Boxkampf mit Wyschinski
Gleich nach unserer Ankunft in Kuibyschew stattete Botschafter Steinhardt dem amtierenden Außenkommissar Andrej Wyschinski einen Besuch ab. Ehe wir Moskau verließen, hatte Molotow Steinhardt mitgeteilt, daß er und Stalin auch nach Kuibyschew fliegen und uns dort treffen würden. Aber als wir in Kuibyschew ankamen, hielt Wyschinski die Festung allein.
Ich begleitete Steinhardt als Dolmetscher. Wir fanden Wyschinski in einem versteckten kleinen Hotelzimmer. Das Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten war noch nicht dazu gekommen, ein Büro zu eröffnen. Wyschinski bot Steinhardt den einzigen Stuhl an, während er selber sich neben mich auf die Bettkante setzte und so die geschäftlichen Angelegenheiten besprach. Er erzählte uns von dem abgeschlagenen Angriff der Deutschen auf Moskau und fügte hinzu, daß aus diesem Grunde die Regierung sich entschlossen habe, vorläufig doch noch im Kreml zu bleiben.
An den übrigen Fronten waren die Aussichten nicht so erfreulich. Wyschinski kam uns recht bedrückt vor.
Als wir uns zum Gehen wandten, sagte er unvermittelt zum Botschafter:
»Ich fürchte, ich muß Ihnen noch eine schlechte Mitteilung machen.«
Steinhardt stoppte mit der Hand auf der Türklinke. Wyschinski fuhr in leisem, ernstem Ton fort:
»Ja, wir müssen bekennen, daß wir bei dieser ganzen Geschichte einen bösen strategischen Schnitzer gemacht haben. Man kann nur hoffen, daß er uns nicht allzu teuer zu stehen kommt!«
»Aber was ist denn los?« unterbrach Steinhardt ungeduldig den Sermon.
»Hm, ja, sehen Sie«, meinte Wyschinski mit einem Seitenblick auf mich, »infolge der Totalverwirrung in Moskau haben wir das Ballett und die amerikanischen Junggesellen in dieselbe Stadt evakuiert!«
Wie sich ergab, wurde das Ballett dann während der folgenden kalten, düsteren Monate unsere einzige Rettung vor der tötenden Langeweile. Einen über den anderen Abend wurde »Schwanensee« gegeben, während an den dazwischenliegenden Abenden die Oper »Onjegin« spielte. Da sonst nichts zu tun oder zu sehen war, kannten die Ballett-Schwärmer die Choreographie der Schwäne zum Schluß auswendig.
Die ermüdende Eintönigkeit von Kuibyschew aber war am 7. Dezember 1941 plötzlich zu Ende. Als die Radiohörer an jenem Sonntagmorgen ihre Apparate einstellten, dauerte es nicht mehr lange, bis sie die aufregende Nachricht durch das ganze überfüllte kleine Gebäude, das die Botschaft beherbergte, verbreitet hatten. Die Wirkung dürfte auf die Amerikaner an der Wolga kaum anders gewesen sein als auf die am Mississippi. Zuerst waren wir etwas benommen, dann erlöst, am Geschehen teilzuhaben. Abends schon verfaßten die aktiven Offiziere Eildepeschen an das Kriegsministerium, in denen sie um Rücküberweisung in den Heeresdienst baten, während der Rest dringende Bittgesuche um die Erlaubnis zum freiwilligen Eintritt in die Armee entwarf. Leider muß ich bezweifeln, daß auch nur einer dieser Flehrufe zu Hause je gelesen wurde. Antwort hat jedenfalls keiner erhalten.
Einige Tage später, genauer gesagt: am 2,0. Dezember, brachte uns das Telegrafenamt frischfröhlich ein Radiogramm herüber, das bereits mehrere Tage zuvor aufgenommen worden war. Was es in der Zwischenzeit damit angestellt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich besitze den Originaltext noch und zitiere buchstabengetreu:
»YOU ARE INSTRUCTED TO NOTIFY IMMEDIATELY THE GOVERNMENT TO WHICH YOU ARE ACCREDITED THAT THE CONGRESS OF THE UNITED STATES ON DECEMBER II DECLARED THAT A STATE OF WAR EXISTS BETWEEN THE UNITED STATES AND GERMANY…«*
und so weiter. Signiert war es von Cordell Hull. Trotz der drolligen Schreibweise fiel es uns nicht besonders schwer, herauszufinden, was es uns über Pearl Harbour erzählen wollte. Als wir die Botschaft zum Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten durchgaben, beschwerte sich Wyschinski, daß wir ihn doch etwas allzu langsam über Dinge informierten, die er bereits vor neun Tagen im Radio gehört habe. Wir entschuldigten uns mit dem Hinweis, es sei wohl kaum unser Fehler, wenn das Telegrafenamt sieben Tage brauche, um die Nachricht aufzunehmen, und zwei weitere Tage, um sie über die Straße zu uns zu bringen.
Die Neuigkeiten waren vom russischen Standpunkt aus betrachtet so außerordentlich gut, daß selbst Wyschinski unserer Beschwerde nicht weiter nachging. Die russische Bevölkerung, inklusive der Ballerinen, geriet über die Aussicht, uns zu Alliierten zu haben, in einen wahren Freudentaumel. Ja, eine Zeitlang vergaßen sie sogar, daß wir im Grunde unseres Herzens nur Kapitalistenschweine waren. Überdies erwiesen sich die wenigen Luxusartikel, die wir von Moskau hatten herschaffen können, als eine nahezu unwiderstehliche Versuchung für unsere alten Freunde. Das Ballett, die Große Oper und ihr Orchester waren alle zusammen in einem Schulgebäude am Rande der Stadt zusammengepfercht. Sie hatten weder Möbel noch Betten noch allzuviel zu essen. Eine Einladung zum Dinner in der amerikanischen Botschaft, die in einem ebenso dürftigen, aber mit einer gewissen Menge Essen und Trinken versehenen Schulhaus lag, war nicht zu verachten.
Zudem war auch die Geheimpolizei, die für gewöhnlich allen Kontakt zwischen uns Amerikanern und der einheimischen Bevölkerung unterband, auf dem Wege hierher ziemlich durcheinandergeraten. Einige Monate lang schienen sie ausschließlich mit ihrer Akklimatisierung beschäftigt zu sein und sich kaum um die außerplanmäßigen Beschäftigungen der alliierten Diplomaten zu kümmern. Ihre Sorge, Decken und Eßbares aufzutreiben, ging tatsächlich so weit, daß sie sich hocherfreut aller Tips bedienten, die wir ihnen etwa hinsichtlich eines Kohlenlagers oder Vorrates an Bettzeug geben konnten. Es dauerte nicht lange, bis der Leiter des Moskauer GPU-Kontingents in Kuibyschew beinahe unser Busenfreund wurde. Er war sehr jung, sehr groß und hieß, wenn ich mich recht erinnere, Major Smirnow. Wir trafen uns häufig im Café des Grand Hotels und tauschten über einem Glas Wodka kostbare Geheiminformationen der obenerwähnten Art aus. Als sich seine Organisation dann schließlich doch häuslich eingerichtet hatte und ihre alte Angewohnheit, uns überallhin zu verfolgen, wieder aufnahm, beschwerte ich mich häufig bei ihm über den wilden Eifer seiner Leute, doch wies er den Vorwurf jedesmal entrüstet meilenweit von sich: um Himmels willen, nicht seine Leute, sondern irgendwelche rüden Burschen der örtlichen Geheimpolizei zeichneten dafür verantwortlich! Ich glaubte ihm zwar nie und drohte oft, unsere freundschaftlichen Beziehungen abzubrechen, wenn er nicht endlich aufhörte, unseren jungen Attachés nachzuspüren, deren Beziehungen zum Ballett zur Aufrechterhaltung der Kampfmoral dringend erforderlich seien.
Natürlich half es kaum.
Und dann besuchte ich am Neujahrsabend ein Fest im Grand Hotel, um den Beginn des Jahres 1942 gebührend zu feiern. Als ich meiner Ansicht nach genug gefeiert hatte, brach ich auf, um nach Hause zu gehen, machte aber den großen Fehler, am Eingang des Hauptfestsaales einen Augenblick anzuhalten und einen Blick hineinzuwerfen. Der überwiegende Teil des Diplomatischen Korps und die ausländischen Korrespondenten waren schwer damit beschäftigt, über dem von der Sowjetregierung für diesen Tag besorgten Wodka die Enttäuschungen Kuibyschews zu vergessen. In einer entfernten Ecke sah ich Major Smirnow mit einer Anzahl seiner kleinen blauen Männer feiern, wie alle rundum.
Smirnow fing meinen Blick auf und signalisierte mir, zu ihm herüberzukommen, doch ich schüttelte verneinend den Kopf und ging schleunigst zur Tür hinaus. Er fegte hinter mir her und bestand darauf, daß ich noch ein Glas mit ihm trinke.
»Ich habe mein Quantum längst intus«, wehrte ich ab, »und zudem pflege ich nach Mitternacht keinen Umgang mehr mit der GPU!«
Das aber schien sein Feingefühl zu verletzen, denn das nächste, an das ich mich erinnere, war, daß ich von einem halben Dutzend seiner Rowdies hochgehoben und im Handumdrehen an seinen Tisch befördert wurde. Sobald ich sicher im Sessel neben ihm untergebracht war, bestellte Smirnow eine Karaffe Wodka für sich und eine weitere für mich.
»Wenn Sie die Karaffe leer haben, können Sie nach Hause gehen«, sagte er liebenswürdig, aber bestimmt.
Was blieb mir anderes übrig, als tapfer zu trinken? Smirnows Begleiter hatten das offensichtlich schon allzu wacker getan und fühlten sich nunmehr der Situation nicht hundertprozentig gewachsen. Neben mir schlummerte einer sanft. Sein Kopf pendelte im Rhythmus seines Schnarchens auf und nieder, wie die Haselmaus auf der Teegesellschaft in »Alice im Wunderland«.
Meine Karaffe war etwa zur Hälfte geleert, als mir einfiel, daß ich ja mit Smirnow ein Hühnchen zu rupfen hatte:
»Es ist schon scheußlich genug, wenn alle unsere Attachés durch Ihre Plattfüßler halb um den Verstand gebracht werden«, sagte ich geradeheraus, »aber jetzt fangen Sie sogar mit mir an. Als der am längsten in Rußland lebende amerikanische Diplomat nehme ich das schwer übel! Schließlich sind wir jetzt sogar Alliierte, und ich habe schon Stalins Hand geschüttelt!«
»Ich ebenfalls«, trompetete Smirnow, »aber abgesehen davon folgt Ihnen niemand! Es ist ein Hirngespinst von Ihnen, eine fixe Idee! Als Sie sich das letztemal beschwerten, habe ich persönlich nachgesehen; es stimmt einfach nicht. Ich habe die komplette Liste durchgeblättert. Sie stehen gar nicht drauf! Ich verwahre mich energisch gegen den Vorwurf, meine besten Freunde beobachten zu lassen!«
Er schien mir doch etwas zu heftig zu protestieren, deshalb fuhr ich fort: »Ach — und könnten Sie mir vielleicht mal eben erklären, was der Wagen Nummer 68-879 vorgestern den Tag über gemacht hat?«
Der Haselmäuserich neben mir wachte auf und sah mich
an:
»Was war das für ‘ne Nummer?« fragte er schläfrig.
Ich wiederholte sie. Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und sah einen Augenblick hinein.
»Verdammt gutes Gedächtnis«, murmelte er und sank wieder in Schlaf.
Smirnow lärmte: »Der Kerl ist ja stinkbesoffen! Weiß überhaupt nicht, wovon er spricht! Dem werd’ ich morgen die Hölle verflucht heiß machen!« Aber er wußte natürlich, daß sein Spiel aus war, und hörte bald auf zu protestieren. Zwei Minuten später hatte ich den letzten Tropfen Wodka aus meiner Karaffe geschluckt, wünschte der GPU ein fröhliches neues Jahr und trat leise schwankend den Heimweg an.
Wie man sieht, war das Leben in Kuibyschew doch nicht immer so langweilig und düster, wie von einer kleinen, übervölkerten Provinzstadt zu erwarten war, wo die Temperatur nur selten über minus dreißig Grad Celsius klettert und der Wind selten unter Windstärke fünf sinkt. Und dann wendeten sich die Dinge an der Front. Als wir Moskau verließen, strömten die deutschen Armeen so schnell über die Steppen, wie ihre motorisierten Divisionen sich nur eben durch den russischen Dreck wühlen konnten. Dann aber verlangsamte sich ihr Vormarsch in Südrußland und kam vor Moskau zum Halten. Im Dezember erfolgte die russische Gegenoffensive am Don.
Ich reiste derweilen durch Zentralasien. Der polnische Premierminister Sikorski und Andrej Wyschinski machten in einem Sonderzug eine Inspektionstour durch die Ausbildungslager der in Rußland aufgestellten neuen polnischen Armeen. Es war eine ziemlich trostlose Fahrt. Die neuen polnischen Divisionen zerfielen in zwei Kategorien: die mit Schaufeln und die ohne. Die Divisionen mit Schaufeln konnten Unterstände ausheben, um sich vor den über die asiatischen Steppen fegenden bitterkalten Winden zu schützen. Die ohne Schaufeln mußten über der Erde frieren.
In jedem Lager, das wir besuchten, wurden riesige Mengen Nahrungsmittel aus unserem Zug ausgeladen und ein großes Bankett arrangiert. Die polnischen Offiziere waren über die reichgedeckten Tafeln hoch entzückt, doch quälte sie jedesmal der Gedanke, wir könnten das für ihren üblichen Eßstil halten. Wir beruhigten sie über diesen Punkt. Jedes Bankett — vom Silber bis zum Kellner — glich so sehr dem vorherigen, daß allen Beteiligten klar war, aus welcher Quelle es gespeist wurde.
Jedes Bankett war darüber hinaus natürlich der Anlaß zu einer kaum endenden Kette von Toasten und Ansprachen ä la Slave. Russen und Polen haben im Verlaufe ihrer Geschichte verhältnismäßig wenig miteinander zu tun gehabt, aber sobald dies der Fall ist, wird’s haarig für die Nichtslawen, die zufällig zugegen sind. Das Hauptthema der Reden und Trinksprüche war der bevorstehende Sieg über die Deutschen. Und die Polen waren trotz ihres völligen Mangels an Kleidung, Nahrung, Unterkünften und selbst Waffen nur von dem einen brennenden Verlangen besessen, das sie stur und monoton endlos wiederholten: an die Front geschickt zu werden! Und immer wieder beantwortete Wyschinski ihre Bitten mit dem Versprechen, daß sie — sowie sie nur vorschriftsmäßig ausgerüstet sein würden — bestimmt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ihre Tüchtigkeit beweisen könnten. Doch das befriedigte die Polen kaum. Sie versicherten, auch mit dem bereits Vorhandenen kampfbereit zu sein. Ja, sie fielen sogar vor Wyschinski auf die Knie und flehten ihn an, sie sofort gehen zu lassen. Dieser blieb hartnäckig bei seiner Forderung, sie zunächst gründlich bewaffnet zu sehen.
Einige Monate später fielen mir diese leidenschaftlichen Szenen zwangsläufig wieder ein. Zwischen der Regierung Sikorski und dem Kreml hatte es scharfe Auseinandersetzungen gegeben, und der letztere hatte sich entschlossen, die polnischen Einheiten in Rußland aufzulösen. Zur Erklärung dieses Vorgehens hielt Wyschinski in Moskau eine Pressekonferenz ab, in welcher er der Welt mitteilte, daß die polnischen Truppen entlassen würden, weil sie sich weigerten, gegen die Deutschen zu kämpfen.
Die Inspektionstour mit Wyschinski und Sikorski endete in Saratow, einer etwa dreihundertfünfzig Kilometer südlich von Kuibyschew gelegenen Provinzstadt. Sikorski nahm von hier aus ein Flugzeug nach Teheran und flog von dort nach London. Wir übrigen sollten nach Kuibyschew zurück, doch hatte niemand die geringste Ahnung, wie und womit. Schließlich fanden wir heraus, daß Wyschinski ein Flugzeug startbereit hatte, und ich fuhr zum Flugplatz, um mein Heil zu versuchen. Aber Wyschinski behauptete, seine Maschine sei voll. Ich könne mit dem Spezialzug zurückfahren, der uns hergebracht hätte. Ich wies darauf hin, daß er nicht mehr da sei und es auch mindestens fünf Tage dauern würde, während meine Order mir umgehend zurückzukehren befahl. Doch wieder wurde Wyschinski halsstarrig. Während ich am Fuße der zur Kabine hochführenden Leiter stand, lehnte er sich auf der obersten Stufe gegen das Flugzeug, lächelte strahlend liebenswürdig auf mich herab und sagte »njet«. Wyschinskis »Nein« wurden später bei der UNO berühmt, doch war jenes frühe »Njet« das für mich eindrucksvollste. Der Wind pfiff über den Flugplatz, das Thermometer stand um minus fünfundvierzig Grad Celsius, und die Aussicht, in Saratow hängenzubleiben, war mehr, als ich aushalten konnte.
Ich will nun nicht behaupten, auch nur annähernd so beredsam zu sein wie einige unserer Regierungsvertreter, aber nachdem ich eine Viertelstunde lang im Wind der Saratower Ebene vor Kälte gebibbert und Wyschinski in allen Tonlagen angefleht hatte, gab er plötzlich nach und lud mich mit weiter, wohlwollender Gebärde ein, nach oben zu kommen. Ja, er forderte mich sogar auf, mich neben ihn auf die harte Metallbank der Kabine zu setzen.
Das Flugzeug war ein C-47er Truppentransporter, in dessen Kabinendecke ein Maschinengewehrturm war. Leider fehlte das Maschinengewehr — und die Kuppel auch. So hatte die Decke nur ein großes offenes Loch, durch das der Wind heulte, als wir in volle Fahrt kamen.
Wie kalt es in der Kabine wurde, weiß ich nicht. Ganz genau aber weiß ich, daß ich trotz doppelt gefütterten Pelzstiefeln, etlichen Paar Pelzhandschuhen und zwei Pelzmänteln eine Viertelstunde nach dem Start halb erfroren war. Augenscheinlich war ich es nicht als einziger, denn Wyschinski begann in seiner Aktentasche herumzuwühlen und förderte eine große Flasche sowjetischen Brandy zutage, die er entkorkte und mir reichte. Ich nahm einen tiefen Zug. Er machte es mir nach und gab die Flasche an die übrige Gesellschaft weiter, die aus einigen amerikanischen Offizieren, Wyschinskis Leibwache und einem Sowjetfotografen bestand. Nach ein paar Runden war die Flasche leer, und wir kauerten uns wieder in unsere Sitze, um erneut der Kälte zu trotzen. Eine weitere Viertelstunde verstrich. Der Frost schüttelte mich von oben bis unten; meinem Nachbar, Kommissar Wyschinski, erging es nicht besser. Plötzlich tauchte er mit einem bitteren Stöhnen wieder in das Dunkel seiner Ledertasche und brachte eine weitere Flasche Brandy zum Vorschein. Wir leerten sie, wenn möglich, noch schneller als die erste und fielen wiederum in frierendes Schweigen. In dieser Höhenlage dauerte es nicht lange, bis uns der Alkohol zu Kopfe stieg. Die restlichen Extremitäten blieben leider kalt wie zuvor.
Ich saß in meinen Pelz vergraben da, starrte auf den Boden und war gespannt, wie lange ich es noch aushalten würde, als Wyschinski abrupt aufstand.
»Brandy ist keiner mehr da«, sagte er, »und wenn wir nicht irgend etwas unternehmen, werden wir erfrieren. Wir wollen boxen!« Ohne weitere Präliminarien landete er einen Haken gegen meinen Magen. Wyschinski gehörte nie zu denen, die ihre Schläge erst telegrafisch ankündigten. Das nächste, was ich zu spüren bekam, war eine schnelle Rechte in meiner Mitte. Die Pelze milderten die Schläge etwas, und ich erwiderte umgehend mit einem Schlag in seine Rippen, den ich für einen Knockout für ausreichend hielt. Im Handumdrehen folgten die übrigen unserem Beispiel, und eine allgemeine Schlägerei kam in Gang.
Ein Boxkampf in Pelzmänteln und etliche tausend Meter hoch wird für die Beteiligten leicht zur Anstrengung. So dauerte es nicht lange, bis wir alle außer Atem waren und uns in der durch die böige Luft rollenden und taumelnden Maschine nur notdürftig auf den Beinen hielten. Eine Linke Wyschinskis nahm mir die Balance, und ich sackte zu Boden. Aber Wyschinski selber erging es nicht viel besser. Als er seinen Schlag gelandet hatte, verlor er ebenfalls das Gleichgewicht und fiel bumsend auf mich. Mittlerweile waren auch alle restlichen Passagiere total ermattet und fanden, daß ich eine angenehme Matratze sei.
Alle — das heißt bis auf den Sowjetfotografen, der ein gutes Bild wohl zu schätzen wußte, wenn er’s vor sich sah. Wie der Blitz war er mit seiner Kamera auf einer Kiste und machte einen Schnappschuß. Das Ergebnis war eine trauliche kleine Gruppe, auf dem Fußboden eines Flugzeuges um den Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wyschinski, versammelt. Der einzige nicht sichtbare Passagier war ich, der unter den Mänteln und Stiefeln der anderen begraben war.
Zum guten Schluß erreichten wir dann Kuibyschew doch noch. Eine Woche später kämpfte ich mich gegen einen Sturm die Hauptstraße entlang vorwärts, als ich meinen Freund, den Fotografen, anrempelte, der das Wetter ebensowenig genoß wie ich. Ich lud ihn zu einem Drink an der Bar des Grand Hotels ein. Wenige Minuten später schon machten wir es uns vor einer Karaffe guten Wodkas gemütlich. So vorsichtig wie möglich brachte ich die Unterhaltung auf unseren Flugtrip von Saratow und den Boxkampf der Prominenz.
Nach etwa der dritten Runde Wodka fragte ich ganz nebenbei, ob das Foto was geworden sei. Grinsend faßte der Fotograf in die Tasche und zog seinen Schnappschuß heraus. Eine Achtelsekunde später befand es sich in meiner Tasche, und der Fotograf brüllte Zeter und Mordio.
»Sie können es mir nicht wegnehmen! Das ist Staatseigentum! Ich rufe die Polizei!«
Ich setzte ihm geschwind auseinander, daß die Fotografie in meiner Tasche wesentlich sicherer sei als in der seinen und daß ein Bursche, der Wyschinski betrunken auf dem Fußboden eines Flugzeugs knipste, die Polizei am besten gar nicht erst riefe, weil sonst er es sei, der mit ihr aneinandergerate. Der arme Mann sah die Logik meiner Ausführungen ein und ergab sich in sein Schicksal.
Das Foto des Luft-Boxkampfes verschwand umgehend zwischen meinen Papieren. Erst als Wyschinski wegen seiner Nörgeleien in der UNO von sich reden machte, suchte ich es wieder hervor. Jetzt hängt es in meinem Büro an der Wand.
Selbst im Auswärtigen Dienst sind Abkommandierungen an Orte wie Kuibyschew nicht von Dauer. Ich bekam die Anweisung, weiterzureisen: nach Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, wo ich, wie mir das State Department mitteilte, eine neue diplomatische Mission einrichten sollte. Weshalb sich das Department ausgerechnet jemanden aus den Steppen Rußlands dafür aussuchte, mitten im Hindukusch einen neuen Laden aufzumachen, begriff ich nicht ganz. Vielleicht, dachte ich, hielten sie mich für besser akklimatisiert und an das Leben in freier Wildbahn gewöhnt. Später erfuhr ich, daß es noch einen weiteren Grund gab. Als etwa sieben Jahre zuvor die Afghanen die Amerikaner durch die Vermittlung Botschafter Bullitts zu überreden versucht hatten, in Afghanistan eine Gesandtschaft zu eröffnen, hatte ich mir die wortreiche und beredte Schilderung des afghanischen Gesandten über das Leben in seinem Lande angehört und beiläufig gegenüber Bullitt erwähnt, daß es eine ganz amüsante Aufgabe sein müsse, dorthin zu gehen. Und als sich das Department acht Jahre später entschloß, der Bitte zu entsprechen, stand auf der Liste als einzige Person, die jemals vorgeschlagen hatte, nach Afghanistan geschickt zu werden — ich selber.
Um jedoch dem Department volle Gerechtigkeit zukommen zu lassen, muß ich hinzufügen, daß ich diese Versetzung niemals bedauert habe.
Ich brauchte nicht lange, aus Kuibyschew abzureisen. Bevor ich ging, gab ich noch ein großes Abschiedsfest. Der leise Verdacht, daß mich nach mehr als sieben Jahren Rußland selbst das State Department nicht sehr bald wieder hierhin zurückschicken würde, war nicht von der Hand zu weisen und eine Feier deshalb wohl angebracht.
Um die ständige Speisekarte — Schwarzbrot und Büchsenwürstchen — etwas zu bereichern, schickte ich den Botschaftsdiener, mit einer Kiste Wodka, einigen Goldstücken und etlichen Sack Zucker ausgerüstet, aufs Land, damit er ein Schwein erhandle. Er bekam es auch, nur war es leider erst wenige Monate alt und nicht viel mehr als dreißig Zentimeter lang. In Zucker, Wodka und Gold umgerechnet, kostete es etwa zweihundert Dollar.
Das Fest war so fröhlich, wie alle Feste in Rußland sind, und dauerte mehrere Tage. Schließlich aber konnte ich mich aus dem Staube machen, nahm Midget und Yang und fuhr zum Flughafen, wo ich eine Maschine nach Teheran nehmen wollte.
Der Flughafenleiter bestand darauf, daß Hunde nicht mitfahren dürften. Glücklicherweise hatte irgend jemand Wodka mitgebracht, um uns während der auf allen Flughäfen üblichen Verspätung warm zu halten. Ich gab die Flasche dem Leiter. Als die Maschine endlich beladen und startbereit war, wäre es ihm sogar Wurscht gewesen, wenn ich eine Herde Kühe mitgenommen hätte.