Polo für das Proletariat

 

 

 

Außer gelegentlichem Händeschütteln und kurzem Gemurmel haben Generalissimus Stalin und ich nur ein einziges Mal Worte miteinander gewechselt. Das Erlebnis war für keinen von uns besonders erleuchtend und reicht — fürchte ich — kaum aus zu der Behauptung, ich »verstünde die Russen«. Die »Unterhaltung« fand anläßlich eines Galadinners im Kreml im September 1941 statt. Der große Bankettsaal war durch ein halbes Dutzend vorrevolutionärer Kronleuchter strahlend erhellt. Die Haupttafel, überladen mit Karaffen voll Wodka, erstreckte sich durch die ganze Länge des Raumes. Stalin in schlichter Militäruniform, mit dem Lenin-Orden als einziger Dekoration, präsidierte an der Tafelmitte. Zu seiner Rechten saß der hitzige kleine Lord Beaverbrook, zu seiner Linken der amerikanische Botschafter.

Der Botschafter ließ mich bitten, ihm einige Papiere zu holen.

Während ich sie ihm an die große Tafel brachte, explodierte Lord Beaverbrook auf einmal und knatterte einem in der Nähe sitzenden Engländer eine Salve britischer Schmähungen entgegen.

»Sie verdammte Schnapsnase — Sie strohfressender Vegetarier!« schloß er schnaufend. Stalins Brauen hoben sich neugierig. Er wandte sich an den einzigen Dolmetscher in unmittelbarer Nähe:

»Was, wenn ich fragen darf, sagte Lord Beaverbrook soeben?«

Präsident Roosevelt hatte erst kürzlich die US-Politik als »Hilfe für England« definiert. Als gehorsamer Beamter des Staates konnte ich seine Worte schlecht ignorieren.

»Lord Beaverbrook kommentierte Mr. X’s Geschmack im Essen, Sir«, antwortete ich.

Stalin grinste skeptisch. Er hat mich nie wieder gebeten, für ihn zu dolmetschen.

Doch nicht immer waren meine Dolmetsch-Versuche so unergiebig. Nahezu acht Jahre vorher — knapp nachdem die Vereinigten Staaten die Sowjetunion anerkannt hatten — wurde in Moskau ein ähnliches Bankett abgehalten. Botschafter Bullitt gab den führenden Generalen der sowjetischen Armee ein Dinner. Da unsere Botschaft noch nicht fertig eingerichtet war, hatte er den Festsaal des National-Hotels gemietet. Rechts von ihm saß der Kriegskommissar Woroschilow,- seine schmucke weiße Sommeruniform war übersät mit glitzernden Orden und dekoriert mit glänzenden Schärpen, sein rundes Engelsgesicht quoll aus dem hohen, engen Stehkragen. Zur Linken des Botschafters saß General Budjennyi, der Vater der Roten Kavallerie; seine ungeheuren schwarzen Schnurrbartenden standen starr gezwirbelt zu beiden Seiten der Oberlippe in die Höhe. Rund um die Tafel waren alle führenden Militärs aus den dreißiger Jahren versammelt: Jegorow, Tuchatschewski, Chmelnitzki und ein Dutzend anderer.

Es war ein Bankett nach echter, alter moskowitischer Tradition. Die Tafel war mit Kaviar, Gänseleberpastete, Fasan und Ente überladen, und ein halbes Regiment eilig umherfegender Kellner füllte die Gläser der Gäste mit Dutzenden unterschiedlicher Wodka-, Sekt- und Whiskysorten.

Ich hatte auf einem kleinen Stuhl zwischen dem Botschafter und Woroschilow Posten bezogen. Gelegentlich mußte ich — wenn sich der Fluß der Unterhaltung in andere Richtung wand — mit dem Stuhl in der Hand um den Sessel des Botschafters herumflitzen, um für Budjennyi zu dolmetschen. Nach einem Tag angestrengtester Büroarbeit war ich ziemlich ermüdet und, ehrlich gesagt, über meine abendliche Aufgabe nicht allzu beglückt.

Auf einem Bankett zu dolmetschen ist wohl die enttäuschendste und am wenigsten sättigende Beschäftigung, die ich kenne. Gelegentlich einmal kann man, zwischen zwei Geistesblitzen der sich Unterhaltenden, ein Glas Wodka hinunterschütten. Essen jedoch steht gänzlich außer Frage. Ein Kellner stellt einem eine Platte vor die Nase, auf der sich Toast und Kaviar zu Bergen türmen. Während sich die Gesprächspartner noch innerlich auf die schwierige Arbeit der Konversation vorbereiten, schaufelt man behutsam Kaviar auf eine Scheibe Toast... »Sagen Sie dem General, die Nacht sei heiß...« Man übersetzt und wartet die nächste Pause ab, um ein wenig Zitrone auf den Kaviar zu träufeln... Unterhaltung... Einen Augenblick Stille, und man streut ein bißchen gehackte Zwiebel über den Kaviar... Die Unterhaltung geht weiter... Erneut eine augenblicklange Pause, man hebt den Toast zum Mund... »Sagen Sie dem General, ich liebe das Ballett...« Die Hand stoppt kurz vor dem Ziel, und man übersetzt... Pause, man hebt die Scheibe Toast... »Welches Ballett mag der Botschafter am liebsten...?« Man senkt den Toast und übersetzt... Der Botschafter zögert eine Sekunde, man greift hastig zum Kaviar, aber... »Ich glaube, »Schwanensee- ist das beste, das ich je gesehen habe, aber >Giselle< ist natürlich ebenfalls excellent...« Übersetzen... Schnell den Kaviar, doch nicht schnell genug... »Und geht der Botschafter auch gern ins Theater...?«

Schließlich gibt man auf, kippt sich ein Glas Wodka in die Kehle — dafür ist jede Pause lang genug — und findet sich für den Abend mit flüssiger Diät ab.

Die Unterhaltung sickerte so weiter. Meine Gedanken begannen zu wandern: Weshalb nur war ich je aus der Armee ausgetreten und dem Unfug von der »romantischen Diplomatie« auf den Leim gegangen? Ich könnte noch immer gemütlich in Fort Myer sitzen, toten — und schweigenden — Botschaftern das Geleit zum Arlington Friedhof geben oder sogar Polo spielen.

Warum gab’s hier eigentlich kein Polo?

»Fragen Sie den Kommissar, welches die besten Sommerkurorte in Rußland sind.«

Ich begann zu übersetzen: »Der Botschafter möchte gern wissen — weshalb Sie in der Sowjetunion kein Polo spielen.« Um Gottes willen, wozu hatte ich das bloß gesagt? Woroschilow: »Was ist Polo? Wir haben nie etwas davon gehört.«

Ich wandte mich an den Botschafter: »Er sagt, es gäbe viele ausgezeichnete Kurorte in ganz Rußland.«

Der Botschafter: »Aber welchen bevorzugt er persönlich?« Charles W. Thayer (auf russisch): »Es ist ein Spiel, das vom Pferderücken aus gespielt wird. Ein vorzügliches Training für Kavalleristen.«

»Woroschilow: »Wie wird es gespielt?«

C. W. T. (auf englisch): »Der Kommissar sagt, er liebt alle Kurorte in Rußland.«

Der Botschafter: »Fragen Sie ihn, ob er jemals auf die Krim oder in den Kaukasus geht.«

C. W. T. (auf russisch): »Es wird von zwei Gruppen zu je vier Spielern mit langen Hämmern und einem hölzernen Ball gespielt.«

Woroschilow: »Klingt nach einem guten Spaß.« Zu Budjennyi gewandt: »Was halten Sie davon?«

Budjennyi: »Höchst interessant, aber wer könnte es uns beibringen?«

C. W. T. (auf englisch): »Der Kommissar und General Budjennyi gehen beide sowohl auf die Krim als auch in den Kaukasus.«

Der Botschafter: »Welcher Monat eignet sich am besten zum Reisen?«

C. W. T. (auf russisch): »Der Botschafter hat es früher gespielt und ich ebenfalls. Wir könnten es Ihnen beibringen.« Woroschilow: »Schön. Wenn Budjennyi einverstanden ist — mir ist’s recht.«

C. W. T. (auf englisch): »Der Kommissar sagt, in der Sowjetunion eignen sich alle Monate zum Reisen, aber er möchte gern wissen, ob Sie der Roten Armee Polo beibringen können.« So waren wir zum Schluß wenigstens wieder glücklich beisammen.

Der Themenwechsel kam ein bißchen sehr plötzlich, doch zuckte der Botschafter mit keiner Wimper.

»Polo? Ich soll jemandem Polo beibringen? Du liebe Güte — ich habe seit vierzig Jahren nicht mehr gespielt.«

C. W. T. (auf russisch): »Der Botschafter sagt, er sei zum Spielen zu alt, doch würde er gern als Schiedsrichter fungieren.«

Woroschilow: »Prächtig. Der Botschafter wird Chef-Schiedsrichter, und Sie werden oberster Polo-Instrukteur der Roten Armee. Wann fangen wir an?«

C. W. T. (auf englisch): »Der Kommissar schlägt vor, daß Sie Chef-Schiedsrichter werden sollen und ich Instrukteur. Er möchte gern wissen, ob wir am Montag anfangen können.«

Der Botschafter wandte sich mir zu. Ganz oben auf seiner Glatze begann sich die Haut zu röten. Es war ein Gefahrensignal, das ich nur zu gut kannte. »Sagen Sie mal, was soll das alles eigentlich? Wieso sprechen wir auf einmal von Polo? Wie haben Sie das in die Unterhaltung gebracht? Ja, was haben Sie eigentlich übersetzt?«

Ich stotterte: »Es tut mir furchtbar leid, Sir, aber die Konversation ist — ist irgendwie — ein bißchen — entgleist…«

Urplötzlich wechselte der Gesichtsausdruck des Botschafters, und er begann schallend zu lachen: »Sagen Sie dem Kommissar, wir könnten anfangen, sobald die Ausrüstung da ist.«

 

In jener Nacht sandte ich, nachdem die Gäste fort waren, einem in der US-Kavallerie in Texas stationierten früheren Mitspieler ein Telegramm:

»Bitte sendet komplette Poloausrüstung abzüglich Ponys für vier Teams.«

Am nächsten Tag kam die Antwort:

»Du bist verrückt.«

Ein zweites Telegramm an einen weniger skeptischen Freund in London hatte besseren Erfolg. Bald schon langte eine Kiste mit einem umfangreichen Sortiment Polohämmer und Bälle in Moskau an.

Ein paar Tage später meldeten der Botschafter und ich uns zum Dienst. Für das erste Sowjetpolo-Experiment war ein Elite-Kavallerieregiment der Moskauer Garnison ausgewählt worden, dessen zwanzig beste Reiter zu dem Kursus abkommandiert wurden. Als Spielfeld hatten wir eine weite, leicht gewellte Grasfläche entdeckt, die bis dato nur von Schafen beweidet worden war. Sie lag an der Moskwa, und zwar genau gegenüber dem beliebten Schwimmbad ».Silberforst«, das wir im heißen Sommer 1934 oft aufgesucht hatten. Am Silberforst machte der Fluß eine scharfe U-förmige Biegung. Vor die offene Seite dieses >>U« wurde ein hoher Stacheldrahtzaun gezogen, so daß die Spielfläche — etwa einen Quadratkilometer groß — nunmehr von drei Seiten durch Wasser und auf der vierten durch den Zaun abgeschlossen war.

Wir versammelten uns in einem nahe gelegenen Kavallerie-Zeltlager, ritten zum Fluß hinunter, durch die seichte Furt und jenseits auf die Weidefläche. Die Kavalleristen trugen blitzblanke russische Uniformen, deren Hemden, um die Hüften mit einem Gürtel gerafft, über die Reithosen fielen. Die Militärmützen hatten sie sich sauber aufgerichtet auf die Köpfe geklemmt. Höflich sahen sie zu, wie wir ihnen die unterschiedlichen Schläge eines Polohammers vorführten.

Nach einer Weile bekam jeder von ihnen einen Hammer und einen Ball und durfte es allein ausprobieren. Sie waren alle vorzügliche Reiter, und es dauerte nicht lange, da schwirrten bereits in sämtlichen Richtungen Polobälle davon. Als ihm ein Ball gegen das Kinn gekracht war, entschied der Botschafter, sie hätten nun lange genug geübt. Er sortierte sie zu zwei Zehnergruppen auseinander. Der einen Gruppe zeigte er eine Kirchturmspitze am Horizont und wies sie an, in jene allgemeine Richtung zu schlagen, die andere Gruppe machte er auf einen Fabrikschornstein in der entgegengesetzten Richtung aufmerksam. »Sowie ihr aber in die Nähe des Flusses geratet, hört ihr sofort auf!« schärfte er ihnen ein, erklärte noch ein paar Spielregeln und sagte zum Schluß, wenn er in seine Pfeife stoße, sei das Spiel zu Ende.

Ich versuchte es zu übersetzen. Natürlich hatte keiner der Spieler jemals auch nur das Bild eines Polomatches gesehen. Und der russische Wortschatz — zumindest mein russischer Wortschatz — war alles andere als reich an Polofachausdrücken. Als ich fertig war, bezweifelte ich ernstlich, ob sie überhaupt etwas davon verstanden hatten.

Während der nun folgenden Aufstellung sahen sie alle merkwürdig konfus und verwirrt aus; doch da warf der Botschafter auch schon den Ball, und der Spaß begann.

Als der Ball in den Wald der hundert Pferdebeine und Hammerköpfe rollte, herrschte einen knappen Augenblick lang Totenstille. Dann holte einer aus — ein Brüllen wurde laut, ein wilder Fluch — irgendwo waren sich Hammer und Menschenknochen zu nahe gekommen. In der nächsten Minute entstand ein wüstes Durcheinander, bis der Ball aus dem Gedränge hervorschoß und alle zwanzig Reiter ihm in irrer Jagd nachsetzten. Ein wirbelnder Hammerkopf schleuderte ihn weiter. Die Verfolger im Galopp hinterher. Eine Serie primitiver Hiebe verpaßte ihn, und abermals knäuelte sich die Horde zu wütendem Gewoge. Mehr Stöhnen, immer häufigeres Fluchen, und dazwischen die qualvollen Töne auf Menschen- und Pferdebeine niedersausender Polohammerschläge. Wieder tauchte der Ball auf, und wie von der Sehne geschnellt fegte das Feld brüllend hinterdrein. Der Anführer holte gewaltig, aber falsch aus, schlug daneben und stoppte abrupt. Prompt krachte sein Hintermann mit ihm zusammen und hätte ihn fast vom Pferd gerissen. Im Nu verschwand der Ball wieder zwischen den Pferdebeinen.

Sie kamen mächtig in Schwung. Zuerst galoppierte der Botschafter noch neben ihnen her, um sie bei »Fouls« zu verwarnen, aber bald war auch ihm nur zu klar, daß sich niemand um etwas anderes als den Ball kümmerte.

Am eifrigsten von allen zwanzig war ein kleiner Mongole aus Zentralasien. Anfangs stürzte er wie ein Rasender mitten in jedes Knäuel, seinen Hammer schwingend und fremdtönende Kriegsschreie ausstoßend. Dann sah ich, wie er sich heimlich ein Stück vom großen Haufen absetzte. Im nächsten Augenblick sauste der Ball aus dem Gedränge, abermals verfolgt vom Rest der Spieler. Der Mongole gab seinem Pferd die Sporen und preschte auf ihn zu — scharf im rechten Winkel zu den heranrasenden Verfolgern. Wenn kein Wunder geschah, war ein Zusammenprall unvermeidlich. Der Mongole jauchzte schrill auf. Vielleicht glaubte er, die anderen erschrecken und verscheuchen zu können. Aber jeder hielt eisern auf sein Ziel los. Das Ergebnis: ein dumpfdröhnender Aufprall, ein Schmerzensschrei und drei Pferde, die im vollsten Galopp ineinandergerast waren! Das Pferd des Mongolen wankte, kippte um, die beiden anderen gerieten ins Stolpern und fielen auf ihn. Der Ball indessen rollte gelassen übers Feld davon, und die anderen Spieler rasten weiterhin wie die Irren hinter ihm her.

»Das war ein Foul«, sagte ich zum Botschafter, als wir gemeinsam auf die Unglücksstelle zutrabten.

»Ein Foul?« schrie er zurück. »Zum Teufel — das war Mord!«

Noch ehe wir hinkamen, hatten sich jedoch die Pferde wieder hochgerappelt, und ihre Reiter torkelten, ein wenig benommen noch, aber sonst anscheinend wohlauf, über die Wiese. Der kleine Mongole hatte eine Schramme auf seinem kahlgeschorenen Schädel, und seine Uniform war zerfetzt. In der nächsten Sekunde war er auf sein Pferd gesprungen und galoppierte unter gellendem Gejuchze hinter den anderen her.

Nachdem das Spiel dieserart fünfzehn Minuten gedauert hatte, hielt der Botschafter sein Pferd an, verkündete, daß es nun für den ersten »Chukker« reiche, und stieß feierlich in seine Pfeife. Die Bande fuhr fort, zu galoppieren, zu brüllen und allen Regeln der Kunst zuwider auf den Ball einzuhauen. Noch einmal pfiff er. Ein paar Spieler sahen ihn völlig verständnislos an. Andere grinsten, offensichtlich belustigt über den Anblick, den Seine Exzellenz ihnen bot: majestätisch auf seinem Rosse thronend und schrill auf einer kleinen Pfeife piepsend.

Als ich vorüberflitzte, rief mir der Botschafter zu: »Haben Sie ihnen nicht gesagt, sie sollten aufhören, wenn ich pfeife?«

Ich nahm mir ein Beispiel an den Spielern, tat, als ob ich nichts hörte, und galoppierte weiter. Der Botschafter setzte mir nach.

Weitere zehn Minuten verstrichen. Mittlerweile fühlte sich der Botschafter über seine absolute Unfähigkeit, die von ihm selber in Bewegung gesetzte Attacke wieder zu stoppen, etwas gekränkt. Am Flußufer endlich stellte er mich. »Haben Sie den Leuten befohlen, bei meinem Pfeifen aufzuhören, oder haben Sie nicht?« schrie er gereizt.

»Es tut mir leid — ich vermute wohl, das heißt, es könnte sein — genau kann ich mich leider nicht erinnern.«

Der Botschafter begann jetzt zu brüllen: »Haben Sie oder...?«

»Ich — ich scheine es tatsächlich ausgelassen zu haben, Sir. Es tut mir schrecklich leid...«

»Verdammt noch mal! Dann bringen Sie sie auch gefälligst zum Stehen, ich kann’s nicht! Wenn die noch lange so weitermachen, kriegen sie oder ihre Pferde einen Schlaganfall.«

Ich stimmte ihm respektvoll nickend zu und starrte hilflos auf die Staubwolke einen halben Kilometer weiter unten auf der Wiese. »Ich will’s versuchen«, murmelte ich kleinlaut, gab meinem Pferd die Sporen und brüllte zugleich: »Stoj! Stoj!«

Ein paar verschwitzte, blutverschmierte Kavalleristen stierten mich einen Moment lang an, grinsten hinterhältig und rasten dem Ball nach.

Ich schnappte mir einen überzähligen Hammer und beschloß, mich an der Balgerei zu beteiligen. Vielleicht gelang es mir so, die wildgewordenen Polospieler auseinanderzutreiben. Als der Ball das nächstemal aus dem Rudel hervorschnellte, fegte ich quer vor den Verfolgern hinter ihm her.

Ich holte mächtig aus, verfehlte und konnte mein Pferd grad noch nach vorn wegspornen, ehe die anderen Pferde haarscharf an seinem Schweif vorbeirasten, mit Augen, die ihnen vor Erregung fast aus den Köpfen traten. Ich wiederholte meinen Versuch - diesmal mit mehr Erfolg. Der Ball segelte hundert Meter weit durch die Luft; ich hielt mich dicht hinter ihm, über die Schulter zurückbrüllend: »Stoj! Stoj! Seine Exzellenz befiehlt aufzuhören!«

Der Trupp wandte sich ungerührt dem Ball zu und galoppierte weiter. Ich fühlte die achtzig Hufe schon in meinem Nacken, als ich mein Pferd zum nächsten Schuß zügelte. Gewöhnlich verspürt man eine herrliche Erregung, wenn man beim Polo den Ball vor das Feld spielt, aber gewöhnlich bewegt sich das Spiel auch in zivilen Grenzen — mit Regeln und einem Schiedsrichter. Hier jedoch hatte ich es einzig und allein mit einer halbwilden, blutrünstigen und schweißverklebten Horde zu tun, nachdem auch der Botschafter seine Schiedsrichterrolle längst resigniert aufgegeben hatte. Nicht einmal Torpfosten oder Straflinien gab es, nur den Fluß und den Zaun, und die waren weit weg.

Ich schlug wieder zu, und der Ball flog vorwärts. Wenige hundert Meter vor mir lag der Fluß. Wenn es mir doch gelänge, bis dahin zu kommen und den Ball ins Wasser zu jagen...

Ich spornte mein Pferd, holte aus und traf wieder, doch rutschte mir der Ball seitlich weg. Obwohl ich mein Pferd auf der Stelle so heftig herumriß, daß es beinahe gefallen wäre, war es schon zu spät. Meine scharfäugigen, flinken Schüler hatten mir den Weg zum Ball abgeschnitten und hämmerten bereits wieder selber mit den Schlägern darauf herum.

Ihr Atem reichte längst nicht mehr zum Brüllen. Während sie gierig jeder Bewegung des winzigen Balles nachspürten, keuchten und gurgelten sie nur noch wie fernes Donnergrollen. Ihre schaumbedeckten Pferde schnauften. Wolken von Schweiß und Staub umhüllten den dichtgeballten Knäuel. Und dann rollte der Ball noch einmal aus dem Haufen. Ich holte verzweifelt aus — tatsächlich, jetzt bewegte er sich auf den Fluß zu! Die hinter mir Galoppierenden schrien herausfordernd auf. Es gab keinen Zweifel mehr, wer auf wessen Seite war! Das Spiel stand zwanzig zu eins, und bis zum Fluß waren es noch fast zweihundert Meter. Aus den Augenwinkeln sah ich den Botschafter in einiger Entfernung gemütlich dahintraben. Er schien zu lachen.

Ich holte wild gegen den Ball aus. Er sprang in die Luft. Sofort schwang ich den Flammer noch einmal und traf ihn knapp über dem Boden. Diesmal saß der Schlag. Der Ball segelte die restlichen Meter und landete aufklatschend in der Moskwa.

Mein Pferd anhaltend, sank ich erschöpft und ausgepumpt im Sattel zusammen.

Knapp hinter mir stoppte die Meute der Verfolger und stierte zuerst auf mich, dann auf den Fluß. Plötzlich trieb einer von ihnen seinem Pferd die Sporen in die Weichen, sprang mit einem Satz vom Ufer in den seichten Strom und verschwand im aufspritzenden Wasser. Noch ehe ich meine fünf Sinne zusammenreißen konnte, tauchte er mit dem Ball in der Hand wieder auf und schleuderte ihn aufs Spielfeld zurück. Der grölende Mob stürzte sich wie der Blitz darüberher und galoppierte triumphierend mit ihm davon.

Ich starrte auf das Bild, das sich mir bot, und stöhnte hilflos. Doch der Botschafter war im Nu neben mir:

«Vorwärts, so bleiben Sie ihnen doch auf den Fersen — verdammt noch mal, beeilen Sie sich! Die bringen sich ja allesamt um, wenn Sie sie nicht verflucht schnell zum Halten veranlassen!«

Als ich das Gewimmel einholte, waren wir so ziemlich in der Mitte der weiten Weidefläche. Eine zweite Jagd zum Fluß ging einfach über meine Kräfte, von meinem ausgepumpten Pferd gar nicht zu sprechen. Wir galoppierten immerhin pausenlos seit fast einer Stunde.

Sowie der Ball erneut aus dem wogenden Getümmel schnellte, machte ich einen Satz darauf zu, den Hammer mit aller Wucht schwingend. Der Ball preschte fünfzig Meter weiter. Ein paar Galoppsprünge, ich zog die Füße aus den Bügeln, hielt mein Pony an... Es bestand grad noch die einzige Chance, mich auf den Ball fallen zu lassen, ehe die Bande herangebraust war.

Der Botschafter erzählte mir später, daß er von seinem Standort einzig und allein habe sehen können, wie sein Sekretär hart vor der stürmenden Meute aus dem Sattel rollte. Dann versperrten ihm bäumende Pferde den Blick. Als er sich endlich doch durch den Haufen gekämpft hatte, lag ich zusammengerollt auf der Erde, den Ball unter den Arm geklemmt. Zwanzig staub- und schweißgeschwärzte Gesichter sahen halb böse, halb belustigt auf mich herab.

Ich blickte hoch: »Bitte, bitte«, keuchte ich, »genug! Ja? Bestimmt?« Mit johlendem Gelächter wurde mein Flehen akzeptiert.

Als der Lagerkommandant kurz darauf aus seinem Zelt trat, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte auf die zum Fluß führende Straße. Die geschniegelte und gebügelte Abteilung, die er vor wenigen Stunden auf Budjennyis Befehl für irgendwelchen diplomatischen Schnickschnack zur Verfügung gestellt hatte, sah aus, als ob sie aus dem Bürgerkrieg zurückkäme. Einige wenige Soldaten trugen noch die Uniformhemden — ohne Ärmel und die Knöpfe futsch, aber die meisten waren einfach bis zu den Hüften nackt. Etliche hatten sich Taschentücher um den Kopf gebunden. Dünne Blutrinnsale tröpfelten ihnen die Backen hinunter. Einer hatte eine Armschlinge improvisiert, aus der seine blutige Faust hervorragte. Am Ende der Kolonne führten zwei Soldaten ihre lahmen Pferde.

An der Spitze der Kolonne aber ritten in nur geringfügig besserer Fasson der amerikanische Botschafter und — in den Sattel gehuddelt — die Überbleibsel seines Privatsekretärs. Der Botschafter lächelte großväterlich auf mich herab:

»Anfangs fällt es natürlich immer schwer, sich beim Übersetzen an alles zu erinnern, was ich gesagt habe, aber mit ein bißchen Übung und Geduld werden Sie es schon schaffen!«

»Ich will’s versuchen«, seufzte ich zerschmettert.

Am nächsten Tag telefonierte Budjennyi:

»Tut mir leid, daß ich bei der ersten Probe gestern nicht dabeisein konnte, aber nach den Berichten aus dem Lager muß es ja ein Riesenerfolg gewesen sein. Nur klagen alle darüber, daß das Pferdematerial nicht besonders geeignet sei. Könnten Sie mir nicht einmal den Ponytyp beschreiben, den man in Amerika zum Polospielen verwendet?«

Der Botschafter erklärte ihm, am geeignetsten sei Dreiviertelvollblut, fünf oder sechs Jahre alt, um 150 cm hoch, an Sattel und Reiter gewöhnt, aber noch nicht fertig eingeritten. Das Spezialtraining könnten die Reiter unter unserer Anleitung selber vornehmen.

»Wie viele brauchen Sie?« erkundigte sich Budjennyi.

»Nun, in Amerika hat jeder Spieler drei, manchmal auch vier für ein Spiel, doch ist das nicht unbedingt nötig.«

»Na, mal sehen, was sich machen läßt«, meinte Budjennyi und legte den Hörer auf.

Drei Wochen vergingen ohne weitere Worte über Poloponys. Unsere Übungen setzten wir fast täglich nach den Dienststunden fort. Sie wurden langsam etwas gesitteter, und nach und nach kapierten die Spieler sogar einige Regeln und Verbote.

Eines Tages kam wieder ein Anruf.

»Genosse Budjennyi läßt anfragen, ob der Botschafter heute nachmittag um drei Uhr zu ihm in die Kavallerie-Kaserne kommen könnte. Er hat da ein paar von diesen Poloponys, die er Ihnen gern zeigen möchte.«

Wir fanden Budjennyi mit seinem Adjutanten und dem Kavalleriekommandeur der Garnison auf dem Paradeplatz. Auf ein Kopfnicken Budjennyis hin begannen die Soldaten die Ponys aus den Ställen heraus- und an unserer Gruppe vorbeizuführen.

Das erste Pferd war ein kleiner dunkelbrauner Wallach mit den schlanken Beinen eines Vollblüters und den runden Linien eines Kosakenponys. Der Kommandeur erläuterte: »Fünf Jahre alt, drei Viertel Vollblut, ein Viertel Kuban, 150 cm hoch. Angeritten, aber noch nicht trainiert.«

»Haargenau der Typ, den wir brauchen«, bemerkte der Botschafter begeistert.

Das zweite Pferd war, bis auf das heller glänzende, kastanienbraune Fell, dem ersten fast gleich.

»Fünfeinhalb Jahre, drei Viertel Vollblut, aus dem Donbecken, angeritten, aber nicht trainiert.«

»Superb«, sagte der Botschafter.

Auf das dritte Pony, eine dunkle Stute aus Westsibirien, paßte die gleiche Beschreibung.

Ich grinste verständnisinnig: Aha, sie zeigten sich zuerst von der besten Seite und hatten ein paar Paradegäule an die Spitze gestellt! Aber als die Reihe der vor uns Aufmarschierenden lang und länger wurde, kugelten mir fast die Augen aus dem Kopf. Jedes neu herauskommende Pferd war so hervorragend wie die draußen stehenden. Es war eine Kollektion, wie sie selbst die US-Kavallerie kaum hätte zusammenstellen können. Nachdem etwa fünfzehn oder zwanzig vorbeidefiliert waren, erkundigte sich der offensichtlich ebenfalls baß erstaunte Botschafter:

»Ja, wie viele sind es denn insgesamt?«

»Vierundsechzig«, erwiderte der Kommandeur in ausdruckslosem, sachlichem Ton.

»Herr des Himmels! Wenn das kein Poloberitt ist!«

»Oh, doch nur, was Sie uns angegeben haben, oder nicht?« meinte Budjennyi beiläufig. »Vier Pferde pro Spieler; und vier Teams sind insgesamt sechzehn Spieler. Schätze, wir bringen ebenso viele Ponys auf die Beine wie Sie Amerikaner.«

Als das letzte der vierundsechzig Ponys vorbeimarschiert war, wurde ein stattlicher kastanienbrauner Charger gesattelt und gezäumt vorgeführt.

»Das ist der fünfundsechzigste — für Seine Exzellenz, den Herrn Schiedsrichter. Möchten Sie ihn einmal versuchen?« Während der Botschafter aufsaß, nahm ich einen Adjutanten beiseite und erkundigte mich: »Nun sagen Sie bloß mal, wie Sie es fertiggebracht haben, so eine Kollektion zusammenzustellen?«

»Ganz einfach«, sagte er. »Budjennyi forderte telegrafisch von sämtlichen Gestüten der Union einen Bericht über den Bestand an Pferden an, die Ihrer Beschreibung entsprachen. Dann ließ er die besten nach Moskau kommen.«

Noch einige Wochen lang trainierten wir die Ponys und brachten den Spielern die Regeln bei. Dann brach der Tag des ersten offiziellen Polo-Matches in der Sowjetunion an. Es war ein heißer Septembernachmittag. Der Strand um die Furt war vollgepfropft mit Schwimmern. Da das Nacktbaden in der Sowjetunion erst viel später für unkultiviert erklärt wurde, begnügte man sich damals noch mit einem einfachen hölzernen Trennungszaun zwischen Männer- und Frauenstrand. Der Weg vom Lager zum »Polofeld« kreuzte den Frauenstrand, doch hatte man sich dort inzwischen an unseren täglichen Vorbeiritt so gewöhnt, daß sich auch heute niemand umdrehte — obwohl wir alle in schillernden roten und blauen Polohemden prangten, die ein Moskauer Sportklub extra für diese Gelegenheit gestiftet hatte. Früher am Tag schon war ein Regiment Fußsoldaten über den Strand marschiert und durch den Fluß auf die gegenüberliegende Wiese geplanscht. Hier waren sie auseinandergezogen worden und bildeten nun, mit je einer Armeslänge Abstand, einen riesigen Kreis von einem Kilometer Durchmesser. Sie befanden sich so weit vom eigentlichen Spielfeld entfernt und waren durch die vielen Bodenwellen so gut getarnt, daß sie von den Zuschauern praktisch nicht gesehen werden konnten.

Aber selbst das hatte die Badenden nicht aufmerken lassen. Die Bevölkerung der Sowjetunion ist an alle Arten militärischer Manöver längst gewöhnt.

Nein — was die nackten Damen wirklich auf die Füße brachte, war eine lange Schlange schwarzer Limousinen, die sich feierlich durch den Sandstrand pflügten, durchs Wasser rauschten und auf der jenseitigen Ebene verschwanden. Einige der Erstaunten werden des Rätsels Lösung am nächsten Tag in der »Prawda« gefunden haben, wo der Bericht über das Polospiel am Silberforst zu lesen war. Gesehen haben das Spiel nur ganz wenige — dafür sorgte die Absperrung durch die Soldaten schon. Doch obwohl zahlenmäßig klein, war das Auditorium so erlesen wie nur irgendeines: Litwinow, der Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Woroschilow, der Kriegskommissar, verschiedene Mitglieder des Politbüros, Botschafter Bullitt mit einigen Herren seines Amtes und eine Handvoll sorgsam ausgewählter sowjetischer und amerikanischer Zeitungskorrespondenten.

Der Privatsekretär des Botschafters gehörte dem blauen Team an.

Das Spiel selber war aufregend, scharf und spannend genug, um allen Ansprüchen zu genügen. Meine Mannschaft wurde geschlagen. (Später wurde mir das als diplomatischer Takt ausgelegt, und ich wurde höchst unverdientermaßen mit Komplimenten überschüttet.)

Nach dem Spiel versammelten sich Teilnehmer und Zuschauer zu einem Fest in der Botschaft. Es dauerte bis zum anderen Morgen. Der einzige dunkle Fleck auf diesem schönen Tage war, daß Midget, mein Schäferhundbaby, sich auf dem Schoß des Kriegskommissars danebenbenahm.

 

Wir spielten den ganzen Sommer hindurch Polo. Als der erste Schnee gefallen war, wurden unsere Übungen in eine große Reithalle in der Stadt verlegt. Und dann schieden nach und nach die besten Spieler aus.

»Manöver«, erklärte der Kommandeur.

Überall in der Welt gingen Dinge vor sich, die mit Polo ziemlich wenig zu tun hatten. Göring verkündete, daß Deutschland seine Luftstreitkräfte verstärken werde. Anläßlich einer Truppenparade in Berlin zeigte die deutsche Heeresleitung eine neue motorisierte Kanone.

Die Zeitungen berichteten, daß das Reich neue mechanisierte Divisionen aufstelle.

Über die deutsche Kavallerie hörte man in diesen Tagen wenig und gar nichts über deutsches Polo.

Eines Tages, zu Beginn des Frühlings, wurde von den Kavalleriekasernen aus angerufen, es könne leider an jenem Tage nicht geübt werden, da sich sämtliche Truppen im Manöver befänden.

»Sobald sie zurück sind«, erklärte der Kommandeur höflich, »werde ich Ihnen Bescheid sagen.«

Die Truppen müssen wohl sechs Jahre später, als der Krieg ausbrach, immer noch im Manöver gelegen haben, denn Bescheid kam nie.

Aber soviel mir bekannt ist, bin ich immer noch Chef-Poloinstrukteur der Roten Armee.