Aber der tadellos gekleidete – er wusste nicht einmal, wie er ihn bezeichnen sollte: Butler? Kammerdiener? Oder einfach nur Diener? Er beschloss, es beim Einfachen zu belassen und entschied sich für Randall – Randall zuckte mit keiner Wimper. Er verneigte sich nur leicht und sagte: »Sehr wohl, Sir. Wünschen Sie sonst noch etwas, Sir?«

Jake fühlte sich mit einem Mal sehr müde, seufzte schwer und sagte leise: »Ja, mein Leben hätte ich gern zurück.«

Randall antwortete nicht. Er ging nur und schloss die Tür hinter sich.

TEIL4

Jake starrte die formelle Kleidung lange an. Dann seufzte er abermals, zog sich an, benutzte den bereitliegenden Schuhlöffel, um seine Füße in die perfekt passenden, polierten Schuhe zu befördern. Dabei wurde ihm bewusst, wie schlecht er im Binden einer Fliege war.

KAPITEL 20

Eine Stunde später kam Randall zurück, um ihn zum Abendessen zu geleiten. Jake folgte ihm durch mehrere Räume, die ebenso opulent waren wie der, in dem er den Tag verschlafen hatte, und ihre Schritte hallten von dunkelgrünen Marmorböden wider.

Jake hoffte, dass Randall ihn auch wieder zurückbegleiten würde, weil ihm klar wurde, dass er sich rettungslos verirren würde, wenn er den Weg allein finden müsste. Um seinen Orientierungssinn war es nicht zum Besten bestellt -

- hinter der Tür links, rechts, links, die Treppe hinunter, wieder links, rechts -

Auf Zamara traf das allerdings nicht zu, wie es aussah.

Er war so damit beschäftigt, sich fortwährend umzuschauen, dass er beinahe gegen Randall geprallt wäre, als der ältere Mann stehen blieb, um eine doppelflüglige Riesentür zu öffnen. Jake schaffte es gerade noch, einen Zusammenstoß zu vermeiden, und hatte kaum noch genug Zeit, sich zu fassen, bevor Randall in einem Tonfall verkündete, der so klang, wie feines, patinaüberzogenes Zinn aussah: »Professor Jacob Jefferson Ramsey.«

Jake klappte der Unterkiefer herunter, als er Rosemary sah.

Sie drehte sich bei der Nennung seines Namens um und begegnete seinem Blick mit der Andeutung eines Lächelns. Die blauen Augen, die ihn über den Lauf eines Gaußgewehrs hinweg fixiert hatten, wurden nun von dichten, geschwärzten Wimpern und rauchigem Make-up betont. Ihre Haut leuchtete beinahe im Kerzenschein, der die einzige Lichtquelle darstellte. Ihre Lippen waren dunkelrot und leicht geöffnet. Das schwarze, zu einem Bubikopf geschnittene Haar war gewaschen, gekämmt und frisiert und wirkte gepflegt und seidig. Licht brach sich auf ihrer Diamantenhalskette, und das rote, trägerlose Kleid, das sie trug, war so weit ausgeschnitten und am Bein so hoch geschlitzt, dass Jake glaubte, er würde jetzt und hier einen Herzinfarkt bekommen.

Rosemary war schön; das war ihm schon immer klar gewesen. Aber so hatte er sie noch nie gesehen.

Sie hob eine Rabenbraue, und der Blick ihrer blauen Augen musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ich muss schon sagen, Professor«, meinte sie, »Sie sehen gar nicht schlecht aus, wenn Sie anständig gekleidet sind. Wer hätte das gedacht?«

Jake sah an sich hinunter und brachte ein leises Lachen zustande. »Ich jedenfalls nicht.«

Ethan hatte sich erhoben und wies auf den einzigen freien Stuhl am Tisch.

»Bitte, setzen Sie sich zu uns. Sie kommen gerade recht zum Aperitif. Was hätten Sie denn gern?«

»Dasselbe, was Sie haben«, murmelte Jake. Er hätte sich fast neben den Stuhl gesetzt, weil in dem Augenblick, als er Platz nehmen wollte, ein bisher unbemerkter Diener ihm den Stuhl zurechtrückte. Er spürte, wie seine Wangen rot wurden, als er sich niederließ und mit dem Stuhl an den Tisch rutschte.

Die Serviette durfte er sich auch nicht selbst nehmen – der Diener faltete sie bereits auf seinem Schoß zurecht.

Ethan goss eine rote Flüssigkeit in ein kleines, hochgezogenes Glas und reichte es Jake. Jake zögerte, dann nahm er den Drink entgegen. Wenn der Mann ihn entführen oder umbringen wollte, hätte er den ganzen Tag über, als Jake wie ein Toter geschlafen hatte, viel eher die Gelegenheit dazu gehabt. Er hatte es nicht nötig, ihm jetzt ein Betäubungsmittel unterzujubeln.

Jake nahm einen vorsichtigen Schluck. Das Getränk roch und schmeckte stark nach Lakritze und Gewürzen. Er wusste nicht recht, ob es ihm mundete, und darum nahm er einen weiteren Schluck, um sich eine Meinung zu bilden.

»Ich hoffe, Randall genügt Ihren Ansprüchen«, sagte Ethan. »Ihn einzustellen, war eines der ersten Dinge, die ich tat, als ich mich hier häuslich niederließ.«

»Es wird Sie freuen und überraschen zu erfahren, Jake, dass all die reizenden Sachen hier mittels rechtmäßiger Investitionen erworben wurden«, sagte Rosemary. Jakes Miene brachte sie zum Lachen. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Mich hat es ebenfalls überrascht.«

»Der Schwarzmarkt brachte einiges ein, aber vor etwa acht Monaten baute mein Schiff eine Bruchlandung auf einem kleinen hinterwäldlerischen Planeten. In den zwei Wochen, die es dauerte, bis Hilfe eintraf, hatte ich mich etwas umgesehen und eine außerordentlich reine Vespene-Gasquelle entdeckt. Verbrechen zahlt sich nicht aus… jedenfalls nicht so, wie es wertvolle Ressourcen tun.«

Er grinste Jake zu. »Was Ihre Situation angeht, hat mir Rosemary alles erzählt, was sie weiß.« Ethan griff über den Tisch hinweg und drückte Rosemarys Hand. Jake bemerkte, dass die Hände der Auftragskillerin, ihrem neuen Look zum Trotz, immer noch sehr geschäftsmäßig wirkten. Die Nägel waren kurz, und die Finger, die sich um die von Ethan schlangen, wiesen Schwielen auf. Jake erschauerte innerlich. Eine Femme fatale, in der Tat, mit Betonung auf fatale.

Er nippte noch einmal von seinem Drink und stellte fest, dass er ihn ausgetrunken hatte. Er war immer noch nicht sicher, ob er ihm schmeckte. Ethan gab dem Diener einen Wink, der daraufhin Wein einzuschenken begann.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, die Weine den Gängen anzupassen«, sagte Ethan. »Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«

Jake bevorzugte eigentlich kaltes Bier, aber er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin sicher, es wird köstlich sein.«

Zum leisen Plätschern von Weißwein fuhr Ethan fort: »Ich kenne also die wesentlichen Details der Geschehnisse. Doch nun wüsste ich gerne, was Sie erlebt haben. Und was Sie glauben, warum Val dermaßen auf sie erpicht ist.«

Jake trank einen Schluck Wein, während ein Tellerchen vor ihn hingestellt wurde. Etwas, das aussah wie roher Fisch, auf den man etwas Violettes und etwas Grünes geträufelt hatte und der auf einem salatartigen Untergrund lag, forderte ihn auf, es zu essen. Er nahm eine Gabel und probierte es. Das gab ihm Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen. Der Fisch – wenn es denn Fisch war – schmeckte überraschend gut.

Er kaute, schluckte, trank von dem trockenen Weißwein und schindete so viel Zeit heraus, wie er nur konnte.

»Irgendwann in diesem Jahrhundert, Jake?«, warf Rosemary ein. »Protoss mögen ja theoretisch ewig leben, aber Ethan hat nur noch etwa vierzig Jahre.«

»Mindestens sechzig, meine Liebe«, erwiderte Ethan und führte ihre Hand an seine Lippen. R. M. lächelte, und ihr Mund öffnete sich ein wenig.

Jake unterdrückte den völlig irrationalen Drang, Ethan ins Gesicht zu schlagen.

»Nun… was möchten Sie denn wissen?«

Ethan drückte Rosemarys Hand ein weiteres Mal und wandte sich dann wieder an ihn. »Alles«, sagte er.

Jake begann ganz am Anfang. Er ließ nichts aus. Er wusste: Wie gut er von jetzt an mit Ethan auskommen würde, hing vor allem davon ab, für wie nützlich Ethan ihn hielt.

Der zweite Gang kam, während er sprach, eine dicke, üppige Cremesuppe aus Meeresfrüchten. Jake war kurz davon abgelenkt, wie köstlich sie war, und erst als er dazu aufgefordert wurde, nahm er den Faden wieder auf. Er erzählte ihnen von der Aufforderung, sich der Expedition anzuschließen und dem Treffen mit Valerian.

»Ah, in dem Raum war ich auch schon.« R. M. nickte und hob einen Löffel voll cremiger Suppe an ihre Lippen. »Sehr einschüchternd.«

Momentan hielt Jake Rosemary für sehr einschüchternd. Er hatte jetzt, da sie dieses tief ausgeschnittene und hoch geschlitzte rote Kleid trug, mehr Angst vor ihr als in dem Augenblick, da sie ein Gaußgewehr auf ihn gerichtet hatte.

Bis der Salat serviert wurde, war Jake an der Stelle seiner Geschichte angelangt, wo er herausgefunden hatte, wie man in die Kammer gelangte.

Das Hauptgericht, ein gebratener Vogel, den man mit einer Beerensauce beträufelt hatte, war fantastisch. Nachdem er sich tagelang von Fertiggerichten ernährt hatte, war Jake begierig auf etwas, das nicht nach Karton schmeckte, und zugleich stellte er zu seinem Verdruss fest, dass sein Magen geschrumpft war. Er war schon voll. Und der Wein begann seine Wirkung zu zeigen. Nichtsdestotrotz aß und trank er tapfer weiter.

»Es war eine Art… Zeitblase, die sie geschaffen hatte, eine Möglichkeit, so lange am Leben zu bleiben, bis jemand sie fand. Ich verstehe es immer noch nicht ganz. Aber da war ein Tropfen Blut, der in der Luft schwebte, und als ich ihn berührte, lag er in meiner Hand, und erst dann verlor er seinen Halt. Und dann… dann begann sie… all diese Informationen in meinen Kopf zu schütten… Es war absolut… herrlich und überwältigend.«

»Was für Informationen?«, wollte Ethan wissen. Jake blinzelte und versuchte sich zu konzentrieren. Ethan wirkte noch genauso wie zu dem Zeitpunkt, da sie Platz genommen hatten.

Hatte er nicht so viel Wein getrunken wie Jake oder vertrug er nur mehr? Jake trank für gewöhnlich nicht viel, und er hatte drei Gläser Wein intus sowie diesen komischen Likör, den es als Aperitif gegeben hatte.

»Äh… das versuche ich noch herauszufinden«, sagte er ganz aufrichtig und fragte sich, warum Rosemary und Ethan diese Antwort so lustig fanden. »Zunächst war es so überwältigend, dass ich keinen Sinn darin erkennen konnte. Ich meine… die Protoss sind so anders als wir, verstehen Sie? Sie denken ganz anders.«

Ethan hatte seine Gabel hingelegt und musterte ihn aufmerksam. Rosemary richtete den Blick ihrer porzellanblauen Augen auf Jake. Jake starrte seinerseits sie an, plötzlich restlos fasziniert.

Er erinnerte sich, einen Blick in ihre Vergangenheit erhascht zu haben, als sie diese furchtbare Lokalität in dieser Stadt mit dem obszön irreführenden Namen Paradise aufgesucht hatten. Er hatte eine leise Ahnung davon erhalten, was Stim-Sucht mit denen anstellte, die nicht resozialisiert waren, und wie stark man sein musste, um dieser Sucht Herr zu werden. Er hatte ihre beste und ihre schlimmste Seite kennengelernt – sie tötete Menschen fast ohne Emotion und mit größter Präzision, wenn diese im Begriff waren, sie zu töten.

Sie war so stark… und so schön.

Sie hat uns hintergangen, sandte die Stimme in seinem Kopf.

Das ist mir egal, gab Jake zurück. Im Moment, hier und jetzt, tut das gar nichts zur Sache. Außerdem warst du es, die gesagt hat, sie müsse mit uns kommen.

Du solltest keinen Alkohol trinken, bemerkte der Protoss-Teil in ihm. Er trübt dein Urteilsvermögen.

Auch das ist mir egal.

Mir zum Glück nicht, sagte die Protoss.

Was meinst du damit?

Aber sie hatte sich zurückgezogen, und darüber war er froh, und er fuhr fort: »Es war, als versuche man, einen runden Stöpsel in ein viereckiges Loch zu stecken. Sie musste mein Gehirn… umformen, damit es diese Informationen aufnehmen konnte. Und während sie das tat… fühlte ich so viele Dinge, dass ich sie nicht einmal ansatzweise beschreiben kann.«

Er blickte auf den zur Hälfte leer gegessenen Teller hinab. Der Diener kam näher, als wollte er ihn wegnehmen, aber Jake sah aus dem Augenwinkel, wie Ethan ihn fortwinkte. Weder Ethan noch R. M. sagten etwas. Sie ließen ihn in relativer Stille seine Gedanken sammeln. Die einzigen Geräusche waren das leise Klirren von Silber auf Kristall oder Porzellan und das beruhigende Plätschern klassischer Musik im Hintergrund.

Jake spürte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Reiß dich zusammen, Jake. Du wirst in deinem Leben noch öfter daran zurückdenken müssen. Reiß dich am Riemen.

In ruhigerem Ton sprach er von dem Wunsch zu töten, dem fast überwältigenden Hass und dem Zorn, die ihn gepackt hatten. »Ich hatte Glück, dass ich bewusstlos war«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre ich wach gewesen. Ich glaube, es spiegelte die Entwicklung der Protoss als Rasse wider. Ich durchlief eine ganze Reihe von Phasen, und dann war es erledigt. Ich erwachte, und es war alles da. Aber jetzt – «

Jake. Das solltest du ihnen nicht erzählen.

Aus irgendeinem Grund war Jake versucht, ihr beizupflichten. Aber genau in diesem Augenblick beugte Rosemary sich vor und legte ihr Kinn auf die Hand. Ihre Augen fingen das Funkeln des Kerzenlichts ein. »Aber jetzt?«, fragte sie.

Mit einem Mal war die Stimme in Jakes Kopf, die ihn zur Vorsicht mahnte, in etwa so willkommen wie ein Gewitter bei einem Strandausflug. R. M. kannte die Antwort auf diese Frage; er und sie hatten über jeden Traum gesprochen, den er hatte. Sie wollte, dass er es sagte, damit Ethan es hörte, und das wusste Jake.

»Jetzt«, fuhr er fort, ohne den Blick von ihr zu nehmen, »ist es, als seien all diese Informationen in einer sehr kompakten Form hochgeladen worden. Und nun werden sie abgespielt.«

Das Kratzen von Ethans Messer auf dem Porzellanteller veranlasste R. M. ihm einen raschen Blick zuzuwerfen. Jake seufzte innerlich.

»Wissen Sie, ob das ungewöhnlich ist? Zugegeben, wir hatten nicht viel Kontakt mit den Protoss, aber von so etwas habe ich noch nie gehört.«

»Damit, mein Freund, haben Sie völlig Recht«, plauderte Jake munter weiter. Zamara wurde allmählich etwas ärgerlich ob seiner starrköpfigen Weigerung, endlich still zu sein. »Von dem Moment an, da sie sozusagen nach mir griff, hatte ich ein furchtbar drängendes Gefühl. Sie schien zu glauben, dass die Weitergabe dieses Wissens sehr, sehr wichtig sei, auch wenn es mittels eines, wie sie offenkundig meinte, unvollkommenen Mediums geschehen musste.«

Ethan sah ihn nachdenklich an, derweil er kaute, schluckte und dann den Teller von sich schob. »Wirklich? Wovon handeln diese Informationen denn?«

Jake fühlte sich etwas ernüchtert. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Bis jetzt handelte es sich ja in der Hauptsache um die Lebensgeschichte eines einzigen Protoss. Vielleicht verbirgt sich eine Bedeutung darin, die ich einfach nicht verstehe.«

Ethan musterte ihn einen Augenblick lang. Der Diener kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem drei kleine Kristallschalen standen, die etwas enthielten, das aussah wie lilafarbene Eiscreme, und stellte vor jeden von ihnen eines der Schälchen ab. Jake ging davon aus, dass es sich um den Nachtisch handelte.

»Vielleicht«, meinte Ethan. »Jake… ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube, in Ihrem Kopf steckt ein Vermögen. Wenn Val bereit war, Rosemary auf diesen Auftrag anzusetzen und später…« Er hielt inne, legte seine Hand wie schützend über die ihre und drückte sie, »… bereit war, sie zu töten, dann ist klar, dass es um etwas sehr Wertvolles geht. Oder um etwas sehr Gefährliches. Was für mich dasselbe ist.«

Er grinste boshaft und nahm einen Löffel von der Eiscreme. Jake folgte seinem Beispiel. Das Dessert war kalt und cremig, aber nicht ganz wie Eiscreme, eher wie Halbgefrorenes, und der Geschmack war fruchtig und köstlich, aber er konnte ihn nicht identifizieren. Womit er nicht alleine stand. Rosemary legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus. »Ich versuche, den Geschmack des Sorbets zu bestimmen, Ethan. Passionsfrucht?«

Passionsfrucht, dachte Jake. Das Wort beschwor Bilder von prallen, reifen Früchten herauf, von üppigen tropischen Dschungelbäumen und -

*

- der Regen prasselte auf die Bäume hernieder, auf ihre Haut, in ihre Haut, ein Gefühl kühler, beruhigender Zufriedenheit. Die Regenzeit war immer die bessere Jahreszeit, trotz des Schlamms und der Tatsache, dass nichts je wirklich trocken wurde. Denn selbst bei Regen gab es genug Licht, um sie zu nähren, und von den Bäumen hingen schwere Früchte, das Äußere schwarz und knotig, das Innere purpurrot und duftend, das perfekte Opfer für die Geister der Tiere, die nicht das Fleisch anderer fraßen. Jake schnitt eine mit dem Messer auf, genoss das Aroma von -

*

Ethan grinste. Er hatte gerade den Mund zu einer Antwort geöffnet, als Jake leise sagte: »Das ist eine sogenannte Sammuro-Frucht. Sie wächst auf Aiur.«

Ethan wandte sich ihm zu, und zum ersten Mal, seit Jake ihn kannte, wirkte er überrascht. Er fasste sich jedoch rasch, und das vertraute Grinsen kehrte auf seine Züge zurück. Aber Jake wusste, dass er den Mann regelrecht schockiert hatte. Und das gab ihm ein gutes Gefühl.

»Der Professor hat Recht«, sagte Ethan. »Das Sorbet besteht in der Tat aus dem Saft der Sammuro-Frucht von Aiur. Verdammt schwer aufzutreiben, selbst auf dem Schwarzmarkt. Dies könnte für einen Terraner sehr wohl die einzige Gelegenheit sein, sie je zu kosten. Woher kennen Sie diese Frucht, Jake? Sie können sie unmöglich schon einmal gegessen haben.«

Ja, woher kannte er sie? Er hatte Eiscreme vor sich, nicht die Frucht. Und Protoss aßen nicht, also konnte es nicht der Geschmack gewesen sein. Jake nahm noch einen Löffel voll und lächelte.

»Der Geruch«, sagte er. »Ich… die Protoss… sie hat den Geruch erkannt.«

»Das klingt logisch«, meinte Ethan, während er seine Fassung zurückgewann und sein Sorbet aufaß. »Gerüche können erstaunlich nützlich sein, wenn es darum geht, alte Erinnerungen zu wecken. Zumindest bei Menschen.«

Woher weiß er das?, fragte die Protoss in ihm. Jake verspürte ein unvermitteltes Frösteln. Er tastete mit seinem Geist vorsichtig um sich und streifte abermals den von Ethan. Und wieder erspürte er einen Menschen, der die sinnlichen Aspekte des Lebens genoss, der auf sich Acht gab, der hochintelligent war und der fraglos vorhatte, Jake zu benutzen.

Nichts Finstereres als all dies – andererseits fand Jake aber, dass dies schon finster genug war.

Die Frage jedoch blieb. Es war merkwürdig, dass jemand das bekannt war. Wie kam es, dass dieser Söldner mit einer Vorliebe für körperliche Freuden so viel darüber wusste, wie das Gehirn funktionierte? Oder war es nur ein spontaner Einwurf gewesen?

Ehe er es verhindern konnte, hatte Jake die Frage auch schon gestellt – und bedauerte es auf der Stelle. »Das wusste ich nicht. Woher wissen Sie so viel darüber?«

Er spürte, wie die Wesenheit in ihm unter der plumpen Frage zusammenfuhr, und ihm drehte sich der Magen um. Verdammt… ich hätte den Dummen spielen sollen. Darauf verstehe ich mich, weil ich ihn meistens gar nicht erst spielen muss…

Aber Ethan lächelte unbekümmert. Wenn ihm zuvor unbehaglich zumute gewesen war, so war nun jede Spur davon verschwunden. Jake fragte sich, ob er es sich vielleicht überhaupt nur eingebildet hatte.

»Ich mache es mir zur Aufgabe, viel über verschiedene Themen zu wissen. Man kann ja nie sagen, welche Information sich eines Tages als nützlich erweist.«

Die leeren Sorbetschälchen wurden abgetragen und durch eine Auswahl verschiedener Käsesorten ersetzt. Jake rümpfte ob des Geruchs die Nase, und Rosemary, der dies nicht entging, lachte ein wenig.

»Was denn? Mag die Protoss keinen würzigen Käse?«, neckte sie.

»Nein, ich fürchte, das liegt ganz allein an mir«, erwiderte Jake völlig ernst. Die anderen beiden lachten, und jegliche Spannung, die in der Luft gelegen hatte, löste sich auf. Jake war dankbar dafür. Zamara blieb auf der Hut.

»Nun, was glauben Sie also ist so wichtig?«, hakte Ethan nach, während er etwas Brie auf ein Stück Apfel strich.

Jake war nun vollkommen nüchtern. Es wurde ihm bewusst, was die Protoss mit ihrer Bemerkung vorhin gemeint hatte. Irgendwie hatte Zamara den Alkohol aus seinem Kreislauf vertrieben. Das, dachte er, war nun mal etwas wirklich Nützliches. Er brauchte ihr stummes Drängen nicht, um sich seine Antworten zusammenzustoppern. Zum Teufel damit, was Rosemary von ihm hielt. Sie war bereit gewesen, ihn umzubringen, und offensichtlich war ihr Ethan sowieso lieber als er.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er, obwohl das nicht ganz stimmte. Er fing an, Vermutungen zu entwickeln. »Vielleicht bin ich auf die wichtigen Dinge einfach noch nicht gestoßen. Vielleicht ist all das, woran ich mich erinnere, nur… ich weiß nicht… ein Prolog zu der eigentlichen Geschichte.«

Ethan nickte. »Klingt logisch. Aber sagen Sie ihr, Sie soll sich beeilen, ja?«

Jake lachte kurz. »Das werde ich tun.«

Es war Zeit für Kaffee, stark, duftend und schwarz wie die Nacht, und das eigentliche Dessert, eine himmlische Zubereitung aus Schokolade und Sahne mit einem Klecks Sünde.

Das Sorbet, so stellte sich heraus, hatte nur der Reinigung der Geschmacksknospen gedient. Als Jake sich eine Gabel von dem Gebäck in den Mund schob und spürte, wie der Zucker einer Droge gleich in seinen Stoffwechsel gelangte, tat es ihm sehr leid, dass Zamara das Konzept von Geschmack nicht verstand.

Aber das ändert sich nun. Durch dich verstehen wir es, Jacob Jefferson Ramsey. Dies ist eines der Dinge, die du den Protoss gegeben hast.

Jake war überrascht – und hoch erfreut.

KAPITEL 21

Im Laufe der nächsten Tage erkundeten Savassan und Jake die unterirdischen Räume. Bald wurde klar, dass das Höhlensystem größer war, als sie es sich vorgestellt hatten. Jake war überzeugt, dass sich diese Höhlen -

*

»- von dieser Stadt!« Jake war erregt. »Das ist eine unterirdische Stadt, verdammt. Ach was, wahrscheinlich handelt es sich sogar um mehrere Städte. Sieh dir dieses Ding doch nur an. Die Ihan-rii haben hier unten überall Labors und Highways und Datenspeicher. Ich wünschte, ich wäre selbst dort!«

*

- praktisch unter jedem Quadratzentimeter ihrer Welt erstreckten. Ganz gleich, worüber sie sonst noch stolperten, was sie sonst noch zu erkennen glaubten, Savassan kehrte immer zu dem Kristall zurück.

Jake empfand die toten Protoss nicht mehr als furchterregend, aber er fragte sich immer noch, was mit ihnen geschehen sein mochte.

Nach einer gründlicheren Untersuchung stellte er fest, dass unter den Toten ein Vertreter von jedem der sechs Stämme war. Es hatte nicht den Anschein, als seien sie verletzt worden, noch wiesen sie sichtbare Anzeichen einer Erkrankung auf. Aber natürlich war es schwierig, so ausgedörrt wie die Leichen waren, das mit Bestimmtheit zu sagen.

Savassan stand immer wieder minutenlang über den Toten, als gönnte er ihnen ihre Geheimnisse entlocken, indem er sie einfach nur betrachtete. Er berührte die Ranken, die sie fesselten und ihre Körper stellenweise durchdrangen, und schaute zurück zum Kristall.

»Sie sind Helden«, sagte er schließlich in Jakes Geist. »Und dass von jedem Protoss-Stamm einer hier ist, kann kein Zufall sein.«

Dem pflichtete Jake bei. Nichts an diesem Ort sprach für einen Zufall. Alles war geplant. »Glaubst du… dass sie… ermordet wurden?«

Savassan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ihan-rii uns ermorden würden. Sie nährten uns, führten uns, sorgten für uns. Es muss einen Grund für ihren Tod gegeben haben. Einen guten Grund.« Er sah mit funkelnden Augen zu Jake auf. »Wir müssen sie von diesen Ranken lösen«, sagte er.

Jakes Augen wurden groß. »Aber…es könnte etwas passieren!« Er blickte sich in dem weiten Raum um, dessen natürliche Künstlichkeit ihm noch immer nicht ganz benagte.

»Das hoffe ich ja gerade«, erwiderte Savassan. »Wir sind so weit gekommen in unseren Bemühungen, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln, Temlaa. Willst du jetzt etwa aufhören?«

Jake schüttelte den Kopf, obgleich sein Herz wie wild schlug.

Savassan nickte. »Wenn mir irgendetwas zustößt«, sagte er, »kehre du an die Oberfläche zurück und suche den Rest unseres Volkes. Was wir hier erfahren haben, muss für kommende Generationen bewahrt werden. Verstehst du das?«

Jake nickte feierlich.

Savassan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Leichen, beruhigte seinen Geist und trat vor. Mit sanften, ehrerbietigen Fingern berührte er die Ranken, ergriff eine davon und zog sie mit einem kräftigen Ruck aus dem vertrockneten Leichnam.

Auf dem mit Edelsteinen besetzten Pfeiler blitzte ein Licht auf Jakes Kopf fuhr herum.

»Hast du gesehen, welcher das war?«, fragte Savassan.

»Ja«, antwortete Jake, erleichtert darüber, dass nichts Schlimmeres geschehen war.

»Behalte sie im Auge. Präge dir die Reihenfolge ein«, sagte Savassan und fuhr fort. Jake nahm den Blick nicht von den Lichtern, wie es ihm aufgetragen worden war.

Als die letzte Ranke entfernt war, leuchteten die Lichter mit einem Mal alle auf.

Jake wandte sich wieder zu Savassan um, und seine Augen weiteten sich. Die Ranken begannen sich zu bewegen. Sie sahen aus wie sich ringelnde Schlangen, deren Masse unter leisen Geräuschen wogte und sich wand. Die Enden der Ranken glommen auf in einem strahlenden Blau… dann zogen sie sich gemeinschaftlich in den Stein zurück und waren bald darauf verschwunden. Nur die Ranken, die noch immer in den Leichen der fünf anderen Protoss steckten, bewegten sich um keinen Deut.

Savassan drehte sich nach Jake um, und der Gedanke, den er dem jüngeren Protoss schickte, brachte das Blut in Jakes Adern zum Erkalten. »Meister, das… das kannst du nicht…!« Jake starrte Savassan entsetzt an.

»Ich muss«, erwiderte Savassan. »Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt tatenlos zu bleiben.« Noch während er sprach, hob er den ausgetrockneten Protoss-Leichnam von der Plattform und legte ihn behutsam und mit großem Respekt zur Seite.

»Aber… das war es vielleicht, was sie umgebracht hat!«

»Durchaus möglich.« Der ältere Protoss ließ sich auf der Plattform nieder. »Komm, Temlaa. Gib die Folge ein.«

»Nein.« Jakes mentale Stimme warfest. »Ich lasse nicht zu, dass du dich umbringst.«

Savassans Gedanken waren sanft, freundlich, aber auch leicht aufgebracht. »Du weißt, dass ich das tun muss.«

Jake schirmte seinen Geist ab. Was er dachte, war zu persönlich, zu schmerzhaft, um es zu teilen. Außerdem nahm er an, dass Savassan bereits sehr genau wusste, was er empfand. Er riss sich zusammen, dann begann er, das Aufblinken der Lichter durch Berühren der Edelsteine in umgekehrter Reihenfolge zu wiederholen. Die Ranken traten aus der Wand, langsam, anmutig und furchterregend wogend. Jede einzelne bewegte sich auf Savassan zu, als sei sie von einem eigenen Geist erfüllt, berührte ihn, schlang sich um ihn.

Jake kämpfte den Impuls nieder, vorwärts zu stürzen, Savassan zu packen und ihn in Sicherheit zu zerren.

»Jetzt das Ära’dor«, sandte Savassan.

Jake schloss die Augen, sein Finger schwebte über der Konsole. Wenn er Savassan verletzte…

1 zu 1,6…

Der riesige schwebende Kristall, der Jake und Savassan so erstaunt hatte, leuchtete hell und strahlend auf. Jake verzog das Gesicht, schirmte seine Augen gegen die rote Lichtflut ab und zuckte zusammen, als das Herzschlaggeräusch lauter wurde. Licht begann die daliegende Gestalt Savassans einzuhüllen. Jake sah starren Blickes zu. Woher kam es? Aus Savassan selbst?

Schmerz überfiel ihn. Savassans Pein war so brutal, dass sie Jake in die Knie gehen ließ. Er brauchte Sekunden, um sich so weit zu erholen, dass er aufstehen und auf die Säule mit den leuchtenden Steinen zugehen konnte. Er musste den Prozess stoppen! Vor seinen Augen begann Savassan zu vertrocknen. Jake erkannte, dass die ausgedörrten Leichen, die sie entdeckt hatten, nicht durch den Zahn der Zeit und die trockene Umgebung so geworden waren, sondern infolge dieses Dings, dieser Abscheulichkeit…

Hastig gab Jake den Code ein weiteres Mal ein. Nichts. Er konnte es nicht aufhalten! Er -.

Dann fiel es ihm ein. Er musste die Sequenz umkehren! Rasch und mit einer Konzentration, wie er sie noch nie zuvor aufgebracht hatte, hieb Jake mit dem Finger auf die leuchtenden Edelsteine ein.

Die Farben veränderten sich. Anstatt rot, begann der Kristall nun blau zu leuchten. Und anstatt verheerenden Schmerz zu verspüren, der von Savassan ausging, empfand Jake jetzt Verzückung.

Er starrte auf Savassan. Der Leib des älteren Protoss kehrte den Schaden, den er genommen hatte, um, und Savassan war nun in zartes blaues Licht gehüllt. Jake versuchte verzweifelt herauszufinden, was hier vorging. Doch er gelangte einzig zu der Vermutung, dass der Kristall Savassan zuvor auf unbekannte Weise Energie entzogen haben musste, während er nun anfing, Energie in ihn hineinfließen zu lassen.

Er spürte, wie Savassans Gedanken die seinen streiften, und erzitterte unter der Freude, die er darin wahrnahm.

»Ja«, übermittelte ihm Savassan, »ja, der Kristall nährt mich wie die Sonne… er teilt mir Dinge mit. Oh Temlaa, Temlaa, es ist so schön, so heilsam… Ich verstehe es jetzt. Ich verstehe!«

Der Kristall strahlte noch einmal auf, grell wie eine Sonne, und dann verebbte sein Glanz. Das Herzschlaggeräusch trat wieder in den Hintergrund, und das Licht im Raum nahm wieder seinen normalen weißen Schein an. Savassans Emotionen beruhigten sich, wurden friedvoll und freudig, anstatt wild verzückt.

Jake gab rasch die Sequenz ein, worauf sich die Ranken lösten und wieder in den Stein zurückzogen.

Er eilte zu seinem Meister und half ihm, sich aufzusetzen. Savassan schirmte etwas vor ihm ab, und er bettelte darum, zu erfahren, was es war.

»Ich weiß jetzt, was zu tun ist«, sagte Savassan schließlich. »Ich kenne den Weg, dem wir folgen müssen. Diese Jahrhunderte voller Hass… das war falsch, Temlaa, furchtbar falsch. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, was wir einst hatten. Wir brauchen die Xel’Naga nicht, wir brauchen nur einander!«

Der Begriff war ihm fremd, aber Jake verstand, dass dies der Name der Ihan-rii sein musste, den sie selbst für sich benutzten… der Name, der in Vergessenheit geraten war.

Savassan rutschte von der Plattform. »Wir müssen gehen«, sandte er fest. Die Macht seiner Gedanken war so stark, dass Temlaa fast nicht widersprochen hätte.

»Aber…«, brachte er dann doch hervor, »aber dieser Ort… wir können noch so vieles erfahren. Wir sollten bleiben und ihn erkunden!«

*

»- bitte, bitte, bleibt dort und erkundet ihn, ich werde nie selbst Gelegenheit haben, diesen Ort zu sehen, ich kann ihn nur in euren Erinnerungen betreten, Temlaa – «

*

Savassan schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann warten. Wir haben eine wichtigere Aufgabe.«

*

» - verdammt – «

*

»Wenn es so bestimmt ist, werden wir zurückkehren, lernen und studieren. Aber jetzt müssen wir zuallererst unserem Volk die Kunde bringen.«

»Aber -«

»Verstehst du denn nicht?« Der geistige Ausbruch ließ Temlaa erzittern. »Temlaa – das ist es, worauf wir gehofft hatten! Dort draußen stirbt unser Volk.«

»Die Shelak kämpfen gut. Wir sind nicht in Gefahr.«

Savassan schüttelte den Kopf. »Temlaa. Ich meine alle Protoss. Wir kämpfen und sterben – warum? Weil wir einander hassen. Und warum hassen wir einander?«

»Wir hassen die anderen Stämme, weil sie die Ihan-rii… die Xel’Naga vertrieben haben. Und sie hassen uns, weil wir die Xel’Naga immer noch verehren.«

»Nein, Temlaa. Das ist es, was wir uns eingeredet haben. Das ist unsere Ausrede, weil tief in uns eine hässliche Angst steckt – die, dass wir, weil mit Mängeln behaftet, verstoßen worden sein könnten. Dass wir ihnen nicht gut genug gewesen sein, keine Freude bereitet haben könnten. Diese uralten Protoss, die dastanden und tobten und weinten, während die, die uns erschaffen hatten, uns verließen – die hassten einander damals nicht. Jeder hasste sich selbst, und das war nicht zu ertragen. Wir waren wütend und voller Furcht, und so machten wir einander zu Ungeheuern. Aber verschiedene Hautfarben, verschiedene Weisen, Dinge zu tun… das alles bedeutet nicht, dass der andere ein Ungeheuer ist. Wir sind Protoss. Wir sind vom selben Volk. Sag mir: Wenn du deine Gedanken und Gefühle mit einem Ära verbinden könntest – wärst du imstande, ihn zu hassen?«

»Ich würde seinen Hass auf mich verspüren.«

Savassan winkte wütend ab. »Nein, nein, denn er würde im selben Moment dich spüren, dich wahrnehmen. Du wüsstest, wie sehr er seine Kash’lor, seine Kinder liebt, wie gut es sich für ihn anfühlt, die Sonne auf der Haut zu spüren, wie freudig er um die Feuer tanzt. Du könntest ihn nicht hassen, weil du er wärst!«

Temlaa starrte ihn an. Er begann einen Gedanken zu formen und -.

*

Jake schreckte hoch, saß da und schwitzte in die herrlichen Laken. Er fuhr sich mit einer Hand durch das feuchte Haar. Gott, tat ihm der Schädel weh! So vollkommen mit jemandem zu verschmelzen – die Vorstellung entsetzte ihn.

Er wankte zur Dusche und ließ Wasser über sich rinnen, bis er sich wieder etwas menschlicher fühlte. Erst dann, während er unter dem strömenden Wasser stand, das ihm das Haar an den Kopf klebte, wurde ihm bewusst, dass es ihm zum ersten Mal gelungen war, den Traum willentlich zu stoppen. Bisher war es stets so gewesen, als hätte Temlaa die Kontrolle inne, und als sei er, Jake, nur dabei.

Er fragte sich, was das bedeuten mochte, und warum es ihm jetzt möglich gewesen war, die Kontrolle so weit zu übernehmen.

Er erlitt beinahe einen Herzinfarkt, als er aus der Dusche trat und um ein Haar mit Randall zusammenstieß.

»Guten Morgen, Professor. Ich habe Ihnen nur die Kleidung für heute herausgelegt.«

Jake atmete tief durch. »Okay, Randall, von jetzt an kommen Sie nicht mehr herein, ohne anzuklopfen.«

»Sehr wohl, Sir. Welche Kombination würde der Professor…« Randall unterbrach sich und lächelte leicht. »… würden Sie bevorzugen?«

Die Kopfschmerzen, die das beruhigende warme Wasser vertrieben hatte, kehrten mit Macht zurück. »Ist mir egal«, seufzte Jake, den Kampf aufgebend. »Suchen Sie einfach aus, was Sie für das Beste halten. Und, äh, Randall… haben Sie irgendetwas, das gegen einen Kater hilft?«

Ohne mit der Wimper zu zucken, legte Randall eine Hose mit messerscharfen Bügelfalten und ein Hemd heraus. Während er überlegte, welches Jackett am besten dazu passte, erwiderte er: »Natürlich, Sir. Der Herr ist durchaus an Gäste gewöhnt, die es am ersten Abend etwas übertreiben. Ich werde Ihnen gleich etwas bringen.«

Randall schlüpfte hinaus, und Jake zog sich an. Er betrachtete sich im Spiegel und war beinahe überrascht, dass ihm daraus ein menschliches Gesicht entgegenschaute, nicht das glatte, mundlose Antlitz eines Protoss.

Er fand, dass er dünner aussah. Fast hager. Er fuhr sich mit der Hand über das frisch rasierte Gesicht und war überrascht, dass sich seine Wangen eingefallen anfühlten. Er schaute sich in die blauen Augen und fand, dass sie… alt aussahen.

»Verdammt«, brummte er voller Hass auf die Eigenartigkeit des Gedankens und richtete sein Augenmerk auf die Haare. Auf Nemaka war sein Haar bräunlich blond gewesen. Jetzt zogen sich ein paar unübersehbare Silberfäden durch das Gold.

Es klopfte an der Tür.

»Herein.«

Randall trat ein, ein Tablett in Händen, auf dem ein Glas mit einer grünlichen Flüssigkeit stand. Jake nahm es und fragte: »Glauben Sie, ich könnte mir hier irgendwo die Haare schneiden lassen?«

»Nichts leichter als das, Sir.«

*

Jake folgte Randall durch das riesige Haus, trottete hinter dem Diener her wie ein folgsames Hündchen. Unterwegs erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild, hielt erstaunt inne und grinste. Der Haarschnitt, den ihm der vielseitig begabte Randall verpasst hatte, sah fantastisch aus. Und während er sich dies eingestand, begann er, diese Art zu leben zu genießen, und er fragte sich, was Ethan wohl im Gegenzug dafür von ihm verlangen würde.

»Verdammt, Jake, Sie sehen mit jeder Begegnung besser aus«, erklang eine sinnliche Frauenstimme.

Jake fuhr herum und wurde rot, weil Rosemary ihn dabei ertappt hatte, wie er vor einem Spiegel posierte. Seine Augen wurden groß. »Das-dasselbe könnte ich auch sagen.«

Rosemary trug ein legeres Kleid in einer kräftigen Farbe, das ihre perfekt geformten Beine und Arme zur Geltung brachte. Sie trag Sandalen und nur wenig oder gar kein Make-up. Aber Jake kannte sich mit solchen Dingen nicht gut genug aus, um das mit Bestimmtheit sagen zu können. Auf ihrem Kopf saß ein großer Strohhut, der eigentlich lächerlich und viel zu groß hätte wirken müssen, stattdessen aber ganz bezaubernd aussah.

»Hatten Sie eine angenehme Nacht, Jake?« Ethan schien aus dem Nichts zu materialisieren, um seinen Arm um Rosemary zu legen und ihr einen besitzergreifenden Kuss zu geben.

»Eine geschäftige«, antwortete Jake.

»Weitere Träume?«

»So ist es.«

»Dann haben Sie sicher Hunger. Kommen Sie, essen wir draußen.«

Ein kleiner Tisch war gedeckt, und Jakes Magen knurrte beim Anblick von Säften, Kaffee und Gebäck. Randalls Katermittel hatte gewirkt.

Ethan schob Rosemary einen Stuhl zurecht, dann nahm er selbst Platz. Jake tat es ihm gleich.

»Ich würde gerne über Möglichkeiten sprechen, wie wir Ihr Aliengehirn zu unser aller Wohl nutzen könnten«, sagte Ethan.

Jake griff nach Ethans Gedanken, berührte sie und stellte fest, dass der Mann genau das gedacht hatte, was er auch ausgesprochen hatte. In Ethans Gehirn tummelten sich jede Menge Pläne.

Jake gefiel keine dieser Möglichkeiten. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, bei »Verhandlungen« neben Ethan zu sitzen und die Gedanken potenzieller Partner zu lesen. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, die Gedanken derzeitiger Geschäftspartner zu lesen, die Ethan hintergangen hatten. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, anständige Leute zum Selbstmord oder Verrat anzustiften.

Aber er lächelte und nickte, als gefielen ihm all diese Vorstellungen, murmelte im Verlauf des Frühstücks entsprechende Bemerkungen, mied Rosemarys Blick und fand auf einmal, dass der Kaffee bitter schmeckte.

Er schützte Müdigkeit vor und kehrte in sein Zimmer zurück. Dort angelangt, legte er sich aufs Bett und starrte zum Baldachin empor.

»Hey, Zamara«, sagte er. »Wo versteckst du dich?«

Es kam keine Antwort. Jake blinzelte. Er versuchte es noch einmal, diesmal auf geistigem Wege, und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren.

Zamara? Was ist los? Bist du… fertig?

Nein. Aber du.

Was? Wie meinst du das?

Es… es war ein Fehlschlag. Jakes Herz verkrampfte sich unter dem Schmerz in Zamaras geistiger Stimme. Ich hatte gedacht… hatte gehofft… aber du weigerst dich.

Daraufhin lachte Jake laut auf. Ich weigere mich? Seit wann habe ich auch nur die Möglichkeit, mich gegen irgendetwas von dem zu weigern, was du mir ins Gehirn gestopft hast?

Du hast dich von Anfang an geweigert, kam die schockierende Antwort. Aber du hast dich nie bewusst dafür entschieden, bis jetzt nicht. Das ist der einzige Grund, weshalb ich dir überhaupt etwas mitteilen, dich leiten und formen und auf diesen Moment vorbereiten konnte – du warst willens, das Wissen zu akzeptieren.

Was ist mit Marcus Wright?

Dabei ging es nicht um das Akzeptieren von Wissen, sondern darum, es zu benutzen. Das ist ein Unterschied.

Jake dachte an den ersten Kontakt zurück, der erfolgt war, als er Zamaras in der Zeit festgehaltenen Körper im Tempel gefunden hatte. An die Empfindungen, die dazu geführt hatten, dass er das Bewusstsein verlor. An die Rückblenden in eine entsetzlich brutale Ära der Protoss-Geschichte. An den panikweckenden Selbstverlust. Das Schuldgefühl, das immer noch schwer auf seiner Brust lastete, als säße ein Alb darauf, wie er in alten Erzählungen vorkam. Das nennst du Akzeptieren?

Ja.

Jake überlegte, wie bei den Protoss dann erst Zwang und Nötigung aussehen mussten – und verspürte einen Anflug von Belustigung, der aber wieder dieser merkwürdigen Traurigkeit und Resignation wich.

Aber jetzt, jetzt bist du nicht bereit, den letzten Schritt zu tun. Die Lektion zu lernen, die wir damals lernten.

Und Jake wusste es. Er wandte sein Gesicht ab und vergrub es in den Kissen, als versteckte er sich vor jemandem, der körperlich anwesend war.

Aber vor der Wesenheit in seinem Geist konnte er sich nicht verstecken. Zamara hatte Recht. Die Lektion, die die Protoss gelernt hatten, handelte von Einigkeit. Davon, Geist, Gefühle und Gedanken zu verschmelzen. Und auch die… Seelen? Ging es so tief? Er entschied, dass diese Frage zu esoterisch war, und weigerte sich kurzerhand, weiter darüber nachzudenken.

Die beiden Protoss hatten die unterirdische Xel’Naga-Stadt unerforscht gelassen, um etwas anderes zu erkunden. Um die uralte Verbindung wiederzuentdecken, die sie zu einem Volk zusammengeschweißt hatte. Um den Hass zu stoppen, der keinem Zweck diente außer dem, ihre Seelen zu erniedrigen und ihre Rasse zu dezimieren.

Sie hatten sich aufgemacht, den Schmerz anderer als den eigenen zu empfinden, um Freude mit jemandem zu teilen, dessen Geist in einem anderen Körper steckte.

Um sich zu vereinen. Um sich zu erinnern.

Das Bett war bequem, das Essen hervorragend, die Dusche herrlich. Aber nichts von all dem war es wert, zu tun, was Ethan von ihm verlangte. Rosemary hatte gesagt, Ethan würde sie und Jake beschützen. Vor Valerian vielleicht. Das immerhin glaubte Jake – vorausgesetzt, es trug Ethan etwas ein.

Aber Ethan würde Jake nicht davor beschützen, aller Moral den Rücken zu kehren, an die er im Laufe seines Lebens zu glauben gelernt hatte. Er wäre um keinen Deut besser als Ethan – verdammt, nicht einmal besser als Rosemary mit ihren kalten blauen Augen und ihrem Gaußgewehr. Er würde als Mittel benutzt werden, um Menschen wehzutun.

Wir müssen fliehen.

Das Gesicht noch immer im Kissen vergraben, nickte Jake.

Ich kann dir dabei helfen. Aber du musst mir vertrauen.

Jake merkte, dass er weinte. Ich habe Angst, Tamara. Ich bin kein Protoss. Ich habe keine alte Ahnenerinnerung daran, solcherart verbunden zu sein.

Ich weiß. Aber du hast schon so vieles akzeptiert. Ich glaube, dein Geist ist in der Lage, aufzunehmen, was ich mit dir zu teilen hoffe. Das ist der einzige Weg, dieses Wissen zu bewahren. Und… der einzige Weg, dich darauf vorzubereiten, mit noch mehr Wissen umzugehen. Wissen, das mein Volk retten könnte.

Und wenn ich mich weigere?

Ethan wird dich um Dinge bitten, die deinen Geist zerschmettern. Du wirst dazu verdammt sein, sie zu tun, ohne Hoffnung auf ein Entkommen. Und es ist möglich, dass noch Schlimmeres vor dir liegt, Dinge, von denen du nicht einmal etwas ahnst.

Ach du Scheiße.

In der Tat.

Jake wälzte sich herum und wischte sich das Gesicht ab. »Dann mal los«, sagte er und wappnete sich.

Aber noch vor dem Ansturm kam von Zamara ein Augenblick warmer Dankbarkeit, so sanft wie eine von Blumenduft schwere Brise. Danke, Jacob. Danke.

Und dann…

Informationen stürzten mit derartiger Geschwindigkeit auf ihn ein, dass er wimmerte und die Augen und Ohren schloss in dem fruchtlosen, albernen Versuch, sie auszusperren. Doch die Informationen strömten natürlich weiter in ihn, denn dieses Wissen, diese Empfindungen von Einheit rührten nicht von seinen Sinnen. Zumindest nicht von seinen herkömmlichen fünf Sinnen.

Emotionen und Empfindungen schlugen gleichsam in seinen Kopf ein. Jake keuchte lautlos auf. Und dann – so plötzlich, als wäre Jake auf einem durchgehenden Pferd geritten, das auf einmal in gemütlichen Trab verfiel – begann Jake, alles zu verarbeiten.

Nein. Nicht Jake, nicht Jacob Jefferson Ramsey.

Und nicht Zamara, nicht Temlaa.

Sondern sie alle.

Alle arbeiteten sie zusammen, als tanzten sie miteinander. Sie fingen die Informationen und Empfindungen auf, registrierten sie, integrierten sie – und weiter ging es: Jemand schritt einen Gang entlang. Der Chefkoch schrieb die Speisekarte und schickte einen Assistenten zum Kräuterpflücken. Und, ach, Jake wollte es nicht sehen, konnte aber nicht anders, konnte es nicht ignorieren, kam nicht umhin, Rosemarys warme Gefühle sexueller Begierde und momentaner Zufriedenheit zu sehen und zu integrieren… Dutzende von Menschen, Hunderte von Gedanken und Gefühlen drangen auf Jake und Zamara ein, und sie handhabten sie sicher und geschickt.

Bis sie über einen der Gedanken stolperten.

Irgendwo in diesem gewaltigen Komplex, der teils Villa, teils Labor- und Trainingseinrichtung war, hatte jemand einen Gedanken, der Jake und Zamara wie ein Schlag in die Magengrube traf. Es war ein flüchtiger Gedanke, ein Gedanke mit schmetterlings-leichten Flügeln, der sofort von anderen, dringenderen Wünschen bezüglich Essen und einer Dusche verdrängt wurde:

Ich frage mich, was für einen Bonus wir von Mr. V. für den Gedankenleser bekommen werden.

KAPITEL 22

Wie war das möglich?

Jake las Gedanken seit dem Augenblick, da er hier angekommen war. Nichts und niemand hatte darauf hingedeutet, dass Ethan vorhatte, ihn zu hintergehen.

Rasch und ohne auch nur darüber nachzudenken, ortete er Ethan und tauchte in dessen Kopf ein.

Nichts. Hier wies nichts auf einen Verrat an Jake hin. Wie war das möglich? War dieser Niemand, dieser… Mechaniker in Ethans Diensten schlicht einem Irrtum aufgesessen? Aber wie zum Teufel saß man einem Irrtum auf, wenn es um Geschäfte mit dem Sohn eines Kaisers ging?

Mühelos, fast ohne darüber nachzudenken, schlüpfte Jake in Rosemarys Gedanken und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie davon wusste. Dass sie darin verstrickt war. Doch sie tappte ebenso im Dunkeln wie er.

Im Dunkeln…

Jake schloss die Augen, konnte aber nach wie vor sehen. Abermals stieg er als Temlaa die gewundene Treppe in die Höhlen hinab, betrachtete die leuchtenden Edelsteine und das glatte Gestein, das vielleicht nicht wirklich Gestein war, sah den schwebenden Kristall und was er Gutes wie Schlechtes mit dem willigen Savassan tat…

Das war es!

Jake verstand jetzt genau, was geschehen war.

*

Ethan saß allein in seinen Privatgemächern. Das Licht war gedimmt, das einzige Geräusch kam von Wasser, das sanft aus einem zierlichen Brunnen floss. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, sein Blick war sanft. Er betrachtete die flackernden Kerzen, die vor ihm standen. Vierzig zusammengebundene Kerzen, vierzig winzige Flammen, die hell brannten. Alles, was er sah, war die Flamme, alles, woran er dachte, war die Flamme – er selbst war ganz und gar die Flamme. Er ließ sein Denken davon einnehmen, dann zog er die rechte Hand zurück.

Ethan ließ sie nach vorne schießen, näherte sie in einer Schlagbewegung der Flamme und verbrannte sich fast die Knöchel.

Die Kerzen erloschen. Rauch waberte in die Höhe, grau und sich kräuselnd. Ethan schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Er war nicht übersinnlich begabt. Aber er hatte gelernt, seinen Geist zu trainieren und zu disziplinieren, sodass er ihm gehorchte. Ein Teil dessen, was die Kerzen zum Verlöschen gebracht hatte, war der Luftzug gewesen, der nichts weiter getan hatte, als seiner natürlichen Bewegung zu folgen. Aber es hatte noch eine andere Ursache gegeben.

Ethan stand in einer geschmeidigen, kraftvollen Bewegung auf sein Körper unterlag denselben rigorosen Maßstäben und derselben Disziplin wie sein Geist – und ging zum Spiegel. Ethan besah sich seinen glatt rasierten Schädel und griff nach dem Psi-Schild. Dabei handelte es sich um eine zerbrechlich wirkende Ansammlung von Drähten und Chips. Ethan setzte sie sich auf den Kopf, wie man es mit einer Krone tat. Er verspürte ein Kribbeln, von dem er wusste, dass es keine körperliche Empfindung war.

Diese Dinger waren auf dem Schwarzmarkt fast unmöglich aufzutreiben und kosteten ein kleines Vermögen, wenn man doch eines fand. Ethan Stewart besaß zwei davon. Goodwillgeschenke seines Arbeitgebers. Er trug eines der Geräte, sein vertrauenswürdigster und tödlichster Attentäter das andere.

Es war erstaunlich, dass etwas so Kleines so viel leisten konnte. Die Schilde verhinderten, dass Telepathen seine Gedanken lasen. Das Gerät war aufwendig modifiziert worden, damit sich oberflächliche Gedanken lesen ließen. Gedanken, die Ethan Stewart ganz bewusst erschuf und kontrollierte. Darauf verstand er sich bestens. Es hatte sich in der Vergangenheit schon etliche Male bei Geschäften als nützlich erwiesen. Und im Moment war es unbezahlbar.

Er rückte den Psi-Schild zurecht und fixierte ihn mit kleinen Klebestreifen an seiner Kopfhaut. Anschließend zog er sich die Perücke über und befestigte sie. Danach war der Psi-Schild nicht zu sehen und die Perücke als solche nicht zu erkennen. Nicht einmal Rosemary war aufgefallen, dass sein Haar falsch war. Ethan legte das dazugehörige Armbandgerät an, klebte es fest und zog den Ärmel seines Hemdes darüber. Er merkte sich die Uhrzeit; zu lange durfte er diese Gerätschaften nicht tragen, man hatte ihn vor den möglichen Folgen gewarnt: Erinnerungsverluste, Paranoia oder gar Wahnsinn.

Er war tief in Gedanken versunken, als er seine exquisit eingerichteten Gemächer verließ und zum Fahrstuhl ging.

Jake Ramseys Intelligenz war angelesener Natur. Gerissenheit hingegen ging ihm ab. Aber Gerissenheit war es gewesen, die Ethan dorthin geführt hatte, wo er jetzt war.

Und Rosemary Dahl… nun, sie war gerissen. Aber sie vertraute auch zu sehr auf das, was sie und Ethan im Laufe der Jahre miteinander geteilt hatten. Ethan hörte auf zu pfeifen und runzelte die Stirn. Das war das Einzige, was er bei dieser ganzen Sache wirklich bedauerte. Er mochte Rosemary. Er hatte alles getan, was er konnte, um zu verhindern, sie Valerian aushändigen zu müssen, aber es hatte sich als unumgänglich herausgestellt. Alles oder nichts, hatte Valerian bei ihrem Gespräch erklärt. Sowohl den Professor als auch die Killerin. Der eine besaß die Informationen, und die andere wusste inzwischen zweifellos zu viel und mochte sich als Belastung erweisen.

»Keine Sorge, wir werden sie nicht umbringen. Dazu ist sie zu wertvoll«, hatte Valerian gesagt. »Wir werden sie, nachdem wir herausgefunden haben, was sie weiß, nur etwas resozialisieren.«

Das hatte Ethan gerne glauben wollen. Und weil Ethan immer bekam, was er wollte, hatte er es sich erfolgreich eingeredet, dass es die Wahrheit war.

Er bedauerte ein wenig, nicht alle Lügen, die er im Kopf gehabt hatte, als er während des Mittagessens gesprochen hatte, durchziehen zu können. Es wäre schon sehr praktisch gewesen, einen eigenen Gedankenleser auf Abruf parat zu haben.

Aber letztendlich hatte die Alternative, sich zu weigern, gar nicht bestanden. Ethan schuldete Val mittlerweile viel zu viel. Und so bekam jeder, was er wollte.

Das hieß, jeder bis auf Jake und Rosemary.

Der Fahrstuhl erreichte das Erdgeschoss. Die Türen öffneten sich, doch Ethan stieg nicht aus. Stattdessen gab er einen Code ein. Die Türen schlossen sich, und die Kabine fuhr weiter nach unten, vorbei an dem, was alle bis auf eine Handvoll von Leuten für die unterste Etage des Komplexes hielten, vorbei an den Labors und hinein in das geheime Zentrum eines geheimen Ortes.

Die Türen glitten auf.

Ethan trat hinaus in einen kühlen, felsigen Bereich. Es war kostenaufwändig gewesen mit der Höhlenstruktur zu arbeiten, die das Herz des Planeten durchzog. Die meisten der unterirdischen Labors waren »unbearbeitet«, wie Randall es wohl genannt hätte, und es gab mehr kahle Steinwände als von Hand errichtete. Die kühleren Temperaturen kamen der großen Anzahl hoch entwickelter technischer Geräte zupass, die auf Ethans Geheiß hin aufgestellt worden waren. Das Geld war in die Ausstattung und die Arbeiter investiert worden, nicht ins Dekor. Ethan kam nur sporadisch hier herunter. Er mochte den unmittelbaren Luxus lieber, in Form von Speisen und Getränken sowie anderer greif- und sichtbarer Annehmlichkeiten.

Dr. Reginald Morris erwartete ihn. »Guten Tag, Mr. Stewart. Pünktlich wie immer.«

Hochgewachsen, schlank, bebrillt, mit dünner werdendem grauen Haar und einem weißen Kittel, wirkte Morris onkelhaft und harmlos. Ethan sah Ähnlichkeiten zwischen Morris und Jake. Morris’ Leidenschaft galt seiner Arbeit, und es war ihm unverständlich, dass andere sie nicht ebenso faszinierend fanden wie er. Was auf Ethan jedoch nicht zutraf. Das war auch der Grund, warum er Morris’ Tod vorgetäuscht und ihn der Regierung abgeworben hatte, bei der Morris der Spezialist für die Ausbildung von Ghosts gewesen war.

Morris streckte eine Hand aus und winkte Ethan zu dem bekannten Stuhl. Er hantierte an den Gerätschaften und fragte: »Irgendwelche Probleme, Mr. Stewart?«

Mit langen, sanften Fingern berührte Morris Ethans Gesicht, drehte es nach links und rechts und musterte es eingehend.

»Bisher nicht. Ich würde sagen, Ihre Theorie hat den ultimativen Test bestanden.«

Morris rollte auf dem Stuhl herum und begann, Ethans Hinterkopf in Augenschein zu nehmen. Er neigte ihn ein wenig und drückte ihn etwas zur Seite. »So bleiben, bitte«, murmelte Morris, während er sich umdrehte, um das passende Instrument zu suchen. »Ich freue mich sehr auf die Gelegenheit, Professor Ramsey persönlich kennenzulernen und ihn zu untersuchen. Ich wünschte, ich hätte schon vorhin einen Blick auf ihn werfen dürfen.«

»Ihre Chance kommt früh genug. Geduld ist eine Tugend, sagt man.« In Ethans Stimme schwang warmer Humor mit, und Morris fiel in sein glucksendes Lachen mit ein.

»Ich möchte mich für meine Begeisterung dennoch nicht entschuldigen.« Morris wählte einen Scanner aus und bewegte ihn langsam und gründlich über Ethans Kopf. Auf dem Tisch links von Morris erschien eine holografische Darstellung von Ethans Gehirn. Er betrachtete sie aufmerksam, während er den Scanner weiter über Ethans Kopf bewegte.

»Keine Bange, ich verspreche Ihnen, dass Sie ihn unter die Lupe nehmen dürfen, bevor ich ihn Valerians Leuten übergebe.«

»Wie gesagt, ich kann’s einfach nicht erwarten.« Diese Prozedur nahmen sie jedes Mal vor, wenn Ethan den Psi-Schirm aufsetzte – und jedes Mal, wenn er ihn wieder abnahm. Mittels einer sorgfältigen Überwachung der Hirnaktivität ließ sich am zuverlässigsten feststellen, ob das Gerät zu lange benutzt wurde.

»So weit, so gut, Mr. Stewart. Sie beeindrucken mich nach wie vor. Für einen nicht psi-begabten Menschen sind sie geistig geradezu erschreckend diszipliniert.«

Ethan lächelte. »Disziplin bedeutet, sich in Erinnerung zu rufen, was man will«, sagte er. Seit er ein Teenager gewesen war, hatte Ethan immer gewusst, was er wollte und es mit einer Zielstrebigkeit verfolgt, die seine Verbündeten unweigerlich verblüffte und seine Feinde am Boden zerstörte.

Morris schürzte die Lippen und nickte, dann schaltete er den Scanner ab. »Sieht alles sehr zufriedenstellend aus«, befand er. »Wann darf ich denn nun Hand anlegen an das wundersam modifizierte Gehirn des Professors?«

»Heute Abend«, antwortete Ethan. »Valerians Leute müssten in ein paar Stunden eintreffen.«

*

Dank seiner Verbindung mit Zamara war es Jake gelungen, Ethans bislang perfekten Psi-Schirm zu umgehen und in Erfahrung zu bringen, dass er heute Abend dem wandelnden Klischee eines wahnsinnigen Wissenschaftlers übergeben werden sollte.

Fliehen konnte er nicht. Der ganze Ort war eine prächtige Falle, in der feines Essen und Annehmlichkeiten als Köder dienten. Sein einziger Trost war, dass sein Gegner ihn gut gefüttert und ihm gestattet hatte, sich auszuruhen. Aber das war wirklich nur ein schwacher Trost.

Er wandte sich an den einzigen Freund, den er jetzt noch hatte: Zamara.

Was machen wir?

Wir müssen fliehen. Was ich weiß – und was nun auch du weißt –, darf nicht in die Hände von Leuten wie Valerian oder Ethan fallen. Es ist Protoss-Geschichte, Protoss-Wissen. Es gehört nur uns. Und wir werden entscheiden, ob, wann und wie wir es mit anderen teilen.

Jake verdrehte die Augen. Klingt toll. Es gibt nur ein Problem. Wie zum Teufel kommen wir hier raus?

Vertraust du mir, Jacob Jefferson Ramsey?

Jake nickte. Diesen Schritt hatte er bereits vollzogen, indem er sich erlaubte hatte, mit ihr zu verschmelzen. Du weißt doch, dass ich dir vertraue.

Ja, das weiß ich. Aber… ich wollte nur, dass du dir dessen wirklich gewiss bist.

Das bin ich. Also, was machen wir?

Es gibt jemanden, der uns helfen wird. Jemanden, von dem ich wusste, dass er für den letztendlichen Erfolg meiner Bemühungen von Bedeutung sein würde. Wir müssen Rosemary Dahl von dem überzeugen, was wir wissen.

*

Rosemary stand unter der Dusche. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag – weil sie sich gesagt hatte, dass ihr draußen zu heiß geworden war und sie zu sehr geschwitzt hatte und nun einer Erfrischung bedurfte. Das war natürlich erstunken und erlogen, und das wusste sie auch, aber es scherte sie einen Dreck. Sie würde jede Minute von Ethans Gastfreundschaft auskosten.

Sie wickelte sich ein Handtuch um die Haare, griff nach dem flauschigen Bademantel und grinste, als sie sich die gestrige Rangelei im Bett in Erinnerung rief. Gott, wie ihr das gefehlt hatte. Ethan hatte ihr gefehlt, doch erst jetzt, da sie wieder bei ihm war, wurde ihr bewusst, wie sehr. Sie waren zwei vom selben Schlag, waren beide Halunken, und mit ihm hatte sie mehr Spaß, als sie mit irgendjemandem sonst je gehabt hatte. Das Einzige, was das Ganze noch besser machen konnte, wäre eine Situation, in der sie gemeinsam dem Tod ins Auge sahen, wie sie es früher ziemlich regelmäßig getan hatten.

Sie betrat ihr Zimmer und seufzte wehmütig.

»Rosemary?«

Rosemary kreiselte herum und konnte gerade noch verhindern, dass sie sich auf den Eindringling stürzte.

»Verdammt, Jake, was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«

Ebenfalls einen guten Tag, erklang die charakteristische Stimme nun in ihrem Kopf.

Rosemary keuchte. »Raus aus meinem Kopf«, versetzte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie dazu in der Lage sind.«

Sie meine Gedanken lesen zu lassen?

»Ja. Hören Sie auf damit. Oh, und scheren Sie sich verdammt noch mal aus meinem Zimmer, solange ich hier stehe und nichts weiter als einen Bademantel trage.«

Das Bild, das ihr Gehirn auf diese Bemerkung hin aus Jakes Gedanken traf, ließ sie sich wünschen, dass sie sich tatsächlich auf ihn gestürzt hätte – und zwar nicht so, dass es ihm gefallen hätte. Diesem Gedanken folgte unmittelbar ein anderer, der tiefste Beschämung ausdrückte, und Rosemary konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen.

»Sie müssen einen Grund haben, weshalb Sie hier sind. Raus mit der Sprache.«

Er zögerte, dann sprach er laut: »Es wird Ihnen nicht gefallen. Aber Sie werden mir glauben müssen.«

Sie spürte, wie ihr Lächeln verging. »Weiter.«

Gedanken, die keine Worte, sondern etwas Tieferes, Profunderes waren, noch komplexer als Bilder, erfüllten ihren Geist.

Jake Ramsey hatte Recht. Es gefiel ihr nicht.

»Netter Versuch, Jake. Ich verstehe ja, dass es Ihnen womöglich nicht passt, auf der schmutzigen Seite zu stehen, aber es ist Ihre einzige Chance, um am Leben zu bleiben. Sie werden mich jedenfalls nicht dazu bringen, Ethan auf einmal nicht mehr zu vertrauen, indem Sie mir diesen Mist in den Kopf pflanzen.«

Er starrte sie an. »Aber… Sie haben meine Gedanken gelesen. Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß!«

»Jake, was Sie mir da vermitteln, könnte völliger Nonsens sein. Und wahrscheinlich ist es das auch. Ich kenne Ethan seit fast zehn Jahren. Ich weiß, was er tun würde und was nicht, und es gibt keinen Grund, Sie auszuliefern. Man hat uns nicht aufgespürt, und schon bald wird er uns von hier fortbringen und auf eine Reihe von Missionen mitnehmen, die uns kreuz und quer durch den ganzen Sektor führen werden.«

Jake schien baff zu sein. Sie grinste schief. »Was denn? Dachten Sie wirklich, Sie brauchten nichts weiter zu tun, als mir einen getürkten Gedanken zu schicken, um mich dazu zu bringen, dem einzigen Menschen, dem ich vertraue, den Rücken zu kehren? Ein bisschen höher dürfte Ihre Meinung von mir schon sein.«

»Normalerweise würde ich Ihre Loyalität ja bewundern, aber… Rosemary, ich schwöre, das ist die Wahrheit! Wir müssen hier weg!«

»Wenn Sie sich so sicher sind, dann sollten sich doch ein paar Beweise finden lassen.« Sie hob eine ihrer Rabenbrauen. »Na, da hab ich sie aber auf dem falschen Fuß erwischt, was?«

»Was für Beweise?«

»Wenn er mit Valerian gesprochen hat, muss es Aufzeichnungen dieser Unterhaltung geben. Das hier ist Ethans Burg. Er wüsste, dass seine Aufzeichnungen völlig sicher wären, und er würde sie parat haben wollen für den Fall, dass man ihn reinlegen will. Sehen Sie? Hab Ihnen doch gesagt, dass ich weiß, wie der Bursche tickt.«

Jake wirkte völlig erschüttert. »Wie sollen wir diese Aufzeichnungen finden?«

»Hey, unschuldig, bis die Schuld erwiesen ist, Beweislast und so weiter… Das ist Ihr Job, nicht meiner.«

»Rosemary, Sie wissen doch, dass ich nicht über die Fähigkeiten verfüge, mich in ein holografisches Kommunikationssystem zu hacken, geschweige denn in ein kompliziertes Sicherheitssystem, wie Ethan eines hat! Kommen Sie, wenn es keine Beweise gibt, dann haben Sie Recht. Sie übergeben mich an Efhan, und er darf mir in den Hintern treten, bis ihm wohler ist. Aber wenn es Beweise gibt, dann müssen wir sie jetzt finden. Sie werden in ein paar Stunden hier sein. Bitte!«

Jake Ramsey war kein Täuscher. Vielleicht hatte ihm das Ding, das in ihm steckte, beigebracht, wie man sich verstellte.

Aber er machte den Eindruck, als sei seine Besorgnis im Augenblick völlig echt.

Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn nachdenklich.

Wenn man sie erwischte, würde Efhan sehr wütend auf sie sein. Aber Jake hatte Recht. Es würde ihr ein Leichtes sein, Ethans Wut auf Jake zu lenken und nicht auf sie. Außerdem hatte Rosemary nichts gegen eine ordentliche Herausforderung. Und wenn Jake, was Gott verhüten mochte, Recht behalten sollte…

»In Ordnung. Ich helfe Ihnen dabei. Die Übung kann mir nicht schaden. Und wenn Sie nichts finden, was Ethan belastet, werde ich mich über sie kaputtlachen.«

Er nickte. »Wenn ich nichts finde, haben Sie jedes Recht dazu.«

Wieder schien seine Sicherheit absolut zu sein. Ein Schaudern überkam sie. Aus einem Grund verärgert, den sie nicht einmal benennen konnte, beschloss sie, ihn zu schockieren, und ließ den Bademantel fallen. Sie hörte, wie er einen leisen verlegenen Laut von sich gab, als er sich abwandte. Sie griff nach einem frischen Kleid, dann hielt sie inne. Das Bedürfnis, stets auf das Schlimmste gefasst zu sein, war tief in ihr verwurzelt.

Sie holte ihre alte Uniform hervor und stellte fest, dass sie gereinigt worden war. Der Ledergeruch stieg ihr tief in die Nase und erinnerte sie an die unzähligen Male, da sie dieses Outfit angelegt hatte und es am Ende besudelt gewesen war, für gewöhnlich mit dem Blut eines anderen. Sie zog ihre Stiefel an, drehte sich um und tippte ihm auf die Schulter.

»Gehen wir«, sagte sie kühl. »Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wie Sie sich mit Ei im Gesicht machen.«

»Rosemary«, sagte er ebenso ruhig wie ernst, »ich wünsche mir bei Gott, dass ich mich irre.«

KAPITEL 23

Jake hatte geglaubt, es müsse unangenehm sein, sich auf so tiefer geistiger Ebene den Platz mit einem fremden Bewusstsein zu teilen. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Während Jake mit derlei Zuständen gänzlich unvertraut war, war Zamara daran gewöhnt und übernahm behutsam die Führung. Anstatt seine Identität zu verlieren, fühlte Jake sich… gestärkt. Es war, als würde er sich mit Zamara in einem Tanz bewegen, den sie aus dem Effeff kannte und als geleitete sie Jake traumwandlerisch sicher von Schritt zu Schritt. Sie wusste genau, wann es an ihr war, nach hinten zu treten und ließ Jake nach vorne kommen – oder wann sie vorwärts streben musste, um ihr Wissen aus Jahrhunderten zu nutzen.

Das tat sie nun, und Jake, der sich verstrickt hatte in den Intrigen von Politik und Machtspielen, die alle mit dem Tod von jemandem endeten, ließ ihr nur zu gerne den Vortritt.

Jake schloss die Augen und sperrte die Ablenkungen der visuellen Wahrnehmung aus, um sich auf die mentalen Stimmen und Empfindungen zu konzentrieren. Allein auf sich gestellt wäre er verloren gewesen in der überwältigenden Kaskade aus Bildern und Gefühlen, aber Zamara navigierte sie beide so reibungslos hindurch wie ein erfahrener Flößer die Strömungen eines Flusses zu beherrschen wusste. Schon bald kapselte er sich ein wenig gegen diese Flut von Eindrücken ab und begann gezielt zu sondieren.

»Prof? Hier ist alles bereit…«

Die Augen immer noch geschlossen, hob Jake einen Finger und bat so um Ruhe. Da. Das war sie. Die Frau, die zuständig war für die Sicherheit der ganzen Anlage. Zamara und Jake durchkämmten eilends ihre Gedankenwelt. Jake hätte fast aufgelacht, als er merkte, dass Zamara ein eidetisches Gedächtnis hatte.

»Ich habe jetzt eine Karte«, sagte er zu R. M, und er stellte fest, dass seine Stimme ein klein wenig anders klang – selbstsicherer, weniger ängstlich. »Alison Lassiter ist die Sicherheits-Chefin. Ich weiß jetzt genau, wo der Kommunikationsraum liegt. Da sind ein paar Codes… Moment…«

Er hörte sie anerkennend pfeifen. »Wissen Sie, wenn Sie mich hier nicht anschmieren, sollten wir beide uns geschäftlich zusammentun, wenn wir hier raus sind, Jake.«

Jake beachtete sie nicht, während Zamara sich rasch sämtliche Codes einprägte. »Okay, ich hab sie. Ich glaube, Zamara kann sämtliche Sicherheitsdienstler, auf die wir treffen könnten, in die Irre führen.«

»Dann lassen Sie uns ans Werk gehen. Ethan zelebriert nachmittags gerne eine Teestunde, und ich bekomme langsam Hunger.«

Er stand auf. »Eines noch. Zamara versteht sich auf das alles viel besser als ich. Ich werde ihr für eine Weile die Führung überlassen.«

»Was heißt das? Leiden Sie jetzt unter einer Persönlichkeitsspaltung, Prof?«

Jake zögerte. »Nein, so dramatisch ist es nicht. Nur… wenn ich das versuchte, würde es viel länger dauern. Aber Sie werden keinen Unterschied bemerken. Wir sind jetzt sozusagen… miteinander verwachsen.«

»Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wenn es also unbedingt sein muss, lassen Sie den grauhäutigen Alien ans Steuer.«

»Ihre Haut ist purpurfarben«, stellte Jake geistesabwesend richtig und ging beiseite. Zamara trat in seinem Bewusstsein nach vorne, und Jake fühlte sich auf einmal anders in seiner Haut. Er entsann sich der Träume, in denen er sich in der Haut eines Protoss wohlgefühlt hatte und sich nach dem Aufwachen in einem menschlichen Körper orientierungslos vorgekommen war. Zamaras Reaktion war fast identisch, und beide sahen sie mit an und fühlten, wie Zamara sich schneller daran gewöhnte, als es bei Jake der Fall gewesen war.

»Gehen wir«, sagte Zamara/Jake.

Rosemary lupfte eine Augenbraue.

Sie gingen.

*

Es war leichter, als sie gedacht hatten. Jake erlaubte sich außerdem die Hoffnung, dass auch der Diebstahl eines Schiffes ein Kinderspiel sein würde. Aber Zamara hatte ihre Zweifel.

Die erste Hürde war einfach eine Frage der Beschaffung von Codes und der Korrektur von Gedanken, sagte sie Jake. Die Schiffe werden viel sorgsamer bewacht. Wir werden andere Dinge als simple Codes brauchen, um ein Schiff zu befehligen.

Oh, dachte Jake ernüchtert.

Rosemary verstand sich auf derlei Dinge, und Augenblicke später entspannte Zamara sich und überließ ihr die Führung. R. M. kannte ein paar der Leute, denen sie begegneten, und schaffte es rasch, sie zu beruhigen. Ein paar fragten nach Sicherheitspässen, und dann richtete Rosemary ihr Lächeln jeweils auf Zamara. Die Protoss suggerierte dem betreffenden Sicherheitsdienstler dann den Gedanken, dass er die erforderlichen Genehmigungen schon gesehen hatte, und sie beide wurden durchgewunken.

Erst an der Tür zum Kommunikationsraum trafen sie auf Schwierigkeiten. Zamara streckte einen dieser stummeligen menschlichen Finger und gab rasch den Code ein. Die Tür öffnete sich wie eine Irisblende. Vor ihnen standen drei Wachen, die mit ihren Waffen auf sie zielten.

Rosemary spielte ihre Rolle weiter. Sie starrte dem Trio finster entgegen und stieß einen der Gewehrläufe beiseite. »Richten Sie dieses Ding nicht auf mich!«, versetzte sie.

Der Sicherheitsdienstler blieb ungerührt. »Es wurden Verletzungen von mehreren Sicherheitsbereichen gemeldet. Stellen Sie sich bitte dort drüben hin, die Hände über den Kopf. Alle beide.«

Rosemarys blaue Augen suchten den Blick von Zamara/Jake. Es fand ein kurzes, stummes Zwiegespräch statt, und in einem Gleichklang, wie in jahrelangem Training entstanden, sprangen sie vor. Geschmeidig wie eine Katze tauchte Rosemary unter der Waffe hindurch, die auf ihren Kopf wies, packte sie und rammte dem Wachmann den Griff der eigenen Waffe unters Kinn. Völlig überrascht von einem solchen Angriff, wankte der Mann nach hinten. Rosemary warf sich auf ihn, schlang schnell einen Arm um seine Kehle und begann ihn zu würgen. Der Mann ließ die Waffe fallen. Seine Hände gruben sich in Rosemarys Arme, jedoch vergebens. Er verlor das Bewusstsein und fiel schwer zu Boden. Sie drehte sich um und wollte Jake zur Hand gehen.

Doch das war nicht nötig. Zamara handelte mit einem Wissen zu kämpfen, das Jake nicht besaß. Mit größter Mühe hinderte sie sich daran, die beiden Wachen umzubringen. Bis Rosemary überzeugt war, würde es sie nur wütend machen, wenn Zamara Ethans Leute tötete.

»Verdammt«, sagte Jake, den Blick auf die beiden am Boden liegenden Männer gerichtet. Zamara hatte ihm für den Moment die Kontrolle zurückgegeben.

»Jake, wo haben Sie denn das gelernt?« Rosemary half ihm, die Wachen zu fesseln, indem sie ihnen deren eigene Gürtel um die Handgelenke schlangen.

»Das war Zamara«, erwiderte Jake. Seine Hände zitterten.

»Wenn Ethan das sieht, wird er Sie heiraten wollen«, sagte Rosemary.

Jake antwortete nicht darauf, stand nur auf und gab den Code an, der die Türen verschloss. Dann sah er zu Rosemary hin. »Sie sind dran«, sagte er. »Wann sind wir hier angekommen? Vor anderthalb Tagen?«

Sie hatte auf einem der Stühle Platz genommen, und ihre Finger flogen über die Konsole, während sie nickte. »Ungefähr. Wie lautet der Code?«

Er gab ihn ihr und sie tippte ihn ein. Jake merkte plötzlich, dass ihn einer der Männer ordentlich erwischt hatte, bevor er zu Boden gegangen war. Er schmeckte Blut im Mund. Mist.

»Okay, ich habe Zugriff auf die Datenbank. Sie ist ebenfalls codegeschützt.«

Jake nannte einen weiteren Code, und sie gab ihn konzentrierten Blickes ein. Er beobachtete sie aufmerksam und sah, wie sie sich unvermittelt verspannte.

»Oh… oh nein, nein«, murmelte sie.

»Was ist?«

Sie drückte einen Knopf, und der Raum über der schwarzen Oberfläche rechts von ihr begann zu schimmern, nahm Farbe und Formen an.

»Valerian«, brummte Jake. Er hatte gewusst, dass er Recht hatte, aber trotzdem…

Rosemary räusperte sich. »Fünf Gespräche von Ethan mit Valerian. Das erste am Tag unserer Flucht von der Gray Tiger.«

Ethans Stimme war aufgezeichnet, sein Bild jedoch nicht. Kühl und glatt, für Rosemary schon lange und für Jake nun ebenfalls vertraut, fragte Ethans Stimme: »Aber hallo, möchten Sie ein Update Ihre Investition betreffend?«

Die kleine Darstellung Valerians lächelte. »Zum Teil. Sagen wir, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, den Sie mir noch schuldig sind. Ich habe einen Auftrag zu vergeben, und ich möchte, dass Sie ihn übernehmen.«

»Und der wäre?«

»Zwei Leute sind aus der Gefangenschaft an Bord eines meiner Schiffe geflohen. Einer von ihnen ist ein Wissenschaftler, der über Informationen verfügt, die ich brauche. Die andere Person hilft ihm. Es handelt sich um jemanden, den Sie kennen – Rosemary Dahl. Angesichts Ihrer früheren Verbindung halte ich es für wahrscheinlich, dass Sie sich bei Ihnen melden und Sie um Hilfe bitten wird. Wenn Sie das tut, möchte ich, dass Sie sich umgehend bei mir melden und die beiden festsetzen.«

»Was den Wissenschaftler angeht, ist das natürlich kein Problem – aber wozu brauchen Sie R. M.? Arbeitet sie nicht ohnehin schon für Sie?«

»Das tut sie. Und keine Sorge, ich weiß, dass Sie sie mögen. Ich mag Sie ja auch. Wir müssen nur herausfinden, was sie weiß, und sie resozialisieren. Danach schicken wir sie zurück zu Ihnen.«

»Das… das gefällt mir nicht. Sind Sie sicher, dass Sie Rosemary brauchen?«

Valerians kleines, aristokratisches Gesicht nahm einen strengen Ausdruck an. »Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht so wäre, Ethan. Und es ist nicht sehr klug von Ihnen, meine diesbezüglichen Absichten zu behindern.«

»Ich möchte nur nicht, dass ihr etwas zustößt, das ist alles. Diesen Wissenschaftler können Sie natürlich haben, der kümmert mich einen Dreck – aber Rosemary gehört mir. Ich will sie zurückhaben, wenn Sie mit ihr fertig sind.«

Valerian lächelte schmallippig. »Natürlich.«

Die Hologramm-Aufzeichnung war noch nicht zu Ende, doch Rosemary drückte mit steifem Finger den Knopf. Jake sah sie mitfühlend an. Ihr Gesicht war gerötet, aber sie mied seinen Blick.

»Wir sollten uns noch den Rest anhören«, meinte Jake leise. »Wir müssen alles wissen.«

»Ja«, sagte Rosemary. Die Festigkeit ihrer Stimme überraschte Jake. Sie wählte die nächsten Nachrichten aus, die allesamt kurz waren und in denen es brutal schnell zur Sache ging.

»Das Schiff ist unterwegs«, sagte der Mini-Valerian im letzten Gespräch. »Es sollte in etwa zwölf Stunden ankommen. Seien Sie versichert, dass Sie das Weiseste tun, was Sie tun können. Es mag zwar praktisch sein, Ramsey zur Hand zu haben, und Dahl mag… amüsant sein, aber die Sicherheit Ihres kleinen Reiches sollte Ihnen doch das Wichtigste sein. Und ich verspreche Ihnen, wenn Sie kooperieren, dann werden Sie in Sicherheit sein. Ich habe im Laufe der Jahre viel Geld auf Sie verwendet, Ethan. Und ich hasse schon die bloße Vorstellung, es vielleicht unklug investiert zu haben.«

*

Rosemary starrte auf das holografische Bild und hatte das Gefühl, man hätte ihr in den Magen geboxt. Sie hieb mit der Hand auf die Konsole, und das Bild verschwand.

»Rosemary?« Sie spürte, wie Jakes Geist – oder war es Zamaras? – behutsam den ihren sondierte und ihr Trost spenden wollte.

Sie war überzeugt, gleich zu explodieren. Doch stattdessen sagte sie: »Scheren Sie sich für einen Augenblick aus meinem Kopf, ja?«

Sie spürte, wie er… wie sie sich respektvoll zurückzogen, und hörte Jake husten und sich bewegen. Mit abgewandtem Gesicht und für den Moment wenigstens allein mit ihren Gedanken, legte Rosemary Dahl ihre ruhiger werdende Hand auf die Konsole, schloss die Augen und ließ sich vom Schmerz überrollen.

Ethan.

Wie konnte er ihr das antun? Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten. Nachdem er sie in Paradise in Schmutz und Elend gefunden hatte, nachdem er sie da herausgeholt und ihr durch den Drogenentzug geholfen hatte… nachdem er ihr erster Liebhaber gewesen war, dem auch ihr Vergnügen wichtig gewesen war. Nachdem er ihr mehr als nur einmal das Leben gerettet und ihr versichert hatte, sie sei der beste Trouble, an den er je geraten war…

Sie hätte es schon in dem Augenblick wissen müssen, als sie diesen obszön aufwendigen Komplex gesehen hatte. »Geschickte Investitionen«, von wegen!, dachte sie. Valerian hatte ihm all das zur Verfügung gestellt.

Nach all dem Gerede, dass er nie für das Dominion arbeiten würde, hatte Ethan sich kaufen lassen. Valerian hatte ihn seit Jahren in der Tasche, wenn den Worten des Thronerben zu glauben war. Sie hingegen hatte wenigstens nicht gelogen, was die Drecksarbeit anging, für die er sie angeheuert hatte.

Sie hörte, wie ihr ein leises, schmerzerfülltes Keuchen entfuhr, und biss sich fest auf die Unterlippe. Sie wollte nicht, dass Jake wusste, wie sehr dieser Verrat sie verletzt hatte. Aber irgendwann würde Jake natürlich, wenn sie lebend hier herauskamen, wieder ihre Gedanken lesen und wissen, was sie empfand. Würde, wenn sie sich nicht irrte, selbst fühlen, wie sehr dieser Verrat sie erschüttert hatte.

Sie entschied, dass sie damit leben konnte, wenn er das wusste. Sobald sie auf einem Schiff waren, das sie von hier wegbrachte.

»In Ordnung«, sagte Rosemary, nun wieder mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Klingt so, als hätten wir ungefähr eine Stunde Zeit, vielleicht etwas weniger. Wir wollen nicht gesehen werden, also schalten wir diese Kameras und Sensoren ab.«

Sie rief eine Displaydarstellung des ganzen Komplexes auf. Jake beugte sich vor und betrachtete die Karte.

»Wir sind hier«, sagte er und zeigte auf eine Stelle.

»Die Schiffe liegen dort.«

Rosemary kniff die blauen Augen zusammen. »Der kürzeste Weg ist nicht immer der beste«, sagte sie. Ihre Finger huschten über die Konsole. »Da. Diese Gänge sind zum Frachttransport gedacht – da herrscht weniger Betrieb.« Sie begann die Kameras der Reihe nach auszuschalten.

»Warum schalten Sie sie nicht alle gleichzeitig aus?«, fragte Jake. Rosemary konnte sein Mitleid regelrecht spüren, und es machte sie wütend. Sie wollte es nicht und sie brauchte es nicht.

»Weil das sofort jemanden alarmieren würde. Es wäre doch Unsinn, diejenigen aufzuschrecken, die nicht alarmiert werden müssen. Sollen sie arglos ihre Sandwiches essen… So, das hätten wir. Was brauchen wir, um dieses Schiff starten zu können?«

Jake seufzte. »Netzhaut-Scans sowie Stimm- und genetische Erkennungsmuster.«

Der Blick ihrer blauen Augen traf den seinen, und sie sah ihn buchstäblich zurückschrecken vor der Kälte, die er darin finden musste.

»Wessen?«

Er schluckte hart. »Zehn Leute haben die Berechtigung. Aber ein paar von ihnen sind nicht vor Ort, und, äh…«

»Ethan ist einer von diesen zehn Leuten, stimmt’s?«

Jake nickte.

Rosemary formte die Lippen zu einem Lächeln, dem keine Wärme innewohnte. »Kinderspiel«, sagte sie.

Sie stand auf und ging zu den immer noch bewusstlosen Wachen. Sie nahm ein Gewehr auf, überprüfte es, dann warf sie es Jake zu. Es überraschte sie nicht, als er es problemlos auffing. Sie durchsuchte auch die beiden anderen Männer und fand bei einem von ihnen eine kleine Pistole. Sie nahm die Pistole und ein Gewehr, überprüfte beide Waffen, steckte die Pistole ein und ließ das Gewehr bequem und in vertrauter Haltung in ihren Armen ruhen.

»Dann suchen wir ihn.«

*

Rosemary tauchte aus dem Nichts auf, und Ethan wich zurück.

»Hey«, sagte sie, zu ihm hoch grinsend.

»Selber hey, Trouble«, erwiderte er. Er nickte seinem Begleiter zu, einem von vielen, die jeden Tag kamen, um ihm aktuelle Berichte zu bringen, und der schlanke, unscheinbare junge Mann nickte zurück und verschwand. Ethan ging auf Rosemary zu, nahm sie in die Arme und neigte den Kopf, um sie leidenschaftlich und besitzergreifend zu küssen. Sie erwiderte die Geste und schlang die Arme um seinen Hals.

»Mhm… sieht so aus, als hätte mich jemand vermisst«, murmelte er, die Lippen auf der weichen Haut ihres Halses.

»Tja«, erwiderte sie mit spöttischer Traurigkeit. »Dir kann ich offenbar nichts vormachen.«

Er hob den Kopf und strich mit einer Hand durch ihr kurzes, seidig schwarzes Haar. »Komm. Lass uns in mein Zimmer gehen.«

Rosemary grinste ihn an. »Ich hab eine bessere Idee. Ich muss dir etwas gestehen: Ich war ein böses Mädchen.«

»Ach? Muss ich dir jetzt den Hintern versohlen?«

»Hm… das musst du selbst beurteilen. Ich habe mich in dein System gehackt.«

Er spannte sich leicht an. »Was? Warum?« Verdammt, hatte sie Wind von dem bekommen, was er vorhatte?

»Ich wollte mich nur vergewissern, dass ich es noch kann. Und da fand ich ein nettes Fleckchen, das ich… mit dir teilen wollte. Darum habe ich die Kameras und die Sensoren abgeschaltet.«

Sie fuhr, während sie sprach, mit einem Finger über seine Lippen, und er biss spielerisch danach. »Ungezogenes kleines Mädchen«, sagte er, grinste aber dabei.

Rosemary zupfte an seinem Hemd und knurrte leise. »Komm mit.«

Er folgte ihr, immer noch lächelnd.

Das Lächeln verging ihm, als er um eine Ecke bog und etwas Kaltes, Hartes und definitiv nicht Aufreizendes spürte, das sich gegen seine Rippen bohrte.

»Nach neun Jahren wirst du jetzt herausfinden, wie perfekt der Spitzname ,Trouble’ zu mir passt.«

Ethan zwang sich, ruhig zu bleiben. »Was glaubst du zu wissen?«, fragte er. Zur Antwort drückte sie ihm die kleine Waffe, die sie irgendwie in die Finger bekommen hatte, noch tiefer zwischen die Rippen. Er war stehen geblieben, doch jetzt ging er weiter. Seine Gedanken rasten.

»Das reicht«, sagte sie knapp. Trotz der misslichen Situation bewunderte er ihre Professionalität. Sie würde ihrer Wut nicht einfach freien Lauf lassen und ihren Plan, wie er auch aussehen mochte, damit aufs Spiel setzen.

»Na, komm schon, Trouble, wenn du mir nicht sagst, was du weißt – «

»Du kannst dich aus dieser Sache nicht rausbluffen. Ein Wort noch und ich verpass dir ein Loch.«

»Wenn das wahr wäre, hättest du es schon – «

Der Schmerz, als sie ihm den Arm durchschoss, war entsetzlich, und er kam völlig unerwartet. Blut floss ihm am Arm hinunter, und er wäre fast gestürzt.

»Rosemary! Was tust du da?«

Die Stimme war schrill vor Schrecken, und Ethan erkannte sie als Jakes. Ethan blinzelte und versuchte seinen Blick zu fokussieren.

»Ich stopf ihm das Maul«, brummte R. M. Sie versetzte Ethan einen derben Stoß, und er taumelte vorwärts. »Keine Sorge, der verliert schon nicht das Bewusstsein. Ich weiß, was ich tu.«

Und das wusste sie wirklich. Die Wunde tat höllisch weh, aber der Schuss hatte nichts gebrochen oder durchtrennt. Andererseits war sie aber auch leichtsinnig, denn das Blut, das ihm vom Arm tropfte, würde eine Spur hinterlassen, die -.

»Richten Sie Ihre Waffe auf ihn, Jake, während ich das abbinde.«

Verdammt.

Jake wirkte verunsichert, gehorchte aber. Rosemary trat vor Ethan und zerriss in aller Ruhe sein Hemd. Früher wäre das der Auftakt zu leidenschaftlichen Spielen gewesen. Jetzt war sie nur darauf aus, seine Wunde abzubinden – nicht, um ihm zu helfen, nicht, um seine Schmerzen zu lindern, sondern allein, um zu verhindern, dass das Blut zu Boden tropfte.

Er wog seine Chancen ab, während sie den Stoffstreifen fachmännisch um seinen verletzten Arm wickelte. Sie standen nicht gut.

»Hör zu, Trouble«, sagte Ethan.

Ohne mit der Wimper zu zucken drückte sie ihren Daumen auf die Wunde, und er sah für einen Moment Sterne. Er biss die Zähne zusammen und fuhr fort: »Glaubst, das, was ich zu Val sagte, war mein Ernst? Dass ich dich zusammen mit Jake an ihn ausliefern würde?«

Blaue Augen, kalt wie Eiswürfel, sahen kurz zu ihm hoch, dann richtete sich ihr Bück wieder auf das, was die Hände taten. »Absolut.«

»Komm schon, Liebes, du kennst mich doch gut genug, um es besser zu wissen. Warum sollte ich das tun?«

»Ich habe nicht die Zeit, um die Gründe alle aufzulisten. Aber es gibt nur einen Grund, warum du es nicht tun würdest – jedenfalls, wenn ich dir auch nur einen feuchten Dreck wert wäre. Was nicht der Fall ist, wie ich weiß.«

Es gab einen kurzen Augenblick, in dem er sie an sich hätte reißen können, und zwar als sie zurücktrat und wieder nach ihrer Waffe griff. Die Wahrscheinlichkeit, dass Jake auf Ethan schießen würde, wenn er sich auf Rosemary warf, war gering. Doch die Mündung des Gaußgewehrs befand sich ungefähr einen Fuß von Ethans Brust entfernt, und mochte die Wahrscheinlichkeit von Jakes Einschreiten auch gering sein, so bestand sie eben doch immer noch.

Rosemary hatte ihm geantwortet, obwohl sie es besser wissen musste. Das hieß, sein Verrat ließ sie nicht so ungerührt, wie sie ihn glauben machen wollte. Und das wiederum bedeutete, dass eine Chance bestand.

»Wir lassen Jake hier, und wir beide setzen uns ab«, sagte Ethan. »Jake ist derjenige mit dem Alien in Kopf, nicht du. Sie werden uns ein bisschen nachjagen und dann aufgeben. Glaub mir.«

Für den Bruchteil der Dauer eines Herzschlags sah er Zweifel in den porzellanblauen Augen. Dann sagte Jake: »Er lügt, Rosemary. Er weiß, dass Valerian ihn jagen wird, bis er tot ist, wenn er seinen Teil der Abmachung nicht einhält.«

Ethans Kopf ruckte herum, und er starrte Jake an. Du kannst selbst meine Gedanken lesen, du Hundesohn? Trotz des Psi-Schilds, ja? Dann lies das!

Jake fuhr zusammen.

»Das weiß ich, Jake. Geh weiter, Ethan.« Rosemary hatte sich ein Gewehr von dort geholt, wo sie und Jake sie verwahrt hatten, und machte eine auffordernde Geste damit. »Tu, was wir von dir verlangen, und es besteht eine gute Chance, dass du deine… Ausstattung behalten darfst.«

Ethan konnte nicht Gedanken lesen, aber das brauchte er auch nicht, um zu wissen, dass Rosemary nicht bluffte.

Er senkte den Kopf und setzte sich in die Richtung in Bewegung, die sie ihm wies. Er wusste, wohin sie gingen. Seine Schiffe waren die einzige Möglichkeit, den Planeten zu verlassen. Rosemary war ein Hansdampf in allen Gassen, und sie verstand sich auf das Pilotieren eines Schiffes ebenso gut wie darauf, sich in ein System zu hacken oder zu töten. Oder… andere Dinge zu tun.

Nicht einmal die Tatsache, dass ihre Crew einzig aus einem Klotz am Bein wie Jake bestand, würde sie aufhalten, und wer weiß, vielleicht wusste der Protoss in Jakes Schädel sogar noch mehr über derlei Dinge als R. M.

Aus Ethans rechter Tasche drang ein leises Knistern. Jake blickte verdutzt drein, aber Rosemary wusste, was es damit auf sich hatte. Sie blieben stehen.

»Boss?«

Rosemarys Augen verengten sich. »Antworte. Und keine Dummheiten, Ethan.«

Seine Hand kroch nach oben und drückte einen Knopf. »Ja, Steve, was gibt es?«

Rosemary quittierte seinen gelassenen Tonfall mit einem Nicken. Er spürte Jakes durchdringenden Blick auf sich und wusste, dass Jake sofort Bescheid wissen würde, wenn er versuchte, Steve zu warnen. Verdammt. Er hätte den Bastard einfach in Eisen legen sollen – beziehungsweise in das, was sie heute anstelle dessen verwendeten –, als er hier eintraf.

»Ein Teil des Kommunikationssystems ist ausgefallen. Die Kameras in den Bereichen 9,47 und 43 liefern keine Bilder.«

Rosemarys Lippen formten den stummen Satz: »Schick sie nicht in den Kommunikationsraum.« Er nickte leicht.

»Verstanden, Steve. Das war meine Herzallerliebste.« Er grinste ein wenig ob ihrer ärgerlichen Miene, als er dieses Wort benutzte. »Sie wollte für ein Weilchen mit mir allein sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Ein blechern klingendes Lachen war zu hören. »Alles klar. Sie sind ein Glückspilz, Boss. Sie ist ja auch ein heißes kleines Ding.«

Ethan grinste. »Das ist sie.« Rosemary stieß ihn mit dem Gewehrlauf an, und seine Bauchmuskeln spannten sich an. »Sonst noch etwas?«

»Negativ, Sir. Viel Spaß.«

»Den werde ich haben, Steve, ganz bestimmt.« Er schaltete das Gerät aus und sah sie mit gehobenen Augenbrauen an.

»Gut gemacht«, lobte Rosemary. »Jetzt brauchen wir nur noch eines deiner schnittigen Schiffchen, und dann sind wir auch schon unterwegs.«

Randall klopfte an die Tür von Professor Ramseys Zimmer. »Sir?«

Stille. Randall seufzte. Der Professor hatte deutlich gemacht, dass es ihm nicht gefiel, wenn Randall unangekündigt eintrat.

Aber Randall hatte sich ja angekündigt. Wenn der Professor schlief, wäre die Tür abgeschlossen. Randall hatte natürlich den Code – er hatte die Codes zu allen Räumen. Aber er würde die Entscheidung des Gastes seines Herrn respektieren. Er probierte die Tür. Sie ließ sich problemlos öffnen.

Randall trat ein und wollte die Kleidungsstücke, die er brachte, einfach hinhängen… doch dann hielt er inne. Der Professor war für gewöhnlich ein sehr ordentlicher Mensch, wie er festgestellt hatte. Die meisten Gäste nutzten es aus, von vorne und hinten bedient zu werden. Aber der Professor war anders – er räumte stets seine Kleidung weg und machte sein Bett selbst. Heute war das Bettzeug jedoch zerwühlt, und Randall sah, dass Kissen auf dem Boden lagen.

Er furchte die Stirn. Er hatte es im Leben nicht so weit gebracht, ohne auf seinen Instinkt zu vertrauen. Und im Augenblick argwöhnte er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Er sprach in sein Funkgerät. »Elyssa? Ist Miss Dahl in Ihrem Zimmer?«

»Einen Moment, Sir«, sagte Randalls weibliches Pendant. Randall schürzte die Lippen und ließ den Blick über die Unordnung schweifen. »Negativ, Sir.«

»Danke.«

Randall machte kehrt und ging das kurze Stück zu Rosemary Dahls Zimmer. Elyssa war gerade dabei, ein langes Ballkleid aufzuhängen, und machte einen Knicks, als sie ihn sah. Randall runzelte die Stirn. Elyssa war manchmal zu effizient, sie hatte schon mit dem Aufräumen begonnen. Er hätte das Zimmer lieber so gesehen, wie es vorher gewesen war.

»Stimmt etwas nicht, Sir?«, fragte die hochgewachsene, elegante blonde Elyssa.

»Nein, nein. Sie können gehen, Elyssa. Ich kümmere mich um das Zimmer.«

Elyssa zuckte mit keiner Wimper, nickte lediglich, ging und schloss leise die Tür hinter sich. Randall durchsuchte den Raum penibelst, und seine Besorgnis wuchs mit jeder Minute. Er stellte fest, dass die rehbraune lederne Hose und die dazu passende Weste, die Rosemary bei ihrer Ankunft getragen hatte, fehlten. Warum hatte sie sich entschieden, diese Hose nebst der Weste anzuziehen?

Er aktivierte sein Funkgerät ein weiteres Mal. »Mr. O’Toole«, sagte er förmlich, »können Sie mir verraten, ob irgendwo im Komplex irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen ausgeschaltet worden sind?«

»Verdammt, Sie sind aber auch ein scharfer Hund, Randall«, erwiderte Steve O’Toole. »Ja, ist tatsächlich der Fall. Die kleine heiße Braut vom Boss wollte etwas Privatsphäre in den Sektionen 9,47 und 43.«

Randall schloss kurz die Augen. Idioten. Er war von Idioten umgeben. Er rang sich ein trockenes Lachen ab. »Ich… verstehe. Dann nehme ich an, dass sie und Mr. Stewart sich im Augenblick genau dort aufhalten?«

»Stimmt.«

»Wo ist Professor Ramsey?«

Eine Pause. »Hey, der ist bei ihnen. Der Boss ist sicher stinksauer, dass er auf den getroffen ist.« Steve lachte.

»Ja, gewiss«, pflichtete Randall bei. »Danke, Mr. O’Toole.«

Er sagte nichts von der Gefahr, in der er seinen Arbeitgeber wähnte. Während der Professor, abgesehen von seinen telepathischen Fähigkeiten, gegen die der gute Dr. Morris eine Methode der Blockierung entwickelt hatte, keine gefährlichen Waffen irgendwelcher Art besaß, war Rosemary Dahl durchaus tödlich zu nennen.

Er hatte sich über sie informiert, für den Fall, dass eine Situation wie diese eintreten sollte. Mr. Stewart verfügte natürlich über ein hervorragendes Sicherheits-Team, aber Randall bezweifelte, dass es Miss Dahl in der gegenwärtigen Lage Paroli bieten konnte.

Er legte seine Jacke ab, nahm seine Manschettenknöpfe heraus und krempelte dann die Ärmel hoch, um sich auf eine Demonstration des primären Grundes vorzubereiten, aus dem er in Mr. Stewarts Diensten stand.

KAPITEL 24

Jake glaubte allmählich, dass sie es wirklich schaffen konnten. Das hing natürlich ganz von Rosemary ab. Und von Zamara, die still in seinem Bewusstsein steckte und alles beobachtete. Aber mit jedem Schritt, den sie taten und der nicht zwanzig Wachen veranlasste, das Feuer auf sie zu eröffnen, fasste er mehr Mut.

Sie erreichten eine Tür am Ende des Korridors, und Rosemary stieß Ethan an. Er grinste mit einer Spur von Überlegenheit auf sie hinab. »Hör auf mit den leeren Drohungen. Du brauchst mich lebend, R. M.«

»Stimmt«, sagte sie und gab Jake mit einem Kopfnicken zu verstehen, das Gewehr verschwinden zu lassen. Als er das getan hatte, folgte sie seinem Beispiel, vergewisserte sich jedoch, dass Jake weiterhin die Pistole auf Ethan gerichtet hielt. »Aber ich könnte dir für den genetischen Identitäts-Scan auch die Hand abschneiden. Das würde ein Lächeln auf meine Lippen zaubern.«

Ethan verging das Lächeln etwas, während er die Hand auf das rechteckige schwarze Feld rechts neben der schweren Metalltür legte. Sensoren erwachten zum Leben, und das Rechteck begann zu leuchten. Ein rotes Licht bewegte sich langsam von oben nach unten und scannte Ethans rechte Hand. Dann erschien direkt über dem Handabdruck eine Nachricht auf dem Schirm: Erste Identifizierung bestätigt. Genetische Übereinstimmung mit Ethan Paul Stewart. Fahre fort mit sekundärer Bestätigung: Stimmerkennung.

»Ethan Paul Stewart«, sagte Ethan in das Mikrofon, das in die Wand eingelassen war.

Eine weitere Nachricht blinkte auf: Sekundäre Identifizierung bestätigt. Stimmliche Übereinstimmung mit Ethan Paul Stewart. Fahre fort mit tertiärer Bestätigung: Netzhaut-Scan.

Ethan trat links neben die Tür. Eine kleine Kamera erschien, und er platzierte das rechte Auge darüber. Ein blassblaues Licht glomm auf.

Tertiäre Identifizierung bestätigt. Netzhautübereinstimmung mit Ethan Paul Stewart. Zutritt zum Hangar gewährt.

Das riesige Schott schwang nach innen. Jake war einen Moment lang ganz erstaunt, als er feststellte, dass er unmittelbar in eine Höhle blickte. Eine Höhle, die – wie vor langer Zeit jener unterirdische Komplex, auf den Temlaa und Savassan gestoßen waren – Technologie mit natürlichen Gegebenheiten verschmolz. Nur dass sich die Terraner nicht ganz so gut darauf verstanden wie die Xel’Naga. Die Verschmelzung wirkte eher erzwungen als natürlich, mehr unbeholfen als elegant.

Große graue Ausstattungsstücke mit aggressiv blinkenden Lichtern waren in Nischen gestopft worden, die man sorglos in den Fels gehauen hatte. Obwohl eine Menge von Gerätschaften herumstanden und offenbar darauf warteten, dass man etwas damit anstellte, sah Jake nicht viel Personal herumlaufen. Es erweckte den Anschein, als hätte man gerade eine Pause eingelegt. Am anderen Ende öffnete die Höhle sich in den blauen Himmel; dort konnten die Schiffe starten und landen.

In der Mitte der gewaltigen Kaverne befand sich ein Kontrollzentrum aus Glas und Metall. Dort saß ein leicht stämmiger Mann mit Halbglatze an seinem Kontrollpult. Er hatte die Füße auf die Konsole gelegt, las irgendetwas, das auf Jake nicht unbedingt erbaulich wirkte, und langte gelegentlich nach einer Tasse, in der sich wahrscheinlich Kaffee befand.

Die Schiffe, momentan vier an der Zahl, standen in einer Reihe, ihr Bug wies in Richtung des blauen Himmels. Eines davon war die Fluchtkapsel aus der Gray Tiger. Jake fand, dass sie jetzt, da er sie neben ihren schnittigen, gut gewarteten Nachbarn sah, furchtbar klein und ramponiert aussah. Er kannte sich jedoch nicht gut genug mit Schiffen aus, um zu wissen, wie man die anderen nannte, die hier geparkt standen. Aber Rosemary würde es wissen. Und er würde -

Jakes Haut kribbelte. Der Teil in ihm, der Zamara darstellte, war augenblicklich alarmiert.

Ethan ging voran, und er bewegte sich zügig auf das nächste Schiff zu. Rosemary war dicht hinter ihm, die Pistole – nicht zu sehen, aber so tödlich wie eh und je – auf seinen Rücken gerichtet.

Jakes Puls beschleunigte sich. Er sah sich um. Irgendetwas stimmte nicht. Aus einem Grund, den er eigentlich gar nicht verstand, eilte er zu Rosemary.

Da oben -.

Jake stürmte vor und schirmte Rosemary gegen… etwas ab, von dem er immer noch nicht wusste, was es war.

»Vorsicht!«, schrie er.

Die winzigen Pfeile – insgesamt drei – trafen ihn am Hals. Mit was für einem Mittel sie auch präpariert waren, es wirkte auf der Stelle – zumindest dachte Jake das, als er nach oben schaute und Randall über ihnen auf einem grauen Felsvorsprung kauern sah, wo er gerade die Hand senkte, eine kleine Apparatur am Handgelenk.

Wahrhaftig, es stimmte. Es war wirklich der Diener, der ihn angegriffen hatte! Randall spannte sich an und sprang mit katzenhafter Anmut herunter.

Rosemary wirbelte herum, als Randall auf dem Boden landete, und schwang ihre Pistole herum, um auf die neue Bedrohung zu schießen.

»Gute Hilfe ist jeden Credit wert«, erklang Ethans sanfte Stimme, als er sich gegen Rosemarys Waffe warf.

Jake brach zusammen. Er starrte nach oben und sah mit erlöschendem Blick, wie Randall sich aufrichtete und Ethan zu Hilfe eilte.

Zwei Gedanken jagten Jake noch durch den Kopf, während ihm das Bewusstsein schwand. Einer war ganz der seine: Verdammt, ich hoffe, ich kann mich noch so bewegen, wenn ich fünfundsechzig bin. Der andere kam allein von Zamara: Jake – geh aus dem Weg!

Und das tat er.

Zamara stürmte an die Front seines Denkens. Wie sie es getan hatte, als Jake es an jenem ersten Abend mit dem Wein übertrieben hatte, vertrieb Zamara auch jetzt für den Moment das Betäubungsmittel aus Jakes Körper. Sein Blick klärte sich.

Randall hatte ihn fast erreicht und war im Begriff, über den hegenden Mann hinwegzusetzen, auf den er geschossen hatte. Zamara richtete sich auf, griff nach Randalls Beinen und zerrte daran. Randall stolperte und stürzte beinahe, fing sich aber im letzten Moment ab und befreite sich mit einer scharfen Drehung aus dem Griff. Diese Sekunde genügte Zamara jedoch, um auf die Beine zu kommen – auf Jakes Beine.

Sie ließ sich abermals in Jakes Körper nieder, zwang sich, sich an die kurze, merkwürdig ausbalancierte Statur des Menschenmannes und an die Schwerfälligkeit zu gewöhnen, den fremden Körper wie schlecht sitzende Kleidung zu tragen. Sie stand in jener Angriffshaltung da, die man ihr von klein auf beigebracht hatte, bewegte sich leichtfüßig vor und zurück, den Körperschwerpunkt weit unten, die Arme zur Wahrung des Gleichgewichts ausgestreckt, stumm und wachsam.

Angriffsbereit.

Randalls blass blaue Augen verrieten nur einen Anflug von Überraschung. Stattdessen verzog er belustigt die Lippen. Er nahm eine Kampfhaltung ein, in der er leicht auf den Fußballen wippte.

Zamara erkannte an der Leichtigkeit und dem Fluss der Bewegungen, dass sie es mit einem Meister zu tun hatte. Die Wachen, die sie vorhin ausgeschaltet hatten, waren zweifellos Scharfschützen gewesen, aber Randall gab sich nicht mit solcher Last ab. Die kleinen, präparierten Pfeile waren seine erste Angriffslinie gewesen. Sollten sie versagen, benötigte er nichts weiter als seine bloßen Hände, um zu töten. Das war für Zamara offensichtlich.

Randall mochte nicht mehr über die körperliche Kraft verfügen, die er als junger und ohne jeden Zweifel höchst erfolgreicher Attentäter besessen hatte. Aber er konnte sich auf ein Wissen und eine Erfahrung verlassen, die er in über vierzig Jahren errungen hatte.

All das ging Zamara in dem Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, der ihr blieb, bevor Randall mit der rechten Faust antäuschte und dann die linke schockierend schnell vorstieß.

Er hieb ins Leere. Denn Zamara sprang in die Höhe, vollführte noch in der Luft elegant eine volle Drehung, sackte dann wieder zu Boden und trat mit ausgestrecktem Bein zu, um Randall aus der Balance zu bringen.

Randall schlug mit einem Grunzen schwer zu Boden, und Zamara hörte ein Knacken. Der Diener kam auf die Beine, Blut quoll aus einem Schnitt an der Wange. Er kniff die Augen zusammen, als er sprach: »Sie stecken voller Überraschungen, Professor.« Seine Miene verriet, dass er Zamara nicht noch einmal unterschätzen würde.

Und in der Tat, kaum waren ihm die Worte über die Lippen gekommen, agierte Randall von Neuem mit tödlicher Effizienz. Zamara gelang es kaum zu parieren und das empfindliche Gesicht des Menschen zu schützen, als Randall mit flammendem Blick immer wieder und wieder nach ihr drosch.

Die Schläge prasselten wie ein Hagelschauer auf sie nieder. Zamara spürte, wie dieser Körper ermüdete. Seine Muskeln waren nicht daran gewöhnt, sich wie die eines Protoss zu bewegen – und sie begehrten auf.

Randall war zu gut, zu stark, zu geübt in der Kunst des Nahkampfs, als dass Zamara, die nicht daran gewöhnt war, sich in diesem Körper zu bewegen, noch lange gegen ihn bestehen konnte. Alles, was sie tun konnte, war, seine Angriffe abzublocken. Davon schmerzten ihre Arme. Aber sie kam nicht dazu, selbst anzugreifen, sondern fühlte sich stetig zurückgedrängt.

Randall hatte genug davon, mit ihr zu spielen. Er setzte zum tödlichen Streich an.

Nun war es also soweit. Sie hatte das nicht tun wollen, war sich nicht einmal sicher gewesen, ob sie überhaupt dazu in der Lage war. Jake besaß ein paar Protoss-Erinnerungen, ja. Und Jakes Gehirn war neu verdrahtet worden. Doch dies zu versuchen konnte zu seinem Versagen oder sogar zu seiner Schädigung führen.

Dennoch hatte sie keine andere Wahl.

Anstatt länger zurückzuweichen, drängte Zamara plötzlich nach vorne. Einen solchen Zug hatte Randall nicht erwartet, und das brachte ihn, für die Dauer eines Herzschlags jedenfalls, etwas aus dem Konzept.

Das war die Chance, die Zamara sich erhofft hatte. Sie sprang und trat hart zu, wich dann wieder nach hinten und presste ihre Hände fest gegeneinander, ganz kurz nur.

Als sie sie wieder auseinander zog, schwebte blau leuchtende Energie zwischen ihren Handflächen.

Heilige Hölle!, durchfuhr es Jake.

Randalls blaue Augen weiteten sich.

Eine scheinbar endlose Sekunde lang standen die beiden Kontrahenten da und maßen sich mit Blicken. Das Kugelgebilde schwebte, drehte sich, und sein unheimliches Licht verwandelte Jakes Züge in ein scharfkantiges Relief. Beide Gegner bluteten, waren angeschlagen und verschwitzt. Beide atmeten schwer. Doch keiner war willens, aufzugeben.

Randall griff an.

Die Kugel explodierte. Hunderte von Scherben stoben davon, jede raste wie eine Klinge auf Zamaras Widersacher zu. Ein Geräusch wie das Summen von tausend wütenden Hornissen erfüllte die Luft, und Randall keuchte auf, als die psionische Energie ihn traf.

Er krümmte sich vor Schmerz, jede einzelne der blau leuchtenden Scherben sengte sich in ihn hinein, fraß sich wie Säure durch sein Fleisch. In Zamaras Händen bildeten sich zwei weitere Kugeln, die sie direkt auf Randalls Brust zuschleuderte.

Randall fiel auf die Knie. Zamara setzte über ihn hinweg, landete leichtfüßig und fuhr herum, die Finger, an deren Spitzen sich weitere psionische Energie sammelte, gespreizt.

Randall fiel, wobei sein Körper sich drehte, sodass er sie ansah. Sie konnte verbrennendes Fleisch riechen.

Sie stand da, bereit, abermals anzugreifen, falls es nötig sein sollte.

Irgendwie gelang es ihm, sich soweit aufzurichten, dass er sich auf die Ellbogen stützen konnte. Für ein paar Sekunden schauten sie einander in die Augen. Während Randall zu Zamara hochstarrte, wusste die Protoss intuitiv, dass der Diener genau verstand, was sich hier abgespielt hatte. Blut begann aus Randalls Mund zu quellen, dick und dunkelrot lief es ihm über das Kinn und tropfte zu Boden.

Randall lächelte. Er wirkte… erfreut. Der Diener nickte leicht und respektvoll.

Zamara ließ die Energie vergehen. Das Summen erstarb. Sie senkte die Arme, während Phillip Randall leblos auf dem steinernen Boden zusammensank.

*

Ethan war gut.

Aber diesmal war Rosemary besser.

Ethans Armverletzung kam ihn teuer zu stehen. Kaum war Rosemary abgelenkt, griff er nach der Waffe und schaffte es sogar, seine Hände um sie zu schließen. Rosemary rammte ihm augenblicklich das Knie in den Unterleib.

Diese Bewegung hatte er vorhergesehen. Knurrend schlug er ihr mit dem Griff der Waffe gegen das Knie. Sie keuchte vor Schmerz auf. Mit zusammengebissenen Zähnen trat Rosemary ihm auf den Fuß, dann schlang sie ihr Bein um seines und zog. Gleichzeitig löste sie eine Hand vom Gewehr, tastete nach seiner Armwunde, fand sie und drückte mit aller Macht zu.

Ethan brüllte auf zutiefst befriedigende Weise und begann zu stürzen. Reflexartig ließ er die Waffe los, um sich abzufangen. Er versuchte, auf die Schulter zu fallen und sich abzurollen, aber diese Chance ließ Rosemary ihm nicht. Sie packte entschlossen das Gewehr und hieb ihm den Schaft in den Solarplexus. Ethan krümmte und wand sich und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

Rosemary wandte sich Jake zu, um ihm zu helfen, und blinzelte erstaunt, als sie ihn, kaum außer Atem geraten, über Randalls am Boden liegenden Körper stehen sah.

*

Als Zamara die Kontrolle über seinen Geist aufgab, begann Jake zu zittern.

Ich habe einen Menschen getötet. Gott steh mir bei, ich habe einen Menschen getötet.

»Alle Achtung, Jake«, sagte Rosemary mit Bewunderung in der Stimme. Er sah gepeinigt zu ihr auf. Rosemary stand über Ethans wimmernder Gestalt, ihr Haar durch den Kampf nur geringfügig zerzaust. Sie hatte die Waffe wieder in der Hand und hielt sie auf ihren ehemaligen Liebhaber gerichtet. Rosemary blickte wieder auf Ethan hinunter und stieß ihn mit dem Fuß an. »Steh auf.«

Jake nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sein Kopf ruckte herum, und er sah, dass der Wachmann in der Kabine ihn offenen Mundes anstarrte. Ihre Blicke begegneten sich, und schneller als Jake es von einem so rundlichen Mann erwartet hätte, duckte er sich unter seinen Arbeitstisch.

Rosemary war Jakes Blick gefolgt. Sie fluchte und gab einen Schuss ab. Das Glas zersplitterte.

»Das hat uns etwas Zeit verschafft, aber nicht viel. Kommt.« Sie deutete auf das erste Schiff, und Ethan begann darauf zuzugehen.

»Schneller, du Bastard«, knurrte Rosemary, und Ethan verfiel in einen Trab. Rosemary verzog das Gesicht, und Jake bemerkte, dass sie ein Bein stärker belastete als das andere, aber dennoch Schritt mit ihnen hielt. »Sollten irgendwelche Schützen hereinkommen, werden sie nicht auf uns feuern, weil sie fürchten müssen, ihn zu treffen.«

Rosemary ließ Jake als Ersten die Rampe hochklettern. »Schnallen Sie sich an – das wird ein rauer Start.«

Jake nickte, dann verharrte er am Einstieg und blickte zurück zu Ethan, der auf der Rampe stand. Er hatte bei dem Kampf mit Rosemary unübersehbar den Kürzeren gezogen. Sein Gesicht war eine blutige Maske, seine Armwunde hatte sich wieder geöffnet, und er wahrte nur mit großer Mühe das Gleichgewicht.

»Ich nehme an, wir müssen ihn mitnehmen«, sagte Jake, auch wenn er wünschte, es gäbe dafür eine Alternative. »Wenn wir ihn hier lassen, wird Valerian ihn umbringen.«

Rosemary trat in das Schiff und neben Jake. Sie musterte Ethan gedankenvoll und schüttelte den Kopf. »Nein. Valerian wird ihn nicht umbringen. Das übernehme ich.«

Sie schoss. Röte erblühte auf Ethans gestärktem schneeweißen Hemd. Ethan starrte seine ehemalige Geliebte völlig überrascht an, dann kippte er langsam von der Rampe. Sein Körper schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Steinboden auf.

Rosemary drückte mit dem Daumen einen Knopf. Die blutbespritzte Rampe wurde eingezogen, während sich die Luke schloss. Rosemary glitt in den Pilotensessel, gurtete sich an und machte sich an den Armaturen zu schaffen.

Jake starrte sie an. Sie sah zu ihm auf; eine Falte, die Verärgerung ausdrückte, furchte ihre Stirn. »Anschnallen, hab ich gesagt.«

»Verdammt, Rosemary, Sie haben ihn kaltblütig erschossen!«

Sie wandte ihr Augenmerk wieder ihrem Tun zu. »Ich habe getan, was ich tun musste, Jake. Hätte ich ihn am Leben gelassen, wären er und Valerian uns bis ans Ende des Universums gefolgt.«

Rosemary hat nicht unrecht, sagte Zamara in seinen Gedanken. Er wäre ein hartnäckiger Verfolger gewesen. Sein Tod nützt meiner Mission.

Deine Mission scheint eine Menge Tote mit sich zu bringen, dachte Jake hitzig. Viele tote Menschen!

Das ist bedauerlich, aber notwendig. Du wirst es bald verstehen.

Dessen war sich Jake nicht so sicher.

Ein schwaches Summen erklang, als das Schiff warmlief. Jake begann sich sehr schwach zu fühlen und wankte zu einem Sitz. Ihm wurde bewusst, dass Zamara zwar in der Lage gewesen war, die Wirkung der Droge, des Gifts oder was es auch war, zu lindern, aber ganz hatte sie es nicht aus seinem Kreislauf vertreiben können. Zitternd lehnte er den Kopf gegen das Fenster und blickte hinaus in den kleinen Raum mit der zerborstenen Scheibe und dem verängstigten Wachmann. Er sah, wie eine Hand unter dem Schreibtisch hervorkam. Sie tastete umher, dann drückte sie einen Knopf. Ein Alarmsignal wurde laut.

»Großartig«, murmelte Rosemary. Jake wandte seinen mit einem Mal schweren Kopf in Richtung des Cockpits und sah, dass Rosemary das Schiff direkt auf das blaue Oval ausrichtete, das Freiheit versprach.

Aber irgendetwas stimmte nicht damit. Jake blinzelte und fragte sich, ob es an der Wirkung dessen lag, was der nun tote Randall ihm injizierte hatte. Aber nein, es war wirklich so, es…

»Rosemary, das ist ein Kraftfeld!«

Sie schnaubte, und das Schiff bewegte sich leicht nach links. »Wissen Sie, was das Schöne daran ist, genau hier zu sein, Jake?«

Er brummte etwas, das wie »Was denn?« klang.

»Wir sind im Inneren. Dort, wo sich die Kontrollen befinden.«

Sie justierte das Schiff auf eine große graue Metallplatte aus, die in eine Wand eingelassen war, berührte einen Knopf, und die Platte explodierte.

Rosemary erlaubte sich einen Jubelruf, dann manövrierte sie den Bug des Schiffes wieder in Richtung des blauen Himmels.

Jake sank der Magen bis in die Kniekehlen. Er flog schon dann nicht gern, wenn alles glatt lief was hier und jetzt definitiv nicht der Fall war. Er bemühte sich nach Kräften, sein Mittagessen bei sich zu behalten, während Rosemary das kleine Schiff in erstaunlicher Weise beschleunigte und nach oben riss.

Er konnte nicht länger gegen das Mittel, das durch seine Adern kreiste, ankämpfen. Jakes Augen schlossen sich, und sein Kopf sank nach hinten. Die Erinnerungen überrollten ihn wie eine Flut.

Ehe er vollends die Besinnung verlor, fragte er sich verschwommen, ob das nun daran hegen mochte, dass sein Gehirn endlich, endlich imstande war, alles schnell genug zu verarbeiten – oder ob diese, die letzte Geschichte über Temlaa und Savassan, noch rasch erzählt werden musste, bevor es dafür für immer zu spät war…

KAPITEL 25

Savassan hatte sich verändert. Er war den anderen Protoss schon immer ein Rätsel gewesen, aber als er mit Jake im Schlepptau zurückkehrte, verstanden sie ihn noch weniger. Jake hatte lange gebraucht, um zu begreifen, was Savassan ihm zu übermitteln versuchte; der Stamm der Shelak brauchte noch länger. Aber Savassan blieb beharrlich.

Zunächst sprach Savassan von den Kristallen. Er und Jake führten vor, wie man sie berührte, wie man sich auf die Verschmelzung vorbereitete, auf den Verlust des eigenen Ichs und den Zugewinn eines anderen, auf alles, das wie eine Welle kam und einen hinfortschwemmte, wenn man nicht Acht gab.

Stolz sah er mit an, wie sie einer nach dem anderen die ersten zögerlichen Schritte taten, hinein in etwas Großes, Schönes und Tiefreichendes. Sie lernten, wie man mit den Kristallen und miteinander arbeitete, und die Erfahrung verband sie noch stärker.

Aber Savassan war noch nicht zufrieden…

Rosemary warf einen raschen Blick über die Schulter. Jake war immer noch ohne Bewusstsein.

Wahrscheinlich war es so für sie beide am besten. Sie hatten Glück gehabt, dass Ethan einen sogenannten System-Runner besaß. Dieses klobige, unelegante Schiff war das einzige seiner Größe, das stark genug war, um einen Warp-Sprung zu schaffen.

Schwarzmarkthändler liebten diese Dinger. Man brauchte keine große Crew, es gab ordentlich Raum für Fracht, und man konnte Verfolger leicht abhängen. Natürlich hätte sie gerne die Feuerkraft eines Wraith oder eines anderen Jägers zur Verfügung gehabt, aber im Moment war es wichtiger, anderen entkommen zu können, anstatt sie abzuschießen.

Die beiden anderen Schiffe, die Ethan hatte – Wraiths, die weit über das hinaus aufgerüstet waren, was die Regierung erlaubte –, befanden sich direkt hinter ihr.

Der System-Runner ruckte heftig, als eines von ihnen einen Treffer anbrachte. Sie versuchten, das Schiff aktionsunfähig zu schießen, solange noch Gelegenheit bestand, es zum Landen zu zwingen. Waren sie erst einmal im All, würden ihre Fluchtchancen sehr viel besser stehen. Das Ziel der Verfolger war es, sie und Jake gefangen zu nehmen, nicht, sie in tausend Stücke zu zersprengen.

Zumindest war sie überzeugt, dass es das war, was Valerian wollte. Und sie konnte nur hoffen, dass Ethans Schergen das auch wussten…

Das Schiff schlingerte, und Rosemary roch Rauch. Sie fluchte, schnallte sich los und drückte den Feuerlösch-Schalter. Der beißende Geruch von schmorendem Draht und Plastik vermischte sich mit dem chemischen Gestank des Löschschaums.

Jake schlief weiter.

*

»Wir brauchen… einen Weg in diesen Zustand«, sagte Savassan zu Temlaa. »Einen Weg, um zu ordnen. Es muss Richtlinien dafür geben, wie man diese Einheit, in der wir uns wiederfinden, lenkt.

Wir alle – jeder Einzelne von uns – müssen danach streben, gut zu sein, rein und heilig, damit das, was wir zum Ganzen, beitragen, es noch profunder und stärker macht.«

»Aber wie sollen wir die anderen dazu bringen? Wie sollen wir es schaffen, ihnen die Macht des Kristalls begreiflich zu machen? Ich kann doch nicht einfach in ein Lager spazieren und sie auffordern, uns zu folgen.«

»Nein, du kannst das nicht. Aber ich vielleicht.«

*

»Verdammt, verdammt…« Rosemary fluchte, als sechs helle Punkte auf ihrem Computerschirm auftauchten. Eine Valkyrie und fünf Wraiths. Valerian hatte offenbar irgendwann beschlossen, mehr als nur ein Schiff zu schicken, um einen Wissenschaftler und eine Killerin abzuholen.

Man mochte über Valerian sagen, was man wollte, aber dumm war er nicht. Die flinken kleinen Schiffe schlossen jetzt zu ihr auf. Sie feuerten nicht auf sie, und selbst Ethans Schiffe hatten den Beschuss mittlerweile eingestellt. Rosemary wusste, was sie vorhatten – sie wollten sie einkesseln, damit sie nicht den Warp-Sprung vollziehen konnten. Mit fliegenden Fingern versuchte sie herauszufinden, wo im Universum sie eigentlich hin wollte, und gleichzeitig das Schiff aus dieser Falle herauszumanövrieren. Zu fliehen wie ein verwundetes Reh, das von einem Rudel Wölfe gehetzt wird…

»Schlechter Vergleich«, murmelte sie, gab den Versuch, einen Kurs auszubaldowern, auf, hieb auf die Kontrollen – und tauchte ab.

*

Savassan hatte nicht einmal Jake eröffnet, was er plante. Er sagte ihnen nur, dass der Stamm sich sammeln solle, als die Dämmerung mit rosigen und goldenen Fingern über den purpurnen Himmel tastete. Jeder von ihnen wählte einen Kristall aus und trug ihn ehrfurchtsvoll hinaus.

Savassan sah sie der Reihe nach an. »Was wir zu tun im Begriff sind«, sagte er, »wird, wie ich hoffe, als Wendepunkt in der Geschichte unseres Volkes lange in Erinnerung bleiben. Ich wurde von den Xel’Naga berührt, und im Gegenzug habe ich ihnen mitgeteilt, was ich mit euch gelernt habe, mein Stamm. Aber damit darf es nicht genug sein. Setzt euch. Haltet die Kristalle vor euch hin. Und wenn ich es euch sage, wird jeder von uns seinen Kristall berühren, die Augen schließen und seinen Geist und sein Herz öffnen für jene Protoss da draußen, die nach dem hungern… die nach etwas hungern und dürsten, von dem sie nicht einmal wissen, dass es existiert. Wir erschaffen nichts Neues. Wir entdecken etwas Altes wieder. Wir erinnern uns dessen, was vergessen war.«

Jake schauderte. Langsam ließ er sich neben seinem Meister auf dem feuchten Erdboden nieder. Ohne den Kristall auch nur zu berühren, war er bereits mit ihnen verbunden und spürte ihre Sorge, ihre Hoffnung, ihre Angst.

»Berührt die Kristalle«, sagte Savassan, »und ruf nach unseren Brüdern und Schwestern.«

*

Jake keuchte auf, als die Empfindungen ihn durchströmten. Er konnte nichts anderes tun, als sie durch sich hindurchfließen zu lassen – mit einem Gehirn, das so umgestaltet worden war, dass es eine solche Welle verarbeiten konnte.

Zamara jubilierte beinahe in ihm. Verstehst du jetzt, Jacob Jefferson Ramsey?, frohlockte sie in seinem Geist, in seinem Blut, in jeder seiner Zellen. Savassan erweckte etwas, von dem wir seit Äonen nicht mehr gewusst hatten. Und durch mich wird dieser Moment nie vergehen. Ich bin eine Bewahrerin. Ich besitze die Erinnerungen aller Protoss, die je gelebt haben. Mein Geist ist einer von nur einer Handvoll unter den Protoss, die solches Wissen beherbergen können. Solange mein Bewusstsein lebt – in dir, Jacob –, wird dieser Moment leben. Und wieder erschaffen werden, wenn du dies an einen anderen weitergibst, wie ich es mit dir getan habe. Du erlebst, was wir erlebt haben: den Augenblick, die Verbindung, die uns für immer veränderte. Du bist jetzt ein Bewahrer. Du bist ein Hüter dessen, was heilig ist und was auf ewig alle jene prägen wird, die es berührt, solange es einen Bewahrer gibt, der dieses Wissen bereithält.

Ich… ich verstehe… dachte Jake, immer noch in jenem weiten Meer aus Verbindung und Verflechtung treibend.

Die Bilder, die kamen, waren anrührend. Nachdem Savassan den Ruf an seine Protoss-Brüder und -Schwestern ausgesandt hatte, kamen sie vorsichtig zu ihm. Sie hatten Angst, waren zurückhaltend, aber das, was sie erlebt hatten, konnten sie nicht leugnen.

Der Mystiker Savassan brachte ihnen bei, was er gelernt hatte. Wie man Geist und Gedanken mit anderen verband und die daraus entstehende Energie nutzte. Wie man Gedanken konzentrierte und lenkte und die anderer respektierte, während man sie zu einem Ganzen verschmolz, das so harmonisch war, dass die Protoss fast wie ein einziger, strahlender, wunderbarer Geist waren.

»Das ist der Weg der Ordnung«, sagte Savassan. Savassan, dessen Name alle vergessen würden, alle bis auf Zamara und nun auch Jake. Savassan, der als »Der die Ordnung bringt« bekannt sein würde, als…

Heute kennt man ihn unter dem Namen Khas. Wir verehren ihn und gedenken seiner. Er vereinte uns unter der Khala… einem System der Ordnung. Dem »Pfad des Aufstiegs«. Das holte uns aus dem Äon des Hadems. Ohne das Wissen darum, wie sehr wir eins waren, hätten wir uns selbst zerstört.

Jake erinnerte sich an den Hass, den die Protoss aufeinander hatten, wie die Stämme nicht durch einen Feind von außen vernichtet wurden, sondern durch ihre eigene Art. Und er hatte in Temlaas Haut gesteckt, als sich diese Wendepunkte der Geschichte zutrugen. Tränen stiegen ihm in die Augen, und er wischte sie fort.

Schäme dich nicht dafür, dass es dich bewegt, sagte Zamara. Wäre das nicht der Fall, würde es bedeuten, dass ich versagt habe.

Das ist Heilung… das… Trotz dieser Verbindung, die ihn so eng mit Tausenden von lange toten Protoss verknüpfte, wusste Jake, dass er in seiner Gegenwart war. Und dass er in höchster körperlicher Gefahr schwebte. Was er erlebte, rief ihn. Er war nicht willens zu gehen, aber in ihm regte sich eine Idee.

Dieser Augenblick hatte den Protoss an einem Punkt ihres Daseins, als sie einander mit bloßen Händen zerfetzten, eine Pause verschafft. Das hatte sie gerettet. Was mochte es bewirken, wenn -.

Jacob – das ist nicht für sie…

Es könnte sein -

Und bevor die verblüffte Zamara auch nur versuchen konnte, einzugreifen, hatte Jake es gedacht. Und mit dem Denken war es auch schon getan.

Rosemary Dahl erstarrte. Sie konnte nichts weiter tun, als sich dem, was unvermittelt in sie floss, zu ergeben… ebenso wenig wie sich der Captain der Valkyrie Anglia dagegen wehren konnte… oder der Mechaniker auf seiner ersten Mission im All… oder Elyssa oder Steve oder der angsterfüllte Wachmann in der Landebucht – oder all die anderen, die Ethan und Valerian gedient hatten.

Es tat weh, es brannte, es reinigte, und es dehnte sie weiter, als sie je zuvor gedehnt worden waren, als ihr beschränkter, unveränderter menschlicher Geist das lächerlich Wenige versuchte, wozu er imstande war, um alles zu begreifen.

Wir.

Sind.

EINS.

Rosemary spürte Ted Samsas Herz in ihrer Brust schlagen. Sie erlebte Elyssa Harpers ersten Kuss nach. Steve O’Tooles ersten Mord. Hörte den Schrei eines Neugeborenen. Roch den Duft der Haut dieses Säuglings. Jede Erinnerung, jedes Gefühl, jede Empfindung des Seins, die Hunderte von Menschen gefühlt und wahrgenommen hatten, klangen durch ihren Geist. Die Freuden, die sie lachen ließen, waren die ihren. Die Tragödien, die sie zum Weinen gebracht hatten, waren die ihren. Die Stiche, die Kränkungen, jedes Lächeln, alle Wunder, die Langeweile. All die Dinge, die ein Leben, eine Identität, ein Selbstgefühl ausmachen, fluteten in sie. Und sie wusste, dass sie ihr Leben ebenso schmeckten, wie sie das ihre auskostete.

Zwar gab es da auch Hass und Angst und Vorurteile, weil die Menschen nun einmal hassten und Angst und Vorurteile hatten, aber nichts davon ließ sich einem Einzelnen in dieser Verbindung – diesem Kreis, diesem tiefen, profunden Sammelbecken der Einheit – zuweisen. Denn wer könnte seine rechte Hand hassen? Deine Hand ist meine Hand. Wer könnte sein linkes Auge hassen? Denn dein Auge ist mein Auge.

Für einen zeitlosen Moment, gefangen in diesem nie zuvor erlebten Zustand ekstatischer Eintracht, vermochte der Captain den Befehl zum Angriff nicht auszusprechen.

Und Rosemary konnte die Sprung-Koordinaten nicht eingeben.

Die Schiffe trieben im Raum. Der Moment dauerte an.

Jake wollte nichts mehr als hierbleiben und in diesem unbeschreiblichen Gefühl von Einigkeit und Frieden und Empfindung treiben. Aber er löste sich langsam davon und schwebte zurück in die Realität seiner Gegenwart. Jake blinzelte, und es überraschte ihn nicht, festzustellen, dass sein Gesicht noch immer von Tränen nass war. Er fühlte sich leer und entsetzlich allein.

Er kämpfte mit dem Sitzgurt und stolperte zu Rosemary. Ihre Augen waren groß und wirkten wie glasiert. Ihre Lippen bewegten sich leicht, ein Ausdruck fast kindlicher Freude lag auf ihrem Gesicht.

Jake hasste sich dafür, aber er tastete mit seinen Gedanken in ihren Geist. Er musste ihre Gedanken lesen, damit er wusste, was zu tun war, um den Sprung zu vollziehen. Er durchkämmte die Tausende Geister, die in diesem Augenblick miteinander verknüpft waren, und fand den leuchtenden, strahlenden Faden, der in diesem herrlichen Gobelin der Einigkeit für Rosemary Dahl stand.

»Oh«, hauchte er leise. Er spürte ihre Qual, schockierend und scharf und schmerzhaft einsam. Ihre Bitterkeit, ihre Ernüchterung. Flüchtige Blicke in ihre Vergangenheit, auf Grausamkeit, auf Schmutz und Elend und furchtbare Gewalt, auf Entschlossenheit und Schneid und einen Willen, der stark, wahrhaftig und machtvoll pulsierte.

Das also war es, was Zamara im Hinblick auf Rosemary gespürt hatte. Die Protoss hatte die Mauern überwunden, die eine zerbrochene Seele um sich herum zu ihrem Schutz errichtet hatte. Sie hatte die Rosemary in der R. M. gefunden, die Frau in der Killerin, und sie für würdig befunden. Jake hatte nur ganz vage Blicke auf etwas anderes als eine kaltherzige Mörderin erhascht, auf jemanden, der jedes Mittel, das ihm zur Verfügung stand, benutzte, um seine Ziele zu erreichen. Jetzt aber konnte er sie sehen, konnte sie spüren, konnte -.

Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn, sanft, ohne Leidenschaft, wie er es bei einem Kind getan hätte.

Ganz gleich, was sie auch tat, er würde Rosemary Dahl nie wieder hassen können.

Schließlich zog er sich aus dieser Verbindung zurück und suchte nach der Information. Rosemary versuchte es auf gut Glück. Es war unmöglich zu sagen, wo sie herauskommen würden, noch nicht einmal, ob sie es unversehrt schaffen würden. Jake kannte sich mit interstellaren Reisen nicht besonders gut aus, aber er wusste, dass man, wenn man einen Sprung nicht sorgfältig und präzise plante, entweder a) sterben konnte oder b) so weit entfernt von dem Punkt landen konnte, den man eigentlich erreichen wollte, um nie wieder zurückzufinden – oder dass c) all das zusammen passieren mochte.

Er fand die Information, die er brauchte, beugte sich über die Konsole, gab die Daten ein… und zögerte, bevor er den Knopf drückte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es schiefging, war enorm groß, und es gab da noch etwas, das er, neugierig wie er nun einmal war, wissen musste.

Zamara?

Ja, Jacob?

Es hat die Protoss verändert. Was wird es mit uns anstellen?

Es war nie geplant, diesen Augenblick mit jemandem zu teilen, der nicht unserer Spezies angehört. Die Khala gilt nur für uns, nicht für euch, und sie ist heilig, kein Spielzeug.

Sie war wütend auf ihn, aber die Folgen konnte sie nicht leugnen. Zumindest diese ersten. Er spürte, wie sie sich beruhigte.

Ich muss zugeben…du hast weise gewählt. Dieses Mal. Wirklich, Jacob, ich weiß nicht, was geschehen wird. Eure Spezies ist…jung, zu jung noch, um die wahre Bedeutung zu begreifen. Die meisten, die es miterlebt haben, werden es wahrscheinlich abtun, darüber spotten und es als zeitweilige Einbildung betrachten.

Aber… nicht alle?

Nein. Nicht alle.

Nun, damit konnte Jake leben.

Er drückte den Knopf.

Die Saga der Dunklen Templer

WIRD FORTGESETZT in:

SCHATTENJÄGER

ÜBER DiE AUTORIN

Die preisgekrönte Autorin Christie Golden hat etliche Romane und Kurzgeschichten aus den Genres Science-Fiction, Fantasy und Horror geschrieben.

1991 brachte Golden mit ihrem ersten Buch, dem erfolgreichen Roman Vampire of the Mists, die Ravenloft-Serie auf den Weg, und stellte den elfischen Vampir Jander Sunstar vor. Vampire of the Mists wurde im September 2006, auf den Monat genau fünfzehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, unter dem Titel The Ravenloft Covenant: Vampire of the Mists neu aufgelegt.

Sie ist die Verfasserin etlicher eigenständiger Fantasyromane, darunter On Fire’s Wing und In Stone’s Clasp, die ersten beiden Bände einer mehrteiligen Fantasyserie. Mit In Stone ’s Clasp gewann sie 2005 den Colorado Author’s League Award für den besten Genre-Roman, das zweite von Goldens Büchern, das mit diesem Preis ausgezeichnet wurde.

Zu ihren weiteren Werken zählen über ein Dutzend Star Trek-Romane, darunter The Murdered Sun, Marooned und Seven of Nine. Sie schrieb die Dark Matters-Trilogie, den Zweiteiler Homecoming und The Farther Shore, veröffentlicht im Juni und Juli 2003, sowie Spirit Walk: Old Wounds und Enemy ofMy Enemy, ebenfalls ein Zweiteiler.

Selbst begeisterte Spielerin von Blizzard Entertainments World of Warcraft hat Golden zwei Romane zum Spiel geschrieben, Lord ofthe Clans und Rise of the Horde.

Golden hatte die einzigartige Gelegenheit, einen großen Teil dieser aktuellen Trilogie an einem Ort zu schreiben, der ihr tatsächlich ein Gefühl von Fremdartigkeit vermittelte – auf Hindere Island, Tasmanien. In ihrem gesetzteren Leben wohnt sie in Colorado.