Der Krieg mit den Trusts
Schließlich kamen die Möbel und die Rollschränke und die Schreibmaschinen aber doch an — tropfenweise natürlich. Und am Ende brachten wir sie sogar in den zugehörigen Räumen und Gebäuden unter. Eines Abends spät schleppten George Kennan, »Pinky« Daves, ein Architekt des State Department, und ich ein riesiges Bett ins Schlafzimmer des Hausherrn im »Spaso-Haus«, wie wir es nach einer Straßenbezeichnung nannten, der zukünftigen Residenz des Botschafters, und in der Frühe des nächsten Morgens bereits eilten wir zum Bahnhof, um den Botschafter und seinen Hausstand zu empfangen. Auf dem Bahnhof herrschte eine leichte Verwirrung, weil mit dem Zug, den Bullitt benutzte, auch eine umfangreiche Delegation weiblicher Kommunisten zu den alljährlichen Feierlichkeiten am »Tag der Frau« nach Moskau kam. Etliche aufregende Minuten lang schien es, als sei Bullitt drauf und dran, mit den Blumensträußen und der Musikkapelle empfangen zu werden, die Frauen dagegen mit Verbeugung und Händeschütteln des Chefs des Protokolls, der als oberster Zeremonienmeister die Aufgabe hatte, neue Botschafter willkommen zu heißen. Irgendwie aber kam im letzten Augenblick doch noch alles klar, und jedermann war glücklich.
Mit Bullitt traf seine französische Köchin ein: Louise, eine ebenso kompetente wie energische Vertreterin ihres Faches. Kaum hatte der letzte Wagen der vom Bahnhof kommenden Kolonne das Spaso-Haus erreicht, als Louise auch schon eine schnelle, aber dennoch umfassende Inspektion ihres neuen Arbeitsbereiches vornahm. Ein paar Minuten später stürzte sie ins Speisezimmer, wo der Botschafter gerade frühstückte: »Um Himmels willen, Exzellenz — es ist ja nichts im Hause! Nichts, gar nichts, sage ich Ihnen!«
Ich sah Kennan an und brummte vor mich hin: Was heißt hier nichts? Tag für Tag verrenke ich mir vor lauter Schlepperei fast die Schultern, nur um das Haus mit allem möglichen Krimskrams vollzustopfen, und jetzt ist es also glücklich immer noch leer!
»In der Küche — nichts: keinerlei Gewürze, nicht mal Paprika! In den Schlafzimmer nichts — nicht einmal Kleiderbügel!«
Bullitt lachte und wandte sich Chip Bohlen zu, der mit ihm von Paris herübergekommen war, wo er sich auf der Schule für orientalische Sprachen zwei Jahre lang auf seine Moskauer Aufgaben vorbereitet hatte. Nun endlich war der Zeitpunkt gekommen, das Gelernte nützlich anzuwenden.
»Trauen Sie es sich zu, Chip, Louise in die Stadt zu fahren und ihr zu helfen, alles noch Fehlende einzukaufen?«
Die Schule für orientalische Sprachen war nicht auf Vokabeln für ausgefallene französische Gewürze spezialisiert. Zudem hatte Chip sich sein Leben lang krampfhaft bemüht, allem, was »Küche« hieß, möglichst fernzubleiben.
Als er einige Stunden später von seinem ersten Dienstgang zurückkehrte, sah er leicht grün aus.
»Na, wie ging’s?« erkundigte ich mich.
»Och, nicht halb so schlimm, wie ich dachte. Die Gewürze gab’s in keinem einzigen Laden, und das russische Wort für ‘Kleiderbügel’ kannte ich Gott sei Dank.«
Ich weiß noch, daß ich mich damals fragte, ob der Versuch, einen französischen Küchenchef an Moskauer Verhältnisse zu gewöhnen, wirklich die ganzen Umstände wert sei; doch ereignete sich wenige Monate später etwas, das meine Ansicht änderte. Ein weiterer Botschaftsbeamter, Eddy Page, der mit Chip zusammen in Paris studiert hatte, traf mit seiner jungen Frau Terry in Moskau ein. Terry hatte mittlerweile über das, was sie hier erwartete, eine ganze Masse gehört und sich nach allen Seiten gegen Betriebsunfälle und Pannen gesichert. Wir hatten ihnen vorher ihre neue Wohnung möglichst nett eingerichtet und mit allem Wichtigen versehen — inklusive einer einheimischen Köchin, frisch vom Kolchos. Zu der Zeit bestand bereits die Möglichkeit, innerhalb der Botschaft selber verschiedene amerikanische Lebensmittel zu kaufen. Die Pages hatten kaum ausgepackt, als sie schon in den Verkaufsraum eilten, um auch noch das letzte zur Komplettierung eines neugegründeten Musterhaushalts zu erstehen. Terry kaufte die Gewürze und die Konserven, Eddy den Cocktail-Zubehör und die Tennisbälle. Innerhalb einer knappen Stunde setzten sie sich bereits zur ersten Mahlzeit im neuen Heim nieder. Irgendeine Büchsensuppe wurde serviert und gegessen. Dann folgte eine lange Pause. Während sie auf den nächsten Gang warteten, hörten sie die Köchin in der Küche erbost vor sich hin knurren. Schließlich stürzte sie ins Eßzimmer, in der einen Hand einen Stieltopf, in der anderen eine Gabel schwingend.
»Sie wollen nicht weich werden, sag’ ich Ihnen! Diese verdammten amerikanischen Kartoffeln wollen und wollen einfach nicht weich werden!«
Sie fuchtelte mit dem Stieltopf unter Terrys Nase herum und pickte mit der Gabel nach den »Kartoffeln«. Auf dem sprudelnden Wasser hüpften munter Eddys Tennisbälle herum.
Aber zurück zum Spaso-Haus, wo der Botschafter sich abmühte, auf Moskauer Art Haus zu führen. Nachdem wir den Bogen erst einmal heraus hatten, erwies es sich als ziemlich einfach, ein paar »Schwarzarbeiter« — wie man in Moskau die Gelegenheitsarbeiter nennt — zu erwischen und sie die Möbel und Büroeinrichtungen an Ort und Stelle schleppen zu lassen. Doch dann kam ein riesiger Geldschrank an. Etliche Schwarzarbeiter wurden mobilisiert, und der Geldschrank wurde aus dem Wagen auf einen Lastwagen gezerrt und geschoben und zum Spaso-Haus transportiert. Hier brachten wir es fertig, ihn vom Wagen herunterzuwuchten, ohne dabei mehr als ein, zwei Zehen zu zerquetschen, und bekamen ihn sogar erfolgreich in die Haustür. Inzwischen war es ziemlich spät geworden. Die Schwarzarbeiter warfen einen Blick auf den trüben Schimmer, der im Winter in Moskau die Sonne vertritt.
»Feierabend!« verkündeten sie stur.
»Ja — ihr könnt doch den Geldschrank nicht mitten in der Haustür stehenlassen! Der Botschafter hat Gäste zum Essen, und es ist unmöglich, vorbeizukommen.«
»Feierabend«, wiederholten sie mit einem Achselzucken, welches deutlicher als Worte sagte, daß sie die Gäste des Botschafters für sein Problem hielten. Dann drehten sie sich um und marschierten über die Auffahrt hinaus ab. In solchen Situationen blieb nur eines übrig: den Chef des Protokolls anzurufen. Neben seiner Position als Empfangschef von Rußland war dieser nämlich auch für das Wohlergehen — oder wie man es immer nennen mag — des gesamten Diplomatischen Korps verantwortlich. Er sagte, es täte ihm sehr leid, doch sei es weder seine noch seiner Kollegen Stärke, Geldschränke zu verrücken. Auf alle Fälle jedoch werde er sich bemühen, morgen früh jemanden dafür zu finden.
Wir hielten Kriegsrat ab und faßten den für den Moment einzig brauchbaren Entschluß: Der Botschafter, der Botschaftsrat, zwei Legationsräte, drei Legationssekretäre und der Privatsekretär stemmten sich mit den Schultern gegen den Geldschrank und schoben. Zentimeter für Zentimeter bewegten wir ihn auf eine Stelle zu, wo er nur mehr die Hälfte der Tür blockierte. Der Gast, der jetzt beim Hereinkommen noch steckenblieb, mußte schon sehr fett sein.
Am nächsten Morgen ließ uns der Chef des Protokolls wissen, daß er noch immer mit dem Problem ringe. Es klang nicht sehr hoffnungsvoll. Die Schwarzarbeiter kreuzten auf, doch als sie sahen, wohin wir den Geldschrank transportiert haben wollten, seufzten sie tief und erklärten bekümmert, das übersteige ihre Kräfte. Da müßten wir uns schon an den Trust der Schwergewichts-Transportler wenden.
»Wo ist denn der Trust der Schwergewichts-Transportler?« erkundigten wir uns begierig. Vier oder fünf Adressen kamen zum Vorschein.
»Es könnte sein, am Twerskoi-Boulevard.«
»Ich habe jemanden sagen hören, er sei nach Samoskwore-kije umgezogen.«
»Nein, der muß überhaupt noch gegenüber dem Kasaner Bahnhof liegen
Ein paar Minuten später dröhnten vier Autos aus der amerikanischen Botschaft und machten sich auf die Suche nach den Schwergewichts-Transportlern. Wir jagten kreuz und quer durch Moskau: vom Twerskoi nach Samoskworekije, rund um den Arbat und zum Kasaner Bahnhof. Wir fragten auf der Post nach, auf dem Telefonamt, beim Zoll. Hatte vielleicht irgend jemand ein Schild mit der Aufschrift »Schwergewichts-Transportler-Trust« gesehen? Wir hielten Lastwagen an, die mit schwergewichtigen Dingen beladen waren, in der Hoffnung, daß sie es vielleicht wüßten. Ein paar Leute schienen sich verschwommen daran zu erinnern, früher mal von so was gehört zu haben; aber die überwiegende Mehrzahl war eisern überzeugt, nie davon gehört zu haben, und bezweifelte, daß er überhaupt existiere. Endlich kam uns auf irgendeinem Amt eine alte Pförtnerin zu Hilfe. Natürlich, sie wisse alles über die Schwergewichts-Transportler. Ihr Mann sei ja einer von ihnen. Sie gab uns die Adresse, und wir beeilten uns, hinzukommen.
Die Schwergewichts-Transportler waren eine ziemlich aristokratische Gesellschaft. Sie übernahmen keine Arbeit, ehe sie sie gesehen hatten.
Also luden wir sie in die Autos und drängelten uns durch den Verkehr zurück zur Botschaft. Sie studierten sorgfältig das Terrain, ruckten den Geldschrank ein paarmal und entschieden schließlich, er könne versetzt werden. Gleichzeitig fügten sie freilich hinzu, sie dächten nicht daran, es etwa für ein Butterbrot und ein paar liebe Worte zu tun. Was wir ihnen zahlen wollten?
Ich nannte eine Summe in Rubeln.
»Rubel?« knurrten sie. »Wieso? Wir dachten, ihr wärt Ausländer und zahltet in Devisen, damit wir in den Ausländer-Läden kaufen können.«
Ich schlug polnische Zloty vor.
»Welche Zloty? Echt silberne?«
»Jawohl«, sagte ich und brachte eine Silbermünze von der Größe eines Dollars zum Vorschein. »Für jeden von euch fünfen eine.«
Sie schnappten sich den Zloty und befingerten ihn.
»Ist echt, ja?«
Ich erklärte, ich nähme es an, obwohl ich wußte, daß viele Fälschungen im Umlauf waren.
»Geht in Ordnung! Wir verlassen uns auf Ihr Wort. Es gilt!« Damit rollten sie ein paar zerfledderte alte Stricke ab, die sie um den Bauch gewickelt trugen, führten sie unter dem Geldschrank durch, schlugen sich die Enden über die Schultern, grunzten kernig und hievten hoch. Der Geldschrank hob sich wie eine Feder vom Boden und schwankte gefährlich, als sie die Treppe hinauf und quer durch den Ballsaal schlurften. Innerhalb von zehn Minuten stand er an Ort und Stelle. Chip Bohlen verteilte fünf Zloty und ein paar Flaschen Bier als Draufgabe, und die Schwergewichts-Transportler stampften davon.
Wir waren hocherfreut über unsere Tüchtigkeit und ersuchten den Chef des Protokolls per Telefon, sich nicht weiter um das Problem zu kümmern, da wir es bereits zur völligen Zufriedenheit gelöst hätten.
Unglücklicherweise fühlten sich die Schwergewichts-Transportler nicht ganz so beglückt. Am anderen Tag polterte einer von ihnen, ein ungeheuer bärtiger alter Riese, in die Botschaft und verlangte Chip zu sehen. Man zeigte ihm das Büro, und bedrohlich wie ein gewaltiger, ungeschlachter Gorilla wuchtete er über den Flur.
»Taugt nicht; is zerbrochen«, grunzte er.
»Was ist zerbrochen?« fragte Chip verdutzt.
»Das Geld is zerbrochen.«
»Das Geld? Wie kann denn Geld zerbrechen?«
»Hab’ mit’m Schmiedehammer draufgehauen«, brummte der Schwergewichts-Transportler.
»Ja, aber um Himmels willen — weshalb haben Sie denn mit dem Schmiedehammer draufgeschlagen? Es sah doch wie ein vollkommen echter, guter Zloty aus. Hauen Sie immer mit Schmiedehämmern auf Ihrem Geld herum?«
»Manchmal. Wenn ich riech’, daß es Schwindel is, dann mach’ ich’s. Und das hier war Schwindel. Da — seh’n Sie!« Er hielt ihm zwei übel zugerichtete, verbeulte Metallstücke hin: »Seh’n Sie sich das an, und sag’n Sie mir, ob ‘ne echte Silbermünze durchbricht.«
Chip bekannte, er habe noch niemals versucht, ein Geldstück mit dem Schmiedehammer zu bearbeiten, und sei infolgedessen leider kein Experte auf diesem Gebiet; doch gab er zu, daß die verbeulten Metallfetzen nicht gerade nach echtem Silber aussahen. Er zog einen anderen Zloty aus der Tasche und überreichte ihn dem Schwergewichts-Transportler. »Nehmen Sie den hier. Wenn der auch nichts taugt, kommen Sie wieder her und erzählen’s mir.«
Der Schwergewichts-Transportler muß zufrieden gewesen sein, denn wir haben ihn niemals wiedergesehen.
Ob sich der Chef des Protokolls durch unsere offenkundige Selbstzufriedenheit anläßlich der Schwergewichtlerepisode beleidigt fühlte, weiß ich nicht genau — jedenfalls rief er ein paar Tage später in größter Aufregung an und erkundigte sich, wer das Schlafzimmer in der nordwestlichen Ecke des zweiten Stockwerkes im Spaso-Haus bewohne. »Weshalb möchten Sie das wissen?« fragte ich vorsichtshalber.
»Weil derjenige, der dort wohnt, soeben eine Sodawasserflasche aus dem Fenster auf einen Schutzmann geworfen und ihn ernstlich verletzt hat. Ich habe gerade einen dringenden Anruf der Polizei erhalten. Sie wünscht umgehenden Rapport.« Der Chef des Protokolls schwebte anscheinend in Todesängsten vor dieser Polizei und schien wild entschlossen, ihr schnellstmöglich Genugtuung zu verschaffen.
»Mir ist nichts über irgendwelche Flaschen bekannt«, entgegnete ich, »aber das Zimmer in der Nordwestecke ist Botschafter Bullitts Schlafzimmer, in das er sich vor etwa anderthalb Stunden zu einem Mittagsschläfchen zurückgezogen hat. Ich werde ihn fragen, ob er mit Flaschen nach Polizisten geworfen hat, und Sie dann wieder anrufen.« Der Botschafter leugnete standhaft, während seines Mittagsschläfchens je mit Flaschen um sich geworfen zu haben. Schön und gut — doch der Polizist wurde herbeizitiert und vorgeführt, wies eine riesige Schramme über dem linken Auge und die zerbrochene Sodawasserflasche vor und beharrte darauf, sie sei über die Umfassungsmauer der Botschaft geflogen und habe ihn genau auf die Stirn getroffen. Selbst in Rußland aber können Flaschen nicht von selber fliegen, und der Polizist schien keinen Grund zu haben, die Geschichte zu erfinden. Trotz alledem, die Behauptung des Botschafters war nicht weniger überzeugend. Es mag sein, daß er als Student in Yale seinen Ansichten gelegentlich mittels leerer Milchflaschen den nötigen Nachdruck verliehen hat; aber in den letzten dreißig Jahren — darauf bestand er hartnäckig — hatte er nicht mal mehr eine harmlose Milchflasche geworfen, geschweige denn eine Sodawasserflasche.
Die Polizei lechzte nach Blut. Unerbittlich. »Aug um Auge« war ihre Devise. Der Protokollchef, der genau wußte, wo seine Trauben hingen, unterstützte sie nach Kräften. Der Botschafter war ebenso halsstarrig. Sackgasse.
Und dann tauchte mein Chauffeur Grischa, ein heller Bursche, aus der Versenkung auf. »Der Botschafter soll ‘ne Pulle auf’n Blauen geschmissen haben? Was soll’n der Quatsch?« fragte er mich, übers ganze Gesicht grinsend.
»Das ist gar nicht so verdammt komisch«, fauchte ich verdrossen, »irgend jemand hat eine Flasche geworfen, und der Polizist ist getroffen worden, und jetzt wird behauptet, sie müsse aus dem Fenster des Schlafzimmers gekommen sein, in dem der Botschafter schlief.«
»Quatsch mit Soße!« sagte Grischa prompt, »die brauchte überhaupt nicht aus dem Schlafzimmer zu kommen.«
»Woher wissen Sie das denn?« erkundigte ich mich sarkastisch.
»Weil ich sie geschmissen hab’«, erwiderte er, noch breiter grinsend.
»Sie haben mit der Flasche nach dem Polizisten geworfen? Ja, zum Teufel, was haben Sie sich denn dabei gedacht?«
»Ich hab’ sie nich auf den Polizisten geworfen. Ich hab’ sie einfach weggeschmissen. Irgend so’n Dussel hat sie hinten auf’m Hof liegenlassen, und ich bin drübergefahren und hab’ mir fast ‘n Reifen aufgeschnitten. Ich war so wütend, daß ich sie in hohem Bogen über die Mauer befördert hab’. Pech für den Blauen, daß er grad im Weg stand.«
Also ward es dem Protokollamt kundgetan. Der verstörte und verschrammte Polizist trat abermals in Erscheinung, Grischa entschuldigte sich höchst nichtssagend, dem Botschafter wurde feierlich Absolution erteilt, und der Fall der fliegenden Sodawasserflasche war erledigt.
Die nächste Runde mit dem Protokollamt gewannen dafür wir — zumindest moralisch.
Der Plan für ein größeres und schöneres Moskau erforderte es, daß ein ganzer Häuserblock zwischen der Botschaftskanzlei und dem Kreml in die Luft flog. (Es ist immer ein strittiger Punkt geblieben, ob der Kreml gegenüber der amerikanischen Botschaft liegt oder umgekehrt. Auf alle Fälle begann es mit viel Feuerwerk.)
Eines Tages erhielten wir vom Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten eine Note, in der uns blumenreich auseinandergesetzt wurde, daß heute in einer Woche, Punkt zwölf Uhr mittags, gegenüber unseren Büros eine nicht unbeträchtliche Ladung Dynamit in die Luft gehen würde. Und ob wir deshalb vielleicht rechtzeitig unsere Fenster öffnen wollten, um zu vermeiden, daß alles vorhandene Glas in die Brüche ginge. Die Mitteilung brauchte etliche Tage vom Kommissariat am anderen Ende der Straße bis zu uns, kam aber immerhin noch reichlich früh genug an, so daß jeder einzelne ermahnt werden konnte, am kommenden Freitag Punkt zwölf Uhr mittags seine Fenster offen — und seine Augen und Ohren geschlossen — zu halten. Ergo waren die Fenster offen, die Augen und Ohren waren geschlossen, das Dynamit explodierte mit einem Knall, ein halbes Dutzend alter Häuser stürzte krachend zusammen, und alle waren glücklich.
Ungefähr acht Tage später wurde die ganze Prozedur wiederholt, nur brauchte der Chef des Protokolls diesmal fast eine Woche, um uns die Nachricht zukommen zu lassen. Sie erreichte uns zehn Minuten vor der angesetzten Zeit. Hastiges Treppauf, Treppab, im Geschwindschritt die Gänge entlang- unsere Boten schafften es knapp, die Meldung zu verbreiten, ehe es zu spät war. Als der Knall ertönte, standen sämtliche Fenster offen. So waren wieder einmal alle glücklich und dankten dem Protokollamt für die erwiesene Höflichkeit und weise Voraussicht.
Fast eine Woche später, Punkt zwölf Uhr mittags, fand auf der anderen Straßenseite eine Explosion statt, die Moskaus Innenstadt in den Grundfesten erschütterte. Ein paar Fenster der Botschaftskanzlei standen zufällig offen, doch der Rest wurde in Atome zerschmettert — mit Ausnahme derer, bei denen die Riegel so morsch waren, daß sie von selber auf sprangen. Drei Tage nachher bat der Chef des Protokolls uns schriftlich, doch ja darauf zu achten, daß unsere Fenster drei Tage vorher auch geöffnet seien.
Nach und nach fanden wir uns in der Stadt zurecht und erübrigten sogar auch etwas Zeit für Geselligkeit. Es gab zwei Arten geselligen Lebens: das offizielle, von dem die Zeitungskorrespondenten berichten, und dasjenige, über das niemand schreibt. Meine frühesten Erinnerungen an die erste Kategorie ist mit einem Fest verknüpft, das Litwinow für Anthony Eden gab, als dieser Stellvertreter Simons im Foreign Office war. Es war so um 1934 herum, als die verschiedensten Regierungen eben damit begannen, sich ziemlich haarige Dinge übereinander zu erzählen. Stalin drückte sich grob, aber eindeutig aus, als er der Welt erklärte, er ließe die Schweinsrüssel anderer Leute nicht in seinem Garten herumwühlen. Hitler quittierte mit Reden über Kanonen statt Butter. Litwinow formulierte es etwas delikater, als er darauf hinwies, Frieden könne es nur global geben oder, wie er es in seinem unnachahmlichen Englisch ausdrückte: »Pis is indivisibel.«
Das Eden-Dinner verlief nach dem üblichen Schema — bis auf einen winzigen Zwischenfall. Die Botschafter waren zum Dinner in das offizielle Empfangsgebäude, den Spiridonowka-Palast, geladen (in dem Litwinow selber ein schmales Appartement über der Garage bewohnte). Wir kleinen Fische wurden auf eine etwas spätere Stunde geladen und dann in die äußeren Empfangsräume gesteckt. Hier bekamen wir Kartoffelwodka im Gegensatz zum Weizenwodka des inneren Heiligtums und außerdem einen eher grauen als schwarzen Kaviar und nur drei Sorten Räucherfisch statt der fünf oder sechs, die den Botschaftern serviert wurden. Aber jeder war’s zufrieden — besonders die kleinen Fische und besonders in jener Nacht. Es stellte sich nämlich heraus, daß Litwinows Koch politisch ebenso interessiert und vielleicht ebenso gerissen war wie sein Chef. Zumindest entnahmen wir das dem, was einer der Botschafter uns erzählte, als sie alle aus dem inneren Heiligtum wieder zum Vorschein kamen. Die Tafel, sagte er, sei über und über dekoriert gewesen mit Blumen, kristallenen Kerzenhaltern, dem besten goldenen Tafelservice, das vom letzten Regime her übriggeblieben war, und allen nur möglichen Arten von seltsamen Schüsseln voller Delikatessen. Unter den letzteren sei die in einem einzigen großen, fünfunddreißig Zentimeter langen und fünfzehn Zentimeter breiten Block servierte Butter am bemerkenswertesten gewesen. Nachdem sich die Botschafter niedergelassen hatten und Toast und Kaviar rundgereicht waren, beugte sich Eden vor, um von dem mächtigen Gebilde vor ihm ein Scheibchen abzustechen. Dann zögerte er und schien sich anders zu besinnen, denn er legte das Buttermesser nieder und aß Brot und Kaviar trocken. Eine sorgfältige Prüfung ergab, daß der Küchenchef in die Butter die geflügelten Worte eingraviert hatte: »Peace is indivisible.« Es entsprach nicht der Politik Seiner Britannischen Majestät, die Hinfälligkeit dieser Doktrin zu demonstrieren, selbst wenn der »Friede« nur aus Butter bestand. Es sollte Hitler vorbehalten bleiben, das einige Jahre später nachzuholen.
Aber auch andere hatten ihre liebe Last mit dem Essen in Moskau, insbesondere Botschafter Bullitts Nachfolger, Joseph E. Davies. Botschafter Davies hatte allem Anscheine nach einen höchst empfindlichen Magen, der ihm nur ganz spezielle Dinge zu essen erlaubte. Tatsächlich kann ich mich aus meiner gesamten Dienstzeit bei ihm nicht erinnern, daß er auch nur die kleinste Kleinigkeit außerhalb seines eigenen Hauses zu sich genommen hat. (Ich gebe zu, daß in dem Film über seinen Aufenthalt in Rußland, »Mission to Moscow«, Szenen Vorkommen, die den Botschafter herzhaft essend an den Büfetts russischer Bahnhöfe zeigen. Da ich jedoch nie etwas gesehen habe, das den Film-Versionen dieser Büfetts auch nur im entferntesten ähnelte, möchte ich die Szenen dem Konto einiger überenthusiastischer Produzenten zugute halten.) Wie dem aber auch sei — noch ehe der Botschafter selbst da war, trafen als feierliche Künder seines Kommens bereits fünfundzwanzig Tiefkühltruhen ein, die gleich ordnungsgemäß im Souterrain des Spaso-Hauses installiert wurden.
Dann brachen von Antwerpen aus — es kann auch Bremen gewesen sein — zwei Wagenladungen voll sorgfältig in Trockeneis verpackter, tiefgekühlter Nahrungsmittel zu ihrer langen Reise quer durch Nordeuropa nach Moskau auf. Ein junger Nahrungsmittelchemiker begleitete die kostbare Fracht. Alle ein, zwei Tage sandte er uns ein Telegramm mit den neuesten Nachrichten über sein Vorrücken. Die Augen der gesamten Botschaft ruhten auf den beiden Lastwagen. Auf einer Wandkarte in der Kanzlei markierten wir mittels einer großen roten Heftzwecke ihren Anmarsch.
»Erreiche heute Berlin. Hoffe noch am Abend weiterfahren zu können.«
»Heil die Oder passiert.«
»Ankomme Sowjetgrenze morgen früh.«
An der sowjetischen Grenze aber trat eine kleine Stockung ein. Aus einigen Behältern war das Trockeneis verdunstet, so daß sie nunmehr leer waren. Die zuständigen sowjetischen Grenzdienststellen zeigten hierob einige Verwirrung, da — wie sie durchaus richtig andeuteten — niemand einen Lastwagen mietet, um leere Behälter durch die Gegend zu schaukeln. Außerdem enthielt das sowjetische Zoll-Reglement-Buch keinerlei Angaben über die Klassifizierung des Inhaltes einer Kiste, in der nichts ist. Erst nach einer ziemlich umfangreichen Vorlesung über die chemische Beschaffenheit von Trockeneis gelang es dem Nahrungsmittelchemiker, ihnen die Situation zu erklären. Schließlich kam die ganze Ladung sogar bei uns an und konnte in die fünfundzwanzig Kühltruhen umgepackt werden.
Etliche Wochen lang waren alle hingerissen. Die köstlichen tiefgekühlten Steaks und Gemüse waren eine willkommene Abwechslung für uns alle, die wir seit Jahr und Tag nur noch aus der Büchse gegessen hatten. Und sogar Eiskrem gab es — vierhundert ganze Liter! Wer immer von uns in die Botschaft zum Essen geladen wurde, verputzte sein Teil mit Wonne.
Dann aber ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der eine spürbare Lücke in unsere tiefgekühlten Mahlzeiten riß. Es begann damit, daß wir eine Mikrofonanlage entdeckten, die vom Speicher des Spaso-Hauses aus durch den Ventilatorschacht und eine Wand im Büro des Botschafters führte. Als wir das Mikrofon fanden, war es vom Schreibtisch des Botschafters nur mehr durch eine dünne Verputzschicht getrennt. Die Arbeit war noch nicht abgeschlossen, denn die Drähte führten nicht über das Dachgeschoß hinaus. Wir fotografierten das in Leningrad angefertigte Mikrofon und verstauten es wieder an seinem alten Platz. Auf diese Weise hofften wir, den Gauner auf frischer Tat bei der Vollendung seiner Arbeit zu ertappen und so einwandfrei festzustellen, wen es denn brennend interessierte, was unser Botschafter in seinem Büro verhandelte. (Immerhin hatte er mehr Glück als jener andere Botschafter, der zu seiner Bestürzung ein Mikrofon in der Wand zwischen seinem und seiner Frau Bett fand. Das Moskauer Diplomatische Korps war sich damals einig darin, daß der dominierenden Persönlichkeit der Gattin jenes anderen Botschafters damit ein ebenso delikater wie verdienter Tribut gezollt worden war.)
Einige Nächte lang versteckten George Kennan, Eibridge Durbrow und ich uns abwechselnd auf dem staubigen alten Speicher, in der einen Hand einen Revolver, in der anderen die Taschenlampe. Es war nicht ausgesprochen komfortabel; denn, um verborgen zu bleiben, mußten wir bäuchlings auf dem harten Boden liegen. Abgesehen davon war es scheußlich kalt und die Atmosphäre alles andere als lustig. Jeden zweiten Augenblick hopste eine Nachteule oder sonst einer dieser gräßlichen schlaflosen Vögel auf das Blechdach über uns und brachte uns jedesmal zu erschrecktem Hochzucken. Freilich war es auch nicht wesentlich schlimmer, als sich, in den Frack gezwängt, auf irgendwelchen langweiligen Empfängen nächtelang herumzumopsen. Und überdies gehörte es eben zum diplomatischen Tag- und Nachtdienst.
Nach und nach aber ging uns die Geschichte auf die Nerven, und so spannten wir nach einem — wie uns schien, höchst sinnreich ausgetüftelten — System rund um den fatalen Ventilatorenschacht kreuzweise dünne Seidenfäden über den Boden. Die Fäden liefen in einem selbstgebastelten Schalter zusammen, der wiederum eine Alarmglocke in einem der Schlafzimmer betätigte, in dem wir nun, weit komfortabler als zuvor auf dem Speicher, Wache standen. Wir hielten das System für unfehlbar, denn das Fadennetz war so eng, und der Dachstuhl war so dunkel, daß es praktisch unmöglich war, sich auch nur von der Stelle zu rühren, ohne die Alarmglocke in Tätigkeit zu setzen. Wir hatten es selber bei den verschiedensten Gelegenheiten ausprobiert. Natürlich bezweifelte ich nicht, daß anderen Amateurdetektiven etwas Besseres eingefallen wäre; doch wir waren damals blutige Anfänger auf diesem Gebiet und befanden uns zudem in einem Land, wo wir uns auf die Mitwirkung der örtlichen Polizeiorgane nicht gerade hundertprozentig verlassen konnten.
Die Falle hatte nur einen einzigen wunden Punkt: Sie funktionierte elektrisch und war an die allgemeine Stromleitung des Hauses angeschlossen. Eines Morgens, als gerade Durbrow Wache stand (oder vielmehr schlief), weckte ihn Tayler, der englische Butler des Botschafters, mit der Nachricht, während der Nacht sei das Hauptkabel durchgeschnitten worden. Durbrow erkannte blitzartig, daß damit unser ganzer schöner Apparat außer Tätigkeit gesetzt war. Er raste nach oben, fand praktisch jeden Seidenfaden zerrissen und das Mikrofon überhaupt nicht mehr vor. Begreiflicherweise waren wir leicht enttäuscht, überwanden diesen Zustand aber mit dem tröstlichen Gedanken, daß wir ja schließlich nicht als Detektive eingestellt worden waren. (Es überraschte mich dann ein wenig, als ich einige Jahre später den Film »Mission to Moscow« sah und den Darsteller des Botschafters einen jungen Legationssekretär — wahrscheinlich mich selber — heftig rügen hörte, weil er angedeutet hatte, im Botschaftsbüro sei ein Mikrofon versteckt. Aber vermutlich hatte der Drehbuchautor die Szene bloß mißverstanden. Für alle Fälle befindet sich eine Fotografie des Mikrofons beim State Department — sofern sich in Hollywood jemand dafür interessieren sollte.)
Weit ernstere Nachwirkungen jener Nacht des großen Mikrofondiebstahls jedoch wurden sehr bald offenbar. Zwei Tage nach dem Durchschneiden des Kabels sprach mich der Butler an.
»Zwei der Kühltruhen scheinen nicht wieder in Gang gekommen zu sein, nachdem wir die Leitung vorletzte Nacht repariert haben«, teilte er mir bekümmert mit.
»Was war drin?« fragte ich.
»Die Eiskrem«, seufzte er, »und zu retten ist da nichts mehr Mir war sofort klar, daß die Sache ernst war, und zwar nicht nur, weil es eine Zeitlang keine tiefgekühlte Eiskrem mehr geben würde. Die eingefrorenen Nahrungsmittel des Botschafters waren inzwischen weltbekannt geworden, und wenn die Moskauer Korrespondenten der amerikanischen Presse Wind von der Affäre bekamen, würde die Reputation der Tiefkühl-Gesellschaft hops sein.
Aber da waren die vierhundert Liter verdorbener Eiskrem im Souterrain, die herausgeholt werden mußten, und zwar schleunigst, da sonst Moskau die Geschichte wenn nicht hören, so doch riechen würde. Sich auf die Chauffeure der Botschaft zu verlassen war sinnlos. Sie waren sämtlich dicke Freunde ihrer Kollegen bei den Presseleuten. Außerdem konnten wir, da die Botschaft tagsüber von Menschen nur so wimmelte, die Soße bloß nachts entführen. Ich besorgte mir an jenem Abend also von irgendeinem russischen Trust einen Lastwagen, bemannte ihn mit einer Anzahl auf dem Markt aufgelesener Schwarzarbeiter und fuhr heimlich, still und leise in den Hinterhof des Spaso-Hauses. Während die Arbeiter widerstrebend einen Eimer der stinkenden Masse nach dem anderen auf den Wagen kippten, hielt ich vornheraus Wache — hauptsächlich, um den Düften zu entgehen.
Sobald alles aufgeladen war, kletterte ich neben den Fahrer, und wir hielten aufs offene Land zu. Als wir so durch die dunkle und verlassene Nacht über das Kopfsteinpflaster rumpelten, fielen mir unwillkürlich einige Zeilen aus dem »Begräbnis des Sir John Moore« ein, die ich in der Schule gelernt hatte:
Keine Trommel erklang und kein Grabgesang,
Als den Leichnam zum Walle wir trugen.
Schließlich erreichten wir eine öde Straße inmitten eines einsamen großen Fichtenwaldes. Wir setzten den Wagen rückwärts vor den Graben und ließen ihn kippen. Ein paar Augenblicke später war unsere Aufgabe erledigt. Ratternd fuhren wir nach Moskau zurück.
Am allerschlechtesten gewöhnte man sich in Moskau an die Sozialisierung auch der untergeordnetsten Tätigkeiten zur Instandhaltung eines Hauses. Während des ersten Versuchs zur Einrichtung der neuen Botschaft hatte ich — wie schon gesagt — den Kunstgummi-Trust, den Braunkohlen-Trust, den Umzugs-Trust und ein gutes Dutzend anderer kennengelernt. Die Zusammenarbeit gestaltete sich manchmal etwas schwierig; doch schienen sie allesamt ihren bestimmten Platz innerhalb der nationalen Wirtschaft auszufüllen. Später machte ich die Bekanntschaft des Grün-Trusts, der die Gärten plant, anlegt und pflegt. Dann gab’s den Vergnügungs-Trust, der Tänzer und Orchester zur Unterhaltung besorgt. Es gab den Trust der Schwergewichts-Transportler, der herumlief und Zloty zerbrach. Und es gab den Fensterputzer-Trust.
Aber schlimmer noch: Jeder Trust mußte einen Fünfjahresplan und einen Einjahresplan haben, im voraus errechnet und aufgestellt und von den höchsten Rängen der Wirtschaftshierarchie gutgeheißen. Ging man zum Beispiel zum Vergnügungs-Trust und bat um ein Orchester, so wurde einem mitgeteilt, sämtliche Veranstaltungen lägen bereits seit vergangenem Juni fest, und es wären, so bedauerlich es auch sei, dabei keinerlei Vorkehrungen zur musikalischen Untermalung eines Tanzabends getroffen worden, den der Botschafter sich erst sechs Monate später zu geben entschließen würde. Falls wir ihnen aber unser Tanzprogramm für das fiskalische Jahr 1935 einreichen wollten, würden sie nur zu gerne alle von uns gestellten angemessenen Forderungen berücksichtigen. Ich habe den Vergnügungs-Trust nie wieder aufgesucht.
Auch der Grün-Trust war durch Pläne beengt; doch ließ man sich dort schließlich herbei, die Verwandlung des Hinterhofes der Botschaft in einen Garten zu übernehmen und die Arbeit sogar, als ganz besonderes Entgegenkommen, in den laufenden Einjahresplan zu zwängen. Freilich erforderte das einen Plan für sich.
Ich erkundigte mich, was sie damit meinten.
»Oh, ganz einfach: Ehe wir nicht einen Plan für die Anlage des Gartens haben, können wir sie nicht auf unseren Ein- und Fünfjahresplan abstimmen, und ehe nicht alles genau aufeinander abgestimmt ist, können wir keine Hand rühren.«
»Aber der Plan liegt sonnenklar da. Ich habe ein Budget von sechstausend Rubeln zur Anlage eines Gartens, und Sie brauchen nur hinzugehen und für genau sechstausend Rubel Garten zu fabrizieren.«
Sie schüttelten mitleidig die Köpfe über das begriffsstutzige Kind des Kapitalismus.
»Nein, nein, so einfach, wie Sie denken, ist es nun wieder nicht. Zuerst müssen wir eine Idee haben, wie der Garten angelegt werden soll. Dann brauchen wir einen Plan, wie die Idee auszuführen ist und was es kostet. Dann entwickeln wir einen Gesamtplan und legen ihn unserem Planungsamt vor. Ist das Amt einverstanden, fangen wir an.«
Ich gab mich geschlagen und bat sie nur noch, sich mit dem Plan des Planes tunlichst zu beeilen und sich dabei eines vor Augen zu halten: daß ich sechstausend Rubel für den Garten hatte und keinen halben Rubel mehr.
Der Frühling zog durch die Lande, die Bäume grünten, und die Blumen in Nachbars Garten begannen zu blühen — in der Botschaft aber tauchten nur für wenige Stunden ein paar Grün-Trust-Sachverständige auf und verschwanden wieder.
Der Botschafter fing an, sich über den Garten zu beklagen. »Wo ist er? Weshalb wird nicht daran gearbeitet? Wo sind die Pflanzen, die Sträucher, die Rasenflächen?«
Ich setzte ihm die Verwicklungen des Problems auseinander, und er schien begriffen zu haben; denn zwei Wochen lang jammerte er nicht mehr. Dann aber kam er mir so beunruhigt vor, daß ich mich zum Grün-Trust auf machte und nach dem Fortgang der Arbeiten fragte.
»Bei diesem Tempo wird ja meterhoher Schnee liegen, ehe Sie auch nur das erste Pflänzchen gesetzt haben«, beschwerte ich mich verdrossen.
»Lassen Sie das gefälligst unsere Sorge sein«, war die ebenso übellaunige Antwort, »wir sind die verantwortliche Stelle für die Anlage neuer Gärten, und wir machen unsere Arbeit richtig oder überhaupt nicht. Der Entwurf für den Plan ist fast fertig. Sowie er vorliegt, werden Sie ihn zu sehen bekommen. «
Weitere Wochen verflossen. Dann betrat eines schönen Morgens der Architekt des Grün-Trusts den Schauplatz, eine unförmige Rolle Papier unter den Arm geklemmt. Mit stolzer Geste entfaltete er sie auf meinem Schreibtisch. »Hier können Sie sich anschauen, wie Ihr Garten einmal aussehen wird«, sagte er und wies auf das wundervolle Aquarell eines großartigen englischen Gartens. Schmale Kieswege schlängelten sich durch Flieder-, Jasmin- und Rhododendrongebüsch, Blumenbeete kuschelten sich behaglich unter die Bäume, und edles Spalierobst reifte längs den Mauern.
Der Architekt rollte bereits ein anderes Blatt auf, das den Längsschnitt des Entwurfes zeigte. Ich geriet in leichte Verwirrung, ihn jedoch schien er ebenso zu entzücken wie das Aquarell. Als nächstes zeigte er mir einen Querschnitt, der zwar etwas verständlicher, wenngleich immer noch reichlich technisch war. Alles in allem dünkte es mich höchst zufriedenstellend, obschon vielleicht ein bißchen arg durchgefeilt für einen halben Morgen Hinterhof.
Ich führte das Aquarell dem Botschafter vor. Er lächelte etwas skeptisch, meinte aber, wenn sie es fertigbrächten, den Hof für sechstausend Rubel in etwas Derartiges umzuwandeln, könne es ihm nur recht sein.
Ich fragte den Architekten nach dem Preis.
»Oh, wir haben ihn noch nicht ausgerechnet«, meinte er. »Sehen Sie, wir können den Preis eines Projektes nicht eher veranschlagen, als bis wir das Projekt vorliegen haben. Stimmen Sie dem Entwurf nur zu, so werden wir Ihnen den Kostenanschlag einreichen und den Plan sodann an die Ausführungsabteilung des Trusts zur Erledigung weitergeben. Und natürlich stellen wir Ihnen auch den Entwurf in Rechnung.« Es schien noch konfuser zu sein, als ich von Anfang an befürchtet hatte, aber da gerade im Augenblick noch eine Menge anderer dringender Arbeiten vorlag, um die ich mich kümmern mußte — zum Beispiel das Putzen der Botschafts- und Kanzleifenster und die Anfertigung von Fliegendraht-Einsätzen — , sagte ich nur: «Okay, aber beeilen Sie sich bitte. Der Sommer ist ohnehin halb vorbei.«
Zwei weitere Wochen verstrichen, und dann erschien, nach mehreren telefonischen Mahnungen, die Rechnungsabteilung des Grün-Trustes mit einem Bogen voll Zahlen auf der Bildfläche. Ich warf einen schnellen Blick auf die Endsumme:
»Elftausend Rubel.«
»Aber ich habe Ihnen doch als allererstes und Wichtigstes gesagt, daß mir nur sechstausend Rubel zur Verfügung stehen. Das ist alles, was wir von Washington für den Garten bekommen. Wir haben einfach keine elf tausend Rubel!«
»Vielleicht haben Sie tatsächlich gegen irgend jemanden diese Summe erwähnt, aber uns hat niemand etwas davon gesagt«, entgegnete die Rechnungsabteilung. »Wenn Sie das Projekt verkleinern und die Sache billiger machen wollen, so bedingt das einen neuen Entwurf, und der wird wieder neues Geld kosten.«
»Was soll das heißen: der wird wieder neues Geld kosten? Ich habe sechstausend Rubel für den Garten und damit basta!«
»Aber die elftausend beziehen sich nur auf die Gärtnerarbeiten«, erklärte der Rechnungsführer, »der Entwurf wird separat bewertet.« Er fummelte in seiner Tasche herum und förderte ein weiteres Formular zutage. »Hier ist die Kostenaufstellung für den Entwurf: Idee und Zeichnungen. Sie beläuft sich auf siebentausend.«
»Sie meinen, ich schulde Ihnen bereits siebentausend Rubel, ohne daß auch nur ein Spatenstich getan worden ist?«
Die Rechnungsabteilung zuckte die Schulter — kollektiv.
»Wir bedauern außerordentlich, aber so ist es nun einmal. In einer Planwirtschaft wird das immer so gemacht.«
Der Fensterputzer-Trust war auf seine Art vielleicht noch schlimmer, aber dabei durchaus lustiger. Vor allem war er neuer. Er war erst seit ein paar Monaten organisiert und wenigstens noch nicht in seinen eigenen Geleisen festgefahren. Seine Mitglieder traten noch etwas frischer auf. Außerdem waren sie jünger als der Trust der Schwergewichts-Transportler oder der Grün-Trust oder der Vergnügungs-Trust.
Der Direktor und der Kassierer, die mich aufsuchten, waren junge Ukrainer Anfang Zwanzig. Sonst waren sie natürlich haargenau so von sich überzeugt und so widerspenstig und hartnäckig wie alle anderen.
Ich setzte ihnen meine Nöte auseinander: Botschaft und Kanzlei hatten ungefähr hundertsiebzig Fenster verschiedenster Größe. Sechs davon waren...
Doch der Direktor des Fensterputzer-Trusts hatte bereits alle Informationen, die er brauchte.
»Wir berechnen einen Einheitspreis von zehn Rubeln pro Fenster, ganz gleich welcher Größe.«
»Ja, nur-wie ich gerade sagen wollte«, fiel ich ihm ins Wort,
»sechs davon sind ganz ungewöhnlich groß
»Ist uns völlig schnuppe, wie groß sie sind. Zehn Rubel pro
Stück
»Aber sie sind doppelt große Atelierfenster und sehr schlecht zu erreichen. Sie werden eine Spezialausrüstung nötig haben
»Wenn Sie vielleicht so gütig sein möchten, uns nicht auch noch zu unterweisen, wie wir die Fenster putzen müssen, versprechen wir Ihnen, uns auch nicht in Ihre Angelegenheiten zu mischen«, schnappte der Direktor beleidigt ein. »Wie groß sie sind, kümmert uns gar nicht. Zehn Rubel pro Stück — nicht mehr und nicht weniger.«
»Okay! Machen Sie, was Sie wollen. Bloß, wie lange wird es dauern? Es muß schnellstens erledigt werden.«
»Wir putzen mit Leichtigkeit siebzehn Fenster pro Tag. Sagen wir also zehn Tage für die ganze Geschichte.«
Ich wußte es besser. Ich hatte die Fenster früher schon einmal putzen lassen, und es hatte über einen Monat gedauert.
»Ich glaube zwar nicht, daß Sie so schnell damit fertig werden«, sagte ich, »aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Alte amerikanische Sitte. Passen Sie auf: Wenn Sie die Fenster in zehn Tagen geputzt haben, gebe ich Ihnen eine Prämie von zweihundert Rubeln, und für jeden Tag, den Sie eher fertig werden, gebe ich Ihnen vierhundert extra. Brauchen Sie jedoch länger als zehn Tage, haben umgekehrt Sie für jeden Tag Verzögerung eine Buße von zweihundert Rubeln an mich zu zahlen.«
Der Direktor sah den Kassierer an, und der Kassierer sah den Direktor an, bis letzterer in ein immenses Grinsen ausbrach:
»Ihr Amerikaner seid doch ein verteufeltes Pack! Immer einem guten Sport auf der Spur! Immer fällt euch was Ulkiges und was Neues ein. Aber — es ist ‘ne Idee!« Und er stürzte sich in ein eiliges, drängendes Gewispere mit dem Kassierer. Ein paar Augenblicke lang berieten sie. Dann sah der Direktor auf:
»In Ordnung — wir akzeptieren! Was ihr Amerikaner könnt, können wir Russen schon lange!«
Am andern Tag begannen sie mit der Arbeit, und ich stellte an jedem nun folgenden Morgen eine kleine Kalkulation in meinem Notizbuch an. Ungefähr eine Woche später hatten sie die Atelierfenster im obersten Stock des Spaso-Hauses erreicht, das früher anderen Zwecken gedient hatte, und ich ging hin, um mir anzusehen, wie sie damit fertig wurden. Sie hatten aus Seilen, Leitern und Planken ein wackeliges Etwas ureigener Erfindung in die Atelierräume montiert und hockten allesamt darauf wie eine Schar Krähen im Kreml-Park auf der anderen Straßenseite. Selbst der Direktor und der Kassierer fuhren wild über die Scheiben. Als sie mich erblickten, starrten sie mürrisch herunter, sagten aber nichts. Offensichtlich dämmerte ihnen einiges über das Fensterputzen in der Botschaft, und sie schienen nicht gerade hingerissen davon zu sein.
»Kann ich irgend etwas für Sie tun?« erkundigte ich mich freundlich.
»Nein! Höchstens verschwinden und sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern!« brummte der Direktor erbost.
Eine weitere Woche zog ins Land, und immer noch wischte, wusch und rieb der Fensterputzer-Trust voller Energie. Sie legten sogar Doppelschichten ein und arbeiteten auch noch nachts. Bis eines Abends der Direktor und der Kassierer in meinem Büro erschienen.
»Wir sind fertig«, meldeten sie und kamen mir dabei ein gut Teil sanftmütiger vor als bei ihrem ersten Auftreten.
»Schön, sehen wir mal nach«, sagte ich mit Bezug auf meinen Kalender, »macht vom Anfang bis heute genau zwanzig Tage. Stimmt’s?«
»Vermutlich«, murmelte der Direktor matt.
»Gut — dann schulde ich Ihnen siebzehnhundert Rubel für das Fensterputzen, und Sie schulden mir zehn mal zweihundert für zehn Tage Verzug. Macht zweitausend Rubel. Mit anderen Worten: Sie schulden mir die Differenz oder genau dreihundert Rubel.«
Der Direktor hatte sich das offenbar schon vorher ausgerechnet, denn er griff in die Tasche und warf mir dreihundert Rubel auf den Tisch.
»Da sind sie.« Seine Stimme klang gepreßt. Augenscheinlich war er eisern entschlossen, jede gefühlsmäßige Regung zu unterdrücken.
Die beiden erhoben sich und gingen auf die Tür zu.
Ihr schweigender Jammer aber war zuviel für mich.
»Hallo — einen Augenblick noch«, sagte ich, »da es das erste Mal ist, daß Sie einen solchen Kontrakt ausprobieren, wollen wir’s als Experiment betrachten und die Buße unter den Tisch fallenlassen.«
Ich zählte siebzehnhundert Rubel ab und händigte sie dem Direktor aus.
»Nächstes Mal besehen Sie sich gescheiterweise die Fenster erst, ehe Sie Wetten darauf abschließen!«
Der Direktor nahm das Geld und bedankte sich. Sein grimmiger Gesichtsausdruck war einem sonnigen Lächeln gewichen. Als er meine Hand schüttelte, grinste er:
»Wir möchten bloß alle mal gern wissen, wer zum Teufel denn in diesen verdammten Glaskasten-Ateliers da oben leben mag?«
Als sie weg waren, fragte ich mich, ob ich sie nicht vielleicht doch ein bißchen allzu sanft behandelt hätte. Aber ich tröstete mich mit der Tatsache, daß wir die Fenster in Rekordzeit geputzt bekommen hatten.