Im Bus nach Kabul
Eine Lieblingsredewendung enttäuschter Legationssekretäre ist: »Damals, als ich Geschäftsträger in Polen war...« (Ein Geschäftsträger ist ein Diplomat, der vorübergehend an der Spitze einer Gesandtschaft steht.) Ihre Erzählung beschreibt meist eine haarsträubende diplomatische Krisis und wie der Legationssekretär sie dadurch abwendet, daß er unter Hintansetzung jeglicher Sicherheit für sich selber kühn bis zum König vordringt und ihm ein auf zwölf Stunden befristetes Ultimatum überreicht. Stellt man etwas genauere Nachforschungen an, wird sich wahrscheinlich ergeben, daß der Legationssekretär Geschäftsträger war, weil der Botschafter den Posten wegen unerträglicher Langeweile verlassen hatte, der Botschaftsrat mit Ziegenpeter zu Bett lag, der Erste Sekretär mit der Botschaftsstenotypistin durchgebrannt und der Zweite Sekretär den Nachmittag über fischen gegangen war.
Nun, als ich Geschäftsträger in Afghanistan war, wollten mich die Afghanen nicht einmal in ihr Land lassen. Legationssekretäre, so beklagten sie sich nicht ohne Grund, seien zur Anknüpfung diplomatischer Beziehungen zwischen souveränen Staaten nicht zuständig. Kaum sehr überzeugend argumentierte ich dagegen, daß ich eben ein ganz besonderer Legationssekretär sei. Zudem, füge ich hinzu, hätten wir Krieg, und mein Land werde mit der Zeit gewiß auch einen richtigen Gesandten ernennen. Die Afghanen meinten, wenn es sich so verhalte, könnten vielleicht auch sie mir mit der Zeit ein Visum erteilen. So saß ich nahezu sechs Monate in Teheran herum und wartete auf mein Visum, doch erst als Präsident Roosevelt Cornelius H. van Eengert zum Gesandten bestimmte, sagten die Afghanen, ich könne nach Kabul kommen. Arbeit der ungewöhnlichsten Art gab es in jenen turbulenten Tagen 1942 in Teheran ausreichend, und es war durchaus nicht schwierig, während des Wartens auf mein Visum rege tätig zu bleiben. Da kamen zum Beispiel die Polen an, die Stalin endlich wieder aus der Sowjetunion herausließ. Sie waren ursprünglich aus Polen nach Rußland »umgesiedelt« worden, wie die Sowjets sich euphemistisch ausdrückten, als die Rote Armee nach der Aufteilung Polens durch die Nazis ihrerseits auch ein Viertel des Landes besetzt hielt. Wahrscheinlich handelte es sich um jene Einwohner, die unter einem sowjetischen Regime doch nicht so recht vorangekommen wären und die der Kreml, liebenswürdig besorgt wie immer, in Sibirien für am besten aufgehoben hielt. Sowie dann aber die Nazis begannen, Rußland aufzuteilen, kam der Kreml zu der Ansicht, daß er einen kleinen Schönheitsfehler gemacht habe und die Polen besser wieder aus Sibirien »heraussiedele«, ehe sie noch mehr Unruhe stifteten. Der einzig mögliche Transportweg ging über Persien. Die Engländer und wir hatten zugestimmt, sie zu übernehmen und für sie zu sorgen, bis Polen wieder frei war.
Nach monatelanger Verzögerung sandte der Kreml ein Telegramm nach Teheran, daß innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Kleinigkeit von sechstausend Frauen und Kindern in Persien eintreffen würde. Die Engländer hatten vorgehabt, eine Gruppe von Fachleuten für die reibungslose Abwicklung der Deportation einzusetzen, doch kam die Nachricht so jäh, daß keiner der vorgesehenen Fachleute zur Stelle war, als die ersten Lastwagen nach Teheran einrollten. Ein amerikanischer Rote-Kreuz-Mann, ein ortsansässiger amerikanischer Arzt, ein Chirurg der indischen Armee und ich bildeten in höchster Eile einen Vierer-Notausschuß. Die persische Regierung zeigte sich der Situation in bewundernswürdiger Weise gewachsen und stellte ein zwar primitives, doch ausreichendes Zeltlager am Stadtrand zur Verfügung.
Unter den ankommenden Flüchtlingen wütete der Typhus.
Unsere größte Sorge bestand also zunächst darin, mit allen Kräften zu verhüten, daß er auf die persische Bevölkerung Übergriff. Zum Glück hatten wir genügend Impfstoff, um die Polen zu immunisieren, aber wenn die Epidemie auch unter den Persern ausgebrochen wäre, würde kein Halten mehr gewesen sein. Eine kaum zu bewältigende Schwierigkeit bot freilich das dringende Verlangen sowohl der persischen Regierung als auch der Bevölkerung, ihren unglücklichen polnischen Freunden einen herzlichen Empfang zu bereiten. In hellen Scharen strömten sie mit Blumen, Früchten und Süßigkeiten zum Lager.
Wir stellten rundum eine Wache persischer Polizisten auf und gaben strikten Befehl, niemanden hineinzulassen. Aber die persischen Wachen hatten noch nie Typhus gehabt und hielten es nicht für sehr sinnvoll, ihre Landsleute daran zu hindern, den unglücklichen Flüchtlingen Rosensträuße zu überreichen. Wir schmeichelten, flehten händeringend, erklärten so ausführlich und so lange, daß die Polizei schließlich gerührt zu gehorchen versprach — und kaum drehten wir ihnen den Rücken, fluteten schon wieder Schwärme spendefroher Perser ins Lager.
Endlich hatte ich es satt. Ich versteckte mich hinter einem Baum in der Nähe des Haupteinganges und wartete darauf, den Wächter auf frischer Tat zu ertappen. Bereits nach wenigen Minuten fuhr ein großes Auto vor, ein distinguiert aussehender Herr entstieg ihm und schritt gelassen durchs Tor. Der Wächter hinderte ihn nicht nur nicht, sondern salutierte auch noch. Ich hüpfte hinter meinem Baum hervor auf diesen zu und begann ihn so scharf und gründlich abzukanzeln, wie mein kümmerliches Persisch nur eben erlaubte.
Der zweite Teil der Schimpfkanonade richtete sich gegen den Besucher. Er sah mich entsetzt und nicht weniger verblüfft an, verbeugte sich dann tief, lächelte und stellte sich als Premierminister von Persien vor. Ich verschluckte mich fast im Bemühen, umgehend Lautstärke und Melodie meiner Arie zu ändern, jedoch gleichzeitig den Inhalt beizubehalten. Nach einem üppigen Austausch diplomatischer Höflichkeiten erkannte der Premierminister die Billigkeit meiner Forderung an, überreichte mir die Rosen zu getreuen Händen und zog sich wieder in seine Limousine zurück. Wenige Tage später kreuzten die britischen Fachleute auf und übernahmen die Lagerleitung. Ich stellte mich hoch aufatmend unserem Gesandten, Louis Dreyfus, für die nächste Sonderaufgabe zur Verfügung.
Und dann kam endlich doch mein Visum, und ich begann, mich auf die Reise nach Kabul vorzubereiten. Die Hauptstadt Afghanistans liegt etwa zweitausendzweihundert Kilometer östlich von Teheran — und keine besonders bequemen zweitausendzweihundert Kilometer! Die ersten zwei- oder dreihundert Kilometer durchqueren die große Wüste zwischen Teheran und Mesched in der Nordostecke Persiens. Bei Herat geht man über die Grenze. Zwischen Herat und Kabul liegen dann die westlichen Ausläufer des zentralasiatischen Gebirgsmassivs, das sich vom Himalaja bis zum Hindukusch erstreckt. Durch diese Gebirge führt zwar von Herat nach Kabul eine Straße, doch war sie 1942, selbst für einen Jeep unpassierbar. Man mußte also vor den Bergen nach Süden ausweichen und über Kandahar nach Kabul zu gelangen versuchen. Zwischen Herat und Kandahar gibt es drei große Flüsse, die alle hoch oben im Hindukusch entspringen, nach Persien hinunterfließen und dort im Wüstensand versickern. Über jeden sind im Verlauf der Geschichte mehrere Brücken geschlagen worden, doch reißt meist jede Frühjahrsüberschwemmung einen oder zwei Pfeiler weg.
Ich telegrafierte also nach Washington um die Erlaubnis, mich von einem Armeebomber, deren es in Teheran etwa ein halbes Dutzend gab, nach Kabul fliegen zu lassen. Die US-Luftwaffe am Orte versicherte mir, mich in etwa vier Stunden nach Kabul befördern zu können. Washington freilich schien von der Idee nicht viel zu halten, denn es beantwortete meine Depesche nicht einmal. So entschloß ich mich, die Überlandtour zu riskieren, und bat das State Department telegrafisch um die Genehmigung, mir einen Panzer-Spähwagen zu leihen, von denen — nach Ansicht der in Teheran stationierten Militärbehörden — in Persien eine überreichliche Anzahl vorhanden war. Doch auch das schien keinen Anklang zu finden, denn auch diesmal erhielt ich keine Antwort. Schließlich telegrafierte ich, daß ich, falls ich nichts Gegenteiliges höre, einen dreißig Personen fassenden Chevrolet-Omnibus mieten und zwei Tage später abfahren würde. Nebenbei wies ich noch darauf hin, daß die Kosten fast so hoch seien wie die für einen Bomber und dreimal so hoch wie die für einen Panzer-Spähwagen. Antwort bekam ich natürlich wiederum nicht.
In Teheran hatte ich das Glück, einen jungen Amerikaner — Bob Allen - aufzutreiben, der fließend Persisch sprach und einiges von der Arbeit im Auswärtigen Dienst verstand. Er erklärte sich bereit, als mein Legationssekretär mitzukommen. Bob war als Sohn eines Missionars in Persien groß geworden und kannte nicht nur die Landessprache, sondern auch Sitten und Charakter der Bevölkerung. Darüber hinaus besaß er noch den für eine Aufgabe wie die vor uns liegende unerläßlichen Humor. Außer Allen umfaßte meine Suite Yang, der inzwischen mit mir hin und her um die halbe Weit gereist war, und Midget, die ich seit acht Jahren besaß. Washington hatte versprochen, Einrichtungsgegenstände, Formulare, Schreibmaschinen und das übrige Drum und Dran zur Eröffnung einer Legation herüberzuschicken, doch als ich endlich startbereit war, war in Teheran nur ein Koffer mit Geheimkodes eingelaufen. Liebenswürdigerweise erlaubte mir Dreyfus, unser Gesandter, seinen eigenen Laden zu plündern — bis auf die Schreibmaschinen, die damals in der ganzen Welt knapp geworden waren.
Wir nahmen sämtliche Bänke aus dem Chevrolet und kauften für Allen und mich ein paar gebrauchte, dick gepolsterte Sessel, die auf den Boden genagelt wurden. Dann stopften wir unser Gepäck und die Bürogegenstände hinten in den Bus, packten aufs Dach einige hundert Gallonen Benzin und waren abfahrbereit.
Und genau zu diesem Zeitpunkt rollte, von Indien kommend, ein Jeep in Teheran ein, dem Major Gordon Enders entstieg, der — wie er verkündete — neue Militärattache der Gesandtschaft in Kabul. Er erzählte noch, daß sämtliche Brücken zwischen Kabul und Teheran kaputt seien und die Stämme im östlichen Persien sich mal wieder in einem Aufstand befänden und die Gegend durchtobten. Zum Glück, so fügte er beruhigend hinzu, besitze er ein Maschinengewehr und freue sich, mich auf der Reise zu eskortieren. Gordon hatte den größten Teil seines Lebens in unmögliche Abenteuer verwickelt zugebracht: Er hatte der »Lafayette-Esquadrille« (der amerikanischen Fliegerabteilung in der französischen Armee im Ersten Weltkrieg) angehört, war unter anderem Pilot Tschiangkaischeks gewesen, hatte an etlichen Tibetexpeditionen teilgenommen und war schließlich Radiokommentator des Senders der Purdue-Universität geworden. Als Burschen besaß er einen wildblickenden Mann aus dem Stamme der Pathan, der, nach Gordons Worten, Yang helfen würde, uns die Reise angenehm zu gestalten. Gordon und sein Pathan hatten uns allein noch gefehlt, um die Tour erfolgreich durchzuführen. So brachen wir also gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft auf. Die Abfahrt verzögerte sich leider etwas, weil die polnische Kolonie, der ich ja bei ihrer Ankunft in Teheran hatte behilflich sein können, darauf bestand, mir noch einen »Satteltrunk« zum Abschied zu reichen. Er bestand aus etlichen Kisten Champagner, vielen Toasten und herzlichen Wünschen, und so konnte unsere für den Mittag vorgesehene Reise erst gegen fünf Uhr nachmittags losgehen. Dann aber brausten wir endgültig aus der Stadt in die Wüste hinein.
Vom ersten Augenblick an entwickelten Gordon und sein Jeep die Angewohnheit, rund fünfzehn Kilometer voraus die Gegend zu erkunden. Wie mir schien, wurde die Nützlichkeit seines Maschinengewehrs dadurch etwas herabgesetzt. Knapp hundert Kilometer hinter Teheran versperrten uns große Felsblöcke den Weg, so daß mein Fahrer Gas wegnehmen und sich vorsichtig um sie herumschieben mußte. Während dieser Aktion wies uns das häßliche Pfeifen einer Gewehrkugel nachdrücklich darauf hin, daß Nachtfahrten im kriegerischen Persien nicht gerade der bekömmlichste Zeitvertreib sind. Als wir Gordon im nächsten Dorf einholten, stellten wir zwei niedliche Kugellöcher im Benzintank fest. Unser Fahrer, ein leicht nervöser Perser, schaffte es aber, sie mit einer kaugummiartigen Masse zu verkleben, während wir uns im lokalen Tschai-chana, dem Teehaus, für die Nacht einrichteten.
Zwei Tage lang schaufelte sich unser Wagen mühsam durch die Wüste, dann erreichten wir Mesched, wo uns das amerikanische Konsulat aufnahm. Ich stattete dem sowjetischen und dem englischen Konsulat Besuche ab, besichtigte das Grab des neunten Imam und machte mich mit meinem Gefolge schleunigst wieder auf den Weg zur Grenze. Nach dem Büchsenkugelzwischenfall hatten wir die Weiterfahrt jeweils auf die Tagesstunden beschränkt, doch war unser Plan durch meine Höflichkeitsbesuche so durcheinandergebracht, daß wir uns entschieden, diesmal trotz der hereinbrechenden Dunkelheit über die Grenze bis nach Herat zu fahren.
Als unser Bus den letzten persischen Außenposten erreichte, war es etwa elf Uhr abends. Gordon Enders samt Maschinengewehr und Jeep hatte die Grenze natürlich mittlerweile längst passiert. Der Leutnant auf dem Grenzposten erzählte uns etwas säuerlich, die Stämme ringsum befänden sich in ungewöhnlich rastloser Gemütsverfassung, was — wie wir ohne Schwierigkeiten heraushörten — bedeutete, daß sie noch schießfroher waren als sonst schon. Ihre Lieblingsjagdgründe, fuhr der Leutnant fort, seien die neun Meilen zwischen seinem Posten und der ersten afghanischen Garnison jenseits der Grenze. Seiner Meinung nach sei es mehr als tollkühn, diese Strecke bei Nacht zurückzulegen. Ich stimmte ihm zu und sagte, wir nähmen von Herzen gern seine freundliche Einladung an, bis zum anderen Morgen bei ihm zu bleiben. Mit arabeskenreicher orientalischer Höflichkeit setzte er uns auseinander, daß er uns keineswegs eingeladen habe, die Nacht bei ihm zu verbringen, daß die Stämme zweifellos über die Busladung reicher Amerikaner in ihrem Bereich informiert seien und daß er über nur sechs Soldaten verfüge und nicht beabsichtige, die nächsten Stunden mit dem Abwehren einiger hundert aufgeregter Stammesbrüder zuzubringen. In diesem Falle hielt ich es für gescheiter, zur nächsten persischen Garnisonstadt zurückzufahren. Das, erklärte er, sei jedoch mehr als albern, da sie rund fünfzig Kilometer zurückliege und wir todsicher angegriffen werden würden, ehe wir auch nur die Hälfte des Weges hinter uns gebracht hätten. Ich deutete vorsichtig an, er sei keine übermäßig große Hilfe für uns. Vorn tobten die Stämme durch die Nacht, hinten war es mindestens ebenso gefährlich, und wo wir waren, durften wir nicht bleiben. Konnte er uns vielleicht wenigstens einen konstruktiven Rat geben? Aber alles, was der Leutnant vorschlagen konnte, war, daß wir die (wie er es nannte) »notwendige Vorsicht« walten ließen und im übrigen schnellstmöglich von seinem Außenposten verschwänden, ehe wir die Aufmerksamkeit der Stämme schon hier auf uns richteten. In Abwesenheit Gordons und seines Maschinengewehrs fielen die »notwendigen Vorsichtsmaßnahmen« etwas mager aus, aber wir taten unser Bestes. Bob Allen gab ich den geladenen Revolver und instruierte ihn gleichzeitig, sich neben den Fahrer zu setzen und ihn umzulegen, falls er stoppe. Meine Büchse gab ich geladen an Yang weiter mit dem Befehl, nur auf meine Aufforderung hin zu schießen. Für mich selber holte ich die Jagdflinte hervor. Den Koffer mit den Codes stellte ich nebst einer kleinen Flasche Benzin und einer Dose Streichhölzer zwischen meine Knie. Das letzte, was mir übrigblieb, wenn wir wirklich in Schwierigkeiten geraten würden, wäre, sie zu verbrennen. Dann machten wir uns mit abgeblendeten Lichtern auf den Weg zur afghanischen Grenze.
Die Straße artete bald schon in eine bloße Ansammlung von Radspuren aus, bis auch diese verschwanden und als einzige Orientierungszeichen nur noch in unregelmäßigen Abständen kleine Steinhaufen zu sehen waren. Fast eine Stunde lang rumpelten wir im ersten Gang über die steinige Wüste. Gelegentlich glaubten wir in der Einsamkeit um uns Rufe zu hören, und ein-, zweimal schienen in der Ferne Lichter aufzuflackern. Yang kniete vor einem offenen Fenster, den Lauf seiner Büchse in die Dunkelheit gerichtet. Hin und wieder flüsterte er aufgeregt:
»Da — Master, dlaußen, gucken! Flemde Männer kommen, Mölder, Läuber!«
Doch zeigte sich, als wir die Grenzlinie zwischen Persien und Afghanistan erreichten, nichts Besonderes. Wir hielten nur, um schnell die Inschrift auf dem großen Markierungsfelsbrocken zu lesen, und fuhren weiter. Bis zum ersten afghanischen Posten hatten wir immerhin noch sieben, acht Kilometer vor uns. Knapp die Hälfte hatten wir nach unseren Berechnungen zurückgelegt, als plötzlich ein gellendes Gebrüll ertönte, ein heulendes Gepfeife, und aus der Dunkelheit ein wilder Reitertrupp auf uns zupreschte. Im schwachen Licht unserer Autolampen erkannten wir wilde, bärtige Gesichter, aus denen unter eng geschlungenen, tief herabgezogenen Turbanen schwarze Augen uns anblitzten. Reichbestickte Schabracken flatterten vom Rücken der vorüberrasenden Ponys. Die kurzen Läufe unter die Arme gepreßter Gewehre starrten uns drohend entgegen. Yang zupfte mich nervös am Ärmel und sah begierig hoch: »Schießen, Master? Sollen Yang schießen?«
Doch irgend etwas an dem Trupp machte mich irre. Ihre Umhänge, Turbane und häßlichen Karabiner glichen sich alle etwas zu sehr, um einer zusammengewürfelten Horde wilder Marodeure zu gehören. Ich fragte Allen, was sie uns zubrüllten.
»Sie wollen, daß wir halten«, sagte er. Das half mir auch nicht viel weiter.
Ich beschloß, es darauf ankommen zu lassen und zu verhandeln, und bat Allen, den Fahrer in Gottes Namen anhalten zu lassen. Aber der Fahrer wollte nichts davon wissen. Er erinnerte sich an meinen Befehl, ihn umzulegen, wenn er anhielte, und für ihn hatte dieser Befehl offensichtlich noch volle Gültigkeit. Außerdem teilte er mein Vertrauen in die Verhandlungsbereitschaft der attackierenden Bande nicht. Einer der Reiter galoppierte neben mich ans Fenster. Sein Karabiner schob sich durch die Öffnung und stieß direkt gegen meine Rippen.
Mit äußerster Stimmstärke brüllte ich Allen zu, um Himmels willen den Bus zu stoppen. Nach einigen vergeblichen Versuchen schob er den Fahrer vom Sitz und zog endlich selber die Bremsen.
Als wir standen, forderten wir einen der Reiter auf, zu uns an die Omnibustür zu kommen. Yangs Büchse, Aliens Revolver und meine Flinte schützten die Tür, als einer der Banditen sich vom Pferde schwang und auf uns zukam. Er kletterte zu uns hinein und hielt eine kurze, wohltönende Ansprache. Allen übersetzte:
»Er sagte: >Willkommen in Afghanistan!< Er ist der Rittmeister der Ehrenkompanie, die der Garnisonskommandeur Ihnen entgegengeschickt hat.«
Zwei Minuten später saßen wir mit unseren neuen Freunden im Kreis um ein loderndes Freudenfeuer. Eine Wasserpfeife kam zum Vorschein und machte die Runde. Es war mein erster und letzter Versuch mit der Wasserpfeife, aber wie durch ein Wunder überlebte ich ihn. Dann kletterten wir in den Bus zurück. Die Reiter formierten sich wieder und trabten feierlich vor uns her, bis wir den Hof der Festung erreichten.
Enders erwartete uns in der Wohnung des Kommandanten. Er erzählte uns vergnügt, daß er bereits seit mehreren Stunden hier sei und die Garnison von unserem Kommen unterrichtet habe, woraufhin dann spontan die Ehrenkompanie auf die Reise geschickt worden wäre.
In jener Nacht entfernte ich verstohlen aus Yangs Büchse die Kugel für den Fall, daß noch weitere Ehrenkompanien unerwartet aus dem Dunkel der Nächte auf tauchen sollten. Yang machte es weiter nichts aus. Für den Rest der Reise kniete er wachsam und unermüdlich an seinem Fenster und richtete den leeren Lauf auf die Wüste. Sooft sich zwischen Felsbrocken und Sandbergen etwas bewegte, schrie er begeistert:
»Gucken, Master, Diebe! Läuber!«
Zu schießen versuchte er glücklicherweise nie.
Der erste Fluß, den wir erreichten, war der Farahrud. Im Gegensatz zu allen Berichten stand die Brücke, obschon ein Teil davon kürzlich abgeschwemmt und durch ein ziemlich wackeliges Holzgestell ersetzt worden war. Wir entluden den Bus, und einige spannende Augenblicke später war der Fahrer tatsächlich drüben, ohne durchgebrochen zu sein. Dafür aber war die nächste Brücke über den Tschaschrud total zertrümmert. Wir schlugen am Ufer unser Lager auf und zerbrachen uns, gemeinsam mit den Spitzen der ortsansässigen Bevölkerung, die Schädel, wie wir wohl hinüberkommen würden. Die Frühjahrsüberschwemmungen waren noch nicht vorüber, und der Fluß führte Hochwasser. Schließlich fanden wir zwei ziemlich große Kähne, die aneinandergebunden und als Fähre benutzt werden konnten: die Vorderräder des Omnibusses auf dem einen, die Hinterräder auf dem anderen Kahn! Doch gleich darauf erhob sich die Frage, wie nun das Ganze zu steuern und zu bewegen sei. Nach etlichem Hin und Her erbot sich ein junger eingeborener Krieger, mit seinem Pferd auf die andere Seite zu schwimmen und dort ein Seil zu befestigen, an dem wir unsere Fähre dann hinüberziehen konnten. Es klang ein wenig prekär, doch blieb uns kaum etwas anderes übrig, es sei denn, wir warteten etliche Wochen, bis das Hochwasser gesunken war. Er sprang also mit seinem Rosse aufklatschend ins brausende Wasser und krabbelte nach einigen aufregenden Minuten tatsächlich drüben ans Ufer — etliche hundert Meter unterhalb des Einsprunges zwar, aber das Seil immer noch fest am Sattel des Pferdes. Wenige Stunden später hatten wir den Tschaschrud heil passiert.
Die Brücke über den Hilmend, knapp vor der Einfahrt nach Kandahar, sah auf den ersten Blick ganz harmlos aus. Erst als wir näher kamen, stellten wir fest, daß die Auffahrt weggeschwemmt war und nur ein enger, S-förmiger Damm im Winkel von fünfundvierzig Grad an die Brücke heranführte.
Die Aufsicht über die Brücke hatte ein alter ungarischer Techniker. Es sei sehr schwierig, erklärte er, die Eingeborenen gerade Linien herstellen zu lassen. Es käme zum Schluß doch immer so etwas wie eine S-Kurve heraus. Überdies sei auch der Damm kürzlich erst von den Fluten angeknabbert worden, und sie wären kaum dazu gekommen, ihn zu flicken, geschweige denn ganz neu zu errichten. Immerhin könnten wir unser Glück ja mal versuchen.
Nach diesen aufmunternden und herzerfreuenden Worten entluden wir wieder einmal unseren Bus, und der unselige Fahrer erhielt den Befehl, loszubrausen. Der Rücken des Dammes lag gute zehn Meter höher als das felsige Flußufer. Wer von oben herunterrutschte, konnte einen sehr ordentlichen Purzelbaum schlagen, ehe er unten ankam. Der Fahrer erwog die Aussicht, klemmte sich stirnrunzelnd hinter das Steuerrad, setzte ein Stück rückwärts und versuchte dann den Damm mit einem gewaltigen Anlauf zu nehmen. Als er bergauf fuhr, klapperte der alte Bus und stöhnte heulend, aber die Schwungkraft riß ihn noch um die erste Kurve, bevor die Räder zu rutschen anfingen. Sekunden später lag er mitten in der letzten Kurve vor der Brücke. Da aber ließ sein Anzugsvermögen ihn im Stich, und die Räder begannen wild zu mahlen. Langsam rutschte er rückwärts auf die Steilseite des Dammes zu. An diesem Punkt des Geschehens wandte ich mich entsetzt ab und machte einen langen Spaziergang in die Wüste. Aber das splitternde, blecherne Krachen, das ich jeden Augenblick — beim Aufschlag von Bus und Fahrer auf das Felsufer — zu hören glaubte, ertönte nicht. Als ich schließlich umkehrte, hockte der brave Omnibus auf der äußersten Kante des Abhanges, die Hinterräder drehten sich über dem Abgrund, das Chassis war tief in den Sand gewühlt.
Ich sah den ungarischen Techniker an:
»Was nun?«
»Oh, das macht nichts! Wir werden den Bus, so wie er da liegt, fest verankern, und morgen früh lasse ich ihn durch ein paar kräftige Burschen wieder flottmachen. Sie können solange bei mir bleiben. Ich bin ein ziemlich guter Koch und habe sogar eine Dusche im Garten. Außerdem, wissen Sie, habe ich seit sechs Monaten keinen Angehörigen der weißen Rasse gesehen und — ganz ehrlich gesagt — gehofft, daß der Fahrer den Dreh nicht kriegen würde.«
Wir verbrachten einen sehr vergnügten Abend mit unserem neuen ungarischen Freund, der uns eine sehr, sehr lange Geschichte über seine diversen Rettungen aus den Händen der Deutschen, der Russen, der Italiener und verschiedener anderer Nationen erzählte. Es mag alles bis aufs I-Tüpfelchen wahr gewesen sein, doch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß es nicht so sehr sein brennendes Nationalgefühl als vielmehr so etwas wie ein Steckbrief wegen Mordes war, was ihm zu seiner Reise ins ferne Hilmendtal den Anlaß gegeben hatte.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war der Bus bereits sicher auf dem jenseitigen Ufer angelangt. Ich erkundigte mich bei unserem ungarischen Gastgeber, wie er das fertiggebracht hatte.
»Ganz einfach«, meinte er bieder, »so wie immer: Ich habe den in der Nähe lagernden Stamm herangetrommelt, und sie haben ihn hinübergetragen.«
Die restliche Fahrt verlief angenehm glatt. Ab Kandahar benutzten wir die Straße, die Lord Roberts 1880 zu seiner Befreiung Kandahars hinabmarschiert war. Unser letzter Stopp vor Kabul war die mauerumzogene Stadt Mukur. Grad als ich mit Behagen im Gästehaus der Stadt ein ausgezeichnetes Mahl verzehrte, rief mich ein Boy ans Telefon. Nach zwei Wochen Treck durch Wüsten und Gebirge war so ziemlich das letzte, was ich erwartete, ein Telefonanruf. Es ergab sich, daß rund um Afghanistan ein Telefonkabel lief, mit dem jede größere Stadt durch Nebenanschluß verbunden war — vermutlich das umfangreichste Nebenanschlußsystem der modernen Telefonie.
Der afghanische Chef des Protokolls wollte sich mit mir von Kabul aus über die Empfangszeremonien für den nächsten Tag besprechen. Er setzte mir auseinander, daß es ihm, infolge Fehlens einer Eisenbahn in Afghanistan, nicht möglich sein würde, mich, wie in anderen Ländern üblich, auf dem Bahnsteig zu begrüßen. In Afghanistan errichtete man zu diesem Zweck etwa fünfzehn Kilometer vor der Hauptstadt ein Empfangszelt, in dem er mich morgen feierlich treffen werde. Vorgeschrieben, fügte er beiläufig hinzu, sei großer Anzug: Cut, gestreifte Hosen, Zylinder.
Ich tat mein Bestes, nicht allzuviel Verblüffung zu zeigen. In meinem schönsten Sonntagnachmittagsfranzösisch teilte ich ihm mit, daß mein Cut in einem Koffer zuunterst im Bus vergraben sei, daß er zweifellos auch durch die Reise stark im Aussehen gelitten habe, daß ich morgen noch über dreihundert Kilometer Wüstenfahrt zurückzulegen habe und die Idee, es in einem engsitzenden, stickigen Cut und seidenbespannten Zylinder zu tun, nicht für verlockend hielte.
Der Chef des Protokolls schlug mir vor, dem Beispiel der englischen Gesandten zu folgen, die gewöhnlich zwanzig Kilometer vor der Stadt unter einer großen Palme anhalten ließen und dort den Anzug wechselten. Ich erwiderte, ich hielte von diesem Vorschlag auch nichts und möchte meinerseits vorschlagen, den ganzen Firlefanz wegen der augenblicklichen Kriegszeit zu streichen und mich genauso zu empfangen, wie ich gerade sei: in Korkhelm, Khakianzug und kurzen Hosen, wobei es mich hoch entzücken würde, wenn auch er sich gleich formlos kleidete. Der Chef des Protokolls entgegnete in fließendem Französisch, daß sich Afghanistan keineswegs im Kriegszustand befände. Sein Land sei neutral und lasse sich durchaus nicht von seinen Gewohnheiten abbringen, nur weil andere Länder partout nicht miteinander in Frieden leben könnten. Als die Verbindung schließlich unterbrochen wurde, waren sich unsere Gemüter immer noch nicht entscheidend nähergekommen. Vergeblich versuchte ich, Kabul noch einmal zu sprechen. Wie ich später erfuhr, brauchte der Premierminister die Leitung, um einen kleinen Plausch mit seinem Schwager in Herat zu halten.
Am späten Nachmittag stoppten wir kurz vor Kabul bei einem riesigen Zelt, das einfach am Straßenrand errichtet worden war. In Khakianzug und Korkhelm wurde ich feierlich hineingeleitet und dem stellvertretenden Chef des Protokolls — selbstverständlich in großem Anzug — vorgestellt. (Später erzählte mir der Chef des Protokolls, der einer meiner besten Freunde wurde, daß er absichtlich ferngeblieben sei, da er sehr richtig befürchtet habe, ich werde seinen Rat ignorieren.)
Wir bekamen einige ausgezeichnete Melonen und Fruchtsäfte angeboten (Afghanistan ist streng antialkoholisch) und wurden dann zur Gästevilla der Regierung geleitet, wo wir wohnen sollten, bis wir passende Gebäude für uns gefunden hätten.
Als mich der stellvertretende Chef des Protokolls verließ, teilte er mir mit, der Außenminister werde mich empfangen, sobald es ihm nur möglich sei. In der Zwischenzeit würde ich mich ja gewiß an die internationalen Regeln halten und keinen Verkehr mit den übrigen Ausländern aufnehmen? Unheilschwer fügte er hinzu, daß der Außenminister sehr beschäftigt sei und es einige Zeit dauern könne, bis ich empfangen werden würde.
Am Ende einer Woche betätigungs- und unterhaltungslosen Herumsitzens im Gästehaus wurde ich endlich höchst kor-dial vom Außenminister empfangen und von ihm aufgefordert, meine Arbeit zu beginnen. Die Afghanen, schätze ich, hatten ausgerechnet, daß ich mittlerweile wohl gelernt haben würde, die Höflichkeitsregeln keines einzigen Landes mehr zu verhöhnen, ganz gleich, in welch entfernter Ecke der Welt es auch liegen mochte.
Sie hatten recht.