Fernost im Westen

 

 

 

Als ich 1937 nach Berlin berufen wurde, machte ich mich unverzüglich auf die Reise. Nach Moskau erschien mir Berlin zunächst auffallend frei. Die Deutschen zögerten wenig oder überhaupt nicht, mit Ausländern zu verkehren. Zudem verlieh Hitlers »Kanonen-statt-Butter«-Politik den butterbeladenen Tafeln der Fremden einen erhöhten Reiz. Abgesehen von den Tischfreuden war Berlin aber nicht viel besser als Moskau. Sehr bald schon bekam man die Hand der Gestapo zu spüren, und die umlaufenden Gerüchte über Konzentrationslager, Mißhandlungen und Hinrichtungen erwiesen sich später als zutreffend.

Doch ich will lieber erzählen, wie ich in Berlin zu einem chinesischen Diener kam.

Eines schönen Abends saß ich lesend in einer halb im Souterrain gelegenen Wohnung, die ich nach der Münchener Krisis 1938 gemietet hatte. Sie war klein, feucht und dunkel, befand sich aber beinahe im Keller, was ich für einen großartigen Vorzug hielt. Ich glaubte, sie sei absolut bombensicher — bis ich sie nach dem Kriege wiedersah. Da glich sie dem unaufgeräumten Hof einer Ziegelei.

Ich hörte läuten und das Mädchen die Tür öffnen.

Einen Augenblick später fiel ein Haufen von kleinen Körben aus Weidengeflecht wie eine Wolke ins Zimmer und barst mitten auf dem Fußboden auseinander. Und ein kleiner, kugelrunder, gelblich-brauner Chinese kam zum Vorschein.

»Mich«, sagte der Chinese würdevoll, auf seinen dicken, vorstehenden Bauch zeigend, »mich — Yang.«

»Ich bin Mr. Thayer«, entgegnete ich.

»Sie — Master!« korrigierte Yang.

Ich hatte einige Monate vorher in Wien eine Neujahrsfeier mitgemacht. Alle Wiener Feste sind fröhlich; aber dieses war es in ganz besonderem Maße gewesen. Es war das letzte Neujahrsfest vor Hitlers Einmarsch in Österreich — und jeder Wiener wußte das. Wir hatten den Abend mit der traditionellen »Fledermaus«-Vorstellung in der Oper begonnen. Richard Tauber sang. Da er Halbjude war, sollte es seine letzte Vorstellung sein — auch das wußte das Publikum. Erst als er wirklich jedes seiner alten Straußschen Lieblingslieder gesungen hatte, ließ man ihn von der Bühne abtreten. Es war fast Mitternacht, als wir in der Wohnung des Generalkonsuls ankamen. Walter Duranty erwartete uns schon. Bill Shirer kam kurz nach uns; er hatte gerade eine Rundfunkübertragung nach Amerika inszeniert — Weihnachtslieder, von den Wiener Sängerknaben gesungen — und sah entsprechend erschöpft aus. Chip und Avis Bohlen hatten sich auf Urlaub aus Moskau eingefunden. Schließlich war noch, wie immer bei den Wileys, eine große Menge anderer Menschen da: Russen, Franzosen, Polen, Österreicher und, zum guten Schluß, Fu, Wileys chinesischer Butler. In seiner weißen Seidenrobe höchst elegant aussehend, reichte er ein Tablett mit Whisky und Soda herum.

Es muß so gegen fünf Uhr früh gewesen sein, als Fu zum x-ten Male an mich herantrat:

»Whisky-Soda ‘fällig, Mista?«

Ich dankte und sagte, ich hätte schon viel zu viele genossen. »Was ich aber wirklich gern haben möchte, ist ein chinesischer Diener wie du, der sich in Berlin um mich kümmert.«

»Wünsche Chinaboy? Oh, gutt, Fu besolg.«

Als Fu mich am nächsten Morgen weckte, hatte ich unsere Unterhaltung völlig vergessen.

»Viel spät, Mista«, kritisierte er und fügte hinzu: »Fu besolg Chinaboy.«

»Was für ‘n Chinaboy willst du mir besorgen, Fu?«

»Gesta nach Sie sagen, Sie wünschen Chinaboy. Heut molgen ich schicken Telegramm Harbin und sagen mein Fleund Yang, er kommen Belin.«

Sobald ich angezogen war, hielt ich großen Kriegsrat mit den Wileys.

»Was jetzt?« jammerte ich. »Was soll ich armer Vizekonsul mit einem chinesischen Diener anfangen?«

Aber die Wileys schilderten mir in verlockenden Farben, wie erstklassig chinesische Dienstboten seien und wie praktisch es sein würde, einen ständigen Diener zu haben, anstatt auf jedem neuen Posten einen anderen anzulernen. »Und außerdem — einen kompletten Haushalt haben Sie mit diesem Geheimpolizeihund sowieso. Bei dem Haufen macht ein einzelner Chinese nicht mehr viel aus.«

So ließ ich den Dingen ihren Lauf und wartete, was passieren würde. Von Zeit zu Zeit erhielt ich kurze Nachrichten aus Wien, die mich über Yangs Reise durch die Mandschurei auf dem laufenden hielten und unweigerlich schlossen: »My best to you, from C. C. Fu!«

 

So war die Überraschung doch nicht so groß, als Yang mit einem Male ins Zimmer fiel.

»Vielleicht ich sehen Masters Haus?« schlug er vor, nachdem er sich glücklich aus all seinen Körben und Körbchen gepellt hatte.

Ich führte ihn durch meine Vierzimmerwohnung. Die Tour endete in der Küche, wo sich Yang mit der Frage an mich wandte: »Wie viele Kuli Master haben?«

»Kulis? Ich habe überhaupt keine Kulis. Fu hat mir gesagt, du würdest alles allein machen.«

»Mich?« stotterte er ungläubig. »Fu sagen, mich tun alles? Yang Koch — nix Kuli.«

Eine längere Unterhaltung schloß sich an. Ich versuchte vergebens, Yangs Pidgin-Englisch zu folgen, und er verstand offensichtlich wenig oder nichts von dem, was ich ihm auseinandersetzte. Schließlich ging ich zum Telefon und verlangte Wien. Wiley war selber am Apparat.

»Yang ist angekommen«, teilte ich ihm mit, »aber es scheint ein ziemlich grundlegendes Mißverständnis über die Arbeit zu bestehen, die er hier erledigen soll.« »Fu soll mit ihm reden«, bestimmte Wiley vertrauensvoll, »der wird ihm schon die Leviten lesen.«

Ich reichte Yang den Hörer, und die nächste halbe Stunde War von fröhlichem Geplapper erfüllt. Fu und Yang hatten sich zehn fahre nicht mehr gesehen, und ich verstand durchaus, daß sie sich eine Menge zu erzählen hatten; doch als die Unterhaltung überhaupt nicht mehr aufhörte, kamen mir gelinde Bedenken, ob Yang wohl begriff, wie weit er von Wien entfernt war und was ein Ferngespräch von dieser Dauer kostete.

Schließlich stoppte er und reichte mir den Hörer zurück. Ich sprach mit Wiley.

»Fu sagt, Sie möchten ihm genug Zigaretten geben.«

»Zigaretten? Sie meinen, das sei alles, was ihn stört?«

»Scheint so«, antwortete Wiley, »Yang hat unterwegs im Transsibirien-Expreß Zigaretten für Goldrubel zu kaufen versucht und sie ein bißchen reichlich teuer gefunden. Jetzt hat er Angst, daß sein Lohn nicht für die Zigarettenrechnung reicht.«

Ein schneller Überschlag über die Kosten unseres Telefongesprächs im Vergleich mit den augenblicklichen Tabakspreisen veranlaßte mich zu sofortigem Einverständnis. Jawohl, ich würde Yang mit soviel Zigaretten versorgen, wie er nur rauchen könnte! Ich hatte sowieso nie einen dienstbaren Geist gehabt, der sich nicht großzügigst meiner Zigaretten bediente. Yang war über das Verhandlungsergebnis entzückt, Fu erlöst und John Wiley und ich mehr als zufrieden.

Trotz meiner sehr unvollkommenen Kenntnisse des Pidgin begann ich Yangs Geschnatter bald zu verstehen, und er selber schnappte — wenngleich nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten — auf die Dauer sogar ein paar deutsche Ausdrücke auf.

Einige Wochen nach Yangs Eintreffen war ich zu einer Hochzeit nach London eingeladen. Die Gelegenheit schien mir günstig, Yang zu seinem alten Freunde Fu nach Wien zu schicken. Ich schrieb ihm auf eine Papptafel Namen und Reiseziel, brachte ihn zum Bahnhof und steckte ihn in den Expreß nach Wien.

»Der Zug ist um acht Uhr in Wien, und dann fragst du dich zu Mr. Wiley, dem Generalkonsul, durch«, schärfte ich ihm ein. Yang versicherte mir, er habe perfekt verstanden, und lächelte fröhlich, als sich der Zug in Bewegung setzte. Wenige Tage später war ich wieder in Berlin und fand Yang schon vor. »Na, wie war’s in Wien?« erkundigte ich mich. »Wien viel schön«, meinte er, »bloß viel schlecht hinkommen.«

Ich fragte, was daran denn so schwierig gewesen sei.

»Acht Uhr komm. Zug stopp. Yang aussteigen. Suchen amerikanische Generalkonsul. Doch er nicht Mr. Wiley«, antwortete Yang.

»Was soll das heißen? Natürlich ist der Generalkonsul in Wien Mr. Wiley.«

»Nein, nicht Mr. Wiley«, beharrte Yang und begann in den Taschen unter seinem langen Rock herumzufummeln. Er brachte eine Visitenkarte ans Tageslicht. Sie war an mich adressiert und lautete:

»Freue mich, Ihrem Chinamann aus seinem sprachlichen und geographischen Dilemma helfen zu können.«

Es war die Visitenkarte des Generalkonsuls in — München. Etliche Zeit später erfuhr ich, daß der Zug um acht Uhr abends in München und erst um acht Uhr am nächsten Morgen in Wien ankam. Mein Irrtum.

 

Bevor Yang mit seinem Korbgepäck eintraf, hatte ich eine deutsche Köchin gehabt, deren Haupttätigkeit aus endlosem Lamentieren über die Küchengeräte bestand. Ihren Klagen nach benahmen sich die Töpfe wie Siebe und die Siebe wie Töpfe. Die Messer schnitten nicht. Der Fleischhacker war kaputt. Die Kaffeekanne war ein rostiges, verbeultes Monstrum. Ich zog im Geiste fünfzig Prozent von allem ab und erklärte ihr, bis zu Yangs Ankunft müßten wir uns eben behelfen. Er sollte sich dann alles, was er benötigte, selber aussuchen. Yang würde sicher eine geraume Zeit bei mir bleiben und eine kleine Investierung in Küchengeräten mithin nicht verschwendet sein. Allem Anschein nach hatte auch Yang vor, länger zu bleiben. Kurz nachdem er aufgekreuzt war, geriet er eines Abends ins Reden und vertraute mir an, daß »Master« ihm gefalle und daß er hoffe, jetzt endgültig eine Dauerstellung gefunden zu haben, denn er liebe Dauerstellungen. Das Dumme an seinen alten Arbeitgebern in Harbin sei gewesen, daß sie so häufig wechselten.

»Ich albeiten mit Mr. Page sieben Jah. Dann er weggehen. Albeiten mit Mr. Edwards sechs Jah. Er weggehen. Albeiten Missee Williams zehn Jah. Sie weggehen. Nicht gut das. Yang lieben Dauerstellung — nix wechseln alle Moment.« So überreichte ich Yang denn einen Katalog von Sears Roebuck mit wundervoll bunten Illustrationen aller Küchengeräte, die sich nur je ein Koch hätte träumen lassen. »Du brauchst nur auszusuchen, was du haben willst, und ich lasse es sofort kommen«, sagte ich.

Zwei, drei Tage vergingen, aber Yang sprach immer noch nicht von neuen Töpfen. Ich ermahnte ihn, möglichst bald seine Auswahl zu treffen. Eine ganze Minute versank er in tiefes Sinnen. Dann hielt er die Hände einen knappen Meter weit auseinander:

»Master kaufen Yang gloss Messer!«

Ich kaufte das schwertähnlichste, das sich in ganz Berlin nur auftreiben ließ, und Yang war hingerissen. Das große Messer hat uns dann fast zehn Jahre lang rund um den Globus

begleitet.

Trotz aller Lamentos der Köchin, daß die Kücheneinrichtung ein Haufen alten Gerümpels sei, zauberte Yang mit den gleichen Geräten die besten Speisen hervor, die ich je in meinem eigenen Hause gegessen habe. Eine unerreichte Spezialität von ihm waren seine »Curry’s«, die es in verschiedenen Ausführungen gab. Ein »Zehner-Curry« zum Beispiel bestand aus Reis und Curryhuhn, umgeben von zehn sorgfältig komponierten Delikatessen, von Bambusschößlingen bis hin zu Erdnüssen. Zum »Fünfzehner-Curry« gehörten fünfzehn kleine Schüsselchen, und beim »Extra-Super-Spezial-Fünfundzwanziger-Curry« umrahmten fünfundzwanzig differenzierteste Sorten von Wurzeln und Schößlingen, Nüssen, Gewürzen und Stengeln den Reis und das Huhn.

Eine weitere Delikatesse, mit der mich Yang bekannt machte, waren seine »Tausend-Jahr-Eier«, die er mir in einem seiner kleinen Weidenkörbchen von Harbin mitgebracht hatte. Jedes Ei war in eine dicke Lehmschicht gewickelt, in der es bestem Vernehmen nach seit tausend Jahren kochte. Einmal, als weit und breit garantiert kein Lauscher war, gab Yang zu, daß die Eier unter Umständen doch nicht ganze tausend Jahre darin lägen: »Vielleicht bloß zwei, dlei hundelt Jah«, sagte er augenzwinkernd. Sowie sich die Nachricht von meinen Tausend-Jahr-Eiern in Berlin verbreitet hatte, fand ein Sturm sämtlicher Bekannter auf meine Kellerwohnung statt. Aber Yang war knickerig und servierte die kostbaren, purpurnen Delikatessen nur, wenn ich ganz allein war. Eine Ausnahme machten wir, als Prentiss Gilbert, unser Botschaftsrat, uns bat, ihn bloß einmal kurz probieren zu lassen.

»Seit über dreißig Jahren beschreibe ich jedem langweiligen Tischpartner bei jedem langweiligen Souper, wie die Dinger schmecken, und ich möchte nun mal wissen, wie weit ich danebengetippt habe.«

In Wirklichkeit schmecken Tausend-Jahr-Eier genau wie hartgekochte Ein-Tages-Eier - höchstens noch etwas härter. Prentiss Gilbert mußte zugeben, daß seine Beschreibung etwas übertrieben war.

Doch selbst für den Zauberer Yang gab es ein unlösbares Küchenproblem, und zwar: eine europäische Auster zu öffnen! Bald nach seiner Ankunft kaufte er welche zu einem festlichen Abendessen. Ein furchterregend bärtiger Professor der Berliner Universität gab mir im Wohnzimmer gerade Deutschunterricht, als sich plötzlich in der Küche ein Krach erhob, der sich anhörte, als rattere Yang mit einem Motorrad immer um den Porzellanschrank herum. Trotz seiner Vehemenz versuchte ich das Geräusch zu überhören; doch erschien einige Augenblicke später Yang selber im Zimmer. Von seinem braunen Gesicht tröpfelte der Schweiß in dicken Perlen.

»Master, Auste nich offen — Yang nich können.«

»Sei nicht albern, Yang. Natürlich kannst du sie öffnen, wenn du nur erst weißt, wie. Ich werd’s dir zeigen.«

Ich ging ihm voran in die Küche, nahm ein starkes Messer und begann eine der Austern aufzubrechen. Was aber brach, war das Messer. Die Auster blieb zu.

»Verdammt«, fluchte ich und holte den Werkzeugkasten aus dem Auto.

Mit einem scharfen Schraubenzieher attackierte ich die Auster von neuem. Der Schraubenzieher rutschte ab und bohrte mir ein Loch in den Daumen. Darauf zwängte ich die Auster in eine Drahtzange und versuchte es damit. Während die Zahl der vergeblich ausprobierten Werkzeuge anschwoll und das Blut aus meinem Daumen fröhlich durch die Küche spritzte, stand Yang, die Arme über dem fetten Bauch gekreuzt, ungerührt daneben. Schließlich jedoch war selbst seine Geduld zu Ende, und er marschierte zurück ins Wohnzimmer:

»Plofesso, vielleich Sie könn’ aufmachen Auste, ja?«

Am Abend gab es Bouillon als ersten Gang.

 

Yang war etwa sechs Monate in Berlin, als ich nach Washington berufen wurde. Ich erzählte ihm die Neuigkeit beim Frühstück.

Einen Augenblick war er ganz still, dann sagte er:

»Wie geht man nach Amelika, Master?«

»Natürlich mit einem Schiff.«

»Gloss Schiff oder klein Schiff, Master?«

»Mit einem riesengroßen Schiff«, erwiderte ich, »es wird nur rund sechs Tage dauern.«

Wieder dachte Yang eine lange Zeit tief nach, sein ganzes Gesicht zu einem Fragezeichen verziehend. Endlich: »Vielleicht Zug nach Amelika meh billig.«

Ich holte mir einen Bleistift und ein großes Stück Papier und versuchte, ihm die geographische Unmöglichkeit seines Vorschlages klarzumachen. Er hatte zweifellos nie eine Landkarte gesehen und verstand nicht eine Silbe von dem, was ich ihm vorbuchstabierte. Aber es ging ihm auf, daß die Idee mit dem Zug aus irgendwelchen Gründen nicht opportun war, und er fand sich ziemlich ungnädig mit dem Schiff ab.

Erst als wir einen Tag lang auf See waren, begriff ich plötzlich, was ihn bedrückte. Er hatte mir vorher schon erzählt, er sei einmal auf einem Schiff im Gelben Meer gewesen und habe es nicht genossen. Seine Kabine war tief unten im Schiffsbauch, und als er am ersten Morgen auf Deck nirgends zu erblicken war, kletterte ich zu ihm hinunter, um mich nach seinem Ergehen zu erkundigen.

»Master, Yang möchte nach unten«, jammerte er, »bitte, bitte, Master, mich möch nach unten.«

»Aber Yang, du bist so tief unten im Schiff wie nur möglich. Wenn du nur noch ein bißchen tiefer gingest, würdest du durch den Boden fallen. Komm mit an Deck und schnapp mal frische Luft.«

»Nein, Master, nich! Ich will nach unten«, stöhnte er. Schließlich zerrte ich ihn aus seiner Koje und half ihm an Deck.

»Bitte, bitte, Master, Yang will nach unten«, wimmerte er fortwährend, als er nach oben stolperte.

Endlich erreichten wir das Hinterdeck, und Yang starrte verblüfft um sich.

Er starrte links übers Meer, und er starrte rechts übers Meer. Dann trat er an die Reling, starrte nach oben und dann auf die wirbelnden Gischtwellen unten.

»Master«, er weinte fast, »Master — hier nirgends Platz, wo Yang luntergehen kann?«

Jetzt endlich begriff ich, was er meinte.

»Tut mir leid, Yang, tut mir schrecklich leid, aber erst in vier Tagen kannst du in New York wieder vom Schiff heruntergehen. Nun leg dich schön in einen Liegestuhl und gewöhn dich daran.« Er legte sich gehorsam hin, doch gewöhnt hat er sich nie daran.

Ein paar Tage später kamen wir in Washington an. Während wir in einem Taxi vom Bahnhof fuhren, starrte Yang auf all die ungewöhnlichen Bilder vor dem Fenster. Plötzlich erblickte er einen Neger.

»Da, Master, da!« Seine Stimme schlug vor Begeisterung in ein Piepsen um, »Mann ganz schwaaz!« Zur näheren Erklärung wies er aufgeregt auf seine eigenen gelben Backen. Yang befreundete sich schnell mit den weißen, gelben und schwarzen Gesichtern von Washington, und bald wurde unsere Küche zum geselligen Treffpunkt der ganzen Straße. Eines Abends hörte ich beim Lesen seltsame Geräusche aus der Küche herauftönen. Von Zeit zu Zeit ging eine zweistimmige Lachsalve hoch, der jedesmal tiefes Schweigen folgte, bis wieder eine neue Welle brausenden Gelächters über die Treppe zu mir heraufschwoll. Was mir an der Geschichte so spanisch vorkam, war, daß kein Wort gesprochen wurde. Es ließ mir keine Ruhe. Ich ging nachsehen und fand Yang mit einem anderen Chinesen am Küchentisch sitzend und eifrig chinesische Buchstabenzeichen auf kleine Papierfetzen kritzelnd. Als ich im Türrahmen auftauchte, erklärte mir Yang hastig:

»Mein Fleund, er Kantonese. Mich Mandschulee. Ich nix verstehen, was er sagen. Er nix verstehen, was mich sagen. Aber schleibe verstehen gut.« Die Überlegenheit des Zeichenschreibens über das phonetische Alphabet war schlagend bewiesen.

In Washington blieben wir nicht lange, sondern waren sehr bald schon wieder auf einem anderen großen Schiff unterwegs — diesmal in Richtung Hamburg.

 

Es war Sommer 1939, und die alljährliche Kriegspsychose näherte sich rapide dem Siedepunkt — diesmal dem wirklichen. Die Hamburger Stadtväter begannen Notbrunnen anzulegen. In den Parks gruben Arbeiter Laufgräben. Hausbesitzer fingen an, ihre Kellerfenster mit Sandsäcken zu schützen. Yang war von Kindheit an die Guerillafehden der großen mandschurischen Kriegsherren gewöhnt und machte durchaus keinen Hehl aus seiner Verachtung für all die komplizierten Vorsichtsmaßnahmen, die ergriffen wurden, bloß weil es einen neuen Krieg geben sollte. Abgesehen davon hatte er einen lebhaften Widerwillen gegen alle Deutschen entwickelt. »Deutschi« nannte er sie herablassend. Aber Yang mochte überhaupt keine «Fremden«, worunter er alle Menschen außer Mandschus, Amerikanern und — aus unerfindlichen Gründen — den Russen verstand. »Deutschi«, knurrte er, »alle bang vor Klieg. Deutschi viel schlech, für Jude. Deutschi viel lach über Chinese. Abel allemal bang vol Klieg.«

Er weigerte sich stur, dem Hauswirt beim Ausbau des Luftschutzkellers in unserem Mietshaus zu helfen. »Deutschi bang voll Fliggzeug. Yang nicht bang vol Fliggzeug.« Ich setzte ihm auseinander, daß er — ob ängstlich oder nicht — nach dem Gesetz verpflichtet sei, beim Bau des Luftschutzkellers zu helfen. Sehr ungnädig und beständig vor sich hin brummend, gab er nach. »Deutschi doch dammn viel feig!« Und dann kam der Krieg und kurz nachher der erste englische Fliegerangriff auf Hamburg. Ich stand im Pyjama auf dem Balkon meiner Wohnung und beobachtete die pompösen, aber erfolglosen Versuche der deutschen Flak, die Engländer abzuschießen. Hinter mir wurde das Klappern von Sandalen laut, und Yang erschien.

»Yang, ich habe dir wohl zehnmal befohlen, beim Fliegerangriff in den Keller zu gehen. Runter mit dir, ehe du eingesperrt oder verwundet wirst!«

Im Licht der Leuchtspurgeschosse konnte ich Yang lächeln sehen.

»Master nich gehen Keller, Yang nich gehen Keller«, sagte er eigensinnig.

»Ich brauche nicht in den Keller zu gehen. Vizekonsuln gehen nie in den Keller. Aber du mußt! Außerdem — du könntest verwundet werden.«

Doch Yang rührte sich nicht.

»Yang nich gehen nach unten. Klieg machen Yang nich bange. Wenn Inglisi machen viel Deutschi tot, dann kann auch Yang tot machen.«

Allmählich flogen die englischen Bomber wieder ab, und das Schießen hörte auf. Erst dann erklärte sich Yang bereit, in sein Kämmerchen hinter der Küche zurückzuschlurfen. Ein, zwei Tage später beendete ich gerade mein Frühstück auf dem Balkon, als ich Yang in seinem langen blauen Rock in flottestem Tempo die Straße hinaufrennen sah. Da er es in der Regel alles andere als eilig hatte, beobachtete ich ihn neugierig, um die Ursache dieser ungewöhnlichen Hast festzustellen. Sekunden später raste ein halbes Dutzend Hausfrauen um die Ecke. So schnell ihre rundlichen Körper es nur zuließen, rannten sie hinter Yang her. Der aber hatte einen guten Vorsprung und lief durchs Tor, die Treppen hoch und durch die Tür, ehe die erste der Sturmschar auch nur in Höhe des Hauses angekommen war. Sie sah böse herauf, brummte ihren Begleiterinnen etwas zu und wandte sich dann zum Gehen.

Ich ging in die Küche und erkundigte mich bei Yang, was er angestellt habe.

»Nix, Master, nix. Yang nich tun nix«, versicherte er und lächelte etwas dämlich.

»Weshalb sind dann diese Frauen hinter dir hergerannt?«

»Ich nix wissen. Hausflau vielleicht viel dumm.« Er brach in ein enormes Grinsen aus. Da mir klar war, daß ich nichts weiter aus ihm herausbekommen würde, ließ ich die Sache auf sich beruhen.

Am Abend, kurz nach dem Essen, schellten sechs ältliche Arbeiter, in Sonntagsanzügen und frisch rasiert, an der Wohnungstür und verlangten den Herrn Vizekonsul zu sprechen. Yang führte sie herein und blieb hinter meinem Sessel stehen, während sie sich vor mir aufreihten und sich respektvoll verbeugten. Ich bat sie, sich zu setzen; doch lehnten sie ab.

Der Sprecher der Gruppe erklärte, sie seien gekommen, um den Herrn Vizekonsul ergebenst zu bitten, seinen chinesischen Diener für einen Zwischenfall zu bestrafen, der sich heute morgen auf dem Markt zugetragen habe. Es ergab sich, daß die Frauen der sechs Arbeiter mit dem Koch des Herrn Vizekonsuls zusammen in einer Schlange gestanden und — wie natürlich — die kriegerische Situation besprochen hatten, ja, daß sie sogar den Koch um seine Meinung angegangen waren. Dieser habe jedoch eine höchst beleidigende Äußerung getan und sei, als sie protestierten, weggerannt. Sie würden es nun zu schätzen wissen, wenn der Herr Vizekonsul seinen Koch veranlaßte, sich zu entschuldigen.

Ich blickte Yang an. Er grinste von einem Ohr zum anderen, sagte aber nichts. Mir war klar, daß er auch weiterhin nichts zur Erleichterung der Situation beisteuern würde. Ich befand mich in einer unangenehmen Zwickmühle. Entweder geriet ich mit der örtlichen Bevölkerung aneinander, oder ich mußte Yang zwingen, auf eine für ihn katastrophale Art sein »Gesicht« zu verlieren. Nach kurzem Überlegen wandte ich mich an die sechs Männer.

Es sei mir nicht bekannt, sagte ich, daß es Fremden verboten wäre, ihre Ansichten über die Kriegssituation oder irgendwelche sonstige deutsche Situationen zu äußern, besonders wenn man sie danach frage. Sollte es jedoch eine solche Beschränkung der Meinungsäußerung geben, so sei es Sache der städtischen Behörden, mich darüber zu informieren, nicht aber die einer Delegation einzelner Bürger. Falls die Herren Wert darauf legten, würde ich ihnen den Rat geben, ihre Beschwerde auf dem ordentlichen und rechtmäßigen Wege über die entsprechende städtische Dienststelle einzureichen. Wenn man es dort für gegeben erachte, könne man die Angelegenheit mit mir besprechen.

Die Männer protestierten etwas, sahen jedoch die Logik meiner bürokratischen Rede ein und zogen sich, nach einer Reihe von Verbeugungen, zurück.

Nachdem Yang sie zur Tür geleitet hatte, rief ich ihn zu mir. »So, Yang, und jetzt erzähl mir gefälligst ganz genau, was heute morgen auf dem Markt vorgefallen ist, oder wir geraten ernstlich aneinander.«

»Ich nix getan, Master, nix«, entgegnete Yang, immer noch grinsend, »ich bloß stehen in Schlange und walten, bis können kaufen Fisch, und alte, fette, gloße Hausflau mich flagen, wie schnell Deutschi gewinnen Klieg. Das sein alles!«

»Na, und was hast du gesagt?«

»Ich nix viel sagen, Master. Ich bloß lachen und flagen fette Hausflau: Du denken, Deutschi gewinn Klieg? Haha!«