Zurück nach Moskau
Nach vier Jahren Moskau und einem Jahr Berlin hatte mir das State Department mitgeteilt, ich brauchte für die nächsten zehn Jahre nicht wieder nach Sowjetrußland zu gehen. Bereits neun Monate danach erreichte mich in Hamburg ein Telegramm, das mich kurz und bündig nach Moskau zurückbefahl, und zwar »baldmöglichst«. (Das State Department würde es am liebsten sehen, daß man einen neuen Posten antritt, ehe die Order dazu auch nur im Briefkasten steckt, aber ich muß die Arbeitsstelle noch finden, wo man nicht baß erstaunt ist, einen Neuangekommenen so früh zu erblicken. Ob ich das State Department am Ende zu ernst nehme?)
Diesmal war ich fest entschlossen, noch einen langen Blick auf den Westen zu werfen, bevor der Krieg ihn in Schutt und Asche verwandelte. Über das noch neutrale Belgien machte ich mich also zu einem zehntägigen Urlaub nach London auf und erreichte spätabends bei Aachen die deutsche Grenze. Hier wurde mir als erstes mitgeteilt, die Grenze sei »für die Nacht« geschlossen. Die Zollbeamten waren stur und wollten von Ausnahmen nichts wissen, bis ich geheimnisvoll von wichtigen Dokumenten flüsterte, die ich zu befördern hätte. Um jene Zeit hielt sich Sumner Welles zur Besprechung eines etwaigen Friedens in Berlin auf, und selbst Hitlers Zöllner wünschten den Krieg nicht zu verlängern, wenn es sich verhindern ließ. Obschon ich es nicht ausdrücklich behauptet hatte, schienen sie offensichtlich anzunehmen, ich transportierte Friedensvorschläge, und hielten meine Zurückhaltung in diesem Punkt wohl für äußerste Geheimhalterei oder gar für Bescheidenheit. Tatsächlich war mein Paß das einzige offizielle Dokument in meinem Besitz. Doch nun wurden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, die Grenze wieder zu öffnen und den mysteriösen Kurier durchzulassen. Um mich die zwei Kilometer bis zur belgischen Bahnstation zu befördern, bemühten sie sich um ein Auto oder einen Pferdewagen, trieben aber schließlich nur ein Fahrrad auf. Nachdem ich meinen Koffer ans Rad geschnallt hatte und gut und wohl in die schwarze Nacht hinausradeln wollte, gab mir der Oberzöllner noch beiläufig eine Warnung mit auf den Weg. Der äußerste Grenzposten sei per Telefon nicht zu erreichen und deshalb von meinem Kommen nicht in Kenntnis gesetzt. Es bestehe also immerhin die Möglichkeit, daß er auf mich schösse. Der wackere Beamte setzte voraus, ich nähme dieses Risiko frohgemut auf mich. Mir freilich gefiel der Gedanke, wegen eines zusätzlichen Ferientages in Nacht und Nebel erschossen zu werden, nicht sonderlich. Außerdem war die internationale Lage auch gespannt genug, ohne daß amerikanische Vizekonsuln im Dunkeln um die Ecke gebracht zu werden brauchten. Ich teilte ihm deswegen höflich mit, daß ich gegen die Übernahme eines solchen Risikos energisch protestieren müsse, band meinen Koffer wieder los und stiefelte ins Bahnhofshotel, wo ich bald in einem gemütlichen Zimmer untergebracht wurde. Kaum war ich aber eingeschlafen, als sich der oberste Leiter des Grenzschutzes bei mir melden ließ.
Ob es mir vielleicht etwas ausmache, die Grenze auf einer Eisenbahnlok zu überqueren, die sie für mich aufgetrieben hätten? Ich fand, daß eine Dampflokomotive sicher genug sei, und in weniger als einer halben Stunde fuhr ich im Führerstand meines Privatzuges nach Belgien hinüber. Am gleichen Abend noch wurde ich in den besten Restaurants von London als »letzter Ankömmling« aus Deutschland gefeiert.
Drei Tage lang riß sich die ganze Stadt um mich. Dann kreuzte jemand Neues aus Deutschland auf, und ich war »passé«. Zudem ereignete sich noch eine Kleinigkeit, die meine Abfahrt nach Moskau beschleunigte. Ich hatte aus Hamburg einige Exemplare von der RAF abgeworfener Flugblätter mitgebracht. Sehr wenige davon waren wirklich bis Hamburg gekommen — vermutlich infolge eines kleinen Irrtums über die geographische Lage der Stadt. Zwanzig Kilometer nördlich von Hamburg befand sich ein großer Wald, den ich häufig übers Wochenende zur Jagd aufsuchte und der jetzt in Flugblättern geradezu versank. Nach dem späteren Zustand Hamburgs zu urteilen, hat die RAF den navigatori-schen Fehler, der zu dieser Deplacierung führte, bald korrigiert.
Aus irgendeinem Grund—vielleicht aus Bescheidenheit seitens des Informationsministeriums, wahrscheinlicher jedoch aus begreiflicher Besorgnis vor der (nicht ganz unverdienten) öffentlichen Kritik an der Qualität der Flugblätter — galten diese als »geheim«, und die englischen Zeitungen konnten keine Abzüge bekommen. Ohne die ängstliche Zurückhaltung des Informationsministeriums auch nur zu ahnen, hatte ich gleich am ersten Abend in London meinen Vorrat an Flugblättern freigebigst unter verschiedene amerikanische Journalisten verteilt. Am nächsten Morgen schon zierte ein Abdruck davon die Titelseite einer führenden Londoner Zeitung. Unverzüglich häuften sich im Unterhaus die Proteste, und man beschloß, die Lücke in der Absperrung zu suchen. Ich reiste am nächsten Tag nach Moskau ab.
Moskau hatte sich in den zwei Jahren meiner Abwesenheit nicht allzusehr verändert. Unter den Diplomaten gab es einige neue Gesichter, und es waren mehr Deutsche da als früher. Politisch war man ein bißchen Zickzack gefahren, mit dem Ergebnis, daß die Deutschen nun als liebe Freunde und die Amerikaner als böse Feinde betrachtet wurden. Aber das bedeutete für die deutschen Diplomaten äußerste Höflichkeit gegenüber allen offiziellen russischen Stellen. Sie konnten es sich nicht länger erlauben, das rote Licht zu überfahren oder einen sowjetischen Schutzmann zum Teufel zu schicken oder rüde Bemerkungen über den Fünfjahresplan zu machen. Ein deutscher Diplomat, Gebhard von Walther, drückte es so aus: »Oh, um die guten alten Tage der schlechten Beziehungen!«
Unser Kontakt mit der russischen Bevölkerung war wenn möglich noch begrenzter als je zuvor, und das Reisen begann unvorstellbar schwierig zu werden. Nachdem ich wieder heimisch geworden war, machte ich einen Versuch, aufs Land hinauszukommen. Zuerst bat ich Intourist um einen reservierten Platz auf einem der Wolga-Vergnügungsboote; Intourist bedauerte unendlich und teilte mir mit, sämtliche Wolgadampfer befänden sich augenblicklich in Reparatur. Ich bat darum, ein Gestüt in der Nähe Moskaus besichtigen zu dürfen. Leider war auch das wegen Reparatur geschlossen. Als ich mich erkundigte, wie man ein Gestüt zu Reparaturzwecken schließen kann, erklärte man höflich, man sei. zum größten Bedauern nicht Experte auf diesem Gebiet. Schließlich machte man mir den Vorschlag, mit dem Flugzeug nach Rostow am Don zu fliegen und einige Kolchosen der dortigen Gegend zu besuchen. Der Flug war etwas hektisch, da die Maschine eigentlich auch in Reparatur hätte sein sollen; doch kamen wir nach einigen wenigen unvorhergesehenen Stopps in Rübenfeldern und gottverlassenen Steppen wohlbehalten in Rostow an, wo mir die Stadtbehörden einen herzbewegenden Empfang bereiteten.
Ich bat sie, für den nächsten Tag den Besuch einiger Kolchosen zu arrangieren. Sie sahen sich gegenseitig bestürzt und verlegen an, bis einer kopfschüttelnd erwiderte, leider gäbe es im gesamten Rostower Bezirk keine Kolchose, doch sei mitten in der Stadt eine wundervolle Champagnerfabrik. Ich entgegnete, daß ich keine Champagnerfabrik zu sehen wünsche, aber höchst erstaunt darüber sei, daß sie mir ihre Kolchosen nicht zeigen wollten. Sie beteuerten leidenschaftlich, es sei eine ganz besondere Champagnerfabrik, die jeder gebildete Mensch einfach gesehen haben müsse, da es sich um eine tief wissenschaftliche Angelegenheit handle und der Champagner wirklich hervorragend sei. Außerdem lägen die nächsten besichtigungswürdigen Kolchosen mehrere hundert Kilometer weit weg. Ich antwortete, ich sei überzeugt von der Qualität des Champagners, wünsche ihn aber trotzdem nicht zu probieren und müsse mich nur wundern, daß im Rostower Gebiet keine Kollektivfarmen bestünden. Ich fügte hinzu, auch meine amerikanischen Zeitungsfreunde in Moskau würden gewiß daran interessiert sein, zu erfahren, daß im Gegensatz zu dem Eindruck, den ihnen die Sowjetpresse vermittle, der Rostower Bezirk nicht zu 99,9 Prozent kollektiviert sei. Unter diesen Umständen hielte ich es für angebracht, sie telegrafisch über den bedeutsamen Fehler aufzuklären. Ob sie mir wohl ein Telegrammformular besorgen könnten, damit ich den Moskauer Korrespondenten der »New York Times« verständigte? Die Stadtvertreter sahen noch verstörter drein und fragten, ob ich nicht lieber auf mein Zimmer gehen und baden möchte. Ich sagte, es wäre doch wohl richtiger, zunächst das Programm für den folgenden Tag auszuarbeiten. Andernfalls ergäben sich vielleicht am nächsten Morgen ernstliche Hemmnisse und Unbequemlichkeiten. Sie überlegten sich den Fall gründlich und erinnerten sich schließlich vage, daß etwa zwanzig Kilometer entfernt vielleicht doch eine winzige Kolchose sei, die wir nach der Champagnerfabrik besichtigen könnten. Ich erklärte mich einverstanden, falls sie versprächen, daß der Wagen, der mich zur Sektkellerei brächte, zu meiner Verfügung bliebe und nicht in die Reparaturwerkstätte müsse, sobald er mich sicher in der Fabrik deponiert habe. Sie sahen die Logik meiner Forderung ein und schworen mir hoch und heilig, ich könnte das Intourist-Auto den ganzen Tag haben.
Am andern Tage fuhr mich ein Intourist-Ford zur Champagnerfabrik. Ich erledigte die Besichtigung in einem so rasanten Tempo, daß ich am Ende meine Suite gut hundert Meter hinter mir ließ. Als ich wieder auf den Hof kam, war mein Ford natürlich futsch.
Während ich mich noch laut tobend beschwerte, kam der Direktor herangerannt und erklärte mir, wir würden in seinem Büro zu einer kleinen Sektprobe erwartet. Ich sagte, ich tränke niemals vor Mittag Alkohol und gedächte darüber hinaus auch so lange weiterzubrüllen, bis ein Wagen zur Stelle sei, um mich augenblicklich zu meiner Kolchose zu fahren. In diesem Moment erschien der Vorsitzende des städtischen Sowjets, der Bürgermeister, auf der Bildfläche und versprach mir seinen eigenen Wagen, wenn ich bloß eben vorher zur Sektprobe käme. Jammernd sagte er, daß sich die gesamte höhere Beamtenschaft, eingeschlossen die Leiter des Kreissowjets (der Gouverneur) und des Stadtrates bereits auf die Sektprobe freuten, seit Moskau ihnen mein Kommen gemeldet habe. Sie würden tief enttäuscht sein, wenn ihr amerikanischer Freund sie im letzten Moment im Stiche ließe. Außerdem sei es schon elf Uhr, und sicherlich würde ich einmal um der russisch-amerikanischen Beziehungen willen eine Fünf gerade sein lassen und meine Nüchternheitsgrenze um eine Stunde vorverlegen. Ich blieb hinsichtlich des Autos skeptisch, bis sie sich dazu herbeiließen, mir den Schlüssel auszuhändigen, damit niemand es wegnehmen konnte. Ich stopfte den Schlüssel tief in die Tasche und begab mich zur Rostower Elite ins Probierzimmer.
Die Affäre begann mit der üblichen Anzahl Toasts: auf Stalin, auf Roosevelt, auf Hull, auf Molotow, auf Mikojan, auf den Leiter unseres Ernährungsministeriums... (Wer war eigentlich der amerikanische Ernährungsminister?) Anschließend pries der Fabrikdirektor in einer endlosen Ansprache die sowjetische Industrie und führte beredsam aus, wie Stalin jedermann durch riesige Mengen Champagner glücklicher zu machen wünsche. Dann erhob sich der technische Direktor, ein alter Franzose, der irgendwie nach der Revolution in Rußland gestrandet war, und richtete einen dringenden Appell an die Winzer Frankreichs, sich ein Beispiel an den progressiven russischen Sektspezialisten zu nehmen und zu lernen, wie man in sechs Monaten guten Champagner macht, anstatt in jahrelanger Arbeit das bisherige filzige, widerliche Kapitalistengesöff zu produzieren. Im Niedersetzen flüsterte er mir zu:
»Haben Sie schon jemals solchen Mist gehört?«
Mittlerweile hatte ich genug probiert und verkündete, daß ich nunmehr zu gehen gedächte. Ein Sturm des Protestes erhob sich. Sie wären ja noch nicht einmal dazu gekommen, mir ihren neuen roten Champagner zu zeigen, den sie gerade erst — dank Stalin und Mikojan — erfunden hätten. Ich sagte, roten Champagner hätte ich schon in Frankreich probiert, und zudem sei er mir vom Arzt verboten. Schade; doch wie wäre es mit sechzigjährigem Cognac Napoleon, den zu fabrizieren ihnen soeben — dank der fortschrittlichen russischen Wissenschaft — nach nur drei Monaten gelungen sei? Ich bedauerte außerordentlich, daß mich sechzigjähriger Kognak immer krank mache. Aber wenigstens ihren alkoholfreien Champagner könnte ich doch probieren? Mein Gesicht verzog sich bei diesem Vorschlag derartig, daß sie befürchteten, mir würde auf der Stelle übel. Schließlich gaben sie es auf und begleiteten mich in langer Prozession zum wartenden Wagen. Erst nachdem ich mich ganz bequem neben den Fahrer gesetzt hatte, gab ich ihm den Schlüssel und befahl loszufahren. Der Bürgermeister und ein kleiner Mann im vertrauten blauen Sergeanzug der GPU, der mir als Diplomlandwirt vorgestellt worden war, nahmen hinten Platz.
Vor der Abfahrt wurde zwischen dem Bürgermeister, dem »Diplomlandwirt« und dem Chauffeur eifrig geflüstert. An der ersten Kreuzung schlug der Fahrer die Richtung zur Stadt ein. Ich wies energisch darauf hin, daß ich schon früher in Rostow gewesen sei, daß er nicht aus der Stadt hinaus, sondern in sie hinein fahre, daß ich ganz genau wisse, es gäbe keine Kolchose im Rathaus, und daß ich ihn ersuche, gefälligst schnellstens die andere Richtung einzuschlagen. Mein Vorgehen schien ihn zu beeindrucken; denn er drehte achselzuckend das Steuerrad hemm und fuhr aufs offene Land zu.
Nach zehn Minuten Fahrt beugte sich der »Diplomlandwirt« vor und flüsterte dem Fahrer aufgeregt etwas ins Ohr. Ich war durchaus nicht erstaunt, als er einen Augenblick später die Luftklappe fast aus dem Armaturenbrett riß. Der Motor spuckte und starb ab. Der Fahrer sah hocherfreut aus und sagte:
»Bedaure, Maschine kaputt. Wir müssen umkehren.«
Ich beugte mich vor, drückte die Luftklappe wieder hinein und ermunterte ihn, auf den Starter zu treten und weiterzufahren. Ich sei zwar kein fortschrittlicher Sowjetchauffeur, gab ich zu, verstünde jedoch einiges von amerikanischen Kapitalistenautos. Der Fahrer zuckte wieder mit den Schultern, startete und brauste los.
Fünf Minuten vergingen, dann begann der »Diplomlandwirt« erneut mit dem Fahrer zu flüstern. Im nächsten Moment schon stellte er den Motor ab, sprang aus dem Auto, hob die Haube hoch und rückte der Maschine mit einem Schraubenschlüssel zu Leibe. Mir war klar: Ließ man ihm nur halbwegs die Chance, würde er ihn in seine Bestandteile zerlegen. Deshalb glitt ich in den Führersitz, startete und rief dem Fahrer zu, daß er, falls er mitkommen wolle, hinten aufspringen könne. Nach diesen Worten brauste ich in ziemlichem Tempo die Straße entlang.
Hinten rückte man unverzüglich tiefentrüstet zusammen und versuchte, die Situation zu retten. Ich besäße kein Recht, ein Staatsautomobil zu fahren. Ich sagte kühl, der Bürgermeister habe es mir persönlich geliehen, und schließlich sei es nicht meine Schuld, wenn der Fahrer entweder ein Dummkopf oder ein Saboteur wäre. Der Bürgermeister gab daraufhin nach, doch der »Diplomlandwirt« widmete sich der Sache mit verstärkter Vehemenz. Ich hätte kein Recht, ohne Führerschein Auto zu fahren. Ich zog meinen Führerschein heraus und reichte ihn zur Inspektion nach hinten. Ich machte mich einer Übertretung der Verkehrsgesetze schuldig und werde festgenommen werden.
Ich reichte ihm meinen Diplomatenausweis, auf dem stand, daß ich nicht verhaftet werden durfte.
Ich entführte den Bürgermeister, und man werde es nach Moskau melden, damit man mich bei meiner Rückkehr bestrafe.
Ich stoppte und bat den Bürgermeister, auszusteigen, falls er das wünsche. Er blieb sitzen, und ich fuhr weiter. Mittlerweile befanden wir uns weit vor der Stadt. Zu beiden Seiten erstreckten sich die unermeßlichen Weiten des Dontales. Ungefähr einen Kilometer weiter passierten wir Hütten und Scheunen, die ganz offensichtlich zu einer Kolchose gehörten. Ich hielt den Wagen an und stieg aus. Fünf Minuten später führte der stolze Leiter der Kolchose seinen amerikanischen Besucher durch den Betrieb, während der »Diplomlandwirt« und der Bürgermeister mißmutig und niedergeschmettert hinterdreintrotteten. Mein Begleiter erzählte mir, sie hätten eine Rekordernte gehabt, und die Verluste seien — wie ich aus den gefüllten Scheunen und eben abgeernteten Feldern sähe — kaum nennenswert. Das Vieh in den Ställen sah fett und gepflegt aus. Dieses Kollektiv war eines der am besten funktionierenden, die ich während all meiner Jahre in Rußland gesehen habe.
»Sie sollten stolz darauf sein«, sagte ich betont zu dem »Diplomlandwirt«, doch er sah mürrisch beiseite und antwortete nicht.
Als ich fertig war und wieder zur Stadt wollte, erbot ich mich, zu fahren, aber der Fahrer meinte mit einem kaum wahrnehmbaren Zwinkern, zurück glaube er mit dem Wagen wohl fertig zu werden.
Eine halbe Stunde später saß ich schon wieder mit dem Bürgermeister in meinem Hotelzimmer vor einem Glas Whisky. Der »Diplomlandwirt« war verschwunden — zweifellos, um das unverfrorene, empörende Benehmen dieses Amerikaners weiterzuberichten. Ich wandte mich an den Bürgermeister:
»Es ist einfach unbegreiflich, weshalb Sie mit aller Macht einen Amerikaner davon abhalten wollen, Ihre Kolchosen zu besichtigen. Sie sind in wesentlich besserer Verfassung als in den letzten Jahren. Sie sollten stolz sein, uns zu zeigen, was Sie alles geleistet haben.«
Der Bürgermeister sah hilflos auf und hob die Hände:
»Mein Befehl lautete: Nicht aus der Stadt herauslassen!«
Als ich zwei Tage später wieder in Moskau war, erzählte ich einem Beamten des Außenkommissariates meine Abenteuer.
»Aber machen Sie dem armen Bürgermeister keine Schwierigkeiten«, fügte ich vorsichtshalber hinzu, »er hat wirklich sein Alleräußerstes getan!«
Bis auf meine Spritztour nach Rostow und gelegentliche Kurierfahrten nach Persien waren wir ausschließlich an Moskau gefesselt und auf seine kleinen Vergnügungen angewiesen. Zu diesen zählte der Rolls-Royce von Stafford Cripps. Er hatte einem in Leningrad verstorbenen Engländer gehört. Im Verlaufe der Erbschaftsregelung stellte Sir Stafford, damals britischer Botschafter in Moskau, ihn zum Verkauf. Der Obermonteur der amerikanischen Botschaft, Stannard, sah sich ihn gründlich an und berichtete, es ließe sich noch allerhand mit ihm machen. Wir arrangierten zusammen den Kauf und erstanden ihn für fünfzig Dollar und eine ziemlich mitgenommene Schreibmaschine. Sir Stafford war mit dem Handel zufrieden, und wir waren schlechthin entzückt.
Der Rolls war so um fünfundzwanzig fahre alt. Es war eine Limousine, deren kistenartiger Aufbau hoch auf dem Chassis thronte und wie ein Turm über alle anderen Wagen hinausragte. Von Stoßstange zu Stoßstange war sie sicher zehn Meter lang. Aber Stannard behauptete unentwegt, mit dem Motor könne man noch allerhand Sachen machen. Was für Sachen es auch immer gewesen sein mögen — Stannard machte sie. Und dann starteten wir zusammen zur Probefahrt auf der einzigen guten Straße Rußlands — der Moschaisker Chaussee, die zu meiner, und zufällig auch zu Stalins, Datscha führte.
Die altmodische Kiste erregte im Handumdrehen die Aufmerksamkeit anderer Motoristen, und sehr bald schon waren wir die Zielscheibe nicht sehr komischer Witze über kapitalistische Rückständigkeit. Mit der Zeit wurden wir den sprühend fortschrittlichen Sowjetgeist ein bißchen leid und forderten den nächsten Witzbold zu einem »kleinen Wettrennen« auf.
Als Start schlugen wir einen Punkt vor, der etwa einen Kilometer weit vor uns lag, und als Ziel eine Stelle, die noch einen Kilometer darüber hinaus und fünfhundert Meter vor einer scharfen Kurve war, in der die Chaussee durch eine lebensgefährliche Unterführung lief. Die Russen nahmen die Herausforderung an und waren mit einem Einsatz von zwanzig Rubeln einverstanden. Gemächlich glitten sie auf den Start zu. Ihr Auto war ein russischer Ford, ein guter Wagen mit hundert Kilometer Spitzengeschwindigkeit.
Sowie sie abfuhren, machten Stannard und ich uns an die Arbeit. Ich bekam das Steuerrad anvertraut; das sei am einfachsten, setzte mir Stannard auseinander, der alles andere selbst übernahm. Er drehte an den Ventilen, er pumpte, er stellte Hebel ein. Der Rolls kam in Fahrt. Stannard pumpte kräftiger, und vereint schalteten wir in den nächsthöheren Gang. Der Tachometer funktionierte nicht, aber ich merkte auch so, daß wir ein ganz hübsches Tempo erreicht hatten, als wir die Startlinie kreuzten. Der Ford wartete schon. Mit seinem starken Anzugs vermögen war er jedoch im Nu auf Touren und brauste an uns vorbei.
Stannard schwitzte, pumpte, drehte Drähte, schaltete Schalter und spielte auf einem halben Dutzend Hebeln Klavier. Dann ruckte er den Schalthebel mit letzter Kraft in einen Super-Schnellgang. Ich hing unterdessen über dem riesigen Steuerrad, als ob es um mein Leben ginge, und versuchte krampfhaft, im Steuern das Obergewicht der alten Kiste abzufangen. Momente später dröhnten wir mit hundertzwanzig Sachen über die Chaussee, überholten in einer wahren Tempo-Explosion den russischen Ford und kreuzten die Ziellinie hundert Meter in Führung.
Doch dann folgte das Anhalten. Ich krachte meinen Stiefel mit aller Macht auf die Bremse. Stannard zog aus Leibeskräften an der Handbremse, während er zugleich alle seine Ventile, Klappen und Hebel öffnete. Langsam, langsam reagierte die ungefüge Riesenschachtel, und als wir endlich standen, befanden wir uns knapp vor der Unterführung. Wir flogen an allen Gliedern vor Anstrengung. Die Russen stoppten neben uns und reichten uns beschämt ihre zwanzig Rubel. Ich war eben noch fähig, ein paar Vergleiche zwischen fortschrittlicher russischer und altmodischer britischer Technik anzubringen, ehe sie sich geschwind aus dem Staub machten.
Obschon dieser Sport doch recht nervenzermürbend und muskelanstrengend war, fanden wir ihn lustig und machten noch etliche Wettfahrten um ein paar ehrliche Rubel auf der Chaussee. Doch dann wurde unser Botschaftsrat, Walter Thruston, eines schönen Abends Zeuge einer solchen Vorstellung. Er ließ mich am anderen Tag zu sich kommen und meinte, er fände es doch vielleicht ein wenig würdelos für einen Botschaftssekretär, auf Stalins Lieblingsstraße Rolls-Royce-Wettfahrten zu veranstalten. Außerdem — fände er — sähe das Ganze nicht eben nach einer Lebensversicherung aus.
Die alte Rolls-Limousine kam schließlich zu einem traurigen Ende. Als der Krieg mit Deutschland ausbrach, hielten wir sie weiterhin in bester Verfassung, für den Fall, daß wir Moskau vielleicht überstürzt verlassen mußten. Wir berechneten, daß wir dann immerhin einige besonders große Benzinbehälter in ihr unterbringen und sie in der Karawane der Botschaftswagen als Tankstelle mitlaufen lassen könnten, bis sie stehenbleiben würde. Doch wir verließen Moskau per Zug, und die Limousine stand unbenutzt im Hof der Botschaft bis zu einem der ersten deutschen Bombenangriffe. Eine Stabbombe fiel durch Verdeck und Rücksitz. Zwar explodierte sie glücklicherweise nicht, doch setzte sie den alten Wagen für immer außer Betrieb und besiegelte so sein Schicksal. Später wurde mir erzählt, daß jemand die Nickelteile für fünfundsiebzig Dollar an den sowjetischen Altmetall-Trust verkauft habe — kein schlechtes Geschäft, wenn man bedenkt, daß wir den ganzen, heilen Rolls-Royce für nur fünfzig Dollar vom zukünftigen britischen Schatzkanzler erstanden hatten.
Doch selbst dann hörte der brave Wagen nicht auf, sich nützlich zu erweisen. Als nach der Evakuierung der meisten Diplomaten, Botschafts- und Regierungsangestellten nach Kuibyschew das Leben in Moskau ziemlich rauh und unangenehm wurde, sammelten sich die verbliebenen Amerikaner im Spaso-Haus, das bald unter einer beachtlichen Überbelastung des gesamten Rohrleitungssystems litt. So grub also unser Botschaftsschreiner Leino, ein intelligenter und wendiger Finne, eine Grube unter das Differential und verwandelte den Wagen nach einigen Umbauten des ausgebombten Rücksitzes in das wahrscheinlich erste Rolls-Royce-Wasserklosett in der Geschichte der Klempnerei.