprechen
möchtest, musst du erst mit uns reden.«
»Na, das ist aber eine sehr unfreundliche Haltung! Ihr möchtet doch
nicht meine Gefühle verletzen, oder?«
»Man bezahlt uns nicht genug, um freundlich zu sein«, erklärte
Stuart.
»Okay. Ich bin diesmal großzügig, um unnötige Schwierigkeiten zu
vermeiden. Ich heiße Sewell. Ich arbeite für Brion de Rack. Wir
sind hier auf seinem Gebiet. Wer auf seinem Gebiet wohnt, zahlt ihm
Tribut. So liegen die Dinge nun einmal. Im Gegenzug sorgen wir
dafür, dass eurem Eigentum nichts grauenhaft Zerstörerisches
widerfährt. Oder sogar euch persönlich. Hässliche Sachen passieren
ganz schön häufig, wenn man nicht de Racks Freund ist.«
»Wir sind im Grunde kleine Fische für de Rack, nicht wahr?«, fragte
Douglas.
»Die Zeiten sind schwierig. So, ihr habt jetzt eine gute Show
hingelegt; der Ehre wurde Genüge getan, also macht
Platz.«
»Die alte Schutzgeldmasche«, sagte Stuart, und in seiner ruhigen,
leisen Stimme schwang etwas mit, was Sewell veranlasste, ihn scharf
anzublicken. »Eine abscheuliche kleine Gaunerei, wenn man es
richtig betrachtet. Auf Angst und Einschüchterung und einer Fassade
der Unverwundbarkeit aufgebaut. Zum Pech für de Rack und dich sind
mein Partner und ich nicht so leicht einzuschüchtern. Wir waren zu
unserer Zeit schon mit viel Schlimmerem konfrontiert.«
»Wir sind hier, um das Hotel vor Abschaum wie dir zu beschützen,
Sewell«. erklärte Douglas. »Und wir sind richtig stolz auf unsere
Arbeit, Also geh weiter. Oder wir gehen über dich
hinweg.«
Sewell musterte sie eine ganze Weile lang und konnte scheinbar
nicht glauben, was er zu hören bekam. Er lächelte nicht mehr. »Hört
mal, Lederfratzen
- wir sind auf de Racks Gebiet! Dieses Gebiet und jedermann darauf
gehört ihm. Ihr wohnt hier nur, weil er es euch gestattet, und
falls ihr ihm lästig fallt, werdet ihr auch nicht mehr hier wohnen
können. Und wer mich beleidigt, beleidigt automatisch auch ihn.«
»Was für ein wunderbares, zeitsparendes System!«, fand
Stuart.
»Das reicht!«, sagte Sewell. »Manchen Leuten ist einfach nicht zu
helfen. Lasst die Waffen fallen, kniet nieder und bittet um
Verzeihung; dann lassen wir euch mit einer Tracht Prügel
davonkommen. Falls wir hier allerdings richtig arbeiten müssen,
schneiden wir euch auf und gucken mal, welche Farbe eure Eingeweide
nun wirklich haben.«
»Wir halten nichts vom Knien«, stellte Douglas fest. »Schlecht für
den Ruf und die Hose. Beult die Hose aus. Jetzt verzieh dich,
Furzgesicht!«
Sewell lief dunkel an und wandte sich seinen Männern zu. »Bringt
sie um. Und sorgt dabei für eine richtige Schweinerei.«
Er wollte gerade noch weiterreden, als Douglas den versteckten
Disruptor zog und Sewell in die Brust schoss. Der Energiestrahl
durchbohrte den Mann vollständig und schleuderte die Leiche in die
Gruppe seiner Männer. Diese liefen mit bestürzten Rufen auseinander
wie erschrockene Vögel, und Sewell landete der Länge nach in der
Gosse. Die Vorderseite des Ledermantels brannte. Die Schläger kamen
endlich auf die Idee, die eigenen Waffen zu ziehen, aber da waren
Douglas und Stuart schon zwischen ihnen, die Schwerter gezückt. Die
Raufbolde versuchten, sich zum Kampf zu stellen, aber es lag lange
zurück, dass sie es mit ernst zu nehmenden Gegnern zu tun gehabt
hatten. Gegen zwei ehemalige Paragone hatten sie keine Chance.
Douglas und Stuart bahnten sich mit bösartiger Geschicklichkeit
einen Weg durch sie hindurch, gingen dabei fließend und gewandt zu
Werk und hielten sich gegenseitig ständig den Rücken frei. Sie
arbeiteten gut zusammen. Ihre Schwerter blitzten im düsteren Licht
hell auf wie Hoffnungsstrahlen, und Blut bildete Pfützen auf dem
Erdboden und wurde dort vom trägen Nieselregen kaum verdünnt.
Männer gingen mit durchschnittenen Hälsen und klaffenden Wunden zu
Boden und standen nicht wieder auf. Schneller, als irgendjemand es
für möglich gehalten hätte, war alles vorbei. Douglas und Stuart
standen nebeneinander und atmeten nur ansatzweise schwerer als
sonst, während ihnen Blut dick von den Schwertklingen tropfte. Der
einzige überlebende Raufbold stand mit dem Rücken an der Wand und
blickte die beiden Desperados aus großen, entsetzten Augen an.
Douglas und Stuart wandten sich ihm zu, und er ließ sofort das
Schwert fallen und hob die zitternden Hände.
»Wer seid ihr? Was seid ihr? Niemand
kämpft so!« »Wir sind Douglas und Stuart, käufliche Desperados, und
mehr braucht niemand zu wissen«, antwortete Douglas. (Er und Stuart
hatten zunächst falsche Namen benutzt, als sie im Slum eintrafen,
aber sie vergaßen sie häufig oder verwechselten sie, sodass sie
wieder darauf verzichteten. Douglas und Stuart waren zwei ohnehin
recht verbreitete Namen.) »Und falls du dich fragst, warum wir dich
leben lassen: weil du de Rack eine Botschaft überbringen wirst!
Sag' ihm Folgendes: Lass uns in Ruhe. Lass das Laternenhaus in
Ruhe. Tu so, als hätte dieser unerfreuliche Zwischenfall nie
stattgefunden. Dann können wir alle einem langen und profitablen
Leben entgegensehen. Bemühe dich, überzeugend zu sein, denn die
Alternative würde de Rack nicht gefallen. Nein, wirklich nicht!
Jetzt verschwinde und lass dich nie wieder blicken.«
Der Raufbold nahm sofort die Beine in die Hand, als er sicher war,
die gesamte Botschaft verstanden zu haben. Ein gedämpfter Chor von
Buh- und Jubelrufen folgte ihm hinter den geschlossenen
Fensterläden hervor. Stuart verbeugte sich munter, und dann
durchstöberten er und Douglas die Taschen der toten Männer. Harte
Zeiten verlangten nach harten Maßnahmen, und nach der Herkunft von
Geld fragte im Slum niemand. Sobald Douglas und Stuart sicher
waren, dass sie alles von Wert eingesteckt hatten, kehrten sie auf
ihren Posten vor dem Hoteleingang zurück und führten eine
Bestandsaufnahme der Beute durch. Es war nicht viel. Langsam ließen
sich wieder die ersten Leute auf der Straße blicken und raubten den
Leichen die Kleider. Douglas seufzte schwer.
»Mir ist dieser Ort zuwider. Menschen dürften nicht gezwungen sein,
so zu leben.«
»Es ist nun mal der Slum«, meinte Stuart. »Hier läuft es anders.
Das war schon immer so.«
»Nicht ganz so. So schlimm war es früher nicht.«
Sie sahen zu, wie die wachsende Menge sich um die wenigen
verbliebenen Habseligkeiten der Toten zankte. Bis zum Einbruch der
Nacht würden die Leichen verschwunden sein, und man war klug
beraten, wenn man nicht fragte, wohin.
»Wie Ratten auf einem Friedhof«, fand Douglas.
»Sogar Ratten müssen fressen«, sagte Stuart.
Douglas schniefte laut. Stuart sah ihn an. Er versuchte, dem
verstörten, nachdenklichen Douglas zu helfen, schon seit sie im
Slum waren, aber der Mann, der früher König gewesen war und jeden
und alles verloren hatte, woran er je geglaubt hatte, wollte keine
Hilfe. Die Äußerungen von eben waren das Erste, was Stuart seit
Tagen von Douglas gehört hatte - wahrscheinlich, weil der Feldglöck
anscheinend immer nur dann richtig lebendig wurde, wenn er kämpfte.
Und selbst dann kämpfte er eher mit Präzision als mit Leidenschaft.
Stuart versuchte zwar weiter, ihn aus sich herauszulocken, aber
Douglas schien nicht bereit oder willens, sich Gedanken über die
Zukunft zu machen. Als wäre es schwer genug, jeden Tag hinter sich
zu bringen. Der Mann, der früher König gewesen war, wirkte heute
ständig müde, körperlich und seelisch. Er zog sich immer tiefer in
sich selbst zurück, ungeachtet aller Versuche Stuarts oder Nmas,
ihm zu helfen.
»Die Lage dürfte nicht so sein«, sagte Douglas wieder und Stuart
stellte überrascht und erfreut fest, dass er der Stimme des
Feldglöcks Gefühle entnehmen konnte. »Wir sollten etwas unternehmen
... irgendetwas, um diesen Menschen zu helfen. Wir hüben als
Paragone einen Eid geschworen, die Menschen zu beschützen.
Erinnerst du dich?«
»Ja«, sagte Stuart. »Ich erinnere mich. Ich war mir nicht sicher,
ob du es noch tust.«
Einige Stunden später traf ihre Ablösung ein, und Douglas und Stuart gingen ins Haus, um ihre einzige Tagesmahlzeit einzunehmen. Die Ablösung bestand aus schlichten Söldnern vom örtlichen Söldnerhaus. Nichts Besonderes; dort schickte man jeweils los, wer verfügbar war. Die beiden Schläger nickten Douglas und Stuart respektvoll zu, als die beiden Desperados sich ins Haus zurückzogen. Die Eingangshalle machte nicht viel her - die Farbe blätterte von den Wänden ab, Sägemehl lag auf dem Fußboden, und Stühle suchte man vergeblich. Nichts, was irgendjemanden verlockt hätte, sich hier aufzuhalten. Nur eine ramponierte alte Rezeption, wo sich das Personal durch ein schweres Metallgitter vor den Gästen schützte. Ein Fahrstuhl wartete an der Rückwand, aber er funktionierte nur sporadisch und erweckte beim potenziellen Benutzer kein Vertrauen. Douglas und Stuart stiegen über fünf Etagen die Treppe zu ihrem gemeinsamen Zimmer hinauf und kümmerten sich dabei nicht um die Hand voll zerlumpter Gestalten, die dafür zahlten, dass sie im Treppenhaus schlafen durften.
Nina Malapert war schon zu Hause und deckte gerade den Tisch, was ein schlechtes Zeichen war. Sie kehrte immer nur dann so früh zurück, wenn die Arbeit des Tages besonders schlecht gelaufen war. Die Art, wie sie das Geschirr hinknallte, bot dafür schon Beleg genug, auch ohne ihr finsteres Gesicht. Sie nickte kurz, als sich die beiden Männer müde an den Tisch setzten. Das Zimmer war nicht groß, und allein der Tisch beanspruchte den größten Teil des verfügbaren Platzes, wenn er komplett ausgeklappt war. Das Abendessen brodelte auf einer Heizplatte in gefährlicher Nähe zum einzigen Bett. (Douglas und Stuart teilten sich dieses Bett. Nina hatte sich aus Decken in einer Ecke ein Nest gebaut.) Das Zimmer hatte nur ein Fenster, verschmiert mit dem Dreck von Jahren.
Douglas und Stuart setzten die Ledermasken ab und legten sie neben ihre Teller auf den Tisch. Die Gesichter fühlten sich noch heiß und verschwitzt an von dem Leder, obwohl sich die Kälte des frühen Abends schon einen Weg ins Zimmer gebahnt hatte. Douglas Feldglöck war mit seiner edlen Stirn und der gewaltigen blonden Mähne immer noch ein gut aussehender Mann, aber mehr denn je erinnerte er an einen verletzten Löwen, den Schakale niedergerungen hatten; ein großer Mann, gestürzt von zu vielen Verlusten und dem unerträglichen Gewicht einer Verantwortung, von der er sich nicht zu befreien vermochte. Stuart Lennox sah viel älter aus, als er an Jahren war - ein strenger junger Mann mit einem abgespannten, fast hageren Gesicht, der Blick immer ein bisschen abwesend. Er lächelte nur noch selten. Und sogar Nina Malapert war nicht mehr der glückliche, sprudelnde freie Geist von früher. Die tollkühne Reporterin, die der Gefahr ins Gesicht lachte und alles für eine Story tat, war im Grunde nicht verschwunden, wurde nur unterdrückt von der Last des Lebens im Slum; es hatte jedoch wirklich den Anschein, dass sie nicht mehr so viel lächelte wie früher. Ihr hoher, rosa Irokesenschnitt hüpfte ärgerlich, als sie das Essen austeilte.
Douglas sah sich an, wie Nina herumfuhrwerkte, und bemühte sich angestrengt darum, etwas zu fühlen ... irgendetwas! Und genau das fiel ihm inzwischen richtig schwer. Seine Familie war tot, seine Freunde fort, seine Aufgaben waren ihm geraubt worden. Er kam sich ohne all das verloren vor. Er war nicht mehr König und nicht mehr Paragon, verstand sich aber auch nicht darauf, irgendetwas anderes zu sein. Also absolvierte er einfach seine Routine und brachte die Tage hinter sich, bis er endlich zu Bett gehen und im Schlaf Vergessen finden konnte. Er betrachtete die abgelegte Ledermaske des Desperados neben seinem Teller. Manchmal glaubte er, in ihr inzwischen sein echtes Gesicht zu erblicken. Er spürte, wie Stuart ihn ansah, und starrte auf das Zeug auf seinem Teller, damit er Stuarts Blick nicht zu erwidern brauchte. Er wusste, dass ihm der ernste junge Mann nur helfen wollte, aber Douglas wollte nicht, dass man ihm half. Er wollte taub sein, damit er nicht nachdenken oder fühlen oder sich erinnern musste.
Wenn man den Nachrichten-Websites der offiziellen Medien Glauben schenkte, war Anne Barclay tot. Bei Douglas wagemutiger Flucht aus dem Gerichtssaal von herabstürzenden Trümmerstücken getötet. Wieder war eine alte Freundin seinetwegen zu Tode gekommen. Nina versuchte ihm zu erklären, dass man nichts glauben konnte, was die offiziellen Websites heutzutage meldeten, aber Nina wollte wohl einfach nur freundlich sein. Wenigstens waren Lewis und Jesamine noch irgendwo dort draußen und entzogen sich der Gefangennahme. Douglas hoffte, dass wenigstens sie glücklich waren. Er sehnte sich verzweifelt danach, dass irgendjemand glücklich sein möge inmitten all des Schlamassels, den er angerichtet hatte.
Er betrachtete sein Abendessen. Es machte nicht viel her, aber so war das jeden Tag. Faseriges Fleisch und Kartoffeln mit klumpiger Sauce. Douglas stocherte ein wenig mit der Gabel darin herum.
»Was für ein Fleisch ist das?«
»Am besten nicht fragen«, entgegnete Nina forsch, als sie sich
neben ihn setzte. »Und du möchtest sicher auch nicht wissen, was
man in der Sauce findet.«
»Gibt es Pudding?«, fragte Stuart hoffnungsvoll.
Nina bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was denkst
du?«
Stuart hatte auf seinem Teller seilartiges Gemüse, gekocht bis zum
Abwinken. Fleisch fasste er nie an. Die anderen sagten nichts dazu.
Sie kannten den Grund. Vor einiger Zeit hätte Nina noch auf einem
Tischgebet bestanden, aber sie alle waren längst zu tief gesunken.
Und so saßen die drei da und aßen eine Zeit lang schweigend. Es war
Nahrung und bot Kraft, und mehr war dazu nicht zu sagen. Von der
Straße drangen gelegentlich Rufe und Schreie und Geräusche von
Gewalttätigkeit herein, aber andererseits war das ja immer
so.
»Ich habe heute ein Gerücht gehört«, erklärte Stuart
schließlich.
»Was für eine Überraschung«, fand Nina. »Hier wird doch alles von
Gerüchten angetrieben.«
»Bei meinem ging es um den Clan Todtsteltzer«, sagte Stuart. »Es
heißt, eine Hand voll entfernterer Vettern und Kusinen wäre dem
Gemetzel auf Virimonde entgangen und möglicherweise hierher
unterwegs.«
»Es tut mir Leid, Stuart«, sagte Nina und legte ihre Hand auf
seine. »Aber ich war zusammen mit der armen Emma dabei, erinnerst
du dich? Ich habe gesehen, wie sie alle starben. Niemand ist
entkommen.«
»Ein paar waren vielleicht nicht auf dem Planeten«, wandte Douglas
ein, ohne von seinem Essen aufzublicken.
»Vielleicht«, räumte Nina freundlich ein. »Hoffnung besteht
immer.«
»Der arme Lewis«, sagte Douglas und schob das Essen auf dem Teller
herum. »Der letzte Todtsteltzer. Ich frage mich, ob es ihm schon
jemand berichtet hat. Ich kann mich des Mitleids mit ihm nicht
erwehren.«
»Obwohl er dir die Frau geraubt hat, die du liebtest?«, fragte
Stuart.
»Sie war nie wirklich mein«, entgegnete Douglas. »Ich kannte sie
nicht mal richtig. Dafür reichte die Zeit gar nicht. Ich dachte,
wir würden noch die nötige Zeit finden, um einander kennen zu
lernen, nachdem wir erst mal verheiratet wären. Jetzt ... denke
ich, dass ich vielleicht nur das Abbild geliebt habe - die Diva und
den Star. Vielleicht hat sie sich deshalb in Lewis verliebt. Weil
er sich als Einziger für ihr wirkliches Selbst interessiert
hat.«
Er überwand sich, den Rest seiner Mahlzeit zu verzehren. Stuart und
Nina blickten ihn jeweils nur an, wenn er es nicht bemerkte, und er
wusste nicht, wie viel von ihrer Besorgnis um ihn er noch ertragen
konnte. Er vermutete, dass er irgendwann so hungrig sein würde,
dass er alles herunterschlingen konnte, ohne es richtig zu
schmecken; aber er freute sich keineswegs darauf. Nina überzeugte
sich davon, dass alle aufgegessen hatten, und eilte geschäftig um
den Tisch, sammelte das Geschirr ein und hielt einen Strom leichten
Geplauders aufrecht. Sie bemühte sich, mütterlich und hilfreich zu
sein, aber um die Wahrheit zu sagen, so war sie nicht sehr
erfolgreich damit. Douglas gab ihr Sondernoten, weil sie sich
wenigstens Mühe gab. Und dann überwand er sich doch, richtig
zuzuhören, als ihm bewusst wurde, dass sie gerade von einem
Fortschritt bei den Versuchen sprach, eine leistungsfähige
eigenständige Nachrichten-Website auf die Beine zu
stellen.
»Ein ganzer Haufen neuer Medienleute sind im Slum aufgetaucht!
Erstklassige Techs, diese Schätzchen - genau das, was wir gebraucht
haben. Ich meine, klar, ich bin eine Reporterin und all das, aber
die wissenschaftliche Seite der Dinge habe ich nie kapiert. Bislang
lief es bei uns so, dass die Blinden die Tauben geführt haben und
dabei versuchten, sich nicht selbst durch Stromschläge umzubringen.
Diese neuen Typen sind mit knapper Not Finns Leuten entkommen, und
sie sind scharf wie Pfeffer darauf, es ihm heimzuzahlen, indem sie
uns bei der Website helfen. Schon bald werden wir die offiziellen
Datenkanäle anzapfen können, wann immer uns danach ist. Und ich
tauche mit dem Gesicht auf dem Monitor auf! Nina Malapert,
Moderatorin und Superstar! Mammi wird ja so stolz sein!«
»Aber was möchtest du dort sagen?«, wollte Stuart wissen. »Die
Leute werden eine Zeit lang aus Neugier zusehen, aber du wirst
schon was Dramatisches brauchen, damit sie auch bei der Sache
bleiben.«
»Na ja, ich erzähle ihnen, wie schlimm es hier im Slum
zugeht!«
»Das wird ihnen egal sein. Sie haben unter Imperator Finn ihre
eigenen Probleme. Du musst ihnen etwas anbieten, was sie nicht
kennen.«
»Nämlich?«
»Hoffnung«, sagte Douglas.
Nina und Stuart blickten ihn rasch an, aber er war schon wieder in
den eigenen bitteren Gedanken abgetaucht. Nina tätschelte ihm
sachte den Arm und trug die schmutzigen Teller zu der bei weitem
nicht hygienischen Spüle in der Ecke. Stuart sprang plötzlich auf
und funkelte Douglas an.
»Verdammt, Douglas, du machst mich krank! Wie lange wirst du noch
herumhängen und dir selbst Leid tun? Es geht hier nicht um deine
persönliche Tragödie! Jeden Tag kostet Finns Herrschaft
Menschenleben. Deinem Volk! Finn hat deinen Vater ermordet, dir den
Thron geraubt und sich selbst zum Imperator ernannt! Was braucht
man eigentlich, um dich zu bewegen? Dich wieder zu einem Mann zu
machen?«
Douglas blickte auf, und vor dem Ausdruck in seinen Augen wich
Stuart doch einen Schritt weit zurück. Und niemand konnte sagen,
was als Nächstes geschehen wäre, falls nicht auf einmal Rufe von
der Straße die Stimmung im Raum durchbrochen hätten. Jemand rief
Douglas und Stuart beim Namen. Sie blickten einander an, gingen zum
Fenster und rissen es auf, so weil es ging. Nina drückte sich
entschlossen neben sie. Unten auf der Straße sahen sie erneut den
Schutzgelderpresser, mit dem sie eben zu tun gehabt hatten; er war
mit einer ganzen Schar von Freunden und Kumpanen zurückgekehrt. Es
waren große, brutal aussehende Männer, schwer bepackt mit Waffen
und Panzerungen. Die beiden Desperados, die das Hotel hätten
bewachen sollen, waren schon tot. Ihre ausgeweideten Leichen hingen
an Laternenmasten. Der Hotelbesitzer, seine Frau und ihre drei
kleinen Kinder standen inmitten eines Kreises aus gezückten
Schwertern und klammerten sich aneinander. Der Bandenführer blickte
zu Douglas, Stuart und Nina herauf: ein großer, fetter Mann, und
das in einer Gegend, wo die meisten Leute hungrig zu Bett gingen.
Er trug die allerneueste Mode, aber ein Schläger in Seide ist immer
noch ein Schläger. Er lächelte fröhlich.
»Na, hallo da oben! Ich bin Brion de Rack. Diese Männer arbeiten
für mich. Das taten auch die von Euch umgebrachten, aber ich bin
keiner von der Sorte, die lange ihrem Groll nachhängt. Es tut einer
Organisation gut, wenn hin und wieder Ballast abgeworfen wird. Ihr
habt mich erstaunt, meine Herren, und das ist nicht einfach. Jetzt
seid doch gute Jungs und kommt herunter und redet mit mir. Oder ich
bringe Euren derzeitigen Arbeitgeber und seine Familie um, während
Ihr zuschaut. Langsam und grausam und sehr blutig. Was darf es
sein, meine Herren?«
Douglas und Stuart zogen sich vom Fenster zurück und blickten
einander an.
»Nun?«, fragte Stuart. »Was darf es denn sein?«
»Wir schulden ihnen nichts«, sagte Douglas. »Wir kennen sie nicht
mal. Aber ... falls wir vor solchem Abschaum klein beigeben, haben
wir nie Frieden.«
»Oh, wie dumm von mir!«, sagte Stuart. »Ich dachte, wir gingen
vielleicht doch glatt deswegen hinunter, um unschuldige Menschen zu
retten. Weil es das Richtige ist.«
»Strapaziere nicht dein Glück!«, warnte ihn Douglas. »Ich bin
wirklich nicht in Stimmung dafür.«
»Aber wir gehen hinunter?«
»Ja, Stuart«, sagte Douglas und lächelte auf einmal. »Wir gehen
hinunter.«
»Dann hole ich mal meine ganz dicke Knarre«, warf Nina
ein.
»Du wirst im Hintergrund bleiben!«, befahl Douglas streng. »Weil
man nie weiß, wann sich unerwartete Verstärkung als nützlich
erweist.«
»Oh, puuh!«, beschwerte sich Nina. »Ich darf nie Spaß haben!«
Getarnt von ihren anonymen Ledermasken stießen Douglas Feldglöck und Stuart Lennox die Vordertür des Hotels auf und gingen vorsichtig auf die Straße. Eine Menschenmenge war schon zusammengelaufen und sah aus sicherer Entfernung zu. De Rack und seine Männer warteten. Die Schläger und Raufbolde reagierten stark auf den Anblick von Strahlenwaffen in Douglas' und Stuarts Händen, aber de Rack winkte lässig ab, und sie beruhigten sich wieder. Aus der Nähe wirkte de Rack noch größer und hässlicher. Stuart konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass es eigentlich dieser Mann war, der eine Maske hätte tragen sollen.
»Es ist im Grunde ganz einfach«, begann der große Kerl lässig. »Ich kann nicht hinnehmen, dass zwei solch hervorragende Kämpfer wie Ihr unabhängig arbeitet. Nicht auf meinem Gebiet. Das bringt die Leute nur auf dumme Gedanken. Gefährliche Dinge sind das, Gedanken. Und es besteht immer die Chance, dass Ihr irgendwann mal für einen meiner Feinde tätig werdet. Ein erfolgreicher Geschäftsmann wie ich zieht nun mal Feinde an wie ein Hund Flöhe. Also werdet Ihr für mich arbeiten. Ich zahle gute Löhne; außerdem gibt es alle möglichen Bonusleistungen, und Ihr habt sichere Arbeitsplätze auf Lebenszeit. Denn was immer aus dem Slum wird - ich bleibe hier und mache meinen Schnitt.«
»Und falls uns nicht danach ist, bei einem mickrigen Schmalspurgangster einzusteigen, der an Größenwahn leidet?«, fragte Douglas. »Falls wir sogar sagen: Fahrt zur Hölle?«
»In diesem unwahrscheinlichen Fall bringen meine Männer den Hotelbesitzer und seine Familie auf entsetzlich erfindungsreiche Art um, brennen das Hotel nieder und töten jeden, der aus den Flammen hervorgestürzt kommt. Und schließlich foltern meine Männer Euch gleich hier auf der Straße zu Tode, um ein Exempel für diejenigen zu statuieren, die so töricht sind, mir zu trotzen.« De Rack bat mit einem Achselzucken um Verzeihung. »Eine Verschwendung von ordentlichem, potenziellen Einkommen, wie ich einräumen muss, aber Geschäft ist Geschäft. Ihr solltet Euch geschmeichelt fühlen, meine Herren. Gewöhnlich muss ich Leute nicht erst unter Druck setzen, damit sie für mich arbeiten. Aber Ihr beide habt etwas ... Besonderes an Euch. Das sehe ich klar. Ehemalige Soldaten, stimmt's? Viel Kampferfahrung, aber keinen Platz im supertollen neuen Regime des Durandal? Dachte ich mir. Ihr seid nicht nur Raufbolde, sondern Raufbolde mit Grips. Solche Leute kann ich immer gebrauchen. Ich brauche Qualität, und Ihr glaubt ja nicht, wie selten man die heutzutage im Slum antrifft!«
»Vielleicht habt Ihr einfach nicht an der richtigenStelle gesucht«, gab Stuart zu bedenken. »Oder vielleicht würdet Ihr echte Qualität nicht mal dann erkennen, wenn Ihr darüber stolpert. Möchtet Ihr wirklich jeden in diesem Hotel umbringen, nur um Euer Gesicht zu wahren?«
»Natürlich!«, bekräftigte de Rack. Er deutete mit ausladender Geste auf die Menge, die aus dem Nichts heraus zusammengelaufen war, um sich die kostenlose Unterhaltung anzuschauen. »Ein Mann ist nur so gut wie sein Wort, und falls dieses Wort eine Drohung ist, umso besser. Man muss die Disziplin wahren. Aber betrachtet mich nicht in allzu schlechtem Licht, liebe Freunde! Ich bin nur ein Geschäftsmann, der das Nötige tut, um weiterzukommen. Menschen ... haben hier keinen Wert. Nur Macht hat Wert. Die Kraft, sich zu nehmen, was man möchte und wann man es möchte, und es zu behalten.«
»Und zur Hölle mit allen anderen?«, fragte
Stuart. »Präzise.«
»So ... sollte es aber nicht sein«, stellte Douglas
langsam fest.
»Willkommen in Finns Imperium«, sagte Stuart.
»Willkommen in der Welt, die er gebaut hat, weil
niemand mehr da war, der ihn aufgehalten hätte.« »Jemand sollte
etwas unternehmen«, meinte
Douglas.
»Falls nicht du«, fragte Stuart, »wer dann?« »Entschuldigt mal«,
mischte sich de Rack ein,
»aber ich habe etwas gesagt. Ignoriert mich noch
einmal, und ich weise meine Männer an, euch Manieren
beizubringen!«
»Ach zum Teufel«, sagte Douglas. Er klang immer
noch müde, aber irgendwie schien er aufrechter zu
stehen und größer geworden zu sein. »Es endet nie,
was? Immer bleibt noch Arbeit zu tun. Egal wir mü
de man ist.«
»Wir können uns ausruhen, wenn wir tot sind«,
sagte Stuart.
»Darauf würde ich kein Geld setzen«, wandte
Douglas ein. »Nina, dein Auftritt.«
Nina Malapert kam mit elegantem Schwung aus
der Hoteltür zum Vorschein, die größte Handfeuerwaffe im Anschlag,
die irgendeiner der Anwesenden
jemals gesehen hatte. Und während alle sie noch
anglotzten, schoss Nina de Rack sauber in die Brust.
Der Energiestoß riss ihn auseinander wie einen faulen Apfel. Noch
während die verkohlten und rauchenden Fetzen durch die Luft flogen,
stürmten
Douglas und Stuart vor, die Schwerter in der Hand,
und fielen über die Männer her, die den Hotelbesitzer
und seine Familie bewachten. Die Schläger und
Raufbolde versuchten nicht einmal, sich zum Kampf
zu stellen. Sie erkannten sofort, dass sie es mit professionellen
Kämpfern zu tun hatten. Die meisten
drehten sich einfach um und liefen weg, verfolgt von
den Buhrufen und Pfiffen der Zuschauermenge.
Douglas und Stuart hieben diejenigen ruckzuck nieder, die nicht
flüchteten. Und so schnell war alles
vorbei. Der Hotelbesitzer schüttelte Douglas und
Stuart in einem fort die Hände und brachte plappernd
seine Erleichterung und seinen Dank zum Ausdruck. Seine Frau und
die Kinder betrachteten die beiden Desperados mit großen,
andächtigen Augen. Die
Menge applaudierte laut.
Manche jubelten sogar. In dem Applaus drückte
sich auch unverkennbar ein Element der Überraschung aus. Helden
waren schon zu den besten Zeiten im Slum selten anzutreffen, und in
einer solchen
lebte man aktuell ganz gewiss nicht.
Stuart schüttelte dicke Blutstropfen vom Schwert
und grinste Douglas an. »Ein gutes Gefühl, was? Das
zu tun, wozu wir geschaffen sind.«
Douglas lachte kurz, und es klang rau und resigniert. »In Ordnung,
verkneif es dir! Ich bin wieder
da. Zeit aufzuwachen und mich wieder einzumischen. Ob zum Besseren
oder Schlechteren, aber die
Rebellion startet hier.«
Nina quiekste vor Freude und führte direkt auf der
Straße einen Freudentanz auf. »Ja! Ja! Ein Exklusivbericht für die
nächste Aktualisierung der Website!«
Als sie wieder in ihrem Zimmer am Tisch saßen und die Masken abgelegt hatten, schmiedeten Douglas, Stuart und Nina Revolutionspläne. Sie redeten laut und unterbrachen sich gegenseitig ständig. Ihre Gesichter waren gerötet von Aufregung und Vorfreude. Alle fühlten sich lebendiger als seit Monaten.
»Also«, sagte Stuart. »Wie genau startet die Rebellion hier?« »Ich dachte mir, ich trommle alle Leute im Slum zusammen und forme daraus eine Armee, die ich Finn auf den Hals hetzen kann«, sagte Douglas. »Nicht das beste Material, wie ich zugeben muss, aber man arbeitet halt mit dem, was man hat. Also wende ich mich an die Leute, inspiriere sie, entzünde in ihnen ein Gefühl für Groll und Ungerechtigkeit, peitsche sie dann zu richtiger Wut auf und ...«
»Das klappt nie«, erklärte Nina kategorisch. »In der ganzen Geschichte des Slums hat es noch niemand geschafft, alle Bewohner in auch nur einem Punkt zu einigen. Deshalb kamen die meisten ursprünglich überhaupt her: weil sie mit der ganzen übrigen Welt nicht mehr klarkamen.«
»Sie ist vielleicht laut und provokant«, bemerkte Stuart, »aber was sie sagt hat etwas für sich. Nichts weniger als eine umfassende Invasion des Slums durch Finns Armee würde die Leute hier jemals auf ein gemeinsames Anliegen verpflichten, und Finn ist viel zu clever, um das zu tun. Er weiß, dass er einfach nur warten muss, und die Leute stürzen sich aufeinander.«
»Eine Invasion ...«, überlegte Douglas. »Okay, genau das brauchen wir. Und Finn tut es vielleicht doch, falls wir ihm genug Angst einjagen. Aber zunächst müssen wir die hiesigen Bewohner auf unsere Seite ziehen und bewegen, auf unser Kommando zu hören. Ich denke ... ich fange mit Ohnesorgs Bastarden an. Sie sind die Berühmtheiten dieser abscheulichen Siedlung. Sie bestimmen die Mode, die Trends; wohin sie gehen, folgen ihnen die anderen.«
»Ja, sie sind berühmt«, sagte Stuart. »Und genau deshalb werden sie niemals zwei maskierten Desperados unbekannter Herkunft folgen. Wir sind gute Kämpfer und vielleicht inzwischen sogar örtliche Helden, aber das sind die meisten Bastarde auch. Ihnen geht es nur um Ruhm und Geld, und wir können ihnen weder das eine noch das andere bieten.«
»Ihnen geht es um sich selbst«, überlegte Douglas bedächtig. »Vor allem geht es ihnen darum, von wem sie abstammen. Gib ihnen eine Chance, Helden und Legendengestalten wie der berühmte Jakob Ohnesorg zu werden; gib ihnen die Chance, einem zum Gesetzlosen erklärten König in den Kampf gegen einen korrupten Imperator zu folgen ... genau das Leben zu führen, von dem sie bislang nur träumten ...«
»Douglas, das kannst du nicht machen!«, hielt ihm Nina entgegen. »Glaub mir, Schatz, das ist eine echt schlechte Idee. Zeig den Bastarden dein Gesicht, und sie stehen Schlange, um dich für die ausgesetzte Belohnung an Finn zu verraten!«
»Verdammt richtig«, bekräftigte Stuart. »Sie sind vielleicht Ohnesorgs Nachkommen, aber sie haben keinerlei Ehrbegriff. Und falls sie etwas noch mehr hassen als einen Exkönig, dann einen Exparagon. Oder hast du vergessen, dass du zu Beginn deiner Laufbahn die meiste Zeit damit zugebracht hast, solchen Abschaum hinter Gitter zu bringen?«
»Der Feind meines Feindes ist mein Bundesgenosse, wenn nicht mein Freund«, hielt ihm Douglas gelassen entgegen. »Wir müssen den Bastarden einfach zeigen, dass Finn eine größere Gefahr darstellt, als sie ahnen, und dass wir die Einzigen sind, die einen Aufstand gegen ihn anführen können. Ich habe schon immer festgestellt, dass inspiriertes Eigeninteresse eine starke Motivationshilfe ist.«
»Du wirst eine tote Motivationshilfe sein,
sobald du die Maske abnimmst«, knurrte Stuart.
»Wir werden uns mit den Bastarden treffen«, erklärte Douglas
entschieden. »Habt Vertrauen, meine Kinder.«
»Ich nehme meine echt dicke Knarre mit«, sagte Nina. »Und mein
bestes Paar Laufschuhe.«
Und so nahmen wenige Tage später Douglas,
Stuart und Nina - zwei maskierte Desperados und eine tollkühne
Reporterin - am nächsten planmäßigen Treffen von Ohnesorgs
Bastarden teil. Der Treffpunkt war nicht schwer zu finden. Diese
stattliche Auswahl an Männern, Frauen und nicht wenigen
FremdwesenMischlingen, die sich als Nachfahren des legendären
Berufsrebellen Jakob Ohnesorg betrachteten, kam stets einmal im
Monat zusammen, um von all den wunderbaren Dingen zu prahlen, die
man vollbracht hatte, und heftig über die verschiedenen
Abstammungstheorien zu zanken. Das bevorzugte Versammlungslokal war
eine verkommene Absteige an der Höllenstraße, genannt Die Drei Krüppel. Das war eine in jeglicher
Hinsicht grauenhafte Kaschemme, aber Getränke gab es billig, und
der Inhaber zeigte sich bereit, das unausweichliche miese Verhalten
zu dulden, falls man seine Räume im Gegenzug regelmäßig
buchte.
Douglas, Stuart und Nina musterten voller Abscheu die schmutzigen
Wände, das durchhängende Dach und die geschwärzten Fenster, die
zusätzlich Privatsphäre sichern sollten; vorsichtig stiegen die
drei über die blubbernde offene Gosse hinweg, um den Haupteingang
zu erreichen. Drinnen herrschte dichtes Gedränge von einer Wand zur
anderen, und der Rausschmeißer am Eingang versuchte, die drei
Neuankömmlinge durch finstere Blicke zu verscheuchen. Nina zeigte
ihm ihre echt dicke Knarre, und der Rausschmeißer entschied, dass
letztlich doch noch Platz war für ein paar Leute mehr.
Drinnen stank es noch schlimmer, falls das überhaupt noch möglich war. Der Qualm diverser illegaler Rauchwaren hing dick in der Luft, und einen Stuhl oder Schemel bekam man weder für Liebe noch für Geld. In der Menge herrschte ein durchaus freundschaftliches Schubsen und Drängeln, und man brüllte sich gegenseitig voll, um sich überhaupt noch durch den entsetzlichen Lärm vernehmlich zu machen. Fast alle Männer, Frauen und humanoiden Kreaturen hier waren mit Waffen der einen oder anderen Art bestückt. Die Kellnerinnen setzten sich ausschließlich aus Madelinas zusammen (der Kopie eines populären kommerziellen Klonmodells), und sie kreisten nach bestem Vermögen durch das Gedränge der Leiber, um Getränke und Kneipenfraß zweifelhaften Ursprungs zu verteilen. Douglas und Stuart bahnten sich mit finsteren Blicken und bösartigem Einsatz der Ellbogen einen Weg durch die Menge, während Nina die Nachhut bildete.
»Wie zum Teufel möchtest du ihre
Aufmerksamkeit gewinnen?«, brüllte Stuart Douglas ins
Ohr.
»Genau wie bei de Rack«, antwortete Douglas. »Nina, falls es dir
nichts ausmacht...«
Nina machte es überhaupt nichts aus. Breit grinsend trat sie ein
paar Leuten an die Schienbeine, um Platz zu schaffen, hob die sehr
dicke Knarre und pustete ein Loch in eine Wand. Der Lärm brach
abrupt ab, und alle bemühten sich entweder, eine Waffe zu ziehen,
oder hielten Ausschau nach der nächstliegenden Fluchtmöglichkeit.
Nina senkte die Waffe vorsichtig. Douglas sprang auf den nächsten
Tisch und lächelte gelassen um sich.
»Entspannt Euch alle. Das ist keine Razzia. Manche von Euch
erkennen in mir und meinen beiden Freunden möglicherweise
diejenigen wieder, die de Rack getötet und seinen Schutzgeldring
geknackt haben. Wir haben das getan, weil... Leute nicht gezwungen
sein dürften, mit so einem Mist zu leben. Genau wie Ihr nicht
gezwungen sein solltet, Euch mit solchem Mist abzufinden. Seht Euch
nur an - die Nachfahren eines Helden, einer Legendengestalt, sind
dazu verdammt, sich im Slum zu verstekken, ihrer wahren Bestimmung
zu entsagen, unfähig, ihr Potenzial zu entfalten. Unfähig, sich der
Legende des Jakob Ohnesorg würdig zu erweisen. Ich bin gekommen, um
Euch einen Ausweg zu zeigen. Einen Weg, Euer Leben für immer zu
ändern.«
Er nahm die Ledermaske ab. Eine ganze Weile lang muckste sich
niemand. Alle wahrten erschrokkenes Schweigen. Schließlich erhob
sich ein großes Geschrei, als die Menge Douglas Feldglöck erkannte.
Ein einziger Gedanke leuchtete in allen Kopien auf, als sie den
Exparagon und Exkönig betrachteten, und dieser Gedanke lautete:
Geld! Die enorme Belohnung, die Finn auf
Douglas' Kopf ausgesetzt hatte, vorzugsweise getrennt vom Körper,
würde ihnen ermöglichen, wie die Könige zu leben. (Auf Stuarts Kopf
war auch Geld ausgesetzt, eine geringere Summe. Finn konnte
manchmal sentimental sein. Er wollte nicht, dass sich Stuart
übergangen fühlte.)
Die Menge musterte Douglas mit hungrigen Augen und stürzte sich
dann vor, um ihn herabzuzerren. Stuart und Nina verteidigten beide
Seiten des Tisches mit Tritten und Fausthieben und dem einen oder
anderen Kopfstoß. Nina erwies sich als besonders begabt, was
schmutzige Kampftricks anging. Douglas verfolgte den Tumult
gelassen und machte sich nicht die Mühe, Schwert oder Pistole zu
ziehen, nicht mal, als die zupackenden Hände seinen Beinen sehr
nahe kamen. Er hob erneut die Stimme, und fast unwillkürlich wurden
die Bastarde still, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Er
war schließlich Douglas Feldglöck, und sein Ruf eilte ihm
voraus.
»Ihr müsst wissen, dass meine Freunde und ich eine verdammt große
Zahl von Euch umbringen werden, ehe Ihr uns überwältigt. Ich war
schon lange, bevor ich König wurde, Paragon und Krieger. Auch meine
Freunde sind Krieger. Seid Ihr bereit, für Geld zu kämpfen und zu
sterben, aber nicht für Eure Freiheit? Was hielte Jakob Ohnesorg
wohl davon? Er war Berufssrebell; Ihr seid lediglich
professionelles Pack. Und in jüngster Zeit auch kein besonders
erfolgreiches mehr. Entweder bringt Ihr den Mumm auf, Euch gegen
Finns ungerechte Herrschaft aufzulehnen, oder es gibt sehr bald
keine Bastarde Ohnesorgs mehr. Er erledigt Euch einen nach dem
anderen, und Eure Köpfe schmücken dann ganze Reihen von Spießen vor
dem Palast, als Demonstration für andere. Und Jakob Ohnesorgs große
Nachkommenschaft stirbt mit Euch. Ich habe Euch nie Grund gegeben,
mich zu mögen, aber zumindest habe ich Euch respektiert. Finns
Gesetz ist härter, als meines je war. Er wird Euch alle schon
allein aufgrund des Erbes von Freiheit und Gerechtigkeit umbringen,
das Ihr repräsentiert. Eure einzige Hoffnung besteht in der
Rebellion, und dafür braucht Ihr einen Anführer, dem alle folgen.
Und das bin ich.«
Ein Gemurmel lief widerstrebend durch die dicht gedrängte Menge.
Das hat etwas für sich. Überall verdammte
Fanatiker der Militanten Kirche. Man kann kein anständiges Geld
mehr verdienen. Und Finn ist wirklich ein Schwein. Wahrscheinlich
kann man sich nicht mal darauf verlassen, dass er die Belohnung
rausrückt. Solange der Feldglöck ein Paragon war, wusste man immer,
woran man mit ihm war. Er war hart, aber fair.
»Ihr müsst es tun«, sagte Douglas, und das Gemurmel brach sofort
ab. Alle spitzten jetzt die Ohren. »Ihr müsst es schon Eurem Stolz
und Eurer Freiheit zuliebe tun. Ich weiß, dass es schon zu
Aufständen gekommen ist und Finn sie mit grausamen und
fürchterlichen Taktiken niedergetrampelt hat. Er braucht sich gar
nicht mehr um seine Popularität zu sorgen. Aber diese früheren
Rebellen waren ein Haufen Amateure. Keine gemeinsame Sache, keine
Disziplin, kein Anführer. Ihr hingegen seid allesamt praktische,
professionelle Rebellen und geübte Kämpfer und ... habt mich als
Anführer. Ihr braucht Euch nur umzublicken, um zu sehen, was aus
der Welt geworden ist - was aus dem Slum geworden ist. Ihr seid von
jeher Gauner, aber Ihr habt Euren Stolz. Jetzt seht Euch an, wie
Ihr so weit heruntergekommen seid, dass Ihr Euch gegenseitig
Wechselgeld klaut. Damit braucht Ihr Euch jedoch nicht abzufinden.
Ihr braucht nicht so zu leben. Ihr seid Jakob Ohnesorgs Erbe,
gehört zum Erbe der Großen Rebellion, zum Erbe Owen Todtsteltzers
und seiner Bundesgenossen. Und jetzt ist die Zeit gekommen, Euch
ihrer würdig zu erweisen. Wartet nicht darauf, dass der Durandal
seine Fanatiker hierherschickt, um den Slum zu säubern; seid die
Rebellen, als die Ihr geboren wurdet. Erhebt Euch!«
Und Ohnesorgs Bastarde brüllten zustimmend und jubelten ihm zu, bis
der Raum förmlich widerhallte von der Wucht des Ereignisses. Stuart
und Nina konnten es einfach nicht glauben. Hartgesottene
Kriminelle, die jederzeit ihren schlafenden Großmüttern die
Goldzähne rauben würden, die schon jeden der Menschheit bekannten
Betrug verübt hatten, stampften jetzt mit den Füßen und klatschten
in die Hände, bis es wehtat. Wahrscheinlich half dabei, dass die
meisten pleite und gelangweilt und mehr als bereit für ein bisschen
Aktivität waren, aber Douglas hatte in ihnen auch wieder ihren
Stolz geweckt. Vielleicht, nur vielleicht, steckte doch etwas von
Jakob Ohnesorg in ihnen.
Douglas stieg vom Tisch und stellte der Menge Stuart Lennox und
Nina Malapert vor. Die Bastarde verbeugten sich respektvoll vor dem
Exparagon und Ninas Knarre, aber im Grunde hatten sie nur Augen für
Douglas. Er redete noch lange an diesem Abend und mischte dabei
Inspirierendes und Praktisches. Eine Rebellion auszurufen war ja
gut und schön, aber dazu musste man auch Einzelheiten ausarbeiten.
Zum Glück teilten sich die Bastarde umfassende Kenntnisse vom Slum
oder zumindest von jedem, der hier eine Rolle spielte. Sie konnten
Douglas genau sagen, wohin er sich als Nächstes wenden sollte, um
die Botschaft am wirkungsvollsten außerhalb der Drei Krüppel zu verbreiten. Alle beeilten sie sich,
ihm zu versichern, dass eine Menge Leute im Slum den Stand der
Dinge verabscheuten und nur auf einen Brennpunkt und einen Anführer
warteten. Sie wünschten sich ihr verschlagenes Dasein von einst
zurück und waren bereit, dafür zu kämpfen. Der Slum war von jeher
voll von Kämpfern. Sie würden Douglas folgen, weil sie ihn kannten
- als Paragon und als König und als einen von ihnen, gestürzt vom
verhassten Finn Durandal.
Weitere Treffen folgten an sorgfältig ausgesuchten Orten im ganzen
Slum, gefolgt von offenen Zusammenkünften, an denen zuerst
Hunderte, später Tausende eifriger Zuhörer teilnahmen. Alle Welt
wollte Douglas reden hören, wenn er sie mit donnernden Worten und
der Kraft einer schlichten Wahrheit zusammenrief und inspirierte:
sie hätten das Potenzial, ihr Leben zu ändern, falls sie sich nur
dazu aufrafften. Douglas erinnerte sie daran, wie tief sie unter
Imperator Finn gesunken waren, und die Leute tobten vor Wut. Ihre
Wut war nur deshalb so lange lautlos und diffus geblieben, weil
niemand gewagt halte, aufzustehen und sie in Worte zu fassen.
Douglas gab ihnen den Stolz zurück, und dafür liebten sie ihn. Und
irgendwann stand er auf einer schlichten Bühne auf einem offenen
Platz, blickte in die Gesichter Hunderttausender interessierter
Zuhörer und wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war.
»Verkündet es überall!«, rief er, und seine Stimme hallte in der
Stille hingebungsvoller Aufmerksamkeit wider. »Von jetzt an ist der
Slum für alle Kreaturen Finns verbotenes Gelände! Er übt hier keine
Macht aus. Seine anmaßende und ungerechte Herrschaft endet an
unseren Grenzen. Sollte sich irgendeiner seiner Leute hier blicken
lassen, wird er nicht wieder hinauskommen. Keine Besteuerung mehr
ohne parlamentarische Vertretung! Keine Hinrichtung mehr ohne
Prozess! Keine Schläger der Militanten Kirche mehr, die euch
erklären, wie ihr zu leben habt! Kein Imperator Finn mehr, der euch
verhöhnt, weil er denkt, er bräuchte euch nicht zu fürchten! Er
denkt, er hätte euren Willen gebrochen. Es ist an der Zeit, ihm zu
beweisen, dass er sich irrt. Wir werfen seine Leute hinaus und
nehmen uns den Slum zurück! Dann die Parade der Endlosen! Und
letztlich ganz Logres!
Denn wenn wir es nicht tun, wer dann?«
Und der sich anschließende Jubel und das Gebrüll der Zustimmung und
Entschlossenheit fielen so laut aus, dass Finn sie sogar im dunklen
Herzen seines usurpierten Palastes gehört haben musste
Ganz besonders ein Mann spürte, wie sich sein Leben für immer veränderte, als er an jenem ersten Abend in den Drei Krüppeln miterlebte, wie Douglas Feldglöck seine wahre Identität zeigte. Tel Markham war es, einst Abgeordneter im Parlament und eine führende Gestalt in unüberschaubar vielen Geheimorganisationen, der aber jetzt seinen Lebensunterhalt verdiente, indem er in der schmutzigen Küche der Kneipe Geschirr spülte. Er ernährte sich von Resten, die er auf den schmutzigen Tellern fand, und kämpfte mit Ratten und anderem Ungeziefer darum. Seine einst stolze Kluft bestand nur noch aus schmutzigen Lumpen. Er schlief in einem Obdachlosenheim, aufrecht in einer Reihe von Männern stehend, die von Seilen unter den Achselhöhlen gehalten wurden. Die Eigentümer des Heims packten ihr Haus richtig voll, um mehr Profit zu machen, und die Körperwärme der dicht gedrängten Leiber war in kalten Nächten oft das Einzige, was die Schläfer am Leben hielt.
Tel erhielt von seiner Mutter jeden Monat eine kleine Überweisung, unter der Bedingung, dass er weder Kontakt zu ihr aufzunehmen versuchte noch nach Hause kam. Er hätte dem Familiennamen Schande bereitet, sagte sie, und er hätte es versäumt, sich um seinen Bruder Angelo zu kümmern (von jeher ihr Lieblingssohn). Dabei war es Tels Weigerung gewesen, auf Finns Befehl hin den eigenen Bruder zu ermorden, was ihn so tief gestürzt hatte. Tel war sich der Ironie bewusst, aber er konnte heutzutage nicht mehr viel mit Humor anfangen. Das Geld seiner Mutter hielt ihn mit knapper Not am Leben. Und er musste überleben. Es gab Leute, an denen er sich rächen musste.
Zu sehen, dass Douglas noch lebte, hatte ihn mit neuer Hoffnung erfüllt. Er folgte dem Feldglöck von einer Versammlung zur nächsten, hörte sich seine Reden an und behielt dabei die Zuhörer im Auge. Er musste sichergehen, dass er den echten Douglas vor sich hatte. Und als er endlich die Menge bei jener letzten großen Versammlung toben hörte, schlang er in seinen Lumpen fest die Arme um sich und konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Er entschied, dass es an der Zeit war, sich vorzustellen. Eines Abends suchte er das Laternenhaus auf und schlüpfte durch die Küche hinein, weil er nicht damit rechnen konnte, dass jemand wie er Zutritt durch den Vordereingang erhielt. Zwar hatte man Wachtposten aufgestellt, aber denen wich er mühelos aus und schlich sich die Hintertreppe zu Douglas' Zimmer hinauf. Doch dann zögerte er vor der Tür und fürchtete sich anzuklopfen. Er war so furchtbar tief gefallen, verglichen mit dem, was er einst war. Und zu Zeiten, als sie noch beide Macht und Einfluss ausgeübt hatten, hatte König Douglas nie viel Zeit für den Abgeordneten von Madraguda aufgebracht. Wie Douglas wohl auf dieses eingefallene Ding aus Lumpen und Fetzen vor seiner Tür reagierte? Tel scharrte unsicher mit den Füßen, hob die Hand, um anzuklopfen, und ließ sie wieder fallen. Er traf gerade Anstalten, sich abzuwenden, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde und ihn eine große Faust am Kragen des schmutzigen Hemds packte und ins Zimmer zerrte.
»Ich habe dir ja gesagt, dass ich gehört habe, wie hier jemand herumschleicht«, sagte Stuart munter. »Wahrscheinlich ein Spion oder Informant. Obwohl ich jetzt, wo ich ihn erwischt habe, nicht recht weiß, was ich mit ihm anfangen soll. Ich hoffe nur, dass meine Impfungen alle noch vorhalten.«
Er stieß Tel vor Douglas auf die Knie und wischte sich demonstrativ die Hand am Hintern ab. Eine unerwartete Woge von Stolz veranlasste Tel, den Kopf zu heben.
»Ich bin weder Spion noch Informant! Finn hat keinen größeren Feind als mich! Ich bin gekommen, um meine Dienste anzubieten!«
»Na ja, vielen Dank, aber ich denke nicht, dass wir uns derzeit die Schuhe putzen lassen müssen«, sagte Nina und rümpfte pingelig die Nase.
»Ihr erkennt mich nicht«, wagte Tel, den Blick fest auf Douglas gerichtet. »Verdammt, ich würde mich in dieser Aufmachung selbst nicht wiedererkennen! Ich bin Tel Markham, einst der ehrenwerte Abgeordnete von ...«
Er brach ab, als Stuart herangesprungen kam und ihm das Messer an den Hals setzte. »Markham!«, fauchte Stuart. »Eine von Finns Kreaturen, damals wie heute! Oh, Gott ist hin und wieder barmherzig und liefert uns unsere Feinde aus! Tritt lieber einen Schritt zurück, Douglas. Du möchtest bestimmt nicht mit Blut vollgespritzt werden, wenn ich ihn umbringe.«
»Wartet! Wartet!« Tel war dermaßen in Panik, dass er kaum Luft bekam, aber er hielt den Blick auf Douglas gerichtet. »Ich gehörte zu Finns Leuten, ja. Die Betonung liegt auf war. Er hat mir befohlen, meinen Bruder Angelo umzubringen, aber ich habe mich geweigert, und so wandte er sich gegen mich. Ich musste die Flucht hierher ergreifen und alles zurücklassen, um das nackte Leben zu retten. Und dann hat er Angelo trotzdem umbringen lassen, sodass letztlich alles vergebens war. Niemand in diesem Zimmer hat mehr Grund als ich, Finn Durandal zu hassen.«
»Da würde ich kein Geld drauf verwetten«,
wandte Stuart ein.
»Warum sollten wir Euch trauen?«, fragte Douglas und schien ehrlich
neugierig.
»Das solltet Ihr nicht«, sagte Tel, des Messers an seiner Kehle
immer noch allzu deutlich bewusst. »Ihr solltet niemandem im Slum
trauen. Finn hat die Gegend schon vor langer Zeit mit seinen Leuten
unterwandert. Aber ich kenne seine Geheimnisse. Ich kann die
Verräter identifizieren, ihre Pläne aufdekken. Ihr glaubt nur, dass
Ihr wüsstet, wie böse er ist. Ihr habt aber keine Ahnung, wer seine
Bundesgenossen wirklich sind und welch entsetzliche Vorhaben er
verfolgt. Ihr müsst alles erfahren, was ich weiß. Behaltet mich in
Eurer Umgebung. Ich kann nützlich sein. Letzten Endes werdet Ihr
mir dann vertrauen. Ich berate Euch, folge Euch, kämpfe an Eurer
Seite.«
»Warum?«, fragte Douglas.
»Weil Finn meinen Bruder umgebracht hat.«
»Ah«, sagte Douglas. »Ja. Familiäre Verpflichtungen. Darüber weiß
ich alles.« Er nickte Stuart zu, der widerstrebend das Messer von
Tels Kehle entfernte.
Tel rappelte sich langsam auf und war sich peinlich der Tatsache
bewusst, was für ein zerlumptes und schmutziges Bild er abgeben
musste. Es war lange her, seit er sich zuletzt um sein Aussehen
hatte kümmern können, aber er wollte einfach, sehnte sich danach,
dass Douglas sich an den Mann erinnerte, der Tel einst gewesen war,
nicht die Kreatur, die er heute darstellte.
Stuart rümpfte die Nase. »Verdammt, Markham, aber Ihr stinkt! Und
in einer Abfallgrube wie dieser hier auch noch aufzufallen, das ist
schon eine Leistung. Falls Ihr überhaupt Zeit mit uns verbringen
möchtet, müsst Ihr ein Bad nehmen. Dringend! Im Erdgeschoss
befindet sich eine Blechwanne. Sagt dem Inhaber, ich wäre der
Meinung, dass Ihr sie gut gebrauchen könntet und er sie
anschließend gründlich schrubben und desinfizieren sollte.
Verdammt, schrubbt Ihr sie selbst sauber! Wir alle müssen das
Scheißding benutzen. Gott, manchmal denke ich, ich streite nur
deshalb für die Rebellion, um wieder mal anständige sanitäre
Einrichtungen zu erleben!«
»Eins nach dem anderen«, wandte Tel ein wenig zaghaft ein. »Ich
gehöre dem Wirt der Drei Krüppel. Er ist
Inhaber meines Vertrags. Ich kann nicht für jemand anderen
arbeiten, solange Ihr mich nicht auslöst. Ich dürfte nicht mal hier
sein, selbst wenn es zu einer Zeit geschieht, die ich scherzhaft
als meine Freizeit bezeichne.«
»Sklaverei ist illegal«, sagte Douglas. »Sogar im Slum.«
»Was Ihr alles wisst!«, sagte Tel Markham.
Stuart seufzte schwer. »Ich denke, ich gehe die Drei Krüppel noch einmal besuchen.«
»Tu das«, sagte Nina. »Und ich denke, ich reiße solange das Fenster
auf.«
Letztlich begleiteten sowohl Douglas als auch Stuart Tel zu der Kneipe. Douglas unterhielt sich mit dem Wirt und bot ihm eine faire Summe im Gegenzug für Tels Vertrag an. Der Wirt spürte gleich, woher der Wind wehte, und behauptete unverzüglich, Tel wäre absolut unersetzlich und er könne die Kneipe ohne ihn gar nicht führen. Anschließend verlangte er eine absolut unvernünftige Summe, um den Vertrag aufzulösen. Also trat ihm Douglas gleich dort vor seinen Kunden in den Arsch. Sklaverei ist illegal!, erklärte er lautstark. Wie Ihr verdammt gut wisst!
»Wisst Ihr«, sagte Tel, als sie die Kneipe wieder verließen, »das wird in manchen Teilen des Slums nicht sehr populär werden. Die Tradition der Arbeitsverpflichtung reicht hier weit zurück.«
»Harte Sache«, fand Douglas. »Dass ich die Rebellion führe, das kostet nun mal seinen Preis, und dieser besteht in Moral. Der Slum wird sich bessern müssen. Die Menschen werden wieder stark werden. Das müssen sie einfach. Denn die Schwachen und Unsicheren haben gegen Finns Fanatiker keine Chance.« Er blickte zu der kleinen, aber aufmerksamen Schar hinüber, die immer auftauchte, wenn er in die Öffentlichkeit ging. »Hättet ihr alle nicht gern wieder ein positives Lebensgefühl?«
»Tu ja nicht so herablassend, Aristo!«, sagte eine Dame eines gewissen Alters mit zu viel Lidschatten. »Wir sind nicht alle reich und privilegiert auf die Welt gekommen! Wir mussten uns selbst einen Weg suchen. Wir kämpfen für unsere eigenen Interessen gegen Finn, nicht für deine!«
»Ich könnte sie erschießen«, bot Stuart leise
an. »Führe mich nicht in Versuchung!«, murmelte Douglas. Er blickte
sich mit entspanntem Lächeln um. »Eure Interessen sind auch meine
und umgekehrt. Wir haben ein gemeinsames Anliegen, geschmiedet aus
Notwendigkeit und Bestimmung.«
Er verbeugte sich höflich vor der Frau und ging weiter. Stuart und
Tel folgten ihm, und Stuart schaute dabei finster drein.
»Was zum Teufel sollte das denn heißen?«
»Keine Ahnung«, räumte Douglas ein. »Es hörte sich allerdings gut
an. Im Zweifel sollte man sein Publikum mit Stilblüten verblüffen.
Weißt du, alles war noch viel einfacher, als Anne meine Reden
schrieb. Sieh mal, es kommt nur darauf an, die Rebellion in Gang zu
bringen. Über Sinn und Zweck können wir uns noch unterhalten,
sobald wir gesiegt haben.«
»Das klingt für mich ganz fürchterlich nach berühmten letzten
Worten«, sagte Stuart, und Tel nickte feierlich.
»Ich frage mich, ob Owen auch solche Probleme hatte«, sagte Douglas
wehmütig.
Sie trotteten weiter dahin, und Tel blieb ein wenig zurück. Er trug
inzwischen saubere Sachen und konnte sich endlich wieder selbst
riechen. Aber er fühlte sich nach wie vor nicht der Ehre wert,
neben Douglas zu gehen. Jeglicher Stolz war ihm sehr gründlich
ausgetrieben worden, während er in den Drei
Krüppeln arbeitete, und kehrte nur langsam zurück. Die
zurückliegenden Tage hatte er meist damit zugebracht, in Gedanken
noch einmal durchzugehen, wie weit seine Erinnerung an Finns Pläne,
seine Geheimnisse und Schwachstellen reichte. Er konnte einen
Riesenhaufen Verräter, Doppelagenten und Maulwürfe im Slum beim
Namen nennen, aber er brauchte mehr, um für Douglas unverzichtbar
zu werden. Er durfte nicht zulassen, dass man ihn benutzte und dann
wieder fallen ließ. Er musste sich eng an Douglas binden, musste zu
den engsten Mitarbeitern des Feldglöcks gehören, sodass Tel Markham
nach der Rebellion und nach Douglas' Rückkehr an die Schalthebel
der Macht nicht wieder in die Armut zurückfiel, der er mit so
knapper Not entronnen war. Für Tel war Douglas Feldglöck ein
aufgehender Stern am Himmel, jemand, an dessen Rockschößen man in
eine Position der Sicherheit, wenn nicht gar des Ruhms gelangen
konnte. Und Tel brauchte Sicherheit, um seinen Rachefeldzug in die
Wege zu leiten.
»Also, wohin gehen wir jetzt?«, wollte Stuart wissen. Der
allgegenwärtige Nieselregen hatte sich zu einem starken Regen
ausgeweitet. Heutzutage ging es im Slum wirklich immer nass und
elend zu. Stuart war ziemlich sicher, dass Finn die Leute von der
Wettersteuerung entsprechend angewiesen hatte.
»Wir suchen den Sektor der Fremdwesen auf«, antwortete Douglas.
»Dort erwartet uns Nina. Sie hat Kontakt zu einem sehr nützlichen
Fremdwesenmischling namens Nikki Sechzehn hergestellt, die
behauptet, sie könnte uns eine Audienz bei den Anführern der
Fremdwesen im Slum verschaffen.«
Stuart schniefte. »Findet man hier genug von denen, damit sich die
Mühe lohnt?«
»Oh, Ihr wärt erstaunt, wie viele Fremdwesen im Slum hausen«,
ergriff Tel unverzüglich die Chance, seine Ortskenntnisse zu
demonstrieren. »Alle Arten von Fremdwesen und Mischlingen hat es
aus diversen Gründen hierher verschlagen. Entweder sind es
politische oder religiöse Flüchtlinge, oder sie haben einfach
Geschmack an menschlichen Freuden oder Vorstellungen gefunden, die
man auf ihren Heimatplaneten nicht toleriert. Der Slum ist von
jeher eine kosmopolitische Gemeinde und sehr tolerant gegenüber
unnatürlichen Lastern. Ihr würdet gar nicht glauben, was manche
dieser Fremdwesen so treiben.«
»Doch, das würde ich verdammt sicher«, wandte Stuart ein. »Nichts
an dieser Gegend überrascht mich noch.«
»Manche dieser Fremdwesen«, fuhr Tel fort, »werden von ihren
Familien dafür bezahlt, dass sie nicht mehr nach Hause kommen.
Entweder haben sie das falsche Anliegen unterstützt oder sich mit
den falschen Leuten angefreundet. An einer Rebellion teilzunehmen,
die Finn und seine xenophobischen Bundesgenossen stürzt, würde viel
dazu beitragen, ihnen die Rückkehr zu ermöglichen. Aber Ihr werdet
sehr vorsichtig zu Werk gehen müssen, Douglas! All diese
verschiedenen Arten haben jeweils eigene Bedürfnisse und Ziele, und
sie werden nur mitmachen, so weit ihre Bedürfnisse mit Euren
zusammenfallen. Derzeit habt Ihr nicht mehr mit ihnen gemeinsam als
Hass auf den Imperator.«
»Derzeit reicht das«, sagte Douglas.
Der Treffpunkt erwies sich als aufgegebene, mit Brettern vernagelte
Badeanstalt in einer schmutzigen und besonders heruntergekommenen
Gegend des Slums. Die ramponierten, fleckigen Mauern waren mit
ausladenden Fremdwesen-Graffiti in einem Dutzend verschiedener
Bilderschriften besprüht. Douglas konnte ein paar davon lesen und
war überzeugt, dass Finns Mutter so etwas nie gemacht hatte. Nina
versteckte sich in einer Türnische und trug einen schweren Mantel.
Der rosa Irokesenschnitt hing vor lauter Feuchtigkeit seitlich
herab.
»Wird aber auch Zeit, Darlings! Die Gegend ist mir nicht geheuer,
und sie ist auch nicht gerade vornehm. Hier wimmelt es nur deshalb
nicht von Straßenräubern, weil etwas sie schon gefressen hat, und
ich weiß nicht, was das für ein Gestank ist, aber es wird ewig
dauern, ihn wieder aus meinen Sachen herauszukriegen. Achtet
darauf, wo ihr hintretet, weil es einfach igitt ist, wenn ihr es
nicht tut, und ich kann nur hoffen, dass es sich dabei lediglich um
Ratten handelt. Nikki Sechzehn hat mich hergeführt und konnte dann
gar nicht schnell genug wieder verschwinden, was einem über diese
Gegend alles verrat, was man zu wissen braucht. Müssen wir uns
wirklich hier herumtreiben, Douglas Süßer?«
»Ja.« Douglas betrachtete forschend die Tür hinter ihr. Die
Badeanstalt hatte früher mal in einer guten Gegend gelegen, damals,
als sogar der Slum noch wohlhabende Gegenden aufwies. Damals
bildeten Bäder das Zentrum dessen, was als die bessere Gesellschaft
galt. Und obgleich das Haus insgesamt bröckelte und die Fenster mit
Brettern vernagelt waren, bestand der Haupteingang aus einer
einzelnen Tafel geäderten Marmors, gesichert durch schwere
Stahlketten mit massiven Vorhängeschlössern. Letztere waren
geöffnet - ein Zeichen, dass die Gruppe erwartet, wenngleich nicht
notwendigerweise willkommen geheißen wurde - aber die Fremdwesen
nahmen ihre Sicherheit eindeutig ernst. Douglas gab Nina mit einem
Wink zu verstehen, sie möge zur Seite gehen, und sie trat
widerstrebend in den Regen hinaus. Stuart trat rasch vor und
versperrte Douglas den Weg.
»Ich gehe zuerst hinein, Douglas. Immer. Du bist der Anführer der
Rebellion. Ich bin schon eher entbehrlich.«
»Niemand ist entbehrlich, Stuart«, hielt ihm Douglas entgegen.
»Darum geht es ja bei der ganzen Rebellion.«
»Trotzdem bleibt es meine Aufgabe, zwischen Euch und jeder Gefahr
zu stehen, Eure Majestät. Also haltet Ihr hier die Stellung,
während ich die Tür öffne und dann Tel hineinwerfe, um zu prüfen,
ob eine Falle oder ein Hinterhalt auf uns lauert.«
»Ich finde das überhaupt nicht komisch«, stellte Tel fest. »Findet
irgendjemand das komisch?«
»Ich halte es für eine verdammt gute Idee«, warf Nina ein. »Ich
habe Euch nie über den Weg getraut, nicht mal, als Ihr noch
lediglich ein Politiker wart. Eure Augen wirken
verschlagen.«
Stuart schob die Tür langsam auf, und die herabhängenden Ketten
klirrten laut. Eine Wolke aus stinkendem Dampf wehte vorbei, unter
der sie alle zusammenzuckten und Grimassen schnitten. Der Dampf
kräuselte sich langsam um sie herum und war feucht und schwer und
unangenehm warm. Er stank nach unvertrauten Bestandteilen, die
einem die Tränen in die Augen trieben und als gräulicher Geschmack
im Rachen hängen blieben. Stuart riss sich zusammen und trat in die
Düsternis hinter der Tür. Es kam zu einer ungemütlich langen
Wartezeit, bis er wieder auftauchte.
»Niemand zu sehen. Die Beleuchtung wird besser, je tiefer man
hineingeht, aber der Dampf ist überall. Ich würde ja sagen, dass
die Luft rein ist, aber das kann man eindeutig nicht mit Recht
behaupten. Man behält uns im Auge. Ich spüre es richtig. Die Luft
riecht, als wäre man im dreckigsten Loch des Teufels, aber sie ist
atembar. Frisch an die Wände geschmierte Zeichen weisen den Weg.
Noch ist es nicht zu spät, das alles abzublasen, Douglas! Diese
Fremdwesen haben keinen Grund mehr, Menschen zu schätzen oder zu
trauen. Besonders nicht einem König, der sie letztlich nicht
schützen konnte.«
»Das ist nicht fair!«, meinte Nina.
»Doch, ist es«, sagte Douglas. »Ich war auch ihr König. Es war
meine Aufgabe, sie zu schützen.«
Nina runzelte unglücklich die Stirn und sah Stuart an. »Nikki
sagte, da drin würde jemand auf uns warten.«
Stuart zuckte die Achseln. »Keine Spur davon zu sehen« Von
irgendetwas. Gehen wir hinein, Douglas?«
»Natürlich«, sagte Douglas. »Wir brauchen sie.«
Er ließ Stuart vorausgehen, erlaubte ihm aber nicht, eine Waffe zu
ziehen. Zuerst Diplomatie, sagte er.
Danach die Begräbnisse, murmelte Nina, die
mit Tel die Nachhut bildete. Die Tür knallte hinter ihnen von
allein zu, was niemanden überraschte. An den Wandfliesen lief das
Wasser herab, und die ursprünglichen Muster und Dekorationen waren
zum größten Teil nicht mehr erkennbar. Von der Decke tropfte es in
einem fort, aber nach dem heftigen Regen draußen war es trotzdem
eine Erleichterung. Die Bodenfliesen waren mit einem dünnen grauen
Matsch bedeckt, der vielleicht einem Zweck diente, vielleicht auch
nicht, aber für den Fußgänger auf jeden Fall entschieden tückisch
war. Der Dampf umwallte die Besucher immer dicker, je weiter sie
ins Innere vordrangen, und hinterließ einen entschieden chemischen
Geschmack auf der Zunge. Frisch aufgemalte Pfeile wiesen den Weg
und bestanden aus etwas, das vielIeicht Blut von Fremdwesen
war.
Vorsichtig platschten sie durch eine Folge schmaler Flure, folgten
dabei den Zeichen und hielten wachsam Ausschau nach allen
Richtungen. Stuart beharrte darauf, ein paar Schritte vor den
anderen zu gehen. Er war inzwischen so angespannt, dass er förmlich
vibrierte. Douglas achtete darauf, sorglos und entspannt zu
erscheinen. Nina und Tel drängten sich Schutz suchend aneinander
und wünschten sich beide eindeutig, sie wären nicht hier. Von
weiter Voraus wurden jetzt Geräusche vernehmbar. Langsames,
schweres Tapsen von etwas Großem, das bedächtig den Fluren folgte.
Stöhnen und Tuten und seltsame Klick-Klack-Laute. Platschende
Geräusche, das Gurgeln von fließendem Wasser und das gleichmäßige
Rauschen dicker Flüssigkeiten durch verborgene Leitungen. Der Dampf
wurde noch dicker. Schließlich erreichten sie das, was einst das
zentrale Schwimmbecken gewesen war.
Es war riesig und mit chemisch behandeltem Wasser gefüllt, in dem
die größeren Fremdwesen schwammen. In seiner Glanzzeit wären
eintausend menschliche Badegäste nötig gewesen, um das Bekken ganz
zu füllen, aber jetzt bot es kaum einhundert großen und trägen
Gestalten Platz. Der Dampf und das Wasser verbargen die meisten
Details, wofür Douglas und seine Begleiter eindeutig dankbar waren.
Die Fremdwesen waren große, bläulich-graue Gestalten, knollenförmig
und in ihren Bewegungen wellenförmig, ausgestattet mit langen
stacheligen Tentakeln und ganzen Reihen großer, glotzender Augen.
Sie hätten lediglich als Hologramme an Parlamentssitzungen
mitwirken können. Noch weitere Fremdwesen teilten das Wasser mit
ihnen, trieben langsam mal hierhin, mal dorthin und richteten sich
auf, um die Besucher anzusehen. Man sah Schuppen und Panzer und
glatte Felle, Gliedmaßen und Schwänze und Ausbeulungen, die
keinerlei Sinn ergaben. Am Beckenboden trieben große Blütenmassen
mit übertriebenen Sinnesorganen dahin und zogen Wurzeln
nach.
All diese Fremdwesen konnten die Schwerkraft von Logres nur
ertragen, wenn das Körpergewicht vom Wasser gestützt wurde.
Angehörige weiterer Lebensformen verfolgten das Geschehen vom
Marmorboden rings um das Becken aus - teilweise humanoid, teilweise
reptilienartig, manche pilzartig und alle vom Dampf mit einem
feuchten Glanz überzogen. Ein paar Gestalten von solch
albtraumhaftem Zuschnitt waren darunter, dass sogar Douglas sie
nicht lange ansehen konnte. Manche hielten scharfe Klingenwaffen;
andere trugen Strahlenwaffen und ein Sammelsurium aus Geräten, die
Douglas nicht mal einordnen konnte. Lange standen die Menschen und
die Fremdwesen nur da und blickten einander an.
»Ich habe mich im ganzen Leben noch nie so wenig willkommen
gefühlt«, flüsterte Nina. »Und dabei bin ich ganz schön
herumgekommen.«
»Ihr seid unsere Gäste«, verkündete eine grob menschenähnliche
Gestalt, die sich ihnen durch den Dampf näherte und vor ihnen
stehen blieb. Sie war bedeckt von einander überlappenden
Silberschuppen, die an eine Panzerung erinnerten - und das galt
sogar für den lang gezogenen Kopf. Scharlachrote Augen brannten
bedrohlich hinter dem Silberhelm. »Ich bin Toch'Kra von den
Maggara. Ich spreche für die Gemeinschaft. Wer von Euch ist König
Douglas?«
»Das bin dann wohl ich«, sagte Douglas und schob Stuart sachte,
aber bestimmt zur Seite. »Nett habt Ihr es hier. Sehr ... feucht.
Einfallsreicher Gebrauch des Beckens, um der Schwerkraft
abzuhelfen.«
»Auch der Dampf hilft«, erläuterte Toch'Kra. »Wir pumpen ihn mit
den Elementen voll, die wir zum Überleben benötigen. Wir haben aber
keinen Begriff davon, was er alles mit Euren Lungen
anstellt.«
»Ist schon okay«, sagte Nina. »Wir bleiben nicht lange.«
»Ich war einst König«, sagte Douglas. »Aber Finn hat mir den Thron
gestohlen. Jetzt bin ich ein gejagter Flüchtling wie
Ihr.«
»Nicht ganz wie wir, Menschenkönig. Ihr zumindest könnt diesen Ort
verlassen und durch dir Stadt wandeln. Wir sitzen hier in der
Falle. Einst bildeten viele von uns das Personal der diversen
Fremdwesenbotschafter. Es erfüllte uns mit Stolz, nach Logres zu
kommen und am großen Abenteuer des Imperiums mitzuwirken. Wir
glaubten, diplomatische Immunität und Schutz zu genießen.
Stattdessen hat man uns gejagt wie Tiere, und wer das Pech hatte,
erwischt zu werden, wurde abgeschlachtet und dann verspeist oder
als Trophäe ausgestellt.«
»Ich bin sicher, Finn würde das Gleiche gern mit mir anstellen,
falls er könnte«, gab Douglas zu bedenken. »Wir stehen einem
gemeinsamen Feind gegenüber. Ich bin gekommen, um ein Bündnis gegen
ihn vorzuschlagen.«
Eine der großen Gestalten bäumte sich halb aus dem Wasser auf,
stieß tiefe tutende Laute aus und sank wieder zurück. Wasser
spritzte über den Bekkenrand und durchnässte die Beine der
Menschen. Sie hielten jedoch die Stellung. Sie wussten, dass sie
nicht schwach erscheinen durften. Toch'Kra deutete mit dem Kopf auf
die Gestalt.
»Er fragt: welchen Beitrag können wir schon leisten? Viele von uns
liegen im Sterben, weil ihnen ausreichend Nahrung und die richtigen
Spurenelemente fehlen. Aufgrund der drückenden Schwerkraft.
Aufgrund der geballten Wirkung feindseliger Umweltbedingungen. Und
manche verdorren einfach, so entfernt sind sie von Heimat, Hoffnung
oder Verstand. Den größten Teil der lebenserhaltenden Tech, die uns
hier am Leben erhalten sollte, mussten wir aufgeben, als wir aus
unseren Botschaften flohen. Warum seid Ihr hergekommen,
Menschenkönig? Ihr habt Eure eigenen Leute, die Eure Schlachten
schlagen. Die meisten von uns könnten außerhalb dieses Gebäudes
nicht überleben.«
»Ich bin gekommen, weil Ihr auch meine Leute seid und ich Euch
nicht im Stich lasse«, erklärte Douglas. »Das ist ebenso Eure
Rebellion wie unsere. Finn muss gestürzt und die alte Ordnung
wieder hergestellt werden. Dafür brauche ich jede Hilfe, die ich
nur finde. Nina. Nina?«
»Oh, ja!« Nina riss den Blick von der langen, krummen Gestalt los,
die langsam die Decke entlangkroch und dabei eine schimmernde Spur
zog, und konzentrierte sich auf Toch'Kra. »Ich baue gerade einen
unabhängigen Nachrichtensender und eine Verbindungs-Website auf.
Ich bin sicher, wir könnten auch kurze Meldungen an Eure
Heimatplaneten durchgeben. Könnte man dort Verstärkung oder
sonstige Hilfe schicken?«
»Nein«, antwortete Toch'Kra. »Den letzten Meldungen zufolge, die
unsere Botschaften enthielten, haben Menschenschiffe eine
Quarantäne über unsere Planeten verhängt. Niemandem wird es
gestattet, seinen Planeten zu verlassen. Und ständig schwebt die
Drohung der Materiewandler über ihnen. Wir wagen nicht, uns offen
zu bewegen, ehe Finns Macht nicht eindeutig gebrochen wurde. Wir
haben im Zuge unseres gesamten Kontakts mit der Menschheit gelernt,
ein praktisches und paranoides Volk zu werden.«
»Gebt uns nicht die Schuld an allem, was Finn tut«, sagte Stuart.
»Ich denke nicht, dass er noch ein Mensch ist. Falls er je einer
war.«
»Kämpft an unserer Seite!«, bat Douglas. »Gebt Euren Völkern ein
Beispiel. Nehmt Rache für das, was Euch angetan wurde. Was habt Ihr
schließlich zu verlieren? Was immer im Zuge der Rebellion
geschieht, es muss einfach besser sein, als sich hier draußen zu
verstecken und stückweise zu sterben.«
»Stimmt«, sagte das Fremdwesen. »Unser Leben hier ist nicht so
kostbar, dass wir scharf darauf sind, es zu verlängern. Aber wir
möchten es auch nicht ohne guten Grund wegwerfen. Wir erinnern uns
an Euch, König Douglas. Ihr hattet geschworen, uns zu schützen. Ihr
habt versagt. Warum sollten wir jetzt auf Euch hören?«
»Damals konnte ich nicht mal mich selbst beschützen«, wandte
Douglas ein. »Ich war nur ein Mann auf einem Thron und wurde von
Menschen verraten, denen ich wirklich vertrauen zu können glaubte.
Heute ist die Lage anders. Ich habe ein Anliegen und eine Armee,
und Ihr könnt daran teilhaben. Rache ... vermag manch alte Wunde zu
heilen.«
Das Fremdwesen musterte ihn ausgiebig mit seinem undeutbaren
Silbergesicht, wandte sich dann ab und redete mit den anderen
Fremdwesen im Becken und ringsherum. Das unübersetzte Bellen und
Quietschen fremder Sprachen erfüllte die dampftrübe Luft.
Schließlich wandte sich Poch'Kra wieder den Menschen zu.
»Selbst wenn wir bereit wären zu kämpfen, wie hilfreich könnten wir
schon sein, wenn man bedenkt, dass die meisten von uns unter Euren
Umweltbedingungen nicht überleben können?«
Douglas nickte nachdenklich, während er innerlich schon breit
grinste. Er hatte sie überzeugt, auch wenn sie es noch nicht
wussten. Sie hatten aufgehört, nach dem Warum zu fragen, und waren
zum Wie übergegangen. »Ihr könnt eine ganze Menge tun: Ihr vermögt
viele Orte aufzusuchen, die Menschen unzugänglich bleiben, wie
Wartungstunnel, Kanalisationszugänge, Abfallventile und all die
anderen Orte, wo Menschen nur mit schwerer Lebenserhaltungstech
überleben. Und man findet hier im Slum Leute, die Euch alles bauen
können, was Ihr an unterstützender Tech braucht, um Euch frei zu
bewegen. Ihr liefert die Pläne, sie bauen die Tech. Manche Leute
hier konstruieren einfach alles, besonders wenn es illegal ist.
Also, was sagt Ihr? Macht Ihr mit?«
»Man trifft hier viele Lebensformen an«, sagte Toch'Kra. »Wir
verfolgen nicht alle dieselben Ziele und denken nicht mal in
denselben Begriffen. Manche von uns sind den anderen so fremd, wie
wir alle für Euch sind. Aber wir diskutieren über Euer Anliegen.
Viele von uns begreifen das Bedürfnis nach Vergeltung, haben es
gelernt, das zu tun. Ich denke, dass wir ... Euch folgen werden,
wenn die Diskussion abgeschlossen ist, König Douglas.«
Danach war im Grunde nicht mehr viel zu sagen, also verbeugte
Douglas sich höflich vor Toch'Kra, dann vor dem Becken, und führte
seine Begleiter aus der Badeanstalt. Hinter ihnen wurden die
Geräusche einer lautstarken Debatte in einem Dutzend nicht
menschlicher Sprachen vernehmlich. Nina schauderte kurz..
»Ich schwöre, dass ich nie wieder Meeresfrüchte esse!«
Die bedeutende Esperin Diana Vertue, einst als Johana Wahn bekannt, einst tot, aber wieder zum Leben erweckt, schritt die Straßen von Parade der Endlosen entlang, als gehörten sie ihr, und hielt dabei Kurs auf den Slum. Sie sandte dabei eine starke telepathische Abstoßung aus, sodass alle Welt alles Mögliche anblickte, nur nicht sie. Vor der Militanten Kirche lungerte eine Schar Friedenshüter herum. Bosheit blitzte in ihren Augen. Sie hatten Langeweile und waren auf Ärger erpicht. Diana fühlte sich versucht, ihnen etwas urkomisch Entsetzliches anzutun, entschied sich aber widerstrebend dagegen. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Jedenfalls noch nicht. Die Stadt war überhaupt nicht mehr so, wie sie sie von früher kannte, und die Atmosphäre auf den Straßen gefiel ihr nicht. Ein Mantel der Resignation, der Furcht, des Schmerzes und der Unterdrückung hing über allem, ausgestrahlt von einer Million ungeübter Gehirne, und doch war noch mehr daran.
Diana legte in den Siegesgärten eine Pause ein und blieb vor den Statuen und Gräbern Jakob Ohnesorgs und Ruby Reises stehen. Die Statuen ähnelten gar nicht besonders den Personen, die sie persönlich gekannt hatte, aber das war sie inzwischen gewöhnt. Die wenigen Darstellungen ihrer selbst, die sie zu Gesicht bekommen hatte, waren ausgesprochen lächerlich ausgefallen. Nie im Leben hatte sie eine solche Oberweite gehabt. Sie seufzte leise, während sie den Erinnerungen nachhing. Es lag lange zurück, dass sie, Jakob und Ruby an Bord der alten Todtsteltzerburg gegangen waren, der uralten steinernen Burg, die auch ein Raumschiff war, um in die lange verzweifelte Schlacht gegen die Armeen von Shub zu ziehen und anschließend gegen die geballten Streitkräfte der Neugeschaffenen. Und vor auch schon sehr langer Zeit hatte Diana die beiden kalt und mausetot auf dem kalten Steinfußboden vorgefunden, Seite an Seite, wie sie im Leben gewesen waren. Die forensischen Indizien deuteten daraufhin, dass sie sich gegenseitig umgebracht hatten, aber Diana Vertue verschwieg das. Die Leute brauchten nicht jedes Detail über ihre Helden zu erfahren.
Sie lächelte kurz. Sie hätte nie gedacht, dass sie den dröhnenden alten Gauner und die kaltherzige Kopfgeldjägerin jemals vermissen würde, aber beide hatten zu ihrer Zeit einige erstaunliche Leistungen vollbracht. Die Menschen von heute wirkten ... irgendwie kleiner. Weniger farbenfroh. Diana konzentrierte sich, und ein Regen aus Rosenblättern fiel lautlos auf die Statuen. Plötzlich spürte ihr offener Verstand das Echo einer anvertrauten Gegenwart, ein Gefühl von Macht in der Luft, deren Auftritt noch gar nicht lange zurücklag. Abrupt drehte sie sich um.
»Owen?«, fragte sie erstaunt.Aber natürlich erhielt sie keine Antwort. Owen Todtsteltzer lebte seit zweihundert Jahren nicht mehr, und allein deshalb war das Imperium schon weniger glanzvoll. Diana hatte den Todtsteltzer immer bewundert, seine Ehre, seinen Mut und seinen trockenen, sardonischen Humor. Natürlich hatte sie es ihm nie eingestanden. Ihm sollte schließlich nicht der Kopf schwellen. Aber nachdem er dahingegangen war, hatte sie sich gewünscht ... hatte sie sich gewünscht, sie hätte sich wenigstens einmal mit ihm zusammensetzen und reden können. Sie gab sich gern der Illusion hin, dass dabei viele Gemeinsamkeiten zutage getreten wären. Sie vermisste ihn; aber das taten schließlich alle.
Sie erinnerte sich nach wie vor an die machtvolle nichtmenschliche Stimme, die von überallher und nirgendwoher erklungen war und ihnen allen berichtet hatte, dass Owen Todtsteltzer tot war. Tot wie Jakob und Ruby. Abgehärtete Soldaten, die sich allem gestellt hatten, was Shub nach ihnen warf, und dabei nie ein einziges Mal zusammengezuckt waren, standen daraufhin rings um Diana und weinten sich die Seele aus dem Leib, weil sie den einen Mann verloren hatten, den sie alle verehrten. Der der Beste von ihnen allen gewesen war.
Er hatte die Rebellion ermöglicht. Er hatte den Sieg ermöglicht. Obwohl er von jeher wusste, dass Helden jung und blutig und fern der Heimat sterben.
Und doch ... seine Gegenwart schien die Siegesgärten zu durchdringen, obwohl er hier nicht begraben lag. Er war hier gewesen, und es lag nicht lange zurück. Diana wusste das, so wie sie den eigenen Namen kannte. Sie lächelte kurz, und das Herz ging ihr auf. Sie selbst hatte einen Weg aus dem Totenreich zurück gefunden; vielleicht war ihm das auch gelungen. Der Todtsteltzer hatte immer im letzten Augenblick, wenn niemand noch damit rechnete, ein Wunder im Ärmel gehabt. Diana verließ die Siegesgärten und setzte ihren Weg zum Slum fort, und Herz und Schritte waren nun viel beschwingter. Der ganze Tag und ihr Auftrag fühlten sich jetzt besser an. Sie plante, sich mit Douglas Feldglöck zusammenzuschließen und ihn zurück zur Größe zu führen. Er brauchte sie. Selbst wenn er das noch nicht wusste.
Der überwältigende Druck der niedergeschlagenen Geister der Stadt hing immer noch wie eine dunkle Wolke über ihr, aber Diana Vertue lernte allmählich hindurchzublicken. Sie, die von der Mater Mundi berührt und verwandelt worden war, war zu ihrer Zeit eines der machtvollsten lebenden Espergehirne gewesen, und jetzt, nach ihrer Rückkehr, meldete sich die alte Kraft schnell zurück. Seltsame Lichter brannten in ihrem Bewusstsein wie Papierlaternen mit Schreckensgesichtern: die Elfen, die in der langen Nacht der Seele herumstreunten. Elf war zu Dianas ursprünglichen Lebzeiten ein stolzer Begriff gewesen, eine Macht der Gerechtigkeit, und Diana hasste die neuen Elfen nur umso mehr - hatten sie doch diesen Begriff in eine Obszönität verwandelt. Überall spürte Diana Sklavengehirne, unterdrückte und lautlos schreiende Metischengeister, deren Körper von den Elfen aus der Ferne gesteuert wurden. Diana hatte mit diesem Phänomen gerechnet, aber sie fand die schiere Anzahl atemberaubend. Sie war ziemlich sicher, dass Imperator Finn von dieser hohen Zahl von Sklaven in seiner Hauptstadt nichts ahnte. Vielleicht sollte Diana ihm eine Nachricht schicken.
Es war klar, dass sie keinen Augenblick zu früh von den Toten zurückgekehrt war. Die Elfen weiteten ihren Einfluss aus und wurden stärker. Je mehr Leute sie beherrschen und aussaugen konnten, desto machtvoller wurden ihre Gehirne. Diana musste sich fragen, ob Finn das wusste. Sie verstärkte für alle Fälle ihre Gedankenschilde. Auf keinen Fall durfte der Feind erfahren, dass sie zurück war; jetzt noch nicht.
Sie blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete interessiert das Angebot an Videoschirmen, wo gerade der reguläre (mit Finns Einverständnis handelnde) Nachrichtenkanal von einer Piratensendung verdrängt wurde, die jemand aus dem Slum sendete. Nina Malaperts strahlendes Gesicht ersetzte das nichtssagende Lächeln der regulären Sprecherin, und Ninas Stimme ertönte laut und glücklich und völlig unbesorgt, wie der Hauch einer frischen Brise in einem Schlachthof.
»Hallo wieder mal, ihr Lieben! Hier spricht Nina Malapert, Stimme und Gesicht der bevorstehenden Rebellion! Wisst ihr was? König Douglas ist zurück, und Mann, ist der sauer auf Finn! Derzeit stellt der wahre König eine Armee auf, die den so genannten Imperator vom geraubten Thron zerren wird, und der König möchte euch mitteilen, dass die Sache sehr bald in Gang kommt. Rechnet mit offenen Ausbrüchen von Abspaltung, Rebellion und einfach nur schlichter Verrücktheit auf ganz Logres und besonders in Parade der Endlosen. Die Rebellion hat begonnen, so viel ist offiziell, und ihr habt als Erste davon erfahren! Und hier folgt jetzt ein ganzer Schwung von Nachrichten, die ihr nach Ansicht Finns und seiner Kreaturen nicht erfahren solltet.«
An dieser Stelle folgte eine lange Reihe von Nachrichten. Sie drehten sich um Dinge, die Finn angeordnet hatte oder zu tun plante, und das meiste davon sollte eigentlich streng geheim bleiben. Manches davon überraschte sogar Diana. Weitere Meldungen folgten und drehten sich um die Dinge, die schiefgingen, weil man Finn nicht mit alltäglichen Problemen belasten konnte und sich seine Leute dementsprechend auch nichts daraus machten. Und noch mehr Meldungen über all den Murks und die allgemeine Unfähigkeit von Finns Herrschaft. Diana fing gerade an, richtig Spaß zu haben, als Ninas Gesicht und Stimme plötzlich von der überlegenen Tech des Nachrichtensenders vom Bildschirm gefegt wurden. Eine Mitteilung wurde eingeblendet: Das Programm wird in Kürze fortgesetzt!, also setzte Diana ihren Weg zum Slum fort.
Es war gut zu wissen, dass Douglas Feldglöck schließlich doch seinen königlichen Arsch hochbekam und wieder tätig wurde. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie seiner Motivation erst einen Kickstart verpassen musste, und einige ihrer Ideen dazu waren besonders unerfreulich ausgefallen. Aber immerhin hatte sie als Diana Vertue oder als Johana Wahn nie gezögert, das Nötige zu tun - egal wie abscheulich, egal wer vielleicht zu Schaden kam, und sei es sie selbst. Sie hatte ihre Lektionen in den Folterzellen des alten Imperiums gut gelernt, damals in Silo Neun, auch die Hölle des Wurmwächters genannt.
Die Rebellion brauchte ein Leitbild, und Diana wusste von jeher, dass sie selbst das nicht verkörpern konnte. Sie war vielleicht eine offizielle Legendengestalt, aber die Leute brauchten einen Anführer, in dessen Gesellschaft sie sich wohlfühlten, und vorzugsweise einen, der nicht das Wort Wahn im Namen trug. Niemand zweifelte an Dianas kämpferischen Fähigkeiten, aber sie gab jederzeit bereitwillig zu, dass sie den Umgang mit Menschen nicht zur Vollendung entwickelt hatte. Nein, Douglas machte das bestimmt prima. Wenn man ihn richtig unterstützte und führte.
Sie überquerte zuversichtlich die Grenze zum Slum, und die Wachleute der Militanten Kirche, die dort Dienst schoben, unternahmen nicht mal den Versuch, sie aufzuhalten. Sie hatte den Abstoßungseffekt aufgehoben, damit man sie sehen konnte, und ihre Kraft knisterte rings um sie in der Luft. Die Wachleute konnten gar nicht schnell genug Reißaus nehmen. Manche bekreuzigten sich sogar im Laufen. Auch etliche unschuldige Bürger gaben Fersengeld, auf beiden Seiten der Grenze. Diana Vertue lächelte. Schön zu wissen, dass sie immer noch Eindruck machte. Sie blieb stehen und blickte sich um.
Sie musste jetzt eine andere Art von Eindruck machen. Etwas Dramatisches, passend für die Rückkehr einer alten Legende. Sie brauchte nur einen Augenblick, um mit ihren suchenden Gedanken einen Elfensklaven zu entdecken, einen unscheinbaren kleinen Mann, der unauffällig vor einer Tür herumlungerte. Diana ging schnurstracks auf ihn zu, hielt gedanklich seine Beine fest, als er ausreißen wollte, und pustete dann den lenkenden Esper direkt aus seinem Gehirn. Das Elfenbewusstsein ergriff schreiend die Flucht, und der nicht mehr besessene Mann fiel zitternd und schluchzend auf die Knie, war aber wieder ganz er selbst. Er versuchte, plappernd seinen Dank auszudrücken, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, aber Diana hatte dafür keine Zeit. Weitere Gedankensklaven näherten sich. Sie spürte sie überall ringsherum, spürte ihre Gedanken, die wie wütende Wespen summten. Es waren wirklich eine ganze Menge, die sich ihr näherten. Diana lächelte. Sie war in der richtigen Stimmung für eine solide Trainingseinheit.
Besessene Männer und Frauen stürzten sich von
allen Seiten auf sie, die Gesichter verzerrt von der Wut und den
Leidenschaften der lenkenden Elfen. Manche schwangen scharfe
Waffen, während andere nur die bloßen Hände einsetzen konnten, aber
sie alle hatten Mord im Elfensinn. Diana Vertue war ihr ältester
Feind, und sie würden vor nichts zurückschrecken, um sie erneut zu
töten. Sie schubsten andere Leute aus dem Weg, schlugen blindlings
zu, die Blicke starr auf Diana gerichtet, dir sie gelassen lächelnd
erwartete. Diana wartete ab, bis die Besessenen sie praktisch schon
erreicht hatten, und rief ihre Macht ab. Psikräfte wogten und
prasselten ringsherum über der Straße. Dianas Gegenwart erblühte
wie eine dornige Rose. Sie hatte sich früher geistig mit den KIs
von Shub verbunden und diese wieder zu Verstand gebracht. Sie hatte
gegen die Neugeschaffenen gekämpft und sie zum Stehen gebracht. Sie
war verraten und ermordet worden, hatte in der Überseele
weitergelebt und war jetzt wieder da, um sich unerledigten Aufgaben
zu widmen. Sollten die Gedankensklaven ruhig kommen! Sollten sie
ruhig alle kommen. Sie war Diana Vertue; sie war zurückgekehrt und
würde diesen erbärmlichen neuen Elfen zeigen, was wirkliche Macht
war.
Nur erhielt sie niemals die Chance dazu. Die Sklaven stürmten die
Straße entlang und brodelten aus den Seitenstraßen rings um Diana
hervor. Sie riefen mit wütenden, bösen Stimmen nach ihr und
prahlten mit den schrecklichen Dingen, die sie ihr antun wollten.
Diana Vertue weckte die eigene Macht und hielt dann verblüfft inne,
als ein Dutzend junge Frauen, angetan mit Seidengewändern in
leuchtenden Farben, aus dem Nichts heraus auftauchten. Sie
materialisierten in einem schützenden Kreis um Diana, und Blitze
knisterten in ihren Händen. Sie trugen schwarze Rosen in den Haaren
und hatten sich Stammessymbole in die Gesichter gemalt. Sie warfen
sich alle in die gleiche eindrucksvolle Pose und funkelten die
benommenen Gedankensklaven hochmütig an. Dann winkten die Frauen
mit großer Geste, und ein explosiver Psisturm tobte die Straße
hinauf und hinab, riss Gedankensklaven mit, schleuderte ihre
hilflosen Gestalten wie Stoffpuppen herum. Die Elfengeister schrien
vor Wut und Angst, vermochten der Macht der Neuankömmlinge jedoch
nichts entgegenzusetzen. Die zwölf Frauen winkten fast verächtlich,
und die besitzergreifenden Geister wurden aus den gestohlenen
Körpern hinausgeworfen und verklangen heulend in der Nacht.
Der Psisturm legte sich langsam, und die Luft beruhigte sich. Überall entlang der Straße saßen über hundert Männer und Frauen zitternd und weinend da und hielten einander, waren endlich wieder frei. Die Luft wirkte so sauber und straff wie nach einem Gewitter. Die zwölf jungen Frauen drehten sich zu Diana um. Alle grinsten breit und schienen sehr zufrieden mit sich. Diana nickte langsam.
»In Ordnung, ich erkläre mich offiziell für
beeindruckt. Wer zum Teufel seid Ihr?«
Eine der Frauen trat vor. »Ich bin Alessandra Duquesne, und wir
sind die Wahnschlampen! Verteidigerinnen des Rechts, Rächerinnen
der Unterdrückten und erstklassige Arschtreterinnen! Wir haben
unser Image nach Eurer Legende gestaltet und geschworen, Euren
Namen durch ruhmreiche Taten zu ehren!« Sie brach kurz ab, um Luft
zu holen, und Diana nutzte diese Pause flink. Sie bemerkte es, wenn
eine lange Rede ihren Anfang nahm.
»Ja, ich habe von Euch gehört. Eigensinnige junge Störenfriede, zu
impulsiv, um der Anleitung der Überseele zu folgen, und viel zu
mächtig, als gut für Euch ist. Ich dachte, Ihr wärt alle mit Neue
Hoffnung auf dem Weg des Ikarus abgereist und unterwegs nach
Nebelwelt?«
Die Wahnschlampen wechselten eingebildete Blicke und kicherten.
»Wir sind nie wirklich mit der Überseele klargekommen«, sagte
Alessandra. »Wir sind von jeher zu individualistisch und zu stolz
darauf, um es uns im Massenbewusstsein gemütlich zu machen. Wir
haben die Überseele verlassen und den Slum aufgesucht, kurz bevor
Neue Hoffnung Kurs auf den Orbit und das Exil nahm. Wir wollten
bleiben und kämpfen. Man fand hier schon immer abtrünnige Esper, zu
verformt oder seltsam für das Massenbewusstsein. Wir passten prima
dazu. Im Gegenzug für die Aufnahme stöbern wir Gedankensklaven auf
und pusten die besitzergreifenden Geister aus ihnen heraus, aber
wir haben noch nie so viele davon auf einem Haufen gesehen! Die
möchten Euch wirklich tot sehen, wie?«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Diana unverblümt.
Die Wahnschlampen musterten einander überrascht. »Na ja«,
antwortete Alessandra, »wir möchten Eure Armee sein! Wir verehren
schon immer Euer Andenken, Eure Philosophie gegenüber den Bösen,
die man mit ›Nimm keine Gefangenen!‹ und ›Bring sie alle um und
lass Gott sie sortieren!‹ umreißen könnte. Seit wir erfuhren, dass
Ihr wieder leibhaftig unter uns weilt, warten wir darauf, dass Ihr
hier auftaucht. Wir möchten mit Euch zusammenarbeiten und in Eurem
Namen Schrecken und Verwüstung verbreiten! Die Rebellion nimmt hier
ihren Anfang! Na ja, im Grunde hat sie schon begonnen, und Douglas
Feldglöck leitet sie, aber jetzt, da Ihr zurück seid, werdet
natürlich ...«
»Nein!«, entgegnete Diana sofort. »Der Feldglöck ist der König. Er
führt uns. Ich bin gekommen, um ihn zu unterstützen, und falls Ihr
mit mir zusammenarbeiten möchtet, werdet Ihr meinem Beispiel
folgen.«
Die Wahnschlampen dachten darüber nach und zuckten dann die
Achseln, taten dies praktisch synchron. Diana blickte von einem der
eifrigen Gesichter zum nächsten. War sie jemals so jung gewesen, so
fanatisch? Sie seufzte lautlos. Sie war nicht ganz überzeugt davon,
dass sie die Unterstützung einer Schar ambitionierter
Jungdraufgänger brauchte oder wollte, aber langfristig richteten
sie wahrscheinlich weniger Schaden an, wenn sie sie im Auge
behielt. Also schien es, dass sie jetzt eine persönliche Armee
hatte, ob sie nun wollte oder nicht. Flüchtig überlegte sie, ob
Owen jemals mit solchen Problemen hatte kämpfen müssen. Immerhin
war sie froh, dass sie Douglas jetzt auch etwas bieten konnte, und
zwar etwas anderes als ihre ziemlich umstrittene Legende.
»Wir wissen, wo man noch mehr Gedankensklaven findet!«, erklärte
Alessandra und sprang fast an Ort und Stelle auf und nieder, bewegt
von gänzlich unbeherrschter Aufregung. »Treten wir doch noch ein
paar mehr Elfen in den Hintern, ehe wir Douglas
aufsuchen!«
»Ja«, sagte Diana. »Je mehr Leute wir von der Besessenheit durch
Elfen befreien, desto besser.«
»Das auch!«, räumte Alessandra ein.
Und so machten sich Diana und ihre neuen Freundinnen, die Wahnschlampen, auf den Weg, um endlich König Douglas und seine Leute zu treffen. Man kam heutzutage nur schwer zu ihm durch, und Diana musste ein paar kleinere Wundertaten vollbringen, um richtig Aufmerksamkeit zu finden, aber sobald den Leuten klar wurde, dass sie wirklich die war, die sie zu sein vorgab, konnten sie sie gar nicht schnell genug weiterreichen. Umso besser. Niemand hielt Diana Vertue auf, wenn sie richtig in Fahrt war. Douglas, Stuart und Nina empfingen sie im eigenen Hotelzimmer, das sich ungeachtet seiner Enge irgendwie zum Zentrum der Rebellenaktivität entwickelt hatte. Die Wahnschlampen hielten vor der Tür Wache und schüchterten die regulären Wachleute ein. Alle hatten schon von den Wahnschlampen gehört, die, wenn sie richtig loslegten, mehr Sachschäden anrichteten als ein Erdbeben. Man munkelte davon, Geld zu sammeln, damit sie loszogen und einem anderen Planeten halfen. Irgendeinem anderen Planeten.
Diana musterte die drei zweifelnden Gesichter, die ihr über den Tisch entgegenblickten, und lächelte entspannt. »Hallo, ich bin Diana Vertue, und Ihr braucht meine Hilfe.«
»Ja«, räumte Douglas ein. »Wenn Johana Wahn auf der Bühne erscheint, brauchen die Leute normalerweise Hilfe.«
»Ich benutze diesen Namen jetzt schon seit gut über einem Jahrhundert nicht mehr«, stellte Diana fest und bedachte ihn mit ihrem besten Stirnrunzeln. »Und falls Ihr klug seid, tut Ihr es auch nicht. Für den Fall, dass Ihr es noch nicht wisst: der Slum ist überall mit Gedankensklaven infiziert, die dem Imperator alles melden, was Ihr tut. Ihr verfügt hier nicht über genügend starke Espergehirne, um diese Leute zu entdecken, geschweige denn, sich mit ihnen zu befassen. Also braucht Ihr mich.«
Douglas nickte langsam. »Und diese entsetzlichen jungen Damen, die derzeit draußen auf dem Treppenabsatz herumlungern ?«
»Sie nennen sich die Wahnschlampen, um mich zu ehren. Und nein, sie haben mich nicht gefragt. Es sind abtrünnige Esper. Sie meinen es gut.«
»Wahnschlampen«, sagte Nina. »Flößt einem
nicht schon der Name Vertrauen ein?«
»All die Legendengestalten, die hätten zurückkehren und mir helfen
können ... und ich kriege Johana Wahn!«, sagte Douglas schwer. »Das
soll keine Beleidigung sein ... Diana. Ich sage Euch was: Ich muss
in einer Stunde zu einer bedeutsamen Versammlung sprechen. Warum
kommt Ihr und Eure Leute nicht einfach mit, und falls Ihr
irgendwelche Gedankensklaven in der Menge entdeckt, zeigt mir, wozu
Ihr fähig seid. Okay?«
Dianas Gesicht verriet, dass das in keiner Hinsicht okay war, aber
sie nickte kurz. Selbst Legendengestalten müssen sich beweisen. Sie
wartete mit den Wahnschlampen in der Eingangshalle des Hotels, und
die jungen Damen amüsierten sich derweil, indem sie mit ihren
psychokinetischen Kräften Rattenkrocket spielten, bis es Zeit für
Douglas und seine Leute wurde, zur Versammlung zu gehen. Die
Wahnschlampen nickten Douglas fröhlich zu, aber dieser tat sein
Bestes, um ihre Blicke nicht zu erwidern. Sie bereiteten ihm
Sorgen. Sie bildeten einen schützenden Ring um ihn, während die
Gruppe den Straßen folgte. Jubelnde und winkende Menschen
versammelten sich am Wegesrand, und Douglas lächelte und winkte
königlich zurück. Stuart behielt die Zuschauer sorgfältig im Blick,
die Hand immer dicht an der Pistole. Nina filmte das alles mit
ihrer Schwebekamera, um es später zu senden. Diana ignorierte die
Umgebung und schonte ihre Kräfte. Sie wusste, dass die eigentlichen
Probleme bei der Versammlung auftreten würden, wo die Elfen den
meisten Schaden anrichten konnten.
Die Versammlung fand auf einem offenen Platz statt, und eine große
Menge hatte sich schon versammelt, die Douglas Feldglöck zuhören
wollte. Die Wahnschlampen öffneten einen Korridor durch die Menge,
damit Douglas seinen Autritt hinlegen konnte, und er marschierte
forsch hindurch und sprang auf die schlichte Holzbühne. Die Menge
jubelte laut, und Douglas baute sich stolz vor ihr auf, jeder Zoll
ein König im Exil. Er wartete nicht mal ab, bis sich der Jubel
gelegt hatte, um mit seiner Rede zu beginnen. Er sprach gut und
fließend, machte den Zuschauern Vorhaltungen, machte ihnen jedoch
auch Mut und stachelte sie zur Rebellion an. Er war in der Lage,
über die Armut und das harte Leben im Slum zu reden, weil er es aus
eigener Erfahrung kannte, und er konnte vom Verrat und der Bosheit
des Imperators reden, weil er sie auch am eigenen Leib erlebt
hatte. Seine Rede zeichnete sich vielleicht nicht durch Lässigkeit
und Schliff aus, wie Anne Barclay sie ihr verpasst hätte, aber
niemand zweifelte daran, dass jedes Wort Douglas' von Herzen kam.
Die Menschen mussten sich wehren, sagte er, mussten sich erheben,
weil die Lage sonst einfach nur schlechter würde, weil schon viel
zu viele Menschen ungerecht litten, weil es die Pflicht und das
Recht der Menschen war, sich zu erheben. Wenn
man mit dem Rücken an der Wand steht, kann man nur noch nach vorn
gehen, erklärte er, und die Menge brüllte seinen Namen wie
einen Schlachtruf. Schon bald applaudierten sie nach jeder seiner
Aussagen, als wäre sie ein Glaubensartikel.
Die Wahnschlampen hielten derweil die Bühne umstellt und ließen
niemanden hindurch, während Diana unauffällig ihre Bahn durch die
Menge zog und sich still den Standort jedes einzelnen
Gedankensklaven merkte, ohne dass diese etwas davon bemerkten. Sie
infiltrierten die Menge langsam, einzeln und zu zweit, und
lächelten und applaudierten, um nicht aufzufallen - aber andere
blickten aus ihren kalten Augen. Als sie glaubten, genug von ihnen
wären zur Stelle, legten sie damit los, Douglas' Rede mit Buhrufen
und Pfiffen zu unterbrechen. Ein paar versuchten, Douglas mit
Beleidigungen und Obszönitäten niederzuschreien. Die übrigen
Zuschauer reagierten nervös und wütend, waren aber noch nicht
bereit, selbst zu handeln. Sie blickten zu Douglas hinauf, um zu
sehen, was er unternahm. Und Douglas hob einfach nur die Stimme,
brachte die Zwischenrufer mit rauer und gewandter Schlagfertigkeit
zum Schweigen und redete weiter. Im Parlament hatte er schon
Schlimmeres erlebt.
Die Gedankensklaven wurden still, verbanden sich gedanklich
miteinander und führten einen geballten telepathischen Angriff
durch, mit dem sie alle überraschten. Gewöhnlich waren die Elfen
nicht stark genug, um ihre Macht durch die Gedankensklaven zu
kanalisieren. Die Menschen stolperten vorwärts und rückwärts und
umklammerten die Köpfe unter einem beißenden Sturm unerträglicher,
schreiender Gedanken. Üble Anblicke und Empfindungen überluden die
Sinne der Menschen und tauchten sie in eine Hölle, und die Elfen
genossen jeden einzelnen Augenblick. Eine Gruppe Gedankensklaven,
die der Bühne am nächsten standen, nutzten die Gelegenheit zu einem
direkten Angriff auf Douglas. Sie gingen mit gezückten Schwertern
auf ihn los, aber Diana hatte genug gesehen. Sie schlug mit den
eigenen Gedanken auf dem ganzen Platz zu, und der telepathische
Angriff der Elfen brach abrupt ab, als sämtliche Gedankensklaven
wie ein Mann zusammenbrachen. Diana stellte die von ihnen, die
direkt an der Bühne waren, auf die Köpfe und schüttelte sie, um
eine ordentliche Show zu zeigen, ehe sie die besitzergreifenden
Geister hinausfegte. Der Zustand der Menge normalisierte sich
rasch, und sie blickten sich nach ihrer Retterin um. Douglas
lächelte Diana von der Bühne aus an. »In Ordnung, Ihr habt die
Stelle.«
Der Imperator Finn Durandal war überhaupt nicht glücklich darüber, dass man ihn zu so früher Morgenstunde aus dem Schlaf riss, aber da lediglich die Anführer der Elfen diese spezielle Privatnummer kannten, vermutete er, dass er den Anruf lieber entgegennehmen sollte. Irgendwie wusste er gleich, dass es keine guten Nachrichten sein würden. Er saß zusammengesunken auf der Bettkante, gähnte und rieb sich die Augen. Dann schaltete er endlich den Monitor ein, der in den Nachttisch eingebaut war.
»Es sollte lieber wichtig sein!«, knurrte er. Das finstere Gesicht auf dem Bildschirm war ihm unbekannt, aber das überraschte ihn nicht. Die Anführer der Elfen zeigten nie ihre wahren Gesichter, sondern meldeten sich immer nur über ihre Gedankensklaven zu Wort. Selbst nach all dieser Zeit hatte Finn immer noch keine Ahnung, wer die Anführer der Elfen tatsächlich waren - eines der vielen Dinge, die ihm in jüngster Zeit Sorgen bereiteten. Das Gesicht des Besessenen wirkte eindeutig nervös, was Finn etwas versöhnte. Falls er keine gute Zeit hatte, sollte auch niemand sonst sie haben.
»Wir wurden angegriffen«, erklärte der Elfenführer rundheraus. »Ein übersinnlicher Angriff von unglaublicher Stärke. Viele unserer Leute haben sich noch immer nicht ganz erholt.«
»Wer zum Teufel könnte Euch so etwas antun?«,
fragte Finn.
»Diana Vertue ist im Slum aufgetaucht.«
Finn blinzelte ein paar Mal. »Das ist ein guter Trick«, räumte er
schließlich ein, »wenn man bedenkt, dass sie seit über hundert
Jahren tot ist.«
»Das hat für sie keinerlei Bedeutung. Sie war ein Avatar der Mater
Mundi, und sogar die Überesper fürchteten sich vor ihrer Macht.
Diana Vertue ist zurückgekehrt und hat sich auf die Seite des
Feldglöcks geschlagen. Ihr hättet uns schon längst gestatten
müssen, ihn umzubringen.«
»Möglicherweise«, sagte Finn. »Aber ich habe mir so sehr gewünscht,
dass er erst leidet. Na gut, bringt ihn um, falls es Euch glücklich
macht.«
»Das können wir nicht mehr. Er steht unter dem Schutz Diana Vertues
und ihrer Armee aus abtrünnigen Espern. Sie haben uns schon
Hunderte Gedankensklaven gekostet Unsere Präsenz im Slum wurde
nahezu ausgelöscht! Ihr müsst etwas unternehmen!«
»Ich werde etwas unternehmen«, erklärte Finn ein wenig gereizt.
»Ich habe ohnehin nie geglaubt, dass Ihr und Eure Gedankensklaven
ausreichen würdet, um Douglas an der Organisation eines Aufstands
zu hindern, sobald er erst einmal seine Apathie abgeschüttelt hat.
Er konnte schon immer gut mit Worten umgehen, eine gute Ergänzung
zu seiner verdammten charismatischen Persönlichkeit. Also habe ich
schon meine eigene kleine Armee speziell für den Kampf im Slum
geschult. Ich wusste von Anfang an, dass ich mich eines Tages mit
diesen undankbaren kleinen Bastarden würde befassen müssen. Der
Slum ist schließlich doch zu gefährlich geworden, als dass ich ihn
fortbestehen lassen dürfte. Bislang widerstrebte mir, sein
Todesurteil zu unterzeichnen ... zum Teil deshalb, weil immer noch
die Chance bestand, dass ich die speziellen Talente der Leute dort
eines Tages erneut brauchen würde, und zum anderen, weil ich ein
sentimentaler alter Softie bin, aber ... Schafft Eure restlichen
Leute aus dem Slum. Ich gedenke, meine allerbesten Fanatiker
hineinzuschicken, um das Rattennest mit Feuer und Stahl zu säubern.
Ich lasse die Häuser abreißen und einen Berg aus Schädeln
errichten.«
»Das solltet Ihr schnellstens tun«, meinte der Elf.
Der Bildschirm wurde dunkel, und Finn streckte ihm die Zunge
heraus. Er seufzte, stand auf und klingelte nach seinen Dienern,
damit sie ihn ankleideten. Sinnlos, jetzt wieder schlafen zu
wollen. Nicht, wenn er Gemetzel und Verwüstung zu planen hatte. Er
bestellte eine Reihe von Anrufen bei seinen Generälen in der
Militanten Kirche. Falls er nicht schlief, sollte es auch sonst
niemand tun.
Die Reine Menschheit und die Militante Kirche hatten sich zu einer einzigen Kirche und einer einzigen Philosophie unter der wohlwollenden Leitung des sehr praktisch gesinnten Joseph Wallace entwickelt. Die Stoßtruppen des Imperiums beteten inzwischen Finn persönlich an, und die natürliche Auslese unter den Getreuen hatte, unterstützt durch viele Säuberungen, eine Armee aus unerbittlichen Eiferern und fanatischen Soldaten geschaffen. Sie waren bereit, für Finn zu sterben, obwohl sie es natürlich bevorzugten, für ihn zu töten. Er war der Erwählte, der Verteidiger der Menschheit, ihr Tag und ihre Nacht. Und sie waren seine Kampfhunde.
Sie waren zu Tausenden, bis an die Zähne bewaffnet, und in ihren Köpfen brodelten Gefechtsdrogen und virulente Propaganda. Sie waren die Rechtschaffenen, und sie trugen weder Erbarmen noch Mitgefühl noch sonst eine derartige Schwäche in sich. Sie sammelten sich an der Grenze des Slums und marschierten durch alle Zugänge gleichzeitig ein, sangen dabei ihre entsetzlichen Hymnen und brachten jeden um, den sie sahen. Sie schossen Männer, Frauen und Kinder nieder und erschlugen jeden, der nicht schnell genug davonlief. Sie legten Brände und brachten Sprengsätze in Häusern an. Ihr Herr hatte ihnen gesagt, dass kein Stein auf dem anderen liegen bleiben und nicht eine einzige heidnische Seele am Morgen des nächstens Tages noch leben sollte. Ihnen war es egal; sie zögerten nicht. Sie taten Gottes Werke und es fühlte sich schön an, so schön!
Männer, Frauen und Kinder lagen tot oder sterbend auf den Straßen, und die Soldaten der Militanten Kirche marschierten einfach über sie hinweg. Brände tobten hell in der Dunkelheit, und Explosionen dröhnten durch die Nacht wie die schweren Schritte eines Rachegottes. In einem anderen Stadtteil hätte daraufhin nur Panik geherrscht und die Menschen wären blind herumgerannt, aber das hier war der Slum, und seine Bewohner waren aus härterem Holz geschnitzt. Die Nachricht von der Invasion verbreitete sich schnell, und allzu bald kam der Vormarsch der Militanten Kirche angesichts unversöhnlicher Gegenwehr zum Stillstand. Männer, Frauen und Kinder liefen ans allen Richtungen zusammen und versperrten den Invasoren den Weg, und alle waren mit irgendeiner Art Waffe ausgerüstet. Weitere Menschen liefen auf den Dächern zusammen und schleuderten einen Schutthagel auf den Feind. Hinter höher gelegenen Fenstern lauerten Scharfschützen mit Strahlengewehren, und flinke Jugendliche huschten mit improvisierten Granaten aus Nebenstraßen hervor.
Vom Slum hieß es wahrheitsgemäß: jeder gegen den Nachbarn, aber alle zusammen gegen den Außenstehenden.
Douglas, Stuart und Nina arbeiteten die endlosen Vormittagsstunden hindurch unermüdlich, organisierten die Streitkräfte der Rebellen und schickten die Leute dort in die Schlacht, wo man sie am dringendsten brauchte. Diana Vertue und die Wahnschlampen schlugen immer wieder gegen die feindlichen Streitkräfte zu, folgten dabei einer bösartigen Guerillataktik und zogen eine Spur des Todes und der Verwüstung. Sogar einige Fremdwesen ließen sich auf den Straßen blicken und suchten eine Gelegenheit, gegen ihre Unterdrücker zurückzuschlagen.
Der Slum erhob sich, endlich vereinigt zu einer gewaltigen Macht mit einer einzigen Zielsetzung. Der Imperator hatte sich zum Feind der Slumbewohner erklärt, zu einer Gefahr für ihre Häuser und ihr Leben, und sie würden nie wieder ruhen, bis sie ihn gestürzt hatten. Das Volk wogte durch die Straßen, warf sich in einer Welle nach der anderen auf die Invasoren und erhob hundert verschiedene Schlachtrufe wie eine einzige zornige Stimme - das Ergebnis von Generationen, die um alles in ihrem Leben hatten kämpfen müssen. Schusswaffen flammten auf und Schwerter blitzten. Die Soldaten der Militanten Kirche fielen zu Dutzenden, dann zu Hunderten, schließlich zu Tausenden. Die Bewohner des Slums kamen von überall zugleich, um die Fanatiker durch schiere Übermacht niederzuringen. Der Slum erhob sich wild und erbarmungslos, und in kürzester Zeit verwandelte sich die Invasion in eine wilde' Flucht. Die Soldaten der Militanten Kirche warfen ihre Waffen weg, ihre Befehle, ihren Glauben an Finn und sich selbst und rannten in kleinen, aufgelösten Gruppen zur Grenze des Slums. Von den Hunderttausenden stolzer und arroganter Eiferer, die im Slum einmarschiert waren, schafften es nur ein paar Hundert wieder lebendig hinaus.
Nina Malapert hielt eine Menge davon im Bild fest und sendete einfach alles davon auf ihrer unabhängigen Website, und das technische Team setzte seinen ganzen Erfindungsgeist ein, um die Sendung so lange wie nur irgend möglich laufen zu lassen. Auf ganze Logres und auf Planeten im ganzen Imperium bekamen die Leute zu sehen, wie Finns Autorität in Frage gestellt und ihm ins Gesicht geworfen wurde. Sie sahen das Blut und die Leichen, sahen ganze Familien, die von den Truppen der Militanten Kirche abgeschlachtet worden waren, und schließlich sahen sie, wie Douglas Feldglöck und Stuart Lennox Rücken an Rücken gegen eine überwältigende Übermacht stritten, und noch nie hatten diese beiden Männer mehr nach Helden ausgesehen.
Finns Zensoren schalteten die Sendung schließlich ab, und nichts blieb zurück als dunkle Bildschirme im ganzen Imperium.
Im Slum sammelten die Leute ihre Toten ein, behandelten nach besten Kräften ihre Verwundeten und löschten die Brände. Nach Feiern war ihnen nicht recht zumute. Zumindest bestand keinerlei Zweifel mehr daran, auf wessen Seite sie nun standen. Sie stellten die Verfolgung der Invasoren an der Grenze nur ein, weil Douglas sie zurückrief. Er wusste, dass seine Leute noch nicht bereit waren für eine direkte Konfrontation mit Finns Armeen. Noch nicht. Hitzigkeit ging in kalten, bitteren Zorn über, als die Bewohner des Slums ihre Toten zählten und die Sachschäden addierten. Hartherzige und dickköpfige Männer und Frauen, die sich nie für etwas so Nebulöses wie ein Anliegen zusammengefunden hätten, sahen sich jetzt in einem schmerzenden Hunger nach Rache vereint.
Auf Planeten im ganzen Imperium und besonders auf Logres blickten die Menschen auf ihre dunklen Bildschirme und betrachteten den Imperator Finn und seine Stoßtruppen in gänzlich neuem Licht.
Finn war wütend. Er tobte in der Kommunikationszentrale des Palastes herum und versuchte mehr Truppen herbeizurufen, aber die meisten seiner Streitkräfte waren als Besatzungstruppen in Städten auf ganz Logres verstreut. Es hätte Stunden gedauert, sie alle in Parade der Endlosen zusammenzuziehen, und wer hätte dann die Städte kontrolliert, die sie verließen? Finn verfügte über Angriffsschlitten, Kampfwagen und sogar Sternenkreuzer, aber auch in diesem Fall hätte es wieder Stunden gedauert, sie herbeizurufen. Finn trat nach dem Mobiliar - und jedem seiner Mitarbeiter, der ihm nicht schnell genug auswich. Er begriff einfach nicht, wie alles so schnell hatte schiefgehen können. Wie ein Pöbel aus Ausgestoßenen und Kriminellen seine Elitetruppen so mühelos hatte vernichten können.
Douglas. Es musste an Douglas
liegen.
Finn scheuchte alle aus der Kommzentrale und rief die Elfen zu
Hilfe. Eine ausreichend große Armee von Gedankensklaven konnte die
Lage vielleicht noch zu seinen Gunsten wenden. Selbstmordtruppen,
getrieben von fremden Gehirnen, konnten immer noch die Abwehr des
Slums überrennen. Aber keiner der Elfenanführer oder der Überesper
nahm seinen Anruf entgegen. Finn setzte sich in der leeren Zentrale
langsam, denn seine Gedanken wirbelten wie verrückt durcheinander
und konnten sich einfach nicht beruhigen. Zum ersten Mal seit
langer Zeit war nicht er es, der die Dinge vorantrieb, und er
wusste nicht, was er nun tun sollte. Er musste etwas übersehen
haben, aber was? Was?
Schließlich schickte das Kommpersonal, nachdem alles zu lange still
geblieben war, nach Joseph Wallace. Er beruhigte alle mit
beschwichtigenden Worten und stimulierenden Plattitüden, so gut er
konnte, und steckte dann vorsichtig den Kopf in die Kommzentrale.
Finn saß immer noch auf seinem Stuhl und dachte nach. Er kümmerte
sich nicht um die Anruflampen auf den Konsolen ringsherum. Joseph
entschied, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um Finn zu
melden, dass auf Planeten im ganzen Imperium Aufstände losbrachen,
inspiriert von den Ereignissen im Slum. Joseph schloss sachte die
Tür und erteilte in Finns Namen leise Befehle. Sicherheitsleute
kamen und gingen und stellten ein deprimierendes Bild von dem
zusammen, was überall gleichzeitig geschah. Joseph genehmigte
grausame Gegenschläge, aber so schnell die Rebellion an einer
Stelle niedergeworfen war, flackerte sie an einer anderen neu
auf.
Alarmsirenen heulten in der Kommzentrale, aber Finn schaltete sie
ab. Bei dem Lärm bekam er Kopfschmerzen, und er musste
nachdenken.
Hätte Finn gewusst, was mit den Elfenführern und den Überespern los war, dann hätte ihn das noch mehr beunruhigt. Hinter den Kulissen lief ein noch heftigerer Kampf, in dem Gnade weder erbeten noch gewährt wurde. Zwischen den Anführern der Elfen und den Überespern war schließlich doch der offene Krieg darüber ausgebrochen, wer die Bewegung führte. Beide Seiten hatten zuvor in aller Heimlichkeit gewaltige Armeen von Gedankensklaven aufgestellt, um die jeweils eigene Machtposition zu stärken und die Zahl der Trümpfe im Spiel zu erhöhen. Nach den Vorfällen im Slum entschieden beide Seiten, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um mit Finn zu brechen und einen eigenen Weg einzuschlagen.
Es war ein Esperkrieg, ausgetragen auf den Schlachtfeldern der Gedanken, zunächst weitgehend unbemerkt vom Rest der Welt, aber trotzdem grausam und tödlich. Die riesigen Armeen aus Gedankensklaven waren lebendige Energiequellen, Speicher voller Gedankenenergie, die beide Seiten anzapfen konnten. Telepathische Schlachten tobten, während Bewusstsein auf Bewusstsein prallte, und all das geschah auf unheimlichen Landschaften, wie sie menschliches Verstehen überstiegen, Landschaften, die man eigens zu diesem Zweck geschaffen hatte. Ein Bewusstsein nach dem anderen zerbrach und zersplitterte, und die Esperangriffe liefen manchmal in die stoffliche Welt über, was sich in Wetterkapriolen und Schwankungen der Wahrscheinlichkeit ausdrückte. Psistürme tobten in der Umgebung und zerstörten manch ungeschütztes Gehirn. Es ging hin und her, und keine der beiden Seiten war stark genug, um die andere gänzlich zu überwältigen. Aber keine Seite war bereit, klein beizugeben. So baute sich der Psidruck ein ums andere Mal auf, bis die Energien schließlich völlig außer Kontrolle gerieten. Eine ganze Sektion von Parade der Endlosen wurde dadurch zerstört, so laut und so hell, dass man den Widerhall auf ganz Logres spürte. (Finn gab später einem Sabotageakt der Rebellen die Schuld, denn schließlich musste er irgendeinen Grund nennen.)
Die Schlacht der Esper endete in einem Patt, bei dem keine Seite Boden gewann oder verlor. Schließlich zogen sich beide Seiten zurück, leckten ihre übersinnlichen Wunden und bereiteten künftige Schlachten vor. Sowohl die Anführer der Elfen als auch die Übersper waren entschlossen, ab jetzt ihren eigenen Weg zu gehen und einem eigenen Schicksal zu folgen. Sie brauchten Finn nicht mehr. Sie gedachten die Menschheit nach eigenen Vorstellungen zu beherrschen, und zur Hölle mit allen zweckgerichteten Bündnissen.
Finn gelang es letztlich, die Aufstände niederzuschlagen. Das kostete ihn viel mehr Zeit, Geld und Personal, als er sich leisten konnte, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er musste die Zügel der Macht festhalten. Auf einem Planeten nach dem anderen und in einer Stadt nach der anderen wurden die Aufstände mit Strahlenwaffe und Stahl niedergeschlagen, und ein verdrossenes Schweigen senkte sich über das Imperium, in dem jetzt überall das Kriegsrecht herrschte. Tote Rebellen hingen in allen Städten zu Hunderten an Laternenpfählen, und schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten patrouillierten auf den Straßen und warfen dabei ständig nervöse Blicke über die Schulter.
Der Slum blieb strikt verbotenes Terrain.
Niemand ging hinein, und niemand kam heraus.
Finn war mehr über den Verlust seiner Bundesgenossen, der Elfen,
besorgt. Keiner von ihnen sprach mehr mit ihm, und alle seine
Verbindungsleute schienen untergetaucht. Zu lange hatte er sich auf
ihre Hilfe verlassen; seine Spionageorganisationen waren ohne die
telepathisch gewonnenen Informationen der Elfen verloren. Finn
teilte Joseph Wallace mit, dass die Produktion von Espblockern
jetzt Vorrang vor allem anderen genoss, konnte aber den Grund nicht
erklären. Dummerweise stellte sich heraus, dass man Espblocker
nicht ohne Hirngewebe von Espern herstellen konnte, und beim Klonen
von Espergewebe ging von jeher viel schief. Und so versprach die
Massenproduktion ein langsames, zeitaufwändiges Geschäft zu werden.
(Joseph übermittelte diese Nachricht aus sicherer Entfernung über
Komm. Er hatte nach wie vor kein rechtes Zutrauen zu Finns
Temperament.)
Und der Imperator hatte noch mehr Probleme. Er suchte Elijah du
Katt in dessen neuem Labor im Palast auf. (Finn hatte beschlossen,
seine restlichen Bundesgenossen, wo immer möglich, in seiner Nähe
zu behalten.) Heutzutage traf man nur noch einen du Katt an. Die
Elijahs hatten versucht, eine eigene Machtbasis und einen neuen
Klonuntergrund zu organisieren, und das konnte Finn nicht dulden,
sodass er mit einer Ausnahme alle Elijah du Katts erschoss. Weder
wusste er noch scherte es ihn, ob der verbliebene du Katt das
Original war. Darauf kam es im Grunde nicht an.
Angeblich suchte Finn du Katt auf, um die mit dem Klonen von
Esperhirngewebe verbundenen Probleme zu diskutieren, aber wie immer
hatte Finn dabei Hintergedanken. Die kürzlichen Aufstände hatten
ihm überdeutlich die mangelnde Personalstärke seiner Truppen
demonstriert, besonders jetzt, wo ihm die Gedankensklaven nicht
mehr zur Verfügung standen. Er brauchte Soldaten - Bewaffnete, die
taten, was man ihnen befahl, und die keine Fragen stellten. Er
hatte nicht genug Zeit, um solche Soldaten zu finden, auszubilden
und zu indoktrinieren. Also bestand die nahe liegende Lösung in
einer Klonarmee. Eine solche Armee herzustellen, das setzte eine
riesige Proteinbasis voraus, aber zum Glück bestand kein Mangel an
herumliegenden Leichen, die nur darauf warteten, sinnvoll verwertet
zu werden. Und diese neue Armee sollte so programmiert sein, dass
sie weder Angst noch eine Spur von Eigenständigkeit kannte. Sie
würden sich nicht abwenden und flüchten wie diese so genannten
Fanatiker, die Finn in den Slum geschickt hatte. Finns Blut kochte
immer noch beim Gedanken an seine Männer, die vor einem Haufen aus
Ausgestoßenen und billigen Betrügern davongerannt waren. Am
liebsten hätte er die Raumflotte herbeigerufen, damit sie die ganze
Gegend aus dem Orbit sengte, aber das konnte man nicht tun, ohne
gleich ganz Parade der Endlosen zu vernichten. Allerdings überlegte
Finn sich das nach wie vor.
Finn erläuterte seine Pläne für die neue Klonarmee recht
umfangreich für den einzigen verbliebenen und etwas
niedergedrückten du Katt. Finn marschierte zwischen den glänzenden,
brandneuen Geräten hin und her, und seine Ideen wurden von einem
Augenblick zum nächsten extravaganter. Du Katt saß nur da und
schüttelte langsam den Kopf, bis Finn ihm befahl, damit aufzuhören.
Du Katt rang die Hände, damit sie nicht zitterten.
»Die Anzahl Klone zu produzieren, die Ihr benötigt, und das in dem
Zeitrahmen, den Ihr Vorschlag, das stellt uns vor ... gewisse
Schwierigkeiten, die mit keinem Ausmaß an technischen oder
finanziellen Mitteln zu überwinden sind. Eure Majestät, das
Endprodukt wird fast mit Sicherheit aus ... schadhaften Produkten
bestehen.«
»Werdet deutlicher«, verlangte Finn und fummelte an einem in der
Nähe stehenden empfindlichen und teuren Gerät herum, nur um sich
daran ergötzen zu können, wie du Katt zusammenzuckte.
»Nun, Eure Majestät, das Endprodukt wird fast mit Sicherheit
physische Defekte aufweisen, darunter auch ein gewisses Maß an
Hirnschäden.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Finn. »Soldaten, die
zu dumm sind, um sich aufzulehnen, und zu stumpfsinnig, um etwas
anderes zu tun, als ihre Befehle auszuführen. Damit kann ich leben.
Ich nehme für den Anfang zwei Millionen. Und benutzt die
Zellproben, die ich mitgebracht habe, als Basis für die genetische
Struktur.«
»Wessen Zellen sind das?«, fragte du Katt.
»Meine natürlich«, antwortete Finn. »Ich habe beschlossen, dass ich
Kinder haben möchte. Jede Menge Kinder!« Er lachte und gab dem
zitternden du Katt einen Klaps auf die Schulter. »Beglückwünscht
mich! Ich werde Vater!«
Sein nächster Besuch galt einem weiteren Labor, das er aus Sicherheitsgründen in den Palast verlegt hatte. Der Inhaber hatte gar nicht umziehen wollen, aber es ist nun mal erstaunlich, wie überzeugend eine auf die Leistengegend gerichtete Pistole sein kann. Und so arbeitete jener berühmte Drogendealer, Alchemist und Irre namens Dr. Glücklich jetzt exklusiv für Finn, und er tat dies in einem brandneuen Labor, ausgestattet mit allem, was man für Geld erhielt. Sehr zum Kummer seiner übrigen Kunden. Man musste feststellen, dass der heutige Dr. Glücklich nicht mehr ganz der Mann von einst war, vor seiner langen Reise nach Haden und in die Nähe des Labyrinths des Wahnsinns. Niemand konnte jedoch bestreiten, dass er nach wie vor über den profilitiersten wissenschaftlichen Verstand des Imperiums verfügte. Zur Zeit mühte sich der gute Doktor unermüdlich mit einem einzigen Projekt ab: der Wiedererschaffung von Anne Barclay.
Anne war fast zu Tode gekommen, als bei Douglas Feldglöcks wagemutiger Flucht durch das Dach des Hofes Trümmer auf sie stürzten. Jeder andere wäre wahrscheinlich getötet worden, wenn man bedachte, wie lange es gedauert hatte, Anne in einen Regenerationstank zu bringen. Der Tank hielt sie jedoch an der Grenze des Todes, während Dr. Glücklich seinen perversen Verstand diesem Problem widmete. Finn hatte ihn angewiesen, jede erdenkliche Maßnahme zu ergreifen, um Anne zu retten, und so tat Dr. Glücklich genau das. Was er weder heilen noch reparieren konnte, das tauschte er aus oder baute er neu, egal welch extreme Schritte dazu nötig waren. Er wirkte Wunder und holte Anne ein ums andere Mal vom Rand des Grabes zurück, aber leider konnte er nicht dem Impuls widerstehen, sie auf amüsante Arten und Weisen neu zu schaffen. Sein lang gezogener Aufenthalt neben dem Labyrinth des Wahnsinns hatte den guten Doktor beeinflusst, und das zeigte sich in seiner Arbeit. Außerdem war er dazu übergegangen, all die neuen Drogen, die er entwickelte, an sich selbst auszuprobieren, wobei er von der Überlegung ausging, dass man die Wirkung nur dann vollständig verstehen konnte, wenn man sie selbst ausprobierte.
Eine der Drogen brachte ihn um. Eine andere holte ihn zurück. Oder so drückte er es aus. Jedenfalls bestand das Resultat darin, dass Dr. Glücklich heute eine wandelnde, vermodernde Leiche war, in der sein langsam verfallender, brillanter Verstand zuzeiten Fehlzündungen erlitt. Techimplantate zweifelhaften Ursprungs und eine ganze Palette an experimentellen neuen Drogen hielten ihn in Gang, aber sein Fleisch mumifizierte sich langsam selbst, ungeachtet all seiner Mühen, es wieder aufzufrischen. Dr. Glücklich war es egal. Er genoss die Empfindung des Verfalls durch seine außergewöhnlich geschärften Sinne und prahlte damit, dass seine neue Sicht des Lebens - oder genauer des Todes - ihm alle möglichen neuen Einsichten schenkte.
Als Finn nun das schwer bewachte Labor betrat, begrüßte ihn ein Anblick, der jeden anderen erschüttert und mit Übelkeit erfüllt hätte. Vorbei war die Zeit der glänzenden neuen Tech und der nagelneuen Ausrüstung. Die spärlich beleuchtete Halle war voller Tierkäfige und stank wie ein Schlachthaus. Versuchstiere blickten trübselig aus den Käfigen, während andere in unterschiedlichen Graden der Vollständigkeit auf den Labortischen lagen. Dr. Glücklich war damit beschäftigt, sie auseinander zu nehmen und zu interessanten neuen Kombinationen wieder zusammenzusetzen, um mal zu sehen, was sich daraus ergab. Meist starben die Tiere, aber er behauptete, dabei viel zu lernen.
Finn schritt ohne Eile durch das Labor, betrachtete zweifelnd die neuesten, auf den Tischen befestigten Kombinationen und blickte schließlich auf, als ihm Dr. Glücklich entgegengewankt kam, um ihn zu begrüßen. Der gute Doktor trug am ausgemergelten, verwesenden Leib nichts weiter als einen Laborkittel voller Chemieflecken. Dunkle Flecken bedeckten die graue Haut, und an manchen Stellen schimmerten Knochen bleich hindurch. Der größte Teil der weißen Haare war ausgefallen; die eingesunkenen Augen waren gelb wie Urin, und die Lippen waren von den Zähnen zurückgewichen und hatten sein Dauerlächeln zu einer Gesichtsverzerrung gemacht. Er bewegte sich mit ruckhaften, nur undeutlich erkennbaren Bewegungen und blieb nie auch nur eine Sekunde lang still, so erfüllt war er von einer schrecklichen, unerbittlichen Energie.
»Wie schön, Euch wiederzusehen, Finn! Ja! Ja! Oh, welch glücklicher Tag ... Wir machen hier Fortschritte, ganz eindeutig. Vergesst dieses Kaninchen; ich hatte nie erwartet, dass es funktionieren würde. Der neue Kopf war nur eine Laune des Augenblicks. Ich vermute, Ihr möchtet Euch Anne ansehen? Ja, ja, ich weiß, keine Zeit zum Plaudern. Ich sehe Gespenster, wisst Ihr?«
Finn stockte und blickte Dr. Glücklich an. Das war eine neue Wendung. »Gespenster?«, fragte er vorsichtig.
»Oh ja! Geister der Toten, ruhelose Seelen der Dahingeschiedenen, so was in der Art.« Dr. Glücklich drehte sich im Kreis und fuchtelte mit den knochigen Händen, als wollte er irgendwelche Dinge verscheuchen. »Sie schweben ständig durchs Labor und kommen mir in die Quere. Belästigen mich, obgleich ich Besseres zu tun habe.« Er musterte eine ganze Weile lang starr eine Stelle, wo nichts war, und hatte den Kopf dabei auf die Seite gelegt. »Derzeit verhalten sie sich ruhig. Ich denke, dass Ihr ihnen Angst macht. Ich bin ziemlich sicher, dass einige von ihnen zu Personen gehören, mit denen ich von Haden zurückgekehrt bin. Erinnert Ihr Euch?«
»Die Besatzung der Jäger und die Wissenschaftler von Haden«, sagte Finn. »Die Leute, die Ihr vergiftet und in den Wahnsinn getrieben habt.«
»Ich kann nichts dafür, dass sie für die Wunder, mit denen ich sie speiste, nicht stark genug waren! Ich hätte Supermenschen aus ihnen gemacht, wären sie mir nicht alle weggestorben. Die Leute sind heutzutage einfach nicht mehr robust. Ich persönlich gebe einer verspäteten Stubenreinheit die Schuld daran. Ihr denkt doch nicht, dass ihre Geister mir die Schuld an ihrem Tod geben, oder? Wie ausgesprochen unfair! Aber Ihr seid gekommen, um Anne zu sehen, nicht wahr? Kommt und seht, kommt und seht! Ich habe seit Eurem letzten Besuch solch wunderbare Fortschritte gemacht. Ihr werdet das alte Mädchen gar nicht mehr wiedererkennen.«
»Das sollte lieber zutreffen, Euretwegen«, sagte Finn, aber Dr. Glücklich war bereits davongewankt und schlenderte durch das Labor. Er nahm dabei Kurs auf das Wohnquartier an der Rückwand, wurde aber immer wieder von diversen chemischen Destillationsvorgängen und Lektronendisplays abgelenkt. Er versetzte dem Genspleißer im Vorbeigehen einen ermutigenden Klaps und gab Finn mit gebieterischem Wink zu verstehen, er möge ihm folgen. Finn seufzte und ging ihm nach. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn war schon zu den besten Zeiten dünn genug, und tot zu sein half wahrscheinlich nicht gerade. Er folgte Dr. Glücklich auf dessen unstetem Weg und blieb gelegentlich stehen, wenn der gute Doktor es auch tat und mit Leuten redete, die gar nicht da waren. Vermutlich wieder welche von seinen Gespenstern. Finn hielt angestrengt Ausschau nach ihnen, erblickte aber nichts. Dabei verabscheute er es, wenn er etwas nicht mitbekam. Auf einmal wirbelte Dr. Glücklich zu ihm herum.
»Das ist jetzt aber interessant! Dieser verdammte Geist behauptet, es wäre Eurer, zurückgekehrt aus der Zukunft, aus der Zeit nach Eurem Tod. Ich würde ihn wahrscheinlich besser verstehen, wenn er den Kopf nicht unterm Arm trüge.«
Finn machte sich eine gedankliche Notiz, Dr. Glücklich so viel Arbeit zu entlocken, wie nur möglich war, solange der Kerl überhaupt noch funktionierte. »Wie kommt Ihr mit Eurer neuen Version des TodtsteltzerAufwindes klar?«, fragte er laut und deutlich.
»Okay, okay! Kein Grund zu schreien! Ich bin tot, nicht taub. Die Ohren sind immer noch dran, seht Ihr? Und dem Aufwind geht es gut, danke. Ich habe schon einen funktionsfähigen Prototyp produziert und ihn Anne gegeben.«
»Was habt Ihr?«, fragte Finn scharf. »Ich
hatte Euch angewiesen, ihn erst an mir zu testen!«
Dr. Glücklich musterte ihn aus den eingesunkenen Augen und zuckte
nervös mit den steifen Fingern. »Ich hatte einfach nicht genug
Zeit, nicht genug Zeit! Anne brauchte den Aufwind, falls sie am
Stück bleiben wollte. Ihr dürft nicht vergessen, dass der größte
Teil meiner Maßnahmen an ihr extrem experimenteller Natur war.
Niemand sonst hätte sie so lange am Leben gehalten wie ich. Ich
habe alte Hadenmanntech benutzt, Wampyrtech und sogar ein paar neue
Optionen, die mir in der Zeit beim Labyrinth eingefallen sind. Nach
den entsetzlichen Verletzungen, die sie erlitten hatte, blieb mir
nichts anderes übrig, als sie in einen Kyborg zu verwandeln.« Er
brach ab und überlegte. »Ich muss zugeben, dass ich nicht immer
weiß, wie oder auch nur warum manches davon funktioniert, aber
schließlich lernt man durch Praxis. Immerhin helfen Techimplantate,
Wundertränke und meine liebevolle Fürsorge auch nur begrenzt. Oft
liegen genau die Dinge, die sie am Leben halten, in ihrem armen
misshandelten Körper miteinander im Streit. Der Aufwind müsste den
entscheidenden Unterschied ausmachen. Ich setze allergrößte
Hoffnungen in ihn. Kommt und seht, kommt und seht!«
Er wankte weiter, und Finn folgte ihm zur Rückwand des Labors. Das
Wohnquartier war vom Rest des Labors durch eine schlichte Tür aus
massivem Stahl getrennt. Sie blieb ständig verschlossen, und das
diente nicht weniger dem Zweck, Anne drinnen festzuhalten, als
jedem anderen den Zutritt zu verwehren. Dr. Glücklich sprach seinen
Namen für das Stimmschloss aus, und die Tür öffnete sich langsam.
Dahinter wurde ein recht behaglicher Raum sichtbar, der alle
Annehmlichkeiten außer Fenstern bot. Anne stand wieder vor dem
mannsgroßen Spiegel und betrachtete sich. Betrachtete ihr neues
Selbst - oder das, was man im Namen des Überlebens damit angestellt
hatte. Finn hatte ihr angeboten, den Spiegel zu entfernen, weil er
sie nur verrückt machte, aber Anne verwüstete daraufhin den Raum
aus Protest und schlug dabei sogar Beulen in die Stahltür, sodass
Finn das Thema nie wieder zur Sprache brachte. Anne stand
unbeholfen da. Sie lernte in ihrer neuen, veränderten Gestalt erst
noch zu gehen und sich elegant zu bewegen. Sie trug keine Kleidung,
damit sie sich selbst deutlicher sah. Techimplantate wölbten sich
rüde aus ihrer rosa Haut und erzeugten scharfe Kanten und Bögen.
Ein Arm war länger als der andere, und das Stromaggregat im Rücken
ließ sie leicht bucklig erscheinen. Der Körper beulte sich an den
falschen Stellen aus, damit alles Platz fand, was gebraucht wurde.
Lange Grate aus Narbengewebe zogen sich kreuz und quer über die
Haut wie die Karte eines neuen Weges in die Hölle. Anne bewegte
sich ruckhaft und ohne Eleganz, und sie zerbrach häufig ganz
unabsichtlich Dinge mit den Händen. Manchmal machte sie auch aus
Wut und Frustration etwas kaputt. Das Haar war vom Stress grau
geworden, und das Gesicht wirkte abgezehrt und müde. Die Augen
zeigten den goldenen Glanz, wie er für Hadenmänner typisch war, und
wenn sie redete, ertönte die Stimme als raues, schmerzhaftes
Summen. Sie wandte den Blick nicht vom Spiegelbild, als Finn
eintrat, aber als sie sich zu Wort meldete, galt es ihm.
»Ich war nur so kurze Zeit schön. Ich wünschte, ich hätte es mehr
genossen. Wenigstens passt das Äußere jetzt zum Inneren.«
»Ihr habt wieder zu viel nachgedacht, nicht wahr?«, fragte Finn.
»Was habe ich Euch empfohlen? Ihr habt Euch nichts vorzuwerfen.
Außerdem liegt Schönheit im Auge des Betrachters.«
Anne probierte so etwas wie ein Lächeln. »Man braucht schon ein
Monster, um ein anderes Monster würdigen zu können. Ich trage etwas
Neues in mir, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Finn. »Eine Variante des alten Todtsteltzer-Aufwinds.
Er wird Euch stärker, schneller und hoffentlich auch ein bisschen
stabiler machen.«
Anne drehte sich mit unbeholfener Plötzlichkeit zu ihm um. »Ja. Ich
spüre es wie Blitze in meinen Adern. Ich fühle mich ... stark. Ich
könnte inzwischen wahrscheinlich Eure dumme Tür einschlagen, falls
ich wollte. Aber wohin sollte ich dann gehen? Ich schlafe nicht
mehr, wisst Ihr? Ich brauche es nicht mehr. Ist im Grunde auch okay
so. Ich hatte schlimme Träume.«
»Ihr seid am Leben«, sagte Finn. »Ich hatte Euch ja versprochen,
ich würde Euch nicht sterben lassen.«
»Mein Aufwind stellt tatsächlich sogar eine Verbesserung des
Originals dar«, erklärte Dr. Glücklich, der im Kreis um Anne
herumschwankte und mit den steifen Fingern über die Techvorsprünge
ihres Körpers strich. »Mein Aufwind läuft ständig und stockt
niemals. Ihr werdet niemals auf die Vorzüge verzichten müssen, die
er Euch verleiht. Meine Liebe, Ihr seid praktisch übermenschlich!
Natürlich weist mein Aufwind die beklagenswerte Tendenz auf, den
Wirtskörper auszubrennen — daher auch diese neue Röte der Haut -
aber die diversen Techimplantate müssten das
ausbalancieren.«
»Wie lange wird sie durchhalten?«, fragte Finn.
Dr. Glücklich zuckte ruckartig die Achseln. »Wie viel Zeit hat
irgendjemand von uns? Sie hält jedenfalls länger als ich durch. Und
auch als Ihr, falls man diesem Gespenst von eben glauben
darf.«
»Warum habt Ihr das alles getan?«, wollte Anne wissen und starrte
Finn mit ihren goldenen Hadenmannaugen an. »Warum ist es so
wichtig, dass ich am Leben bleibe?«
»Um zu beweisen, dass nicht mal Monster ständig Monster sind«,
antwortete Finn.
»Ich vermisse James«, sagte Anne. »Ich möchte James hierhaben.
Stellt einen neuen für mich her!«
Finn runzelte die Stirn. »Ich denke, die Leute würden es diesmal
bemerken, dass er ein Klon ist.«
»Nicht für sie. Erschafft einen neuen James für mich.«
»Ich sehe mal, was ich tun kann«, log Finn. Er war klug genug, um
zu wissen, dass Anne einen Grund brauchte, um weiterzuleben, aber
er war auch egoistisch genug, um selbst dieser Grund sein zu
wollen. Ein Teil von ihm war insgeheim traurig, dass Anne nicht
ahnen konnte, was er alles nur für sie getan hatte.
»Ich bin müde«, sagte Anne. »Müde der Schmerzen und der
Veränderungen. Der Tatsache, kein Mensch mehr zu sein.«
»Der Aufwind wird das wieder ändern«, sagte Finn. »Und nach wie vor
könnt Ihr viel Nützliches mit Eurem Leben anfangen. Vielleicht
sollte ich Douglas mitteilen, was mit Euch geschehen ist. Er möchte
Euch vielleicht gern besuchen.«
»Ja«, sagte Anne. »Ich würde Douglas gern noch mal sehen. Ein
letztes Mal.«