Bären im Ballsaal

 

 

 

Anfang der dreißiger Jahre und bis hin zu den Säuberungsaktionen von 1937 bis 1939 machte Intourist flotte Geschäfte mit Amerikanern, die Abenteuer, das Paradies oder die Emanzipation suchten. (Wobei die Emanzipation meist Frauen herbeilockte, die daheim Bücher über die freie Liebe in Rußland gelesen hatten.) Aber man kam auch, um die großen Abtreibungskliniken (1936 geschlossen), das Kreml-Museum (für Fremde 1937 geschlossen) oder die Universität (für die meisten Ausländer ab 1938 geschlossen) zu besichtigen. Professoren kamen, um die neue Planwirtschaft zu studieren, Landwirtschaftler, um sich zu überzeugen, wie das Kollektivsystem funktionierte, Techniker, um die berühmte neue Untergrundbahn zu sehen. Die überwiegende Mehrzahl aller Besucher freilich bestand aus einfachen Touristen, die sich einen allgemeinen Überblick verschaffen und zu Hause stolz erzählen wollten, sie seien in Rußland gewesen.

 

Die Gesellschaftssaison in Moskaus diplomatischen Kreisen dauerte vom frühen Herbst bis in den späten Frühling mit ein paar Sommerfesten als Draufgabe. Wir Amerikaner wurden kurz nach Botschafter Bullitts Ankunft zum erstenmal in den Strudel des geselligen Lebens gezogen.

Bullitt war jedoch, nachdem er so ziemlich alle anderen Botschaften zu Soirées, Konzerten und Tanzabenden besucht hatte, von der Originalität des Gebotenen so wenig entzückt, daß er uns vor seiner Abreise zu Besprechungen nach Washington gegen Ende des Winters 1934/35 anwies, für drei Tage nach seiner Rückkehr ein Fest zu arrangieren, das alles in Moskau je Dagewesene in den Schatten stellen sollte. »Nur der Himmel darf ihm Grenzen setzen«, schärfte er mir ein, »solange es gut und endlich mal was anderes ist!«

Nach meinen Erfahrungen mit den Seelöwen war ich in bezug auf wilde Tiere etwas zurückhaltend geworden. Irina Wiley aber, die Gattin des Botschaftsrates, bestand darauf, daß irgendwelche Tiere dasein müßten. Keine andere Botschaft hatte bisher etwas Lebendigeres bieten können als einen Tenor, und wir sollten ja schließlich Neues bringen.

»Wir besorgen uns einfach ein paar zahme Tiere vom Land und richten in einer Ecke des Ballsaales einen Miniatur-Bauernhof ein. Das Ganze nennen wir dann Frühlingsfest«, sagte Irina strahlend.

Daß Gegenargumente zwecklos waren, wußte ich aus Erfahrung.

Es klang auch ansprechend genug. Ein paar Lämmchen und ein paar wilde Blumen und ein paar winzige junge Birkenbäumchen in Töpfen — das war alles, was wir brauchten. Aber wir hatten die Rechnung ohne den Wirt (beziehungsweise das Wetter) gemacht. Zwei Wochen vor unserem großen »Frühlingsfest« war es draußen noch eklig kalt, und in den Wäldern lag knietiefer Schnee. Die Birkenbäumchen und die Blumen waren noch nicht einmal dazu gekommen, sich das Blühen auch nur zu überlegen. Außerdem gab es ziemliches Kuddelmuddel mit den Schafen. Zwar erklärte sich ein Kollektiv bereit, uns einige zu leihen; doch ergab sich bei der Kostümprobe, daß ihr Geruch für jeden Ballsaal unerträglich war. Wir wuschen, badeten, ja parfümierten sie — es half nichts. Dann versuchten wir es mit einigen Ziegenlämmchen. Erstaunlicherweise rochen sie besser,- doch war die Luft immer noch zum Zerschneiden. Schließlich besuchten wir wieder einmal unseren alten Freund, den Zoodirektor, der mittlerweile etwas zugänglicher und liebenswürdiger geworden und beim Gedanken an die Zusammenarbeit mit Ausländern nicht mehr ganz so nervös war. Er schlug Bergziegen vor.

»Sie riechen weniger heftig als zahme und sind außerdem origineller.«

So entliehen wir uns ein halbes Dutzend Bergziegen-Lämmchen und montierten auf einer erhöhten Plattform hinter dem Büfett einen kleinen Bauernhof für sie.

Irina aber entschied, Bergziegen seien nicht genug. Kein Bauernhof sei komplett ohne Hähne. Wir würden sie in Glaskäfigen an den Wänden des Speisezimmers aufhängen, setzte sie mir begeistert auseinander. Zufällig jedoch war Moskau in Glaskäfigen für Bauernhähne gerade ausverkauft. Infolgedessen schraubten wir die gläsernen Handtuchhalter aus sämtlichen Zimmern des Botschaftspersonals ab (was einen wilden Sturm im Wasserglas hervorrief) und ließen vom Schreiner Käfige daraus machen. Den Handtuchhalter-Besitzern versprachen wir feierlich, daß sie ihre Glasstangen — sofern nichts schiefginge — später wiederbekämen. (Bis auf zwei sind sie tatsächlich zurückgegeben worden.) Selbst ein Dutzend stolzer weißer Hähne befriedigte Irina nicht.

»So ein winzig-kleines wildes Tierchen kann ja gar keinen Schaden anrichten«, überredete sie mich süß, »zum Beispiel ein niedliches Bärenbaby!«

Also holten wir ein Bärenbaby aus dem Zoo und bauten ihm einen kompletten Käfig, in dem sogar ein Raum zum Schlafen war. Trotzdem rückte es der Direktor nur widerwillig heraus und bestand darauf, daß es von einem geschulten Bärenkinderpfleger zum Fest begleitet würde. In lebhafter Erinnerung an den Seelöwenbändiger bat ich ihn flehentlich, dazu einen Abstinenzler auszuwählen. Er versprach es mir.

All das freilich löste das Problem des verspäteten Frühlings nicht. Bis zum Ball waren nur noch zehn Tage, und im gesamten Moskauer Gebiet zeigte sich nicht der Hauch eines Knöspchens. Irgend jemand kam auf die Idee, es sei vielleicht im Süden wärmer.

Also charterten wir ein Flugzeug und beauftragten den Piloten, zur Krim zu fliegen und an Blumen mitzubringen, was er nur eben finden könne. Am nächsten Tag kam ein Telegramm aus Jalta:

»Frühling hier ebenfalls verspätet.«

»Versuchen Sie Kaukasus«, drahteten wir zurück.

Zwei Tage später war er wieder in Moskau. Das einzige, was er mitbrachte, war die Nachricht, in Tiflis sei es noch kälter als in Moskau.

Unsere Hauptsorge galt nun dem Birkenwäldchen im Ballsaal und dem Rasen, der auf der Büfett-Tafel im Speisesaal grünen sollte. Die Tafel war extra für diese Gelegenheit angefertigt worden. Sie war etwa zehn Meter lang und anderthalb Meter breit. Alle zehn, zwanzig Zentimeter liefen quer durch die Platte kleine eingekerbte Tröge, in die wir Blumen pflanzen wollten — aber es waren keine Blumen da. Zwischen den Kerben, da, wo die Schüsseln stehen sollten, hatten wir im Geiste schon Rasen grünen sehen — aber es war kein Rasen da. Der Ballsaal sollte ein einziges Meer wilder Blumen sein — aber wilde Blumen waren auch nicht da. Im letzten Augenblick, als wir endlich anfingen nervös zu werden, kam uns der Bühnenmeister der Kammerspiele zu Hilfe. Wir brauchten überhaupt keine wilden Blumen, eröffnete er uns triumphierend. Wir brauchten sie nur auf Glasplatten zu malen und gegen die weißen Marmorwände projizieren zu lassen.

»Ein bißchen kalt und tot«, warf Irina zweifelnd ein. »Natürlich könnte man das Ganze durch eine Voliere lebendiger und lustiger gestalten«, gab der Bühnenmeister lebhaft zu.

»Noch mehr Wildnis?« fragte ich unsicher; aber niemandem fiel etwas anderes ein. Wir fischten uns also einen beschäftigungslosen Künstler zum Blumenmalen und trafen Vorsorge, daß die Kammerspiele am Abend des Festes geschlossen waren, damit wir ihre Projektoren benutzen konnten. Die Voliere machte uns zuerst mal wieder ziemlichen Kummer, bis irgendeiner auf die kluge Idee kam, ein großes Fischnetz zu kaufen, es zu vergolden und im Ballsaal um zwei Pfeiler zu schlingen. Wir versuchten es, und siehe da, es klappte! Wieder einmal machte ich mich zum Zoo auf und bat um ein paar Goldfasanen, Wellensittiche und sonstiges Buntgefiedertes, von dem reichlich vorhanden war. Der Direktor schlug hundert Zebrafinken vor. »Sie sind klein, aber hübsch«, erklärte er. Sie waren hübsch und sehr klein. Wie sich herausstellte, für das Fischnetz gerade ein bißchen zu klein. Gras und Blumen für die Büfett-Tafel hielten uns auch weiter in Aufregung, bis wir den glänzenden Einfall hatten, das Botanische Institut der Universität 11m Hilfe zu bitten.

»Ganz einfach«, sagte man dort, »Sie können auf nassem Filz in kürzester Zeit Zichorie zum Grünen bringen. Das gibt einen fulminanten Rasen. Und ein Birkenwäldchen? Oh, stechen Sie die benötigte Anzahl Birken mitsamt der Wurzel aus und halten Sie sie einige Tage in einem sehr heißen Raum. Im Handumdrehen schlagen sie aus.«

So legten wir den Dachboden mit nassem Filz aus, stopften ein Dutzend fünfundneunzig Zentimeter hohe Birkenbäumchen in eines der Badezimmer und warteten. Die Botaniker behielten recht. Kurz vor dem großen Tag begann das Gras zu wachsen, die Bäume schlugen aus, und wir alle stießen einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Jetzt brauchten wir nur noch die Blumen fürs Büfett. Wir sandten einen Kurier nach Helsinki, das noch so kapitalistisch verseucht war, daß es Treibhäuser für die Bourgeoisie hatte, und er brachte tausend Tulpen mit. Zwar war ihm die Bestellung etwas durcheinandergeraten, so daß er Schnittstatt Topfblumen brachte; aber wir bewahrten sie kühl auf, und irgendwie blieben sie bis zum Ende des Festes hübsch aufrecht stehen.

Zur Unterhaltung besorgten wir uns eine tschechische Jazzkapelle, die vorübergehend in Moskau war, und ein komplettes Zigeunerorchester mit dazugehörigen Tänzern. Die letzteren traten in meinem unten gelegenen, in ein Zigeunerlager verwandelten Schlafzimmer auf. Im zweiten Stock richteten wir ein kaukasisches Schaschlik-Restaurant ein. Hier spielte eine georgische Kapelle, und ein georgischer Schwerttänzer tanzte. Das kaukasische Restaurant war uns erst zwei Minuten vor Torschluß eingefallen, und so kam es, daß die hierzu bestimmten Gartenmöbel nach dem Anstreichen nicht so recht Zeit zum Trocknen hatten. Die daraus resultierenden grünen Streifen auf den Jacketts des Diplomatischen Korps waren noch monatelang zu sehen — ebenso lange übrigens, wie eine gewisse Reserviertheit der Träger gegen mich andauerte.

Als der große Abend endlich gekommen war, erwartete Botschafter Bullitt seine Gäste unter dem Kronleuchter des Prunkballsaales. Zu seinem größten Ärger schloß sich ihm dort ein Zebrafink an, der dem Fischnetz entschlüpft war. Als ich die Szene betrat, pirschten Bullitt und sein Botschaftsrat Wiley gerade — mit weißer Krawatte, Frackschößen und weißen Handschuhen — vorsichtig und auf den Zehenspitzen durch den ganzen Ballsaal dem Finken nach, der sich aber von ihnen nicht wieder einfangen ließ.

Unter den ersten Gästen waren Außenminister Litwinow und seine Gattin Ivy. Ivy warf einen Blick auf die Bauernhof-Szenerie im Speisesaal und erkannte gleich eine Kolchose. Wir versuchten ihr auseinanderzusetzen, daß es ein völlig alltäglicher und ganz gewöhnlicher kapitalistischer Bauernhof sei; doch ließ sie sich keineswegs überzeugen, sondern enteignete zum Beweis ihrer Theorie schlankweg eines der Ziegenlämmchen und hielt es den ganzen Abend über auf dem Arm.

Insgesamt waren etwa fünfhundert Personen anwesend: das Diplomatische Korps, das Politbüro mit Woroschilow, Kaganowitsch und Bucharin, die führenden Generale der Roten Armee mit Yegorow, dem Generalstabschef, Tuchatschewski, den zwei Jahre später ein Militärgericht unter Leitung Yegorows, der kurz darauf selber erschossen wurde, zum Tode verurteilte, und selbstverständlich dem unverwüstlichen alten Budjennyi, der nachher über beide zu Gericht saß und immer noch lebt. Radek, führender politischer Schriftsteller bis zu seiner Liquidation zwei Jahre später, war ebenfalls da, den komischen krausen Backenbart sorgfältig um die Kinnladen frisiert. Außer Stalin war überhaupt buchstäblich alles erschienen, was in Moskau Rang und Namen hatte.

Sowie alle Gäste versammelt waren, wurden die Lichter im Ballsaal abgedunkelt, an den Wänden sprossen die Blumen aus dem Projektor auf, und an der hohen, gewölbten Decke erstrahlte — in letzter Minute noch dem unerschöpflichen Phantasiefundus unseres Bühnenmeisters entsprossen — der Sternenhimmel mitsamt einem dicken, gelbschimmernden Mond.

Kurz vor dem Souper warf ich einen besorgten langen Blick auf meine Hähne, die in ihren Glashandtuchhalter-Käfigen die Wände des Speisezimmers schmückten. Sie waren zugedeckt. Wir hofften nämlich, sie würden vielleicht, wenn wir die Tücher jäh wegnähmen und zugleich die Lichter im Saal aufflammen ließen, das ganze für Morgendämmerung und Sonnenaufgang halten. Als schließlich Botschafter und Küchenchef von zwei Seiten signalisierten, daß alles fertig sei, ließ sich leider nur einer der Hähne narren, doch schrillte sein Kikeriki dafür gellend durchs ganze Haus. Bedauerlicherweise wurde diese wunderbare Vorführung durch das schlechte Benehmen eines anderen Hahnes etwas beeinträchtigt. Dieser entschied energisch, ein Botschaftsbankett in einem Glaskäfig sitzend mitzumachen sei hirnverbrannter Unfug. Er trampelte kurz entschlossen den Boden aus seinem Käfig und hüpfte, bar jeder Grazie, schnurstracks in die riesige Terrine Gänseleber, die wir extra für das heutige Fest aus Straßburg hatten holen lassen.

Während des ganzen Abends war ich vollauf damit beschäftigt, in erbitterten Streitigkeiten zwischen Pastetenbäcker und Fleischkoch (welcher Herd steht wem zu?) salomonische Urteile zu fällen oder darauf zu achten, daß der Nachschub an Wein in der vorgeschriebenen und notwendigen Richtung vom Keller in den Speisesaal (und nicht in den Aufenthaltsraum der Chauffeure) floß. So verpaßte ich den großen Augenblick, in dem Radek das Bärenbaby auf dem Rücken liegend, mit einer Flasche Milch in der Pfote, fand. Radek nahm ihm die Flasche weg, befestigte den Sauger auf einer Champagnerflasche und gab diese dem Bärchen. Der Kleine hatte ein paar kräftige Züge Mumm’s Cordon Rouge intus, ehe er den Irrtum bemerkte und die Flasche zornig auf den Fußboden schmetterte. Radek war inzwischen natürlich verschwunden, und Yegorow, der sah, wie unglücklich das Bärchen war, nahm es in den Arm und hob es auf die Schulter, als ob er ein Kind schwenkte. Dies muß er etwas zu gut gemacht haben, denn das Baby verunreinigte in höchst unziemlicher Weise des Generals nagelneuen, Ordens- und bändergeschmückten Rock.

Das erste, was ich selber von den Vorgängen mitbekam, war das tobende Gebrüll des Generals. Als ich hinaufrannte und eiligst den Schauplatz der bösen Tat betrat, war bereits ein halbes Dutzend Kellner fieberhaft damit beschäftigt, die Uniform vermittels Servietten und Fingerschüsselchen zu reinigen. Der Schaden war aber durch solche halbe Maßnahmen nicht mehr zu beheben, und der General schäumte auf beste alte Militaristenart.

»In was für eine Gesellschaft bin ich hier eigentlich geraten?»brüllte er mich an. »Werden bei den Amerikanern Gäste nur eingeladen, um sich von wilden Tieren versauen zu lassen? Ist das hier eine Botschaft oder ein Zirkus? Erzählen Sie Ihrem Botschafter gefälligst, daß sich Sowjetgenerale nicht wie Clowns behandeln lassen!!»

Nach diesem Anpfiff stakelte er zornbebend aus dem Saal, während ich, hinter ihm dreinlaufend, zu erklären versuchte, daß im Grunde alles ganz anders geplant gewesen sei. Doch Yegorow fluchte und tobte noch, als er aus der Eingangstür stürmte. »Durch diese Tür bin ich zum letzten Mal gegangen!« donnerte er mir abschließend zu und marschierte auf sein Auto los.

Ich berichtete dem Botschafter den Zwischenfall, holte mir auch hier eine Mordszigarre, schrieb die ganze Geschichte in den Kamin und raste in die Küche, um eine neue Streitigkeit zu schlichten. Diesmal handelte es sich darum, wem die Ehre gebühre, den Plumpudding anzuzünden.

Eine Stunde später etwa rief mich der Oberbutler aufgeregt heran. »Da kommt noch ein Gast«, flüsterte er konsterniert.

Ich fegte eilig zur Auffahrt hinunter und kam noch eben zurecht, um General Yegorow mit einer ganz neuen Uniform hereinstolzieren zu sehen.

»War schließlich doch nicht Ihr Fehler, meine ich«, sagte er jovial, »Babys sind eben Babys, auch Bärenbabys!« Er lachte dröhnend. »Und außerdem wollte ich wenigstens noch einmal tanzen.«

Am nächsten Morgen um neun hielt eine Handvoll Unverwüstlicher das Orchester immer noch in Schwung. Um zehn beschloß ein georgischer Tanz Tuchatschewskis mit Lolja Lepischinskaja, dem neuen Ballettstar, unser kleines Fest. Es war Tuchatschewskis letzter Auftritt in der Botschaft vor seiner Erschießung.

Um halb elf waren die letzten Gäste gegangen. Unter ihnen befanden sich der türkische Botschafter, Wassif Bey, wegen seines enormen Umfanges manchmal auch »Massiv« Bey genannt, der im darauffolgenden Jahr einem Herzschlag erlag, und Umanski, später Sowjetbotschafter in Washington und in Mexiko, wo er bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam.

Als sich die Tür hinter dem allerletzten Gast geschlossen hatte, sank ich erschöpft auf einen Stuhl und ließ mir eine Flasche Champagner bringen — die erste seit Beginn des Festes. Als sie leer war, begann ich das Schlachtfeld aufzuräumen. Zuerst mußten natürlich die Vögel in die Voliere eingefangen und wieder in ihre Transportkäfige verstaut werden. Die Fasanen und Wellensittiche hatte ich schon erwischt und kam auch ganz nett mit den Zebrafinken voran, als sich mit einem Male meine pausenlose nächtliche Tätigkeit plus schnell getrunkenem Champagner bemerkbar machte und ich mich entschloß, zu Bett zu gehen. Unglücklicherweise vergaß ich, die Volierentür hinter mir zu schließen.

Kaum im Bett, weckte mich der Kammerdiener des Botschafters wieder. »Der Botschafter möchte Sie augenblicklich im Ballsaal sprechen.«

Schlafbenommen taumelte ich hoch, stieg recht und schlecht in meinen Anzug und stolperte an den Ort der gestrigen Schlacht. Der Botschafter stand wieder unter dem Kronleuchter und sah zum zweitenmal verärgert aus. Die Ursache seiner schlechten Laune wurde mir sofort klar, als ich der Richtung seines Blickes folgte: Hoch unter der Kuppel des Raumes segelte eine große Schar buntleuchtender Zebrafinken fröhlich zwitschernd durch die Luft! »Verdammt«, sagte der Botschafter, »lassen Sie die Glotzerei und unternehmen Sie lieber was dagegen, daß diese verfluchten Vögel die ganze Einrichtung ruinieren!« Nach dieser freundlichen Aufforderung begab er sich in sein Büro. Eine feine Sache — nach einer Nacht wie der vergangenen! Mir schien ein Experte angebracht. Also rief ich den Zoodirektor an und bat ihn, seinen besten Vogelfänger herzuschicken. Schon wenige Minuten später fuhr der Vogelfänger mit einem Netz und den auseinandergenommenen Teilen einer langen Stange unter dem Arm per Fahrrad über die Botschaftsauffahrt.

»Da entstehen gar keine Schwierigkeiten«, beruhigte er uns gleich beim Eintritt, »nur keine Aufregung, meine Herren! In einer Minute habe ich sie alle wieder, die kleinen Ausreißer.« Er lachte gutmütig.

»Sie müssen zuerst den Raum sehen«, warnte ich.

Der Experte lachte noch mehr. »Nein, nein, das ist ganz einfach…«

Auf dem Weg zum Ballsaal schraubte er bereits eifrig die Netzstangen ineinander. Wir öffneten ihm die Tür — er warf einen langen, langen Blick auf die zwanzig Meter hohe Decke und schnappte hörbar nach Luft. Einige Augenblicke tiefer Stille folgten. Dann begannen seine Hände mechanisch wieder zu schrauben — diesmal andersherum...

»Ja, aber weshalb haben Sie mir denn das nicht gleich gesagt?« flüsterte er gebrochen, sich das auseinandergenommene Fanggerät erneut unter den Arm klemmend.

Als er weg war, wanderte ich allein, verwirrt und trostlos von Raum zu Raum. Die eine riesige Finkenschar hatte sich mittlerweile in lauter kleine Unterscharen aufgeteilt, die sich munter durch die ganze Botschaft tummelten. Bald war das Haus voll ihres Gezirpes und Getröpfels.

Von Zeit zu Zeit tauchte der Botschafter wild um sich starrend aus seinem Büro auf.

»Verdammt«, sagte er jedesmal, »was Sie auch immer tun wollen — tun Sie’s um Himmels willen bald! Noch eine Weile weiter so, und wir haben kein einziges anständiges Möbelstück mehr.«

Lange nach Dunkelwerden kam mir plötzlich eine Idee. Ich beauftragte den Butler, das Personal zusammenzurufen, und bald war alles, bis zum kleinsten Küchenmädchen und dem Boy, in meinem Schlafzimmer versammelt. Ausführlich erklärte ich ihnen meine Strategie. Wir knipsten im ganzen Haus das Licht aus und öffneten alle Fenster. Auf jede Fensterbank stellten wir eine helle Lampe. Dann machten wir, mit Besen, Kissen und sonstigen Wurfgeschossen bewaffnet, die Runde durch sämtliche Zimmer und scheuchten die Vögel so lange, bis sie auf das Licht zuflogen. Mit einem letzten »ksch, ksch!« jagten wir sie dann in die Nacht hinaus. Ich wußte, daß der Zoodirektor über den Verlust seiner Zebrafinken nicht gerade hocherfreut sein würde; aber ich wußte auch, daß er noch eine ganze Menge mehr davon hatte — jedenfalls mehr, als ich Aussichten auf neue Posten. Drei Stunden lang war das Haus ein turbulentes Durcheinander flatternder Flügel, wirbelnder Kissen und schreiender Menschen; doch zum Schluß waren die Finken draußen und die Botschaft befreit.

Es war das letzte Fest, das mich der Botschafter zu organisieren bat — ich möchte annehmen, weil ich auf anderen diplomatischen Gebieten unersetzlich wurde.

 

1937 waren die großen sowjetischen Säuberungsaktionen in vollem Gange, und die Isolierung aller Ausländer in Moskau war praktisch vollzogen. Unsere alten Bekannten verschwanden entweder einer nach dem anderen oder brachen jede Beziehung zu uns ab. Da es nie leicht gewesen war, unter den Russen Freunde zu gewinnen, schmerzte es uns doppelt, wenn die wenigen, mit denen wir auf herzlichem Fuße gestanden hatten, uns auf der Straße oder im Foyer der Oper den Rücken zukehrten. Alle zwei, drei Tage lasen wir in der Zeitung den Namen eines Bekannten, der wegen Spionage verurteilt oder als Verräter denunziert worden war oder sich selber der Sabotage schuldig bekannte: auch Tuchatschewski, Yegorow, Radek, Bucharin und der legendäre Baron Steiger.

Steiger entstammte einer alten baltischen Familie, vertrat aber bereits zur Zeit der Revolution die Sache der Sowjets — wie viele wissen wollten, gegen das Versprechen, daß man seinen Vater nach Frankreich emigrieren ließe. Was aber auch immer der Grund gewesen sein mag, die Sowjets schienen gut mit ihm auszukommen. Er war ein kultivierter Mann mit ausgesprochenem Sinn für Humor und einem riesigen Fundus an Geschichten, die er in brillantem Französisch erzählte. Außerdem verfügte er über mysteriöse Beziehungen zum Kreml und diente oft als direkte Verbindung zwischen ihm und den ausländischen Botschaften, in denen er sich die meiste Zeit aufhielt. Nachdem Stalin einmal unserem Botschafter gegenüber erwähnt hatte, daß er Edgeworth-Pfeifentabak besonders schätze, war es Steiger, dem ich nun monatlich eine Büchse Edgeworth übergeben mußte.

Als das Tempo der Säuberungsaktion immer fieberhafter wurde, machte Steiger von Mal zu Mal einen niedergeschlageneren Eindruck, fehlte jedoch noch immer auf keinem diplomatischen Empfang. Eines Abends brachte ich ihn nach einer Cocktail-Party in der Botschaft mit meinem Wagen nach Hause. Die Zeitung hatte gerade am Morgen verkündet, daß wieder einige unserer beiderseitigen Freunde auf die übliche sowjetische Art — Genickschuß — exekutiert worden waren.

Während der Fahrt durch die kalten, schneeverwehten Straßen war Steiger ungewöhnlich schweigsam. Ich versuchte, mich wenigstens mit ihm über das Wetter zu unterhalten.

»Ja«, sagte er endlich gedehnt, »das Wetter ist gefährlich — tückisch. In Zeiten wie diesen muß man vor allem dafür sorgen, daß der Nacken sorgfältig geschützt bleibt.« Er strich sich über Hals und Haare und lächelte müde.

 

Genau am nächsten Tag fehlte Steiger auf einer Botschaftsfeier. Wenige Wochen darauf verkündete die »Prawda«, daß Boris Sergejewitsch Steiger als Verräter entlarvt und erschossen worden sei — durch Genickschuß.