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Gegen Mittag weckte ihn das Telefon. Jack Rhinehart, der Telefonzerschmetterer, lud Professor Solanka zu sich ein, um mit ihm zusammen das Euro-Viertelfinale Holland gegen Jugoslawien auf Pay-Per-View anzusehen. Malik sagte zu und überraschte sie damit alle beide. »Schön, daß du endlich aus deinem Mauseloch rauskommst«, sagte Rhinehart. »Aber wenn du für die Serben bist, bleib lieber zu Hause.« Solanka fühlte sich heute erfrischt: weniger belastet, und, jawohl, er hatte das Bedürfnis nach einem Freund. Selbst an solch zurückgezogenen Tagen hatte er noch Bedürfnisse dieser Art. Ein frommer Mann oben im Himalaja konnte ohne Fußball im Fernsehen auskommen. Solanka war nicht so reinen Herzens. Er zog den Anzug aus, in dem er geschlafen hatte, duschte, kleidete sich schnell an und fuhr nach downtown. Als er vor Rhineharts Haus aus dem Taxi stieg, kam eine Frau mit Sonnenbrille herbeigehastet und stieß ihn beiseite, um einzusteigen, und er hatte zum zweitenmal in ebenso vielen Tagen das beunruhigende Gefühl, daß er die Fremde von irgendwoher kannte. Im Lift erkannte er sie: das Drück-mich-dann-spreche-ich-Puppenweib, dessen Namen gegenwärtig der Inbegriff unverhohlener Untreue war, Unsere Liebe Frau von der Peitsche. »O mein Gott, Monica«, sagte Rhinehart. »Ich laufe ihr ständig über den Weg. Früher wohnten hier in der Gegend mal Naomi Campbell, Courtney Love, Angelina Jolie. Jetzt ist es Minnie Mouth. Und jetzt geht’s abwärts mit unserem Viertel, stimmt’s?«

Rhinehart versuchte seit Jahren, sich scheiden zu lassen, doch seine Frau hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sich zu weigern. Sie waren ein schönes, perfekt kontrastierendes Elfenbein-und-Ebenholz-Paar gewesen, sie groß, träge, bleich, er ebenso groß, aber ein pechschwarzer Afro-Amerikaner, und zwar ein hyperaktiver: Jäger, Angler, Wochenendfahrer schneller Wagen, Marathonläufer, Fitneßfreak, Tennisspieler und in letzter Zeit, dank des Aufstiegs von Tiger Woods, auch noch ein besessener Golfer. Von den ersten Tagen ihrer Ehe an hatte Solanka sich gefragt, wie ein Mann mit so viel Energie es mit einer Frau aushalten konnte, die so wenig davon besaß. Sie hatten mit viel Aufsehen in London geheiratet - Rhinehart hatte es vorgezogen, während seiner Zeit als Kriegsberichterstatter größtenteils außerhalb von Amerika zu leben - und Malik Solanka hatte in einem Keramik-und-Mosaik-Palazzo, der für diese Gelegenheit eigens von einer Wohlfahrtsorganisation angemietet worden war, die ihn sonst als Heim für Geisteskranke benutzte, die Trauzeugenrede gehalten, deren Tenor aufs gröbste mißverstanden wurde - etwa an der Stelle, als er den damals von ihm geliebten Ausspruch von W. C. Fields zum besten gab, in dem die Risiken einer Ehe gleichgesetzt wurden mit denen eines Sprungs aus einem Flugzeug aus zwanzigtausend Fuß Höhe, wobei man versucht, in einem Heuhaufen zu landen. Eine Bemerkung, die allerdings prophetisch zutreffend war. Wie die meisten anderen aus ihrem Bekanntenkreis hatte er Bronislawa Rhinehart jedoch in einer Hinsicht unterschätzt: Sie besaß die Haftfähigkeit eines Blutegels. (Wenigstens haben sie keine Kinder, dachte Solanka, als sich seine, jedermanns, Befürchtungen hinsichtlich der Ehe als zutreffend erwiesen. Er dachte an Asmaan am Telefon. »Wo bist du, Daddy, bist du hier?« Er dachte an sich selbst vor langer Zeit. Wenigstens damit brauchte sich Rhinehart nicht zu belasten, mit dem langen, tiefen Schmerz eines Kindes.)

Rhinehart hatte sie schlecht behandelt, das war nicht zu leugnen. Seine Reaktion auf die Heirat hatte darin bestanden, daß er eine Affäre begann, und seine Reaktion auf die Mühe, die es kostete, eine heimliche Beziehung aufrechtzuerhalten, hatte darin bestanden, eine weitere zu beginnen, und als seine beiden Geliebten darauf bestanden, daß er sein Leben in Ordnung bringe, als beide darauf bestanden, im Feld seiner persönlichen Autorallye die Pole Position einzunehmen, hatte er es geschafft, in seinem geräuschvollen, überbelegten Bett Platz für noch eine weitere Frau zu schaffen. Minnie Mouth war vielleicht ein gar nicht so unpassendes Symbol für die Gegend, in der Rhinehart wohnte. Nach ein paar Jahren in dieser Konstellation und einem Umzug vom Holland Park ins West Village zog Bronislawa - wie kam es nur, daß so viele Pole(n) in so verschiedenen Positionen auftauchten? - aus der Wohnung in der Hudson Street aus und zwang Rhinehart mit Hilfe des Gerichts, sie in ganz großem Stil in der Junior-Suite eines eleganten Hotels der Upper East Side unterzubringen, mit uneingeschränkter Kreditkartenbenutzung. Statt sich von ihm scheiden zu lassen, erklärte sie ihm zuckersüß, beabsichtige sie, ihm den Rest seines Lebens zur Hölle zu machen und ihn ganz langsam ausbluten zu lassen. »Und sieh zu, daß dir nicht das Geld ausgeht, Schätzchen«, warnte sie ihn. »Denn sonst werde ich mir das von dir holen, was dir wirklich lieb und teuer ist.«

Was Rhinehart wirklich lieb und teuer war, das waren Essen und Trinken. Er besaß ein kleines Ferienhäuschen in den Springs mit einem Schuppen hinten im Garten, in dem er sich ein Weinlager eingerichtet und das er für weit mehr Geld versichert hatte als sein Cottage, in dem das wertvollste Objekt ein Viking-Herd mit sechs Kochplatten war. Heutzutage war Rhinehart ein turbogetriebener Gastronom mit einer Gefriertruhe voll Karkassen von toten Vögeln, die ihre Reduktion - ihre Erhebung! - zum jus erwarteten. In seinem Kühlschrank drängten sich die Köstlichkeiten dieser Erde: Lerchenzungen, Emu-Hoden, Dinosauriereier. Aber als Solanka auf der Hochzeit seines Freundes Rhineharts Mutter und Schwester gegenüber von den exquisiten Freuden des Dinierens an Jacks Tafel schwärmte, erntete er verständnislose und verblüffte Blicke. »Jack - und kochen? Dieser Jack?« fragte seine Mutter und zeigte ungläubig auf ihren Sohn. »Der Jack, den ich kenne, könnte nicht mal ’ne Dose Bohnen aufmachen, wenn ich ihm zeige, wie man den Dosenöffner hält.« »Der Jack, den ich kenne«, setzte seine Schwester hinzu, »könnte nicht mal ’n Topf Wasser kochen, ohne es anbrennen zu lassen.« »Der Jack, den ich kenne«, beendete seine Mutter das Gespräch endgültig, »könnte nicht mal die Küche finden, ohne daß ihn ein Blindenhund hinführt.«

Dieser selbe Jack konnte sich inzwischen mit den großen Köchen der Welt messen, und Solanka staunte wieder einmal über die Fähigkeit des Menschen zur Automorphose, der Verwandlung der eigenen Person, von der die Amerikaner behaupteten, sie sei ihre ganz eigene, bezeichnende Eigenschaft. War sie nicht. Amerikaner klebten allem und jedem ihr amerikanisches Etikett auf: American Dream, American Buffalo, American Graffiti, American Psycho, American Tune. Aber alle anderen hatten auch solche Dinge, und in der übrigen Welt schien das Hinzufügen eines nationalen Präfixes keine so große Bedeutung zu besitzen. English Psycho, Indian Graffiti, Australian Buffalo, Egyptian Dream, Chilean Tune. Amerikas Sucht, alles amerikanisch zu machen, es in Besitz zu nehmen, dachte Solanka, ist das Zeichen einer seltsamen Unsicherheit. Darüber hinaus natürlich, und prosaischer ausgedrückt, kapitalistisch.

Bronislawas Drohung gegen Rhineharts Alko-Hort traf ins Schwarze. Er gab es auf, Kriegsgebiete zu besuchen, und begann statt dessen lukrative Porträts der Supermächtigen, Superberühmten und Superreichen für exklusive Wochen- und Monatszeitschriften zu schreiben: ihr Liebesieben zu schildern, ihre Geschäfte, ihre wilden Kinder, ihre persönlichen Tragödien, ihre geschwätzigen Hausmädchen, ihre Morde, ihre OPs, ihre guten Werke, ihre bösen Geheimnisse, ihre Spiele, ihre Fehden, ihre Sexpraktiken, ihre Gemeinheit, ihre Großzügigkeit, ihre Pferdepfleger, ihre Treiber, ihre Autos. Dann hörte er auf, Lyrik zu schreiben, und versuchte sich statt dessen an Romanen, die in derselben Welt spielten, der irrealen Welt, von der die reale beherrscht wurde. Häufig verglich er sein Thema mit dem des Römers Suetonius. »Dies ist das Leben der heutigen Cäsaren in ihren Palästen«, erklärte er Malik Solanka und jedem, der bereit war, ihm zuzuhören. »Sie schlafen mit ihren Schwestern, ermorden ihre Mütter, machen ihre Pferde zu Senatoren. In den Palästen herrscht das Chaos. Und weißt du was? Wenn du draußen bist, wenn du zum Mob auf der Straße gehörst, das heißt, wenn du bist wie wir, siehst du nur, daß die Paläste Paläste sind, daß all das viele Geld und die Macht da drin sind, und wenn sie mit den Fingern schnalzen, Mann, fängt dieser Planet sofort an zu springen.« (Rhinehart hatte die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit, als Betonung oder aus Spaß, in den Eddie-Murphy-trifft-Br’er-Rabbit-Slang zu fallen.) »Jetzt, wo ich über diese Milliardärin im Koma schreibe, oder über jene betuchten Kids, die ihre Eltern abzocken, jetzt, wo ich diesen lukrativen Job habe, sehe ich mehr von der Wahrheit der Dinge als bei dem verfluchten Desert Storm oder in den Heckenschützengassen von Sarajevo, und glaube mir, es ist genauso leicht, ja sogar leichter, auf eine beschissene Tretmine zu treten und sich in Stücke zerreißen zu lassen.«

Wenn Professor Solanka in dieser Zeit hörte, daß sein Freund eine Version dieser nicht seltenen Rede lieferte, entdeckte er einen immer stärker werdenden Unterton von Unaufrichtigkeit darin. Als Jack in den Krieg zog - ein bekannter, junger, radikaler und farbiger Journalist mit dem hervorragenden Ruf, den amerikanischen Rassismus und infolgedessen eine Reihe mächtiger Feinde unter die Lupe zu nehmen, hatte er viele der Ängste gehegt, wie sie eine Generation zuvor vom jungen Cassius Clay geschildert worden waren: das heißt, vor allem Angst vor der Kugel im Rücken, vor dem Tod durch das, was damals noch nicht als friendly fire bekannt war. In den darauffolgenden Jahren wurde Jack jedoch immer wieder Zeuge der tragischen Begabung seiner Spezies, den Begriff der ethnischen Solidarität zu ignorieren: der Brutalitäten von Schwarzen gegen Schwarze, Arabern gegen Araber, Serben gegen Bosnier und Kroaten. Ex-Jugo, Iran-Irak, Ruanda, Eritrea, Afghanistan. Der Eliminierungen auf Timor, der Massaker an ganzen Völkern in Meerut und Assam, des endlosen, farbenblinden Kataklysmus der Welt. Irgendwann in jenen Jahren brachte er es fertig, enge Freundschaft mit seinen weißen Kollegen aus den USA zu schließen. Sein Etikett veränderte sich. Er gab den Bindestrich auf und wurde schlicht und einfach Amerikaner.

Solanka, der ein Gespür für die Untertöne derartiger Umbenennungen hatte, begriff, daß für Jack bei diesen Umwandlungen viele Enttäuschungen eine Rolle spielten, ja, daß ein großer Teil seines Zornes auf das gerichtet war, was weiße Rassisten nur allzu gern als seine eigenen Leute bezeichnet hätten, und daß ein solcher Zorn sich allzu leicht gegen den Zornigen selbst wendet. Jack hielt sich fern von Amerika, heiratete eine weiße Frau und bewegte sich in bien-pensants-Kreisen, in denen Rasse kein Thema war: das heißt, daß nahezu alle weiß waren. Wieder in New York, von Bronislawa getrennt, fuhr er fort, mit denen zu verkehren, die er die Töchter der Bleichgesichter nannte. Aber der Scherz vermochte die Wahrheit nicht zu verdecken. In letzter Zeit war Jack mehr oder weniger der einzige Schwarze, den Jack kannte, und Solanka war vermutlich der einzige Braune. Rhinehart hatte eine Grenze überschritten.

Und nun überschritt er vielleicht eine weitere. Jacks neuer Job gewährte ihm Zutritt zu allen Palästen, und das liebte er. Mit gallegiftiger Bosheit schrieb er über dieses vergoldete Milieu, beschimpfte es für seine krasse Dummheit, seine Blindheit, seine Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit, aber die Einladungen von den Warren Redstones und Ross Buffetts, von den Schuylers und Muybridges, den Van Burens und Kleins, von Ivana Opalberg-Speedvogel und Marlalee Booken Candell kamen dennoch, weil der Mann süchtig nach ihrer Welt war, das wußten sie. Er war ihr Hausnigger, und es paßte ihnen, ihn als, wie Solanka argwöhnte, eine Art Schoßhund um sich zu haben. Jack Rhinehart war ein nützlicher, nicht eindeutig schwarzer Name, dem kein Getto-Beiklang wie Tupac, Vondie, Anfernee oder Rah’schied anhaftete (es war die Zeit phantasievoller Namensgebungen und kreativer Orthographie in der afro-amerikanischen Gemeinde). In den Palästen trug man derartige Namen nicht. Die Männer wurden nicht Biggie, Hammer, Shaquille, Snoop oder Dre genannt, die Frauen nicht Pepa, LeftEye oder DrNeece. Es gab keine Kunta Kintes oder Shaznays in Amerikas goldenen Hallen; wo ein Mann jedoch als sexuelles Kompliment Stash oder Club genannt werden konnte, während die Frauen Blaine, Brooke oder Horne hießen, und alles, was man sich wünschen konnte, vermutlich zwischen den Seidenlaken gleich hinter der Tür der Schlafzimmersuite dort stattfand, der Tür, die ein ganz klein wenig offenstand.

Ja, Frauen, natürlich. Frauen waren Rhineharts Sucht und Achillesferse, und dies war Das Tal der Zuckerpuppen. Nein: Es war der Berg, der Everest der Zuckerpuppen, das legendäre Zuckerpuppen-Füllhorn. Kreuzten diese Frauen seinen Weg, die Christies und Christys, die Kristens und Chrysteles, die Gigantinnen, von denen die meisten auf diesem Planeten träumten, mit denen selbst Castro und Mandela bereitwillig posierten, legte sich Rhinehart ihnen sofort zu Füßen (oder machte Männchen) und begann zu betteln. Unter den endlosen Schichten von Rhineharts coolem Gehabe lag ein unwürdiger Fakt: Er war verführt worden, und seine Sehnsucht, in diesen Club des Weißen Mannes aufgenommen zu werden, war das dunkle Geheimnis, das er niemandem eingestehen konnte, vielleicht nicht einmal sich selbst. Das sind die Geheimnisse, aus denen der Zorn erwächst. In diesem dunklen Samenbeet gedeiht die Wut. Und obwohl Jacks Verhalten eisengestählt war, obwohl seine Maske niemals verrutschte, war Solanka sicher, in den brennenden Augen des Freundes das selbstverachtende Feuer seiner Wut lodern zu sehen. Er brauchte lange, um einzusehen, daß Jacks unterdrückte Wut das Spiegelbild seiner eigenen war.

Rhineharts Jahreseinkommen rangierte momentan in der mittleren bis oberen Spanne der sechsstelligen Zahlen, doch er beschwerte sich nur halb scherzend, häufig zu wenig Cash zu haben. Bronislawa hatte drei Richter und vier Anwälte verbraucht und während dieser Zeit eine Jarndyce-ähnliche Begabung - sogar das, dachte Solanka, ein indisches Genie - für die Behinderung des Gerichts und für Verzögerungstaktiken entdeckt. Darauf war sie (womöglich buchstäblich) wahnsinnig stolz. Sie hatte gelernt, die Geschichte zu drehen, zu wenden und zu verzerren. Als praktizierende Katholikin verkündete sie anfangs, sie werde nicht die Scheidung von Rhinehart beantragen, obwohl er ein maskierter Teufel sei. Der Teufel, erklärte sie ihren Anwälten, sei klein, weiß, trage einen grünen Frack, Pferdeschwanz und hochhackige Slipper und ähnele sehr stark dem Philosophen Immanuel Kant. Aber er könnte jegliche Gestalt annehmen, die einer Rauchsäule, eines Spiegelbildes oder eines großen schwarzen, hektisch-energischen Ehemanns. »Ich werde mich an Satan rächen«, erklärte sie den verdutzten Anwälten, »indem ich ihn als Gefangenen meines Ringes behalte.« In New York, wo es nur wenige legale, streng definierte Scheidungsgründe gab und die einvernehmliche Scheidung nicht existierte, hatte Rhinehart einen schlechten Stand gegenüber seiner Frau. Er versuchte es mit Überredungskunst, mit Bestechung, mit Drohungen. Sie blieb hartnäckig und dachte nicht daran, die Scheidung einzureichen. Schließlich zog er vor Gericht, worauf sie brillant und entschlossen mit einer erstaunlichen, fast mystischen Ruhe reagierte. Die Grausamkeit ihres passiven Widerstands hätte vermutlich sogar Gandhi beeindruckt. Sie kam mit einer jahrzehntelangen Reihe psychologischer und physischer Zusammenbrüche durch, die in der minderwertigsten Seifenoper als übertrieben aufgefallen wären, und war siebenundvierzig Mal wegen Mißachtung des Gerichts ermahnt worden, ohne daß sie jemals verhaftet worden wäre, weil Rhinehart nicht bereit war, das Gericht aufzufordern, gegen sie vorzugehen. Also bezahlte er mit Mitte Vierzig noch immer für die Sünden, die er mit Mitte Dreißig begangen hatte. Inzwischen fuhr er mit seiner Promiskuität fort und pries die Stadt für ihre reiche Beute. »Für einen Junggesellen mit ein paar Piepen auf der Bank und einer Vorliebe für Parties ist dieses kleine, den Manahattos gestohlene Stück Land wahrlich ein üppiger und reicher Jagdgrund.«

Aber er war kein Junggeselle. Und in diesen elf Jahren hätte er eindeutig zum Beispiel über die Grenze nach Connecticut ziehen können, wo es einvernehmliche Scheidungen gab, oder die etwa sechs Wochen Zeit finden, die erforderlich waren, um sich legal in Nevada niederzulassen, um diesen gordischen Knoten durchzuhauen. Das aber hatte er nicht getan. Einmal, angetrunken, hatte er Solanka anvertraut, daß es in dieser Stadt, die den dankbaren Mann so großzügig mit Multiple-Choice-Optionen zum Ausgehen versorgte, doch einen dicken Haken gab. »Sie wollen alle die großen Worte«, protestierte er. »Sie wollen ewig, ernsthaft, tief, langfristig. Wenn keine große Leidenschaft dahinter ist, passiert nichts. Deswegen sind sie alle so einsam. Es gibt nicht genug Männer für sie, aber wenn sie nicht kaufen können, wollen sie auch nichts probieren. Von dem Konzept der Miete, des Time-Sharing, halten sie nichts. Die sind verkorkst, Mann. Sie suchen nach Immobilien auf einem Markt, der auf verrückte Höhen gestiegen ist, aber sie wissen, daß er bald sogar noch höher steigen wird.« In dieser Version der Wahrheit hatte Rhineharts unvollständige Scheidung ihm Luft zum Atmen, hatte ihm Lebensraum gegeben. Die Frauen probierten ihn aus, denn er war schön und charmant, und sie waren bereit, zu warten, bis sie von der Endlosigkeit des Wartens die Nase voll hatten. Man konnte die Situation jedoch auch anders auslegen. Oben, wo Rhinehart jetzt zum größten Teil lebte, auf dem Big Rock Candy Mountain, dem Diamond as Big as the Ritz, waren alle anderen ihm an Klasse buchstäblich weit überlegen und in dem Moment, in dem er in die Falle ging und wollte, was da oben auf dem Olymp im Angebot war, außerdem überfordert. Er war, vergessen wir das nicht, ihr Spielzeug, und Mädchen spielen zwar mit ihren Spielsachen, heiraten sie aber nicht. So war dieses Halbverheiratetsein, diese endlose Scheidungsfarce auch eine Möglichkeit für Rhinehart, sich selbst etwas vorzumachen. Als Junggeselle, und zwar als alternder - er war inzwischen über Vierzig -, hatte er sich fast überlebt. Kam er - tödlich für jeden ehrgeizigen Ladykiller - fast nicht mehr in Frage.

Malik Solanka, anderthalb Jahrzehnte älter als Jack Rhinehart und ein dutzendmal gehemmter, hatte oft mit neidischem Staunen zugesehen und zugehört, wie Rhinehart auf so unverschämt männliche Art der Aufgabe seines Lebens nachging. Den Kampfzonen, den Frauen, den gefährlichen Sportarten, dem Leben eines Mannes der Tat. Selbst seine inzwischen aufgegebene Lyrik war vom Schlag der virilen Ted-Hughes-Schule gewesen. Häufig hatte Solanka das Gefühl gehabt, daß Rhinehart, obwohl er, Solanka, um Jahre älter war, der Meister und er der Schüler war. Ein einfacher Puppenmacher mußte sich verneigen vor einem Windsurfer, einem Skydiver, einem Bungeejumper, einem Felsclimber, einem Mann, dessen Vorstellung von Spaß es war, zweimal die Woche zum Hunter College zu gehen und vierzig Treppen hinauf und hinab zu rennen. Ein Junge zu sein - doch dies geriet zu sehr in die Nähe seiner verbotenen, ausgelöschten Hintergrundstory - war etwas, das Malik Solanka niemals ganz auszuleben vergönnt gewesen war.

Patrick Kluivert schoß ein Tor für die Holländer, und beide, Solanka und Rhinehart, sprangen auf, schwenkten ihre Flaschen mit mexikanischem Bier und brüllten laut. Dann klingelte es an der Wohnungstür, und Rhinehart sagte ohne weitere Erklärung: »Übrigens, ich glaube, ich bin verliebt. Ich hab sie eingeladen, uns Gesellschaft zu leisten. Hoffentlich hast du nichts dagegen.« Das war keine neuartige Ankündigung. Gewöhnlich signalisierte sie die Ankunft dessen, was Rhinehart unter Männern als neue Kellnerin bezeichnete. Was nun jedoch folgte, war tatsächlich neu. »Sie ist eine von euch«, sagte Rhinehart über die Schulter, während er aufstand, um die Tür zu öffnen.

»Indische Diaspora. Einhundert Jahre Dienstbarkeit. In den Achtzehnneunzigern gingen ihre Vorfahren als Kontraktarbeiter nach, wie heißt das noch? Lilliput-Blefuscu. Jetzt leiten sie die Zuckerproduktion, und ohne sie würde die Wirtschaft zusammenbrechen, aber du weißt ja, wie es überall ist, wo Inder hingehen. Die Menschen mögen sie nicht. Sie arbeiten zuviel, und sie bleiben für sich, und sie benehmen sich so verdammt hochnäsig. Da kannst du jeden fragen. Frag Idi Amin.«

Im Fernsehen spielten die Holländer großartigen Fußball, aber das Spiel war plötzlich irrelevant geworden. Malik Solanka dachte, daß die Frau, die soeben Rhineharts Wohnzimmer betreten hatte, die bei weitem schönste Inderin - die bei weitem schönste Frau - war, die er jemals gesehen hatte. Verglichen mit der berauschenden Wirkung ihrer Gegenwart war die Flasche Dos Equis in seiner linken Hand ganz und gar alkoholfrei. Auch andere Frauen auf der Welt waren, wie er vermutete, knapp unter einsachtzig groß, mit taillenlangen schwarzen Haaren; und zweifellos fand man so rauchgraue Augen auch anderswo, genauso wie andere Lippen, die ebenfalls so üppig, andere Hälse, die ebenso schlank, andere Beine, die ebenso endlos lang waren. Auch andere Frauen hatten vielleicht Brüste wie diese. Na und? Mit den Worten eines idiotischen Songs aus den Fünfzigern, Bernardine, gesungen vom Schallplattenliebling seiner Mutter, dem christlich-konservativen Pat Boone, in einem seiner verwegeneren Momente: Your separate parts are not unknown/but the way you assemble ’em ’s all your own. (Jeder Körperteil von dir ist an sich nicht außergewöhnlich/aber wie du das Ganze zusammenhältst, das ist einmalig.) Genau, dachte Professor Solanka, dem die Augen übergingen. Ganz genau so!

Am rechten Oberarm der jungen Frau lief von oben nach unten eine zwanzig Zentimeter lange Narbe im Fischgrätmuster. Als sie merkte, daß er sie anstarrte, verschränkte sie sofort die Arme und legte die linke Hand über die Verletzung, weil sie nicht begriff, daß diese sie nur noch schöner machte, daß sie ihre Schönheit unterstrich, indem sie ihr eine essentielle Unvollkommenheit hinzufügte. Indem sie zeigte, daß sie verletzlich war, daß eine so hinreißende Lieblichkeit in einer kurze Sekunde zerbrochen werden konnte, betonte die Narbe nur noch das, was da war, und bewirkte, daß man es - du meine Güte, dachte Solanka, wie kann man dieses Wort nur für eine Fremde verwenden! - zärtlich liebte.

Extreme körperliche Schönheit zieht alles vorhandene Licht auf sich, wird zu einem hell leuchtenden Strahl in einer sonst verdunkelten Welt. Warum sollte man in die düstere Umgebung starren, wenn man diese wohltuende Flamme beobachten konnte? Warum reden, essen, schlafen, arbeiten, wenn ein solcher Glanz vorhanden war? Warum für den Rest des eigenen, schäbigen Lebens etwas anderes tun als hinsehen? Lumen de lumine. In die siderische Irrealität ihrer Schönheit starrend, die sich im Raum drehte wie eine Galaxie in Flammen, dachte er sich, wenn es mir gelingt, dieses Ideal von Frau zum Leben zu erwecken, wenn ich eine Zauberlampe hätte, an der ich reiben könnte, dann wäre dies genau das, was ich mir wünschen würde. Und während er Rhinehart in Gedanken dazu gratulierte, daß er sich endlich von den vielen Töchtern der Bleichgesichter losgerissen hatte, stellte er sich zugleich vor, wie er selbst mit dieser dunklen Venus zusammen war, ließ er zu, daß sich sein eigenes, fest verschlossenes Herz öffnete und er sich wieder einmal an das erinnerte, was er während eines großen Teils seines Lebens zu vergessen versucht hatte: das Ausmaß des Kraters in ihm selbst, das Loch, das durch seinen Bruch mit seiner jüngeren und ferneren Vergangenheit entstanden war und das - vielleicht - von der Liebe einer solchen Frau geschlossen werden konnte. Uralte, geheime Qualen stiegen in ihm auf und flehten darum, gestillt zu werden.

»Yeah, tut mir leid, mein Freund«, kam Rhineharts belustigte Stimme von der anderen Seite des Universums. »Sie wirkt meistens so auf die Leute. Kann gar nicht anders. Weiß nicht, wie man das abstellen kann. Neela, das ist mein zölibatärer Freund Malik. Er hat, wie du leicht sehen kannst, für immer auf die Frauen verzichtet.« Jack amüsierte sich königlich, wie Solanka feststellte. Er zwang sich in die reale Welt zurück. »Wir können alle froh sein, daß das so ist«, brachte er schließlich heraus und preßte seinem Mund die Annäherung eines Lächelns ab. »Sonst müßte ich jetzt mit dir um sie kämpfen.« Schon wieder der alte Gleichklang, dachte er: Neela, Mila. Das Begehren ist hinter mir her und warnt mich durch diese Reime.

Sie arbeitete als Produzentin bei einer der besseren Unabhängigen und hatte sich auf Dokumentarfilme fürs Fernsehen spezialisiert. Im Augenblick plante sie ein Projekt, das sie zu ihren Wurzeln zurückführen sollte. Zu Hause in Lilliput-Blefuscu stünden die Dinge nicht zum besten, erklärte Neela. Die Menschen im Westen hielten das Land für ein Südseeparadies, einen Ort für Flitterwochen und andere romantische Vergnügungen, nun aber braue sich dort etwas zusammen. Das Verhältnis zwischen den Indo-Lilliputianern und den eingeborenen Elbees - die noch immer die Mehrheit der Bevölkerung stellten, aber nur gerade eben - verschlechtere sich immer mehr. Um auf diese Probleme aufmerksam zu machen, hätten New Yorker Vertreter beider Faktionen verabredet, am bevorstehenden Sonntag gleichzeitig Festzüge zu organisieren. Diese Kundgebungen sollten klein, aber leidenschaftlich ausfallen. Die beiden Marschrouten sollten weit auseinanderliegen, aber man konnte dennoch darauf wetten, daß es zu ein paar heftigen Zusammenstößen kommen werde. Neela selbst war fest entschlossen mitzumarschieren. Während sie über die wachsenden politischen Turbulenzen in ihrem winzigen Flecken der Antipoden sprach, sah Professor Solanka, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Für die schöne Neela war dieser Konflikt keine Nebensächlichkeit. Sie fühlte sich ihren Ursprüngen noch immer verbunden, und darum wurde sie von Solanka fast beneidet. Jack Rhinehart sagte wie ein kleiner Junge: »Großartig! Wir werden alle mitgehen! Aber natürlich! Du würdest doch auch für deine Leute auf die Straße gehen, Malik, nicht wahr? Nun, diesmal wirst du es für Neela tun.« Rhineharts Ton war unbeschwert und fröhlich: ein Fehler. Solanka sah, wie Neela erstarrte und die Stirn runzelte. Dies durfte nicht als Spiel behandelt werden. »Ja«, sagte Solanka und sah ihr dabei in die Augen. »Ich werde mitmarschieren.«

Sie setzten sich hin, um das Fußballspiel zu verfolgen. Weitere Tore wurden geschossen: insgesamt sechs für die Niederlande, ein später, irrelevanter Trosttreffer für Jugoslawien. Auch Neela war froh, daß die Holländer gut gespielt hatten. Sie hielt deren schwarze Spieler ohne Neid, aber auch ohne falsche Bescheidenheit für nahezu ebenso hinreißend wie sich selbst. »Die Surinamesen«, sagte sie und sprach, ohne es zu wissen, die Gedanken des jungen Malik Solanka vor vielen Jahren in Amsterdam nach, »sind der lebende Beweis dafür, wie wichtig es ist, daß sich die Rassen vermischen. Sieh sie dir an. Edgar Davids, Kluivert, Rijkaard auf der Reservebank und, in den guten alten Zeiten, Ruud. Der große Gullit. Allesamt meteques. Rührt man sämtliche Rassen kräftig durcheinander, erhält man die schönsten Menschen der Welt. Ich«, setzte sie, an niemanden speziell gewandt, hinzu »möchte schon bald nach Surinam gehen.« Sie warf sich aufs Sofa, ließ ein langes, lederbekleidetes Bein über die Armlehne hängen und stieß gegen die New York Post vom selben Tag. Sie fiel vor Solankas Füßen zu Boden, und sein Blick blieb an der Schlagzeile hängen: BETONKILLER SCHLÄGT WIEDER ZU. Und darunter, kleiner gedruckt: Wer ist der Mann im Panamahut? Im Handumdrehen war alles verändert; Dunkelheit drang durchs offene Fenster herein und blendete ihn. Sein kleiner Anfall von Erregung, guter Laune und Wollust verflog. Er spürte, wie er zitterte, und sprang eilig auf die Füße. »Ich muß fort«, sagte er. »Wie bitte? Der Schlußpfiff kommt erst noch, und du willst schon fort? Malik, mein Freund, das ist schlicht und ergreifend unhöflich.« Aber Solanka schüttelte nur den Kopf und eilte zur Tür hinaus. Hinter sich hörte er Neela, welche die Zeitung nach seiner Flucht aufgehoben hatte, über die Schlagzeile der Post reden. »Dieses Schwein! Das soll doch eigentlich vorbei sein, es soll doch jetzt wieder sicher sein - oder?« fragte sie. »Aber verdammt noch mal, es wird niemals vorbei sein. Jetzt geht alles wieder los.«